vorweg: Jeglicher Zusammenhang mit dem gestrigen Beitrag über das Stillsein ist zufällig und nicht beabsichtigt. Ich kämpfe immer noch damit zu realisieren, dass solche Disclaimer nötig sind.
Die beiden Beiträge zum Thema eines LGBTQ-Angebots an Schulen haben Reaktionen hervorgebracht - ganz unterschiedlicher Art. Eine Reaktion auf den ersten Beitrag hat zu v1.1 geführt, und eine weitere Reaktion auf das Konzept des safe space bringt mich zu diesen Überlegungen.
Dass ein sicherer Raum an einer Schule fehlt, gilt nicht nur für trans-Jugendliche. Es gilt nicht nur für homosexuelle Jugendliche oder jegliche, die sich der LGBTQIA+-Community zugehörig fühlen. Es gilt für jeden Jugendlichen, der sich konkret anders fühlt. Der sein Anderssein auf bestimmte Faktoren zurückführen kann, und sei es nur ein ständig wiederkehrendes Gefühl.
So kann es zum Beispiel sein, dass der tägliche Gang in die Schule für jemanden jahrelang zur Hölle wird, weil er hochintelligent ist. Und er kann sich noch so viel Mühe geben, das herunterzuspielen. Bescheidenheit bei den vielen Einsen zeigen, die er erhält. Sich nicht im Unterricht melden, um bloß nicht aufzufallen. Es wird immer die Streberleiche sein und immer aus irgendwelchen Richtungen dafür Anfeindungen erhalten, und er wird immer das Gefühl haben, sich verstellen zu müssen, um nicht ausgegrenzt zu werden, und auch für ihn gibt es womöglich keinen safe space in der Schule.
Was mir dann auch häufiger geschrieben und gesagt wird ist, dass es doch bereits Angebote für diese Schüler gibt: Es gibt das Enrichment für die Hochbegabten. Es gibt die Vertrauenslehrer für jegliche Probleme von Jugendlichen. Und immer wieder in den letzten Jahren wurde mir bei konkreten Ideen gesagt, dass man dafür ja bereits die Schulsozialpädagogen hat, und dass das Angebot auch gut genutzt wird und erfolgreich ist. Dass man das schlicht nicht braucht.
Das sind valide Argumente. Aber was ist mit der Dunkelziffer?
Ich kann nur für mich sprechen. Wir hatten einen Vertrauenslehrer an unserer Schule, und ich bin während der neun Jahre Gymnasium nicht ein einziges Mal zu ihm gegangen. Nicht wegen des Drogenhandels um mich herum, nicht wegen des Mobbings in der Klasse, nicht wegen der seelischen Folter vor und nach den Sportstunden, nicht wegen des schlechten Gewissens, weil ich eine Mitschülerin in einen Fluss geworfen habe, nicht wegen meiner sexuellen Neigungen, nicht wegen des Gefühls, dass mit meinem Kopf etwas nicht stimmt.
In der Oberstufe gab es für Schüler extra das Tutorensystem: Jeder Schüler hat sich aus dem Kollegium einen Tutor gesucht, als Ansprechpartner für jegliche Art von Problemen. Ich bin sehr froh, dass ich meine Tutorin hatte, denn sie hat mir ein Gefühl von "okay sein" gegeben, bei den Kurstreffen, die wir bei ihr hatten, ohne dass ich mich irgendwie erklären musste.
Aber genau darin sehe ich die crux:
Es gab für mich kein Angebot, dass mir expressis verbis signalisiert hat, dass ich als schwuler Jugendlicher jemanden dort habe, an den ich mich wenden könnte. Keines der Angebote hatte das im Namen oder explizit in seinen agenda zu stehen. Ich habe mich meiner Tutorin in der Oberstufe nicht ein einziges Mal anvertraut, obwohl sie eine der tollsten Lehrerinnen war, die ich je hatte.
Ich kann nicht für den trans-Mann sprechen, der mir geschrieben hat. Ich kann nicht für die Hochbegabten sprechen, die mir geschrieben hatten. Vielleicht geht es ihnen ebenso, vielleicht stehe ich allein da. Aber mein Problem war, dass mir niemand gesagt hat "Wenn du schwul bist, dann ist das okay" oder "Wenn einer unserer Schüler über seine Sexualität sprechen möchte, dann haben wir ein Angebot, das genau für ihn gemacht ist". Enrichment ist schön und gut, aber es ist gemacht für "erkannte" Hochbegabte. Was ist mit hochbegabten Underachievern, die ihr Potential nicht nutzen können oder wollen, die aber tief im Inneren wissen, dass sie anders sind und gern mit jemandem drüber sprechen wollen, der sie versteht, und der vielleicht nicht nur den Unruhestifter in ihnen sieht?
Es fehlt nicht an einem Angebot, das ruft: "Sag' uns, was Dein Problem ist, und wir helfen Dir." Die gibt es bereits reichlich, aber oft können Jugendliche ihre Probleme mit dem Anderssein noch nicht verbalisieren, noch nicht einmal bildlich konkretisieren.
Es fehlt an "Du bist schwul? Komm' zu unserem Gesprächskreis" oder "Du bist intelligent und fühlst Dich allein? Komm zur Mind Food-Gruppe" - und was es noch mehr gibt!
Wir müssen klarmachen, dass unsere helfende Hand speziell zu ihnen ausgestreckt ist.
post scriptum: Es tut mir WIRKLICH leid, wenn dieser Beitrag pathetisch klingt. Aber für zu viele Jugendliche ist die Schule eine jahrelange Folter, und jeder einzelne Teenager, der deswegen Suizid begeht, ist ein Zeugnis für unser kollektives Scheitern.
paulo post scriptum: Es war nicht geplant, dass aus diesem Thema eine Beitragsreihe wird - aber es kommt immer wieder ein Aspekt hinzu, der meiner Meinung nach hier Raum bekommen sollte. Bear with me. Cat, too.