Dienstag, 31. Juli 2018

Kein Zurück


Montag

Morgen unterschreibe ich meinen Arbeitsvertrag an der neuen Schule. Und ich bin tatsächlich etwas aufgeregt. Ich war noch nie vor einer Vertragsunterzeichnung aufgeregt (und nach achtzehn Durchgängen gewöhnt man sich mit der Zeit daran) - aber es fühlt sich dieses Mal einfach anders an. Nicht nur, weil es um einen Jahresvertrag geht (im Durchschnitt hatte ich immer nur Drei-Monats-Verträge), sondern weil dahinter eine Chance schlummert, endlich verbeamtet zu werden, oder zumindest unbefristet beschäftigt.

Und ich bin aufgeregt, weil ich diesmal nichts falsch machen möchte. An anderen Schulen, von denen ich wusste, dass sie nicht meine Zukunft darstellen, war das alles entspannter, mit einem Hauch von Nach mir die Sintflut! Und bevor einer auf die Idee kommt, einen Kommentar zu schreiben in die Richtung was sollst Du denn falsch machen? - sollte ich erwähnen, dass es bisher an jeder Schule Beschwerden über die neue Lehrkraft gab. Meistens war das unbegründet und hatte mit meinem Erscheinungsbild zu tun, aber daraus wurde eben auch gern abgeleitet, dass ich eine Gefahr für die Bildung sei.

Dienstag

Und nun ist es Abend, ich bin happy, dass heute alles geklappt hat. Jetzt gibt es kein Zurück mehr, und die Aufregung steigt noch weiter, aber immerhin weiß ich, wie sich die nächsten Wochen gestalten. Ich werde mich dann mal mit den neuen Lehrplänen auseinandersetzen - netter Touch: Es gibt einen abteilungsinternen Stoffverteilungsplan, daran kann ich mich gut entlang hangeln.

Eine neue Schulart, eine neue Schule, neue Gebäude, alles ändert sich - aber vielleicht ist gerade das meine Chance, mein Leben in eine richtige Bahn zu lenken.

Sonntag, 29. Juli 2018

Freedom of Speech

Manches Gesagte ist einfach für die Tonne - zum Beispiel wenn ich in der linken Figur eine Lesbe sehe, die gegen die Ehe für Alle eingetreten ist (keine Ahnung, wer das sein könnte).

Jeder Mensch hat das Recht auf seine eigene (falsche) Meinung. Diesen Spruch benutze ich gern als humoristische Abwandlung des Rechts auf Meinungsfreiheit. Das wird man ja wohl noch sagen dürfen, diesen Satz hören wir seit ein paar Jahren, seit AfD und dem Erstarken der Stimmen von rechts immer wieder. Es ist spannend, dass ausgerechnet diese Stimmen, zu einem großen Teil antidemokratisch, die Rechte der Demokratie beschwören. Da scheint unser politisches System dann wieder in Ordnung zu sein. Diese Art der Doppelmoral scheint gar nicht so selten zu sein; ich habe eben über einen Fall aus den USA gelesen.

Dort hat ein Jugendlicher ein Stipendium verloren, nachdem ein Video von ihm an die Öffentlichkeit gekommen ist, auf dem er auf einer pro-Trump-Demo vor den Wahlen unterwegs ist und rassistische und homophobe Kommentare in alle Richtungen grölt. Nicht selten auf Trumps rallies, nicht selten unter Trumps Anhängerschaft. Pence ist ein Paradebeispiel.

Nachdem dieses Video es also in die Öffentlichkeit geschafft hat, hat die Hochschule Cal Poly dem Jugendlichen sein Wrestling-Stipendium entzogen - ohne genauere Gründe zu liefern, aber es ist bekannt, dass sie dieses Video kannten, bevor sie die Entscheidung getroffen hatten. Ich finde das nachvollziehbar, ich finde das gut, auch wenn ich in meiner eigenen schulischen Arbeit nie mit Sanktionen hantiert habe, wenn ein Schüler im Klassenraum Sachen wie Fuck you faggot! herumgegrölt hat. Beziehungsweise das deutsche Halt's Maul, du Schwuchtel!, und erzählt mir bitte nicht, liebe Kollegen, dass Ihr so eine Situation noch nie hattet...

Was besonders bemerkenswert ist, ist die Reaktion des Jugendlichen, der zugibt, dass er das nicht hätte sagen sollen (immer erstmal schön beschwichtigen, nicht wahr?), in einem zweiten Satz dann aber hinzufügt, dass er sich seines freedom of speech beraubt fühlt. Nicht wahr? Das wird man ja wohl noch sagen dürfen! Klingt hoffentlich - und leider - bekannt.

Wie weit sollte also Redefreiheit gehen? So weit, dass nicht einzelne Personen diffamiert werden? Finde ich nachvollziehbar, und dann müssen auch linksextreme Tendenzen ebenso sanktioniert werden, wenn sie zum Beispiel einen Gauland als Gauleiter bezeichnen oder eine Weidel als rechte Dominatrix.

Wo liegt die Grenze zwischen Meinungsfreiheit und Diffamierung? Wo muss ich als Pädagoge sagen Halt's Maul, du rassistisches, homophobes Stück Scheiße! - oder darf ich das womöglich gar nicht?

Was ich heute einfach nur loswerden möchte: Mich ekelt es, wenn ausgerechnet Demokratiefeinde sich auf Werte und vor allem Rechte der Demokratie berufen. Wenn sie schon so scharf sind auf nationalistische Tendenzen, dann sollten sie sich vielleicht die Herrschaftsmechanismen von Diktatoren und Tyrannen einmal genauer betrachten und sich selbst fragen, wie es mit der Redefreiheit dort aussieht.

Ich könnte kotzen.

Freitag, 27. Juli 2018

Lass' mal den Aspi ärgern!


Würdest Du in einer I-Klasse unterrichten?

Ich bin mir sicher, der eine oder andere Leser hat diese Frage schon einmal gehört, besonders, wenn er Lehrer an einer Gemeinschaftsschule ist. "I-Klasse" bedeutet Inklusionsklasse, und auf die Inklusion ist unser Bildungsministerium sehr stolz, auch wenn bisher nur erste Schritte gegangen wurden und noch viel gemacht werden muss.

Inkludiert werden sollen Schüler mit einem festgestellten Förderbedarf, und ich habe die Arbeit in I-Klassen immer als sehr bereichernd empfunden, auch wenn es anstrengend ist. Meine erste I-Klasse hatte ich in St.Peter-Ording, es saß dort unter anderem ein Schüler mit dem Asperger-Syndrom, der auf eine Schulbegleitung angewiesen war. Das kannte ich vorher noch nicht, fand es sehr spannend und ich bin froh, dass es so etwas gibt (also, die Schulbegleitung).

Warum ich davon erzähle - ich hatte vor einer Weile einen Beitrag geschrieben über die Darstellung von Hochbegabung im Film und ihn links in die Linkliste gepinnt, mit der Idee, immer mal wieder neue Filmbesprechungen hinzuzufügen. Filme, von denen ich der Meinung bin, dass sie - auf verschiedenste Weise - das Erleben von Hochbegabung veranschaulichen.

Es geht hier zwar um Asperger, aber es gibt große Schnittmengen zwischen beiden Diagnosen. Das ist mir heute wieder sehr bewusst geworden, als ich den Film Ben X (2007) gesehen habe. Es geht um einen Asperger-Schüler in der Oberstufe; der Film ist an einer wahren Begebenheit orientiert, in der in Folge starken Mobbings ein Jugendlicher sich das Leben genommen hat.

Und es wird von Anfang an deutlich gemacht, dass auch Ben sich am Ende das Leben nehmen wird, also spoilere ich hier niemanden. Was hat mir an dem Film gefallen?

Verhaltensmuster wiederzuerkennen - Ben lässt sich nicht gern anfassen, seine Mutter kann ihm nur per Hand Küsschen geben. Ben hinterfragt alles. Er ist hypersensibel und kann zwischendurch starke Wutausbrüche erleiden. Emotionen sind für ihn ein Fremdwort.

Mir hat gefallen, wie ein Mädchen mit ihm spricht, nachdem er ihr von seinen Selbstmordplänen erzählt hat: Sie versucht nicht, ihn krampfhaft davon abzubringen, sondern schlägt ihm im Gegenteil verschiedene Suizidmethoden vor. Sie nimmt ihn ernst und spricht das alles sachlich mit ihm durch. Ich würde es wohl genauso gemacht haben.

Der Film kommt ohne unnötigen Kitsch aus - sachlich eben - und das fand ich gut. Das Erleben eines Aspergers wird geradezu greifbar, und auch ich als "nur" Hochbegabter habe mich in so Vielem wiedererkannt. Besonders die Mobbingszenen haben unschöne Jugenderinnerungen wachgekitzelt, und gleichzeitig habe ich mich erinnert gefühlt an die Wutausbrüche, die meine "Aspis" hatten, und mit denen viele Mitschüler nicht umgehen konnten. Ich hatte einen Asperger in meinem Rollenspielprojekt an der Schule in Neumünster - es war toll zu erleben, wie intensiv diese Menschen in andere Welten eintauchen können.

Besonders die letzte Szene fasst das Plädoyer des Films zusammen: Diese Menschen sind anders - lasst sie doch einfach sein, wie sie sind! Der Film mag seine Schwächen haben, aber die Einblicke in die Gedankenwelt eines Aspergers fand ich sehr überzeugend.

Der Film ist auf Amazon prime kostenlos.

Mittwoch, 25. Juli 2018

"Der Kopf ist rund..."

Umdenken braucht Zeit...

Immer mal wieder habe ich diesen Spruch hier im Blog gepostet und verwende ihn tatsächlich auch da draußen. Ich muss mal schauen, ob ich ihn bei den Weisheiten links aufgeschrieben habe... nein, habe ich nicht - das wird dann umgehend geändert, denn gestern hatte ich wieder eine dieser Episoden, die mir die Bedeutung des Satzes vor Augen geführt haben:

"Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann."

Ein Plädoyer gegen Engstirnigkeit, gegen festgefahrene Meinungen, für mehr Blickwinkel, für neue Perspektiven und auch für neue Chancen. Einfaches Beispiel gefällig?

Vor ein paar Jahren hatte ich entdeckt, dass mein Fernseher 3D-fähig ist, hatte mir die dazu nötige Brille besorgt und wollte ein paar Filme dreidimensional erleben. Beim Bummeln durch einen nahegelegenen Supermarkt fand ich, im Preis drastisch reduziert, die 3D-Bluray von Mad Max: Fury Road (2014) [MM:FR]. Eingepackt und angesehen. Damals hatte ich noch nicht die Angewohnheit, den kritischen Konsensus über einen Film zu konsultieren, bin also vollkommen unvoreingenommen an diesen Film gegangen und saß zwei Stunden recht fassungslos vor dem Bildschirm.

Was war denn das für ein Scheiß?! Zwei Stunden lang fahren da ein paar Leute durch eine karge Landschaft. Fast ununterbrochen. Worum ging es da eigentlich? Sollte das auch eine Handlung haben oder nur pure Action? Wie ich so etwas hasste: Filme, die Action nur um ihrer selbst willen verwendeten. Immerhin, die Liste der Charaktere war bunt, wobei ich nicht verstanden habe, warum die sich Sprühfarbe auf die Zähne knallten, warum es da Blood Bags gab, warum diese einarmige Frau einen war rig fuhr und Unzähliges mehr... kurzum: Ich fand den Film extrem scheiße, war davon überzeugt, mir gerade ein neues Kapitel Trash-Geschichte angeschaut zu haben, und auch wenn ich hin und wieder Trash mag (Elvira anyone?), so war das absolut underwhelming.

Das musste ich mir nur noch einmal bestätigen lassen und habe also in der Wikipedia den Kritikerspiegel angeschaut und mir blieb der Mund offen stehen bei dem, was dort so stand: ...one of the greatest action films of all time...one of the greatest films of the 21st century...ten Academy Award nominations...six wins...97% positive reviews on rottentomatoes.com...Brian Tallerico for rogerebert.com gives 4/4 stars...best science fiction film of all time on rottentomatoes.com...

What the...?! Hatten die einen anderen Film angesehen als ich, der ich mich soeben noch um zwei Stunden Lebenszeit beraubt fühlte??? Never!!! Perplex und wütend legte ich die Disc beiseite, und an meiner ablehnenden Haltung diesem Film gegenüber änderte sich für lange Zeit nichts.

Das war vor ein paar Jahren. Ich habe meine Haltung zu Filmen im Allgemeinen und speziell zu Science Fiction geändert. Ich habe gelernt, eine offene Geisteshaltung anzunehmen für all' diese What If-Szenarien, mich darauf einzulassen und sie zu akzeptieren. Und es hat sich gelohnt: So halte ich mittlerweile den Blade Runner und seine Fortsetzung von Zweitausendsiebzehn für ein visionäres Meisterwerk und kann es in vollen Zügen genießen, mich in diese Welt fallen lassen. Vielleicht konnte ich ja auch MM:FR jetzt diese Chance geben und nachvollziehen, was die Leute daran finden?

Und so ging es dann gestern auf die Reise in diese postapokalyptische Dürre. Ich wollte schon vorgestern, hatte dann aber gemerkt, dass ich erst noch meine 3D-Brille aufladen musste und habe das dann während eines anderen Filmes gemacht. Das hat natürlich die Spannung auf gestern noch weiter gesteigert.

Es war, als ob ich einen anderen Film sah: Ein visuell extrem reichhaltiger Film, dessen mörderisches Tempo von einem tollen orchestralen Soundtrack unterstützt wurde, ungewöhnliche Frauenrollen, flexible character arcs, ein interessantes Schlaglicht auf Menschen mit Behinderungen, Farbcodierung in der Kameraarbeit, unterschiedliche Lebensphilosophien, ich habe endlich das Chromspray und die "Witness!"-Rufe verstanden, die Bedeutung von Wasser und guzzoline, die Trommeln und den Lautsprecherwagen...

...und ich hatte inzwischen endlich ein paar Vergleichswerte in anderen SciFi-Filmen angesammelt, und wieder blieb mir der Mund offen stehen - diesmal allerdings nicht nach, sondern während des Filmes, weil ich jede einzelne Kameraeinstellung, jeden einzelnen frame genießen konnte, und als der Film zu Ende war - genaugenommen bis jetzt gerade - schwebt mir der Gedanke im Kopf herum, dass ich ihn noch einmal schauen möchte, und wenn es nur ist, um all' die Anblicke und die Musik noch einmal zu genießen.

Und mir wird bewusst, was ich mir habe entgehen lassen wegen einer festgefahrenen Haltung im Kopf, und ich hoffe, dass mir das nicht mehr so oft passieren wird wie früher.

"Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann."

...und dabei gilt: Man kann die Richtungsänderung nicht krampfhaft beeinflussen wollen. Das geht so nicht. Thema Er: Sonst hätte ich ihm die Offenheit gegeben, seiner Freunden zu erzählen, dass es mich immer noch gibt, und den Mut, dass wir Dinge zusammen unternehmen. Das Ändern einer Denkrichtung braucht Zeit.

Viel Zeit.

Dienstag, 24. Juli 2018

Fessel' mich

Who can forget...?

Unter all' den diversen Nachrichten, die dieser Tage eintrudeln, findet sich auch ein Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, der sich mit Freiheitsberaubung auseinandersetzt, und ich frage mich, ob dieser Beschluss eine Farce darstellt oder eine tatsächlich sinnvolle Maßnahme ist.

Ich habe ein paar Jahre lang Kinder aus jugendpädagogischen Einrichtungen unterrichtet. In dieser Zeit habe ich in Gesprächen mit Heimleitungen das Konzept der Fixierung kennengelernt: Manchmal kann es nötig sein, als Schutz eines Menschen vor sich selbst, oder um Andere zu schützen, einen Menschen bewegungsunfähig zu machen - zu fixieren. Zu fesseln.

Dabei muss es nicht immer zum Extremfall der Sieben-Punkt-Fixierung (Hände, Füße, Bauch, Brust, Kopf) kommen. Viele von uns haben in Filmen wie One Flew Over The Cuckoo's Nest schon einmal gesehen, wie das genau aussieht. Das Gericht hat nun beschlossen, dass so eine Fixierung ohne richterlichen Beschluss verfassungswidrig ist, da sie einen Eingriff in die persönliche Freiheit des Patienten darstellt.

In drei Bundesländern war es bereits üblich, diese Fixierung nur auf richterlichen Beschluss zu vollziehen, andernorts hat die Verordnung eines Arztes gereicht. Einhergehend mit dem neuen Urteil soll also nun bundesweit eine richterliche Bereitschaft installiert werden, damit man ohne lange Verwaltungswege die (hoffentlich notwendige) Fixierung eines Patienten durchsetzen kann.

Ich weiß ehrlich nicht, was ich von dieser Neuerung halten soll, gerade weil ich mich mit Heimleitungen unterhalten habe, und gerade weil ich das aus der Schule her kenne: Manchmal kann einem Pädagogen das Schulgesetz im Weg stehen. Ich will diesen Satz gar nicht weiter beleuchten oder kommentieren, das ist einfach nur eine Feststellung nach meiner bisherigen Schulerfahrung. Möge jeder für sich selbst entdecken.

Das heißt also, wenn ich in einer geschlossenen Psychiatrie einen akuten Notfall habe und eine Fixierung nötig ist, muss ich zuerst einen Anruf bei dem zuständigen Richter tätigen. Und der soll, entfernt, wie er nun mal ist, binnen weniger Sekunden oder Minuten eine Entscheidung fällen. Ich vermute, dass er das ist den meisten Fällen zulassen wird, weil ein Richter vielleicht kein ausgebildeter Psychiater ist, oder man wird dafür Spezialisten suchen.

Ich sehe diesen Beschluss tatsächlich als Hürde. Ich kann den Blickwinkel des Bundesverwaltungsgerichts verstehen. Es wird verhindert, dass Menschen ihre Machtstellung in Psychiatrien ausnutzen. Es fällt mir schwer, eine eindeutige Meinung dazu zu bilden. Wie seht Ihr das?

post scriptum: Unter das Bild oben habe ich geschrieben "Who can forget...?" - aber wer weder Buch noch Film kennt, wird sich nicht an Oberschwester Mildred Ratched aus Ken Keseys "One Flew Over The Cuckoo's Nest" erinnern. Lese- bzw. Schauempfehlung!

Montag, 23. Juli 2018

Psychisch auffällig

Er? Ich?

Der eine oder andere Norddeutsche dürfte von dem Vorfall in einem Lübecker Linienbus vor Kurzem gehört haben. Wobei... der Fall hat es tatsächlich bundesweit in die Presse geschafft, also war es tatsächlich schwer, dieser Neuigkeit auszuweichen. Falls doch jemand den Nachrichten entkommen ist: In einem Bus der Linie Dreißig hat ein Mann einen rauchenden Rucksack abgestellt, der, wie sich dann herausstellte, Brandbeschleuniger enthielt; wohl mit dem Plan, den Bus in Brand zu setzen. Mehrere Fahrgäste haben versucht, ihn zu überwältigen, wobei er sich mit einem Messer wehrte und zehn Menschen verletzte.

Genaue Hintergründe stehen noch aus, aber die Kieler Nachrichten titeln heute, dass der Täter als "psychisch auffällig" galt. Das ist natürlich genau das, was viele Menschen hören wollen. Es ist immer irgendwie einfacher, wenn man Täter als verrückt abstempeln kann, denn dann ist es leichter sich einzureden, dass es immer nur die Anderen sind.

Psychisch auffällig? Lass' mich mal in den Spiegel sehen... ich bin menschenscheu, lebe in einer fast immer abgedunkelten Wohnung, esse so gut wie nie vor achtzehn Uhr, gehe nicht an's Telefon, mag nicht angefasst werden - ich habe auch psychische Auffälligkeiten. Haben wir die nicht alle? Kontrollwahn, Waschzwang, ist der Herd auch wirklich aus, Selbstgespräche...

Warum schreibe ich überhaupt über dieses Thema, wo soll das hinführen? Das Schleswig-Holstein-Magazin hat mir gerade mitgeteilt, dass es immer noch keine Erkenntnisse im Fall Lübeck gibt; mir ist nur wichtig - vor allem in der pädagogischen Arbeit - ein Verständnis dafür zu schaffen, dass es nicht immer die Anderen sind, die verrückt sind. Die Verrücktes tun. Jeder möge sich selbst einmal hinterfragen.

Psychisch auffällig ist okay. Solange wir psychisch Auffälligen gegenüber aufgeschlossen sind. Und solange wir psychisch Auffälligen niemandem schaden.

Samstag, 21. Juli 2018

Teen Angst

Angst vor dem Unbekannten? Angst vor der Veränderung?

Klingt schräg, aber der Begriff teen angst hat es tatsächlich in den englischen Sprachgebrauch geschafft. Viele Leser sind sicherlich mit den Konzepten von Initiation und Coming-of-Age vertraut, dem Übergang von einem unschuldigen Leben zu einem, das sich der Negativität in der Welt bewusst wird. Gerade noch hielt er sich für unsterblich, den Mittelpunkt des Universums und alles, was er tat, war natürlich richtig, und dann passiert etwas, was dieses Bild im Kopf für immer zerschmettert.

Das haben wir alle durchgemacht, manche haben es noch vor sich. Es ist ein sehr beliebter Topos in der Literatur, und auch in Filmen wird es gern thematisiert. Mir fällt das zur Zeit auf, weil ich vorgestern einen Film mit eben dieser Thematik gesehen habe, und dass es ein ziemlich guter Film war, zeigt sich darin, dass er nachwirkt. Ich habe heute noch schnell, bevor die zweitägige Amazon-Leihperiode ausgelaufen ist, einige Szenen noch einmal angeschaut und ich denke, dass ich den Film in meine Sammlung aufnehmen sollte.

Man kann Initiationsgeschichten in unterschiedlichen Genres verarbeiten. Stand By Me (1986), nach Stephen King, ist ein Abenteuerfilm, in dem eine Freundesgruppe um die vierzehn Jahre sich auf den Weg macht, eine Leiche aufzusuchen. Klassischer Stoff, im Englischen nennt man ein solches Abenteuer Quest - ein Abenteuer, von dem man reifer, erwachsener zurückkommt. War echt schön, sich mit der Geschichte ein bisschen nostalgisieren zu lassen.

Es kann auch rabenschwarzer Humor sein; im Rahmen meiner Examensarbeit bin ich über den Film Heathers (1988) gestolpert, der sich auf die Zeit nach der Initiation konzentriert - und der Begriff teen angst wird wörtlich gebraucht. Und Wynona Rider und Christian Slater geben ein herrliches Mörderpärchen ab.

Man kann allerdings auch bierernst und authentisch herangehen. Man kann entscheiden, sein Regiedebüt in die Neunziger zu legen, wenn man Kevin Phillips heißt, und kann beschließen, Teenager genau so darzustellen, wie sie sind - fürchterlich uncool, jungfräulich und mit großen Sprüchen. In Super Dark Times (2017) führt ein grausiger - und leider nicht vollkommen unrealistischer - Unfall dazu, dass eine Freundesclique sich verändert. Mit der Unschuld ist es vorbei, stattdessen scheinen nach und nach Angst, Eifersucht, Paranoia und Gewaltphantasien das Leben zu beherrschen.

Ich habe länger überlegt, warum der Film bei mir so sehr nachwirkt. Ist es der sehr intensive Gebrauch der subjektiven Kamera? Ist es die durchweg überzeugende Darstellung der jungen Schauspieler? Der Gedanke, dass all' das wirklich so passiert sein könnte? Die Erinnerung an Columbine? In mir hat der Film Gedanken an den Fall Marcel Heße geweckt, nicht allzu lange her und äußerst verstörend. Einer der Charaktere im Film wirkt besonders gen Ende sehr kalt - und das scheint leider nicht mehr vollkommen unwahrscheinlich.

Wir unterrichten Teenager in einer verdammt schwierigen Phase ihres Lebens. Ein offenes Ohr könnte helfen... oder zumindest das Bewusstsein, dass diese Schüler eine sehr harte Zeit durchmachen.

post scriptum: Ach ja, man kann Coming of Age natürlich auch in einem Horrorfilm thematisieren. Darüber hatte ich geschrieben - der Film heißt "It Follows" - und auch dort erfährt der Zuschauer sehr deutlich, dass die Protagonisten am Ende des Films eine Wandlung durchgemacht haben. Alles anschauliche und wirklich gute Filme.

Donnerstag, 19. Juli 2018

Rezensionen


Ich lese nach einem Film gern eine Rezension. Die große Buba macht das nicht, und hat mir das so erklärt, dass sie sich gern ihre eigene Meinung bildet, sei es zu Büchern, Filmen, Spielen, whatever. Und sie mag es nicht, wenn ihre eigene Meinung durch die Rezensionen Anderer verschwimmt. Ich kann das nachvollziehen, aber ich ticke anders.

Beispiel Film. Wenn ich mir einen Film anschauen möchte, den ich noch nicht kenne, versuche ich mit maximaler Naivität heranzugehen. Ich lese keine Inhaltsangabe, ich schaue mir keine Trailer an, ich möchte, dass der Film "pur" wirkt. Das Einzige, was ich mir vorher anschaue, ist die Quote auf rottentomatoes.com - wieviel Prozent der dortigen Kritikerrezensionen sind positiv?

Denn ich möchte "scheinbar" gute Filme schauen, ich möchte herausfinden, was einen guten Film ausmacht. Ich möchte herausfinden, wie manche Filme es schaffen, die Kritiker durch die Bank zu begeistern. Das bedeutet nicht, dass ich mir meine eigene Meinung nicht mehr bilden kann. Allerdings habe ich eine Grundlage, auf der ich meinen Kommentar zu dem Film abgeben kann.

Zum Beispiel der Film The Usual Suspects (1995). Das ist der mit Keyser Soze. Das Publikum scheint den Film zu lieben, er ist sehr populär (wie man dem IMDb-Ranking entnehmen kann). Achtundachtzig Prozent der Rezensionen sind positiv - aber ich habe mir meine eigene Meinung gebildet, ich kann mit dem Film nichts anfangen. Ich finde ihn nicht spannend, ich habe kaum Anreize, ihn zuende zu schauen. Daran ändern auch die Rezensionen nichts.

Was sie allerdings ändern können, ist mein Horizont. Ich lese nur die Rezensionen von Roger Ebert, weil ich da sicher sein kann, dass der Mann wusste, was er tat; den Pulitzerpreis hat er sich verdient. Das heißt nicht, dass ich immer seiner Meinung bin - so fand er Disneys Tron (1982) ganz toll, ich sehe das anders. Ich finde seine Rezensionen aber in jedem Fall bereichernd. Ebert schafft es, mir andere Blickwinkel auf einen Film zu geben, andere Denkimpulse. Dafür bin ich sehr dankbar.

Ich würde ohne das Abgleichen mit der Kritik Angst haben, dass ich zu engstirnig werde. Ich möchte immer andere Sichtweisen kennenlernen. Das nützt mir letztlich auch in der Arbeit als Lehrer, denn ich muss versuchen, Ereignisse aus der Sicht eines Schülers zu betrachten, und ich muss mir alternative Untrerrichtsideen von Kollegen abschauen. Einfach, um flexibel zu bleiben und meinen Horizont zu erweitern.

Montag, 16. Juli 2018

Hochbegabung visualisiert


Es gibt Filme, die ziemlich treffend darstellen, wie es sich anfühlt, hochbegabt zu sein. Denn man kann sich das nicht einfach so vorstellen, genauso wie ich mir normalbegabtes Erleben nicht vorstellen kann. Ich denke, ich werde einen Link links setzen. Zu Filmen, bei denen ich das Gefühl hatte "Oh ja, so geht es mir auch!" - das kann das Filmerlebnis erstaunlich intensivieren. Und es tut so gut, solche Filme zu sehen. Als würde ich mich verstanden fühlen.

Natürlich hat ein Film diese Gedanken ausgelöst, und zwar Darren Aronowskys Debütwerk Pi (1998). Mit einem geringen Budget hat er einen genialen Film erschaffen, der sich um einen hochintelligenten Mathematiker dreht. Ich habe beim Anschauen mehrfach gedacht, "Hey, das kenne ich, so mache ich das auch", und gleichzeitig ist der Film unglaublich spannend - wenn man ihn nachvollziehen kann.

So geht zum Beispiel der Hauptcharakter nicht gern an's Telefon, er öffnet nicht, wenn jemand klopft, sondern schaut durch das Schlüsselloch. Er meidet Kontakt mit Menschen. Seine Wohnung ist chaotisch, zweckdienlich. Er beruhigt sich, indem er Zahlenreihen im Kopf durchgeht. Er vergisst Menschen. Er vergisst alles, was nicht wichtig ist. Er ist in seinem eigenen Gedankenzug, Anderes wird kaum wahrgenommen. Die subjektive Kamera zeigt das sehr gut.

Dass das deutsche Elektro-Musikprojekt welle:erdball viele Zitate aus diesem Film in einigen ihrer Lieder verarbeitet haben, hat dazu geführt, dass ich viele "Ach, daher kommt das!"-Momente hatte, weil ich in meiner intensiven Lost Souls-Phase viel Musik von ihnen gehört habe. Das Album Chaos Total (2006) ist eine Liebeserklärung an diesen Film.

Ich notiere in diesem Beitrag also Besprechungen zu Filmen, die mit unterschiedlichsten Techniken "hochbegabtes Erleben" darstellen, für alle, die es interessiert. Da kommt bestimmt noch etwas hinzu.

Pi (1998)

Ben X (2007) über einen Schüler mit Asperger-Syndrom

The Social Network (2010) über Mark Zuckerberg, Facebook-Gründer und hochintelligenter Kopf

Nightcrawler (2014) über einen zielstrebigen, manipulativen jungen Mann

The Imitation Game (2014) über Alan Turing, einen der Entwickler des heutigen Computers

Sonntag, 15. Juli 2018

Ich könnte jetzt Angst haben - oder...

Vielleicht wird jetzt ein neues Kapitel in meinem Leben aufgeschlossen...

Interessant, wie man Leser manipulieren kann - der letzte Beitrag hatte so wenige Klicks wie seit über zwei Monaten nicht mehr, und das, obwohl er womöglich eine entscheidende Wendung in meinem Leben dokumentiert. Aber ich habe diese Wendung maskiert (Mask-HÄH!), außerdem sind Ferien, die Leute sind im Urlaub und mit ihrem Privatleben beschäftigt. Also alles in Ordnung. In a nutshell:

Ich bin jetzt Berufsschullehrer. Vielleicht für immer.

Ich habe noch nie an einer Berufsschule unterrichtet. Als die Anfrage kam, hatte ich einfach nur Angst. Keine Freude, dass ich mich vielleicht nicht arbeitslos melden muss. Keine Neugier auf die neue Herausforderung. Kein Leuchten in den Augen wegen einer Chance zur Verbeamtung. Einfach nur Angst. Angst vor Veränderung in meinem Leben. Angst vor dem Unbekannten. Angst vor der Absage. Angst davor, wieder einen Dämpfer zu bekommen.

Und somit hätte ich beinahe nicht auf diese Anfrage geantwortet. Wenn da nicht die Sannitanic gewesen wäre, die mir schon so oft die nötige Vernunft und den gesunden Menschenverstand in meinen seltsamen Schädel geprügelt hat. Wenn da nicht die große Buba gewesen wäre, um mich zu dem Auswahlgespräch zu begleiten. Wenn da nicht mein Papa gewesen wäre, um die neue Autobatterie einzubauen. In solchen Situationen erlebe ich, welche Menschen mir in meinem Leben wichtig sind. Und ich wünschte, Er wäre da, ich wünschte, ich könnte diesen Moment mit ihm teilen, aber das kann ich nicht. Ich habe Geduld.

Ich habe nicht im Geringsten mit einer Zusage gerechnet. Mehrere Bewerber, und wie ich einst geschrieben habe, nimmt mich keine unbekannte Schule, wenn mehrere Bewerber da sind. Ich verkaufe mich einfach nicht gut. Zu ehrlich. Zu sehr ich selbst. Das will doch keiner sehen. Und so bin ich diesmal auch leicht depressiv vom Gespräch nach Hause gefahren. Den weiteren Verlauf habe ich im letzten Beitrag beschrieben.

Ich könnte jetzt Angst haben.

Angst davor, dass ich mehrere Lerngruppen durch das Abitur führen muss. Dass ich ein Fachabi abnehmen muss, was mir momentan noch unbekannt ist. Dass ich selbst diese Fachabitur-Prüfungen entwerfen muss. Dass ich an unbekannten Orten unterrichte. Dass ich den Anforderungen nicht gerecht werden kann. Dass ich nie wieder Latein unterrichten werde. Dass... es könnte ewig so weitergehen; ein hochbegabter Geist wird nie müde, sich alles Negative auszumalen, was passieren könnte.

Oder ich könnte die Hand, die mir gereicht wurde, nehmen. Ich konnte das entgegengebrachte Vertrauen als Chance verstehen. Meine Chance, endlich mal den richtigen Zug im Leben zu bekommen, endlich mal alles richtig zu machen, weil ich endlich eine Perspektive habe. Ich habe noch fünf Wochen Ferien - Zeit genug, um mich in alles einzulesen. Zeit genug, um mir vorzunehmen, über meine neue Schule in diesem Blog nichts zu schreiben, um niemanden zu düpieren; die alten Schulen bieten Erlebnisse genug, über die ich noch nicht berichtet habe. Zeit genug, wieder Autofahren lieben zu lernen.

"Wir freuen uns auf sie - das wird was!"

Zeit genug, die Tragweite, dieses Satzes abzuschätzen.

post scriptum: Angst davor, dass ich nie wieder Latein unterrichten werde, hatte ich zu keinem Zeitpunkt. Am Anfang, in St.Peter-Ording, war mir der Gedanke befremdlich, nur noch Englisch zu unterrichten. Dann habe ich es fünf Jahre gemacht - und mir hat überhaupt nichts gefehlt. Ich konnte meinem neuen Arbeitgeber aufrechten Rückgrats bestätigen, dass ich damit kein Problem haben würde.

Freitag, 13. Juli 2018

Kirstjen Nielsen

Wer bin ich...? - Ein neues Kapitel beginnt.

Ich wette, Ihr ahnt nicht, worum es gehen könnte, und bestimmt werden viele diesen Beitrag deswegen auch gar nicht erst lesen. Was soll das für eine Frau sein, und dann noch mit diesem J in ihrem Namen, ein Verstoß gegen jegliche Linguistik-Konventionen.

Es ist so, dass die amerikanische Satirikerin Samantha Bee über Trumps Secretary of Homeland Security, Kirstjen Nielsen, öfters berichtet hat, unter anderem auch über die Praxis, Migrantenkinder an der Grenze von ihren Müttern zu trennen, wir kennen die Geschichte. Bee kommt nicht umhin, sich über Nielsens Vornamen lustig zu machen, in den sie an willkürlichen Stellen weitere Js einstreut, und landet am Ende bei der Aussage: "Kjirstjen Njielsjen is fjull of shjit." Ich bin gestorben vor Lachen und habe diesen Satz seither nicht mehr aus dem Kopf bekommen (hier geht es zu dem Video, besagte Stelle ab 5:50).

Es geht heute weder um Trump, noch Nielsen oder Bee, es geht um einen Tag, der vollkommen für die Tonne war, weil wirklich nichts so gelaufen ist, wie es sollte. Ich glaube zwar nicht an das Konzept, kam aber nicht umhin daran zu denken, dass heute Freitag der Dreizehnte ist. Ich warte auf Post, super, Sendungsverfolgung verpasst mir einen aufgeregten Start in den Tag, während ich anfange, die Zetteldünen aus meiner Wohnung aufzusammeln. Immer mal wieder aktualisieren, toll, das Paket ist im Zustellfahrzeug und der Postbote kommt zwischen zehn und dreizehn Uhr.

Und so aktualisiere ich den Sendungsstatus regelmäßig, bis plötzlich eine rote Box angezeigt wird - dass meine Post im falschen Wagen gelandet ist und es ein bis zwei Werktage dauern kann, bis die Lieferung zugestellt wird. Und damit bricht mein Tagesgerüst zusammen. Sicher, das mag eine Kleinigkeit sein. Ist es auch. Aber, und das darf ich guten Gewissens auf die Hochbegabung schieben, solche kleinen Unvorhergesehenheiten können die Grundstimmung in's Gegenteil verkehren. Autisten und Asperger können ein Lied davon singen...

Ja, toll, also ist der Tag im Arsch, dann sage ich auch gleich mal der großen Buba ab, denn ich fürchte, das könnte ein Nachmittag zum Einigeln werden - es steht nämlich noch ein Anruf an.

Im Sumpf der Arbeitslosigkeitsdepression nach meinem letzten Schultag an der KGS habe ich natürlich immer wieder das pbOn durchwabert, und irgendwann flatterte eine Mail einer Schule herein, die eine Englischvertretung sucht. Und ich denke mir: Okay, die schreiben dich an, vielleicht hast du da ja eine Chance. Sag' es noch keinem, sonst musst du allen nachher wieder von der Absage erzählen - ein Scheißgefühl. Bin dann mit der großen Buba zum Vorstellungsgespräch gefahren und mit sackendem Herzen wieder zurück, gab noch eine Reihe weiterer Bewerber und ich habe mich im Vorstellungsgespräch echt nicht gut gemacht. Mal wieder versaut, nach zwölf Vorstellungsgesprächen bekommt man irgendwann ein Gefühl dafür.

Naja, und auf den Anruf der Schule wartete ich noch, hab' versucht, mich mit Videospielen abzulenken, dann klingelt das Telefon und ich bekomme panische Angst. Natürlich gehe ich nicht ran. Ich gehe nicht gern an's Telefon, weil ich nicht weiß, was mich da erwartet. Okay, hier weiß ich es, das ist der Anruf von der Schule, aber ich will nicht drangehen, denn ich habe Angst vor diesen Absagegesprächen, das hat man dann auch irgendwann oft genug gehört und ich nehme mir das immer sehr zu Herzen. Also haue ich beharrlich weitere Monster tot, während im Hintergrund das Telefon klingelt, und dann ist es endlich wieder still.

Videospiele aus, Gang zum Telefon, die leuchtende Lampe zeigt: Nachricht auf dem AB. Oh scheiße. Und aus einer sadistischen Ader heraus aktualisiere ich nochmal den Post-Sendungsstatus, nur um zu sehen, dass heute auch wirklich nichts mehr ankommt. Geht es noch weiter runter? Ich brauche Ablenkung, lasse die AB-Lampe leuchten und den Sendungsstatus vergammeln und nehme mir Blade Runner 2049 vor. Das dürfte mich auf andere Gedanken bringen; irgendwie habe ich es geschafft, mich für die Story des Originals tatsächlich zu begeistern, und diese Fortsetzung hat ziemlich gute Kritiken erhalten (und zwei Academy Awards). Dazu kommt, dass der Film mit knapp drei Stunden recht lang ist und ich mich in diese Dystopie fallen lassen kann.

Habe ich gemacht. Toller Film. Und immer noch blinkt das Licht am Telefon, naja, nützt ja nichts. Ich setze mich auf das Bett und rufe meine Nachricht ab. Und da sagt mir der stellvertretende Schulleiter, dass ich den Job bekommen habe, "das wird was!" - meine erste Reaktion:

"WHA... ...ah... ...Kjirstjen Njielsjen is fjull of shjit."

Und dann schreie ich die Wand an. Interessant, wie man auf solch' eine Nachricht reagieren kann, interessant, dass ausgerechnet dieser Satz als Erstes durch meine Gedanken gerattert ist. Morgen wird gefeiert.

Ich habe einen Job.

post scriptum: Liebe Eltern, ich rufe Euch an, aber noch nicht, ich muss das erstmal selbst verarbeiten. Ich danke Euch für Eure Hilfe!

Donnerstag, 12. Juli 2018

Schule mit Courage? Leck' mich am Arsche!

Invisible poison...

Schule ohne Rassismus - Schule mit Courage, das ist der Titel eines schulischen Netzwerkes, und eigentlich klingt das toll. Viele Schulen sind Mitglied und schmücken sich auch damit, viele Schulen haben eine Plakette, das sie als Schule mit Courage ausweist. Ich habe an mehreren dieser Schulen unterrichtet, und habe tatsächlich nicht so viel Rassismus erleben müssen. Das fand ich gut.

Allerdings stand Mobbing dort an der Tagesordnung wie an vielen anderen Schulen leider auch. Und nicht alle Lehrer konnten sich als Vorbild rühmen, denn im Kollegium wurde auch gemobbt. Lästern - darüber habe ich einmal geschrieben - und alles, was noch dazugehört. Schüler auslachen, sie in der Klasse diskriminieren, das hat für mich nicht viel mit Courage zu tun. Ich würde denken, wenn, dann sollte das auf jeder Ebene mitgetragen werden.

"Wenn wir schon Inklusion leben, dann gilt das selbstverständlich auch für das Kollegium!" - ebenfalls eine starke Aussage. Aber die Realität sah gern mal anders aus.

Ein ähnliches Beispiel ist Pilotschule irgendwas mit Hochbegabung, das klingt großartig, neue Wege werden erschlossen, hier sind Hochbegabte gut aufgehoben. Das vermittelt die Plakette, oder das Schulprogramm, oder man liest es auf der Homepage. In der Tat: Die Schule bietet Hochbegabten Möglichkeiten. Da gibt es das Drehtürmodell, Schnuppern im Unterricht anderer Jahrgangsstufen, vielleicht sogar sehr unkonventionelle Sprachkurse, und natürlich auch Enrichment.

Da sind wirklich großartige Ideen dabei, das klingt ganz toll, das sieht gut aus. Für erkannte Hochbegabte ein Paradies. Aber was ist mit den Unerkannten? Mit den Underachievern? Ich würde denken, dass eine Schule, die sich der Begabtenförderung verschrieben hat, Mittel und Wege zur Diagnostik hat, und Tricks findet, um bei Underachievern das Potential abzurufen. Aber ich muss ehrlich sagen, dass ich bei den meisten Schulen, bei denen ich bisher vorgesprochen habe, in dieser Richtung einen wunden Nerv treffe.

Und ich habe auch in diesem Blog schon hin und wieder geschrieben, dass ich auf Gegenwind gestoßen bin, wenn ich einen HB-Verdacht bei einem Schüler mit mäßig ausreichenden Leistungen hatte. Nicht überall: Es gab auch Schulen, die sich für solche Vermutungen aufgeschlossen gezeigt haben. Und meiner Meinung nach sind sie es, die eine Plakette für die Begabtenförderung verdienen, denn das ist wirklich harte Arbeit mit vielen Mühen und vielen Enttäuschungen.

Es gibt Schulen, da steckt drin, was draufsteht. Es gibt aber auch Schulen, die möglichst viele dieser Plaketten an ihre Hauswand pinnen möchten, um des Images Willen. Um mehr Schüler zu bekommen - um sich am Leben zu erhalten. Verständlich. Aber nicht meine Schule.

Montag, 9. Juli 2018

Was bleibt - die Antwort


Diese Mail hat mich am Sonntag erreicht, als Reaktion auf die Geschichte von Klaus, die ich im Beitrag "Was bleibt" beschrieben hatte:

Hallo Dr Hilarius!

Soll ich am Anfang anfangen? An welchem Anfang tho. Hm. Schwierig.
Ich fange mit gestern Mittag an. Ich bin nämlich von den alltäglichen Stallarbeiten reingekommen und habe meine Mutter vorgefunden, mit Tränen in den Augen, aber einem Lächeln im Gesicht. In der Hand hat sie ein ganz bestimmtes Buch gehalten, das gestern oder vorgestern angekommen sein muss. Ohne aufzusehen hat sie gesagt: “Ja, Klaus.“ Wie ja. Dann hat sie mich angesehen und die Worte sind nur so aus ihr herausgesprudelt. Noch nie habe ich meine Mutter mit einem derartigen Enthusiasmus reden gehört. Ich habe mir ernsthaft Gedanken darüber gemacht, ob sie gleich aufspringt und anfängt, mich zu schütteln. Was ich aus ihren Worten entnommen habe ist, dass meine Kindergartenzeit wohl voll und ganz auf die Beschreibung im Buch passt. Außerdem hat sie wohl diese eine Sache sehr berührt, dass nämlich alle Erzieher und später Grundschullehrer ihr vorgeworfen haben, dass sie mich zu sehr pusht, dass sie ihren Ehrgeiz an mir auslässt, obwohl das komplett nicht gestimmt hat. Sie war, wie exakt im Buch beschrieben, vollkommen bestürzt über meine damalige Diagnose Hochbegabung gewesen. Außerdem habe ich folgenden Dialog zwischen ihr und der Psychaterin aus ihrer heutigen Erzählung genommen: 
“Ich wollte doch einfach nur ein normales Kind! Wissen sie, woher das denn überhaupt kommen kann?“
“Hatten sie in ihrer Schulzeit Freunde?“
“Nicht wirklich.“
“Und wie haben sie ihre Schulzeit verbracht?“
“Also gelernt habe ich nicht.“
“Ja dann schauen Sie in den Spiegel, dann wissen Sie, woher das kommt!“
Ich wusste, dass meine Mutter hochbegabt ist. Sowohl ihre als auch meine Sensibilität hat uns beide immer wieder zur Weißglut getrieben und wir hatten unzählige Male unnötig Streit, weil wir beide in bestimmten Situationen zu sensibel waren. Mein Vater versteht uns nicht. Mein Vater versteht sich mit meiner Mutter nicht. Mein Vater hätte mir dieses Buch nicht mal gekauft. Wir beide können das Verhalten meines Vaters mittlerweile nicht mehr ab. Für meine Mutter wäre es schon längst fällig gewesen, wegzuziehen. Das hat sie nicht gemacht. Und heute habe ich verstanden, warum.

Wir haben nämlich dann geredet, lange, ohne jede Provokation, ernsthaft. Sie hat mir immer weiter aus dem Buch vorgelesen, ich habe gesagt, wenn etwas davon auf mich zutraf oder eben nicht. Ich habe den Rest des Tages dann immer wieder durch das Buch geblättert, bis ich auf “drei besondere Fälle“ gestoßen bin und damit auf ein Mädchen namens Lilo. Vorher habe ich mir die typischen Fälle von Hochbegabten wieder und wieder durchgelesen und nur vereinzelt Dinge gefunden, die auf mich zugetroffen haben, ich habe schon fast gedacht, ich wäre überhaupt nicht hochbegabt. Ja, und dann der Fall mit Lilo, das war damals, als ich so 13 Jahre alt war, 1:1 ich. Nur diese Sache mit dem Schuleschwänzen und dem Drogenkonsum hat nicht zugetroffen. Weil ich auf dem Land wohne und darauf angewiesen war und bin, dass meine Eltern mich überall hin fahren und abholen, war es praktisch unmöglich, die Schule zu schwänzen oder viel Zeit mit falschen Freunden zu verbringen. Zudem hatte und habe ich hier Verantwortungen, die Pferde zum Beispiel. Sie haben mich damals davon abgehalten, solche Dummheiten zu veranstalten. Zusätzlich gehe ich ja auch noch auf eine relativ seriöse Schule, außerdem wollten die “Drogenleute“ sowieso nie irgendetwas mit mir zu tun haben. Wäre meine Mutter allerdings mit mir von meinem Vater weg in die Stadt gezogen, hätten die Dinge vollkommen anders ausgesehen. Ich habe endlich verstanden, dass meine Mutter es komplett richtig für mich ausgerichtet hat. Seit heute weiß ich sogar, dass sie mich erst auf ein Hochbegabteninternat schicken wollte, nur nicht das Geld dazu hatte. So kam diese schlaue Alternative zustande. Im Nachhinein bin ich ihr voll und ganz dankbar. Das Verhältnis zu ihr hat sich verändert (auch wenn es vielleicht nur für heute angehalten hat, wer weiß).

Und da haben wir auch gleich, was sich durch das Buch in jedem Fall geändert hat. Aber es hat sich noch was geändert. Ich sehe mich, auch wenn es nur minimal ist, anders. Dinge, die mir vorher “abnormal“ erschienen, sind mir jetzt als normal vorgestellt worden. *Das* bin ich. *Das* ist, was es heißt, ich zu sein. Wow. 
Und deshalb muss ich Ihnen schon wieder danken, schon wieder haben Sie mit einer für Sie vielleicht unbedeutenden Handlung mein Leben ein kleines bisschen verändert. 

Was mich zum nächsten Thema bringt. Ich würde Ihnen nämlich gerne erzählen, wie Sie das zuerst gemacht haben, weil es mir sehr am Herzen liegt. Naja, zum Einen durch “Lola rennt“, ich meine, das letzte Mal, dass mich ein Film so gepackt hat war, als ich mit sechs Jahren den Zeichentrickfilm “Spirit“ gesehen habe, der, obwohl er ein ziemlicher Kinderfilm ist, (vielleicht gerade deswegen) immer noch einen besonderen Platz in meinem Herzen hat. Aber zum Anderen durch das, was Sie nach der letzten richtigen Lateinstunde, die wir mit Ihnen hatten, gesagt haben. Ich habe zwar darüber nachgedacht, aber es gab jemanden, dem Ihre Worte wirklich und richtig zu Herzen gegangen sind. Fritz. Wir kannten uns zu dem Zeitpunkt kaum, nur vom Sehen, nie haben wir wirklich ein Wort gewechselt. Nach der Lateinstunde hatten wir Wipo. Er saß schräg hinter mir, Dennis neben ihm, und zufällig ist mir aufgefallen, dass er geweint hat, und Dennis neben ihm ziemlich hilflos war. Ich rücke mit meinem Stuhl zu ihm. 
“Hey, was ist denn?“
“Nichts.“
“Dann würdest du nicht weinen.“
“Es ist nichts, okay?“
“Ja, das sagen sie alle.“

Ein halbes Lachen huscht über sein Gesicht, aber er schluchzt sofort wieder los. Ich weiß keine Methode mehr und warte einfach.

“Das, was Dr Hilarius gesagt hat...“
“Ja?“
“Das ist so verdammt wahr.“

Wow. Ich weiß nicht mehr weiter, habe wohl irgendwas wie “ja, das stimmt“ oder so gestammelt, das nächste was ich weiß ist das:

“Wie kannst du das?“
“Was?“
“Ja, DAS!“

Ich habe absolut keine Ahnung, was er meint. 

“Was??“
“Warum bist du immer so gut drauf?“
“Bin ich das?“
“Ja! Was war denn das eben?“
“Naja, also, eh... ich habe glaube ich einfach gelernt, dass ich nichts bewirken kann, wenn ich meine Launen immer auslebe, wenn ich immer gut drauf zu sein scheine, dann... außerdem bin ich das gar nicht!“
“Aber du weißt immer, wie du dich verhalten musst.“
“Nein.“
“Doch!“
“Ist ja gut. Das Wichtigste ist, dass du stark bleibst. Ok? Nicht weinen. Kann ich sowieso nicht ab.“

Wieder huscht sowas wie ein Lachen über sein Gesicht. Wir wechseln das Thema. Wie damals auf der Skifahrt mit Paul, der jetzt eine Klasse wiederholen musste, schaffe ich es auf eine mir unerklärliche Weise, Fritz (eine mir bisher fremde Person) aufzuheitern, ihn zu reparieren. Danach schreibt er mir. Es wird häufiger. Und dann wird es so, wie es jetzt ist. Er wird der erste Mensch, der nicht meine Mutter ist, der mich unterstützt und immer will, dass ich glücklich bin. Mit seiner Hilfe und Unterstützung und mit meinem durch “Lola rennt“ veränderten Denken verändere ich die eine Sache, die mein Leben seit der sechsten, siebten Klasse bestimmt hat und bekomme die Bestätigung, dass meine “Freunde“ nie meine Freunde waren und dass meine ehemalige beste “Freundin“ (Verhältnis: Ich liebe sie, sie findet mich okay. Hätten wir doch nur nicht so verdammt viel gemeinsam gehabt, bis hin zu den IQ-Punkten!) absolut nichts für mich fühlt. Ich war so glücklich gewesen, dass es an der weiterführenden Schule Menschen gegeben hatte, die wenigstens eine geringe Ähnlichkeit mit mir gehabt haben und dann spreche ich endlich die Wahrheit aus, was jeder normale Mensch schon viel früher getan hätte und bekomme instantly meine alte Situation wieder. Alles schmerzhaft Erarbeitete war dann wieder weg. Im Nachhinein ist das aber nicht “alles verloren“. Aber mir ging es absolut nicht gut, ich habe mich wie ein einziger großer Fail gefühlt, dieses Denken hat Frau Wirwissenwer bestärkt. Und dann wurde ich, wieder durch Fritz, wieder stark. Habe unnötig Latein gepaukt, bis ich meine ach so liebenswerte Lieblingslehrerin sprachlos gemacht habe. Und langsam kann ich akzeptieren. Langsam besteht mein Leben nicht mehr nur aus “ihr“. Warum erzähle ich Ihnen das alles? 

Aber jetzt mal im “Lola rennt“- Denken: Was wäre und wäre nicht passiert, hätten Sie Fritz nicht zum Weinen gebracht? Wo wäre ich dann jetzt?

Ich sollte Ihnen die Reaktionen zu dem Buch schreiben. Ich glaube, auch die ganze Geschichte, von vorn bis jetzt, ist eine Reaktion auf das Buch, weil ich jetzt die ganze Geschichte *verstanden* habe. Ich kann gar nicht beschreiben, warum ich nur Ihnen das hier geschildert habe, denn was sollen Sie schon damit anfangen. 
Dennoch, danke. Für alles.

Klaus

Es war das zweite Mal, dass ich erstmal nicht wusste, was ich sagen, schreiben, antworten sollte.

Darum bin ich Lehrer geworden, und habe diese Entscheidung bisher nicht bereut.

post scriptum: Ich weiß, dass Klaus & Fritz diesen Beitrag lesen und bitte Euch auf diesem Weg um Geduld mit mir, eventuell steht eine neue Schule an, und sobald das geklärt ist, seid Ihr dran.

Sonntag, 8. Juli 2018

Die Lehrprobe

So hat er zu sein, der Lehrer...?

Ich erinnere mich an jede einzelne meiner Lehrproben in meiner Laufbahn als Nulltsemester und dann als Lehrkraft im Vorbereitungsdienst des Landes Schleswig-Holstein a.k.a. Referendar. Wie könnte ich auch nicht? Jede Lehrprobe dräute wie ein Todesurteil über mir, für mich hat es sich immer angefühlt, als müsste ich vor ein Erschießungskommando treten. Wundert das? Wenn ich eine Unterrichtsstunde zeigen soll, bei der im Hintergrund die Schulleitung sitzt, die Ausbildungskoordinatorin, mein Fachmentor und die gesamte Gruppe aller Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst unserer Schule?

"Zeigen sie uns einfach ganz normalen Unterricht, wir wollen keine Zauberstunden sehen."

Ja ne, is klar. In allen meiner achtzehn offiziellen Lehrproben habe ich diesen Satz als Zynismus empfunden, denn in dieser Stunde sitzen da hinten zwischen vier und neunzehn Besuchern, notieren jeden einzelnen Atemzug, den ich da vorne tätige, skrutinieren jegliche Armbewegung in meinem Unterricht, bereit, mich danach in der Stundenreflektion zu zerfleischen, und ich soll so tun, als seien sie nicht da? Und selbst, wenn ich das von Semester zu Semester trainiert hätte - meine ständig wechselnden Schüler haben das nicht unbedingt trainiert. Sie schauen nach vorne, im Rücken diese alten Männer und Frauen mit dem Kladden, als trügen sie Waffen, und die Schüler sollen sich entspannen?

Fuck you, System!

Also habe ich mir gar nicht erst vorgenommen, ganz normale Unterrichtsstunden zu zeigen, denn das wäre sowieso eine einzige Farce gewesen. Wenn die Lehrprobe schon einem Erschießungskommando gleicht, dann möchte ich die Damen und Herren erst einmal gründlich aus der Fassung bringen. Und so ging es dann in meinem ersten Semester an meine erste benotete Lehrprobe seitens der Schulleitung, Latein, Klasse neun, eine Klasse mit einem Ruf, wunderbar, das waren meine bevorzugten Lehrprobenschüler. Ganz ehrlich. Deswegen war ich auch froh, in meinem Examen die absolute Horrorklasse in Latein bekommen zu haben - dazu aber später.

Hier jetzt also der L3-Kurs, der den letzten Nulltsemester von der Schule geekelt hatte, worüber sie alle froh waren. Was mir aber keiner erzählt hat, sondern mich, quasi als cannon fodder, vor diese Jugendlichen gesetzt hat - perfekt! Mit Streberkursen kann ich nichts anfangen. Also hatte ich ein knappes Jahr Zeit, um diese kleinen Monster auf mein Kommando zu drillen - auf meine eigene Art. Und dann kam die Lehrprobe.

Mit klassischer Musik.

Um die Überraschung nicht vorweg zu nehmen, hatte ich das Stundenraster erst direkt zu Stundenbeginn ausgeteilt (bei schulintenernen Lehrproben war kein ausführlicher Unterrichtsentwurf nötig). Tafel zu. Lateinische Sätze angeschrieben. Und langsam tönte Edvard Grieg aus den Boxen, In the Hall of the Mountain King, Peer Gynt geht immer. Und im Takt der Musik habe ich dann die Farbmethode (lateinische Satzglieder, eigentlich nichts Ungewöhnliches, kannte der Kurs aber noch nicht) demonstriert, wortlos. Punktgenau mit dem letzten Ton hatte ich den Text quasi vorentlastet. Übersetzung nicht mehr nötig. Weiterhin wortlos die Tafel geöffnet, einen neuen lateinischen Text präsentiert und die bunte Kreide an ein paar Schüler verteilt. Davon hing alles ab: Entweder, sie hatten es kapiert und würden nun den Text vorentlasten oder die ganze bis in den letzten Winkel durchchoreographierte Stunde wäre für die Tonne.

Und es klappte... ... ...tatsächlich. Super. Der Rest der Stunde war dann ganz klassischer Lateinunterricht. Die Schulleiterin hat mir dann in einem ersten Schritt für die Stunde eine Eins gegeben, im zweiten Schritt dann aber gesagt, dass sie die nicht werten könne, weil das ja kein normaler Unterricht sei. Dementsprechend ist diese Note nicht in das Gutachten eingegangen. Ich lasse das an dieser Stelle unkommentiert.

Nicht alle Lehrproben waren Zauberstunden. Man konnte recht schnell erkennen, wer wirklich normale Stunden sehen wollte und wer das nur als Floskel vorschob, und so wurde auch meine schulinterne, benotete Englisch-Lehrprobe zu einer Zauberstunde mit Gedankenreise und Synästhetik-Phase im Englischkurs des Kunstprofils.

Im Gegensatz dazu fällt mir auf, wie ich vor den Studienleiterbesuchen wesentlich mehr "Respekt" hatte und es nicht auf Zauberstunden anlegen wollte, sondern auf normalen Unterricht, herkömmliche Einstiege, normale Phasierung, klassische Unterrichtsziele. Und dass ich darin völlig untalentiert war, hatte ich gleich in der ersten Lehrprobe bei meinem Studienleiter in Latein unter Beweis gestellt - der aber offensichtlich auf etwas ganz Anderes geachtet hatte als die strenge Einhaltung des Unterrichtsrasters und mir eine sehr seltsame, meiner Wahrnehmung nach nicht zu der gezeigten Stunde passende Rückmeldung zur Lehrprobe gegeben hat. Von diesem Zeitpunkt im ersten Semester an wurde mein Studienleiter zum Objekt genauer Beobachtung, denn von da an hatte ich eine grundlegende Idee dessen, was er im Unterricht sehen wollte, und diese Idee materialisierte sich mit jedem Zusammentreffen immer weiter. Und entlud sich in dem, was Hochbegabte zu lieben scheinen, als kleine Fingerübung oder große Herausforderung, je nach Umfang:

Manipulation.

Ich musste eigentlich für meine Examensstunden nichts weiter tun, als die Schüler dazu bringen, nach meiner Pfeife zu tanzen. Auf jeden meiner Fingerzeige so zu reagieren, wie ich es erwartete. Regisseur spielen: Antizipieren, wie das Publikum auf die gezeigte Show reagieren würde. Geplante Fehler meinerseits einbauen, die ich im Nachzug dann besprechen könnte. Und vor allem: Unschuldig tun. Ich hatte von meinem ersten Unterrichtsbesuch in Latein an etwa ein Jahr Zeit, um diese Examensstunde zu planen. Aber woher sollte ich die Zutaten bekommen?

Ich brauchte eine widerspenstige Schülerschaft, die keine Lust auf Unterricht hat, und die ich in den drei Monaten vor meinem Examen so dressieren konnte, dass sie Spaß an dem hatten, was ich mit ihnen durchführte. Ich brauchte schräge Schüler, die nicht so handeln, wie erwartet. Am besten einen Hochbegabten mit ADHS, der mir den Unterricht zerlegen will. Und vor allem eine Gruppe, die kein Bock auf Latein hat. Was gab es also Besseres als den neuen Latein Drei-Kurs in Klasse Acht, mit siebzehn Schülern, von denen nur vier sich bewusst für das Fach entschieden hatten, der Rest wurde aus den überfüllten Fächern NaWi und Informatik umsortiert. Wie geil! Das waren genau meine Leute, pubertär, widerspenstig, chaotisch, bunt. Wie ich.

Dann brauchte ich einen Unterrichtsinhalt, der nichts mit den üblichen Lehrproben zu tun hatte - so viele Referendare konzentrieren sich auf die Ausbildung von Sach- und Methodenkompetenz, schön und gut, aber weil das der Standard zu sein schien, wollte ich etwas Anderes machen. So wie immer: Normal ist langweilig. Also formulierte ich mein Stundenziel als Indem die Schülerinnen und Schüler ihre Übersetzungen nicht gegenseitig korrigieren, sondern nur Einhilfen geben, trainieren sie das ShS-Prinzip als Teil ihrer Sozialkompetenz. Ich hatte in meinem Ref keine einzige Stunde mit Schwerpunkt Sozialkompetenz gesehen - perfekt! Das war meine road less travelled.

Dann die Absprache mit meinem Lateinmentor, die nicht viel mit "Absprache" zu tun hatte. Wir setzten uns eines Tages im Glaskasten zusammen, ich legte ihm einen handschriftlichen Zettel hin und sagte: "So, collega cuneusligneus, das ist meine Examensstunde. Die klingt albern und komisch, aber ich werde sie genau so machen. Sie haben mir in den letzten zwei Semestern vertraut - bitte vertrauen sie mir auch auf diesen letzten Metern." Und der cc hat gelächelt, den Kopf geschüttelt und wir haben die Stunde per Handschlag abgemacht.

Manipulation in jedem Winkel und jeder Ecke, jeglicher Gesichtsausdruck genau festgelegt, ich fühlte mich ein bisschen wie Hitchcock: I like to play the audience like a piano. Und so kam es dann auch. Unerwartete Komponente war ein zusätzliches Mitglied der Prüfungskommission, der Schulartleiter im IQSH, aber das war dann eben schmückendes Beiwerk. Ich hatte siebzehn Schüler, die genau so agierten, wie es im Unterrichtsentwurf beschrieben war, und ich hatte eine Bewertungskommission, die genau so reagierte, wie ich es mir vorher zurecht gelegt hatte. Klasse. Alles Andere an diesem Examenstag war mir scheißegal. Die Lateinstunde hatte geklappt, meine kleine persönliche Spielerei, manipulatio delectat, ich war glücklich. Alles Weitere war Dreingabe.

Resümee

Mir ist bewusst, dass das Alles nicht einmal im Ansatz so gelaufen wäre, wenn ich einen gewissen (oder jeden) anderen Studienleiter in Latein gehabt hätte. Aber darin besteht ja gerade die Herausforderung in der Manipulation: Sich genau auf seinen Gegenüber einzustellen. Genau zu fühlen, wie er fühlt. Zu ahnen, wie er reagieren wird. Und die eigenen Pläne dementsprechend zu legen. Die besten Regisseure der Welt haben genau so gehandelt und tun es noch immer - und irgendwo habe ich mich als Lehrer auch immer in der Rolle eines Regisseurs gesehen.

Und auch wenn das alles sehr negativ klingen mag - jemand, der so gern und oft unbewusst manipuliert - so versuche ich das immer zum Positiven einzusetzen. Und weiß gleichzeitig auch, dass sehr intelligente Menschen diese Fähigkeit zum Negativen verwenden.

So sind wir Menschen nun einmal.

post scriptum: Und als Filmempfehlungen zu diesem Menschentyp wabern mir "Lawrence of Arabia", "Citizen Kane" und "Apocalypse Now" durch den Kopf, die sich allesamt mit enigmatischen Menschen beschäftigen, denen nicht einfach ein einziges Label angeheftet werden kann.

Freitag, 6. Juli 2018

My Bucket List

Mit Fantasie und Durchhaltewillen kann man Vieles möglich machen, auch ein ägyptisches Museum mitten in Kiel.

Manche Menschen machen sich irgendwann im Leben eine Liste mit Dingen, die sie erlebt haben möchten, bevor sie mit dem guten Gefühl sterben können, dass es nun reicht. Man kann es Lebensziele nennen, oder Meilensteine, oder Herausforderungen. Klassiker sind zum Beispiel "ein Haus bauen" oder "eine Familie gründen". Im Englischen gibt es den Ausdruck bucket list, und ich bin heute beim Meditieren auf die Idee gekommen, dass ich mir auch solch' eine Liste machen möchte (wobei, genaugenommen habe ich diese Liste schon seit Jahren im Kopf, ich gebe ihr nun endlich eine Gestalt). Ich pinne sie links im Blog an, mit der Option, sie gegebenenfalls zu erweitern. Ein paar Punkte kann ich schon heute aufschreiben, deren Reihenfolge völlig irrelevant ist.

- Er

Irgendwann möchte ich ihn als Teil meines Lebens bezeichnen können, ohne dabei ein schlechtes Gefühl zu haben. Ohne es geheimhalten zu müssen. Ich möchte mit ihm quality time verbringen, die Zeit genießen können. Ich möchte das ohne Gewitterwolken im Hintergrund. Ich möchte mich mit ihm einmal richtig frei fühlen.


- Top Thrill Dragster

Irgendwann möchte ich in die Vereinigten Staaten von Amerika reisen, mit einem ganz konkreten Ziel. Ich möchte in den Vergnügungspark Cedar Point im Bundesstaat Ohio gehen, der nicht ohne Grund als Coaster Capital of the World bezeichnet wird. Und ich möchte diesen Park nicht nur betreten, sondern möchte im Top Thrill Dragster fahren. Ich möchte mich mit fast zweihundert Sachen auf einen über einhundert Meter hohen Turm hinauf katapultieren lassen. Ich möchte die Angst vor dem allerersten Mal fühlen und den Rausch, wenn es soweit ist.

- Downtempo-Event

Irgendwann möchte ich einmal an einem atmosphärischen Ort einfach nur die Augen schließen und mich treiben lassen, während hervorragende DJs meinen Geist mit auf eine Reise in meine Gedanken nehmen. Seitdem ich solch' ein Event im Carl-Zeiss-Planetarium verpasst habe, möchte ich dieses Abenteuer erleben.

- Full Moon Festival

Irgendwann möchte ich einmal auf der Insel Kho Pha Ngan das Full Moon Festival erleben. Einmal an einem völlig fremden Ort unter einem vollen Mond mit Menschen tanzen, die genau wie ich dorthin gekommen sind, um ihren Horizont zu erweitern.


- "Meine" Schule

Irgendwann möchte ich an einer Schule unterrichten, die mich nimmt, wie ich bin. An der ich etwas bewirken kann, ohne alles kaputtzumachen. An der meine Arbeit nach anfänglichem Misstrauen geschätzt wird, und an der ich meine pädagogischen Konzepte umsetzen kann. An der ich mich wohlfühle.

- Unterwasser

Irgendwann möchte ich endlich einmal ohne Panik unter Wasser meine Augen öffnen können. Aus irgendeinem Grund bilde ich mir ein, dass es schädlich für meine Augen sein könnte, wenn ich das mache - dabei sehe ich in Filmen immer wieder, dass es ganz einfach geht. Ist vielleicht die Angst vor dem Unbekannten.

Donnerstag, 5. Juli 2018

Was bleibt

Ich glaube, ich werde Manches tatsächlich vermissen... auf jeden Fall das Kollegium, was echt kollegial war, das war toll.

vorweg: Namen und Geschlechter sind wie immer eventuell geändert.

"Dr Hilarius, sie haben mein Leben verändert."

Wha... ... w... eh... ... hmm... - ganz richtig, in dem Moment war ich ehrlich sprachlos. DAS bleibt.

Aber von Anfang an. Heute waren die schulinternen Verabschiedungen an der Kieler Gelehrtenschule. Die Erfahrung (auf die ich mittlerweile zugreifen kann) lehrt mich, dass mein letzter Tag an einer Schule immer etwas Spezielles ist. Vielleicht habe ich ein paar Abschiedsworte vorbereitet - heute gab es Kreislers Opernboogie, der die üblichen Reaktionen hervorgerufen hat - und vielleicht haben mich der Personalrat und die Fachschaften auf eine schöne persönliche Art und Weise verabschiedet. Jedenfalls nehme ich immer unglaublich viele Eindrücke mit, wenn ich aus der Schule nach Hause komme.  Nach SPO habe ich bei der Rückkehr in meine Wohnung geweint. Bei den anderen Schulen war ich mehr oder weniger froh, oder aber indifferent.

Selbstverständlich ist es ein Meditationstag. Ich brauche Zeit, um die gesammelten Eindrücke zu verarbeiten. Das ist mir einfach zuviel, und ich brauche Sinnesdeprivation, das macht das Gedankenreisen einfacher. Mein Ziel ist es dann, vor dem Schlafengehen in meinem Kopf aufgeräumt zu haben. Ich lasse Szenen Revue passieren und das hilft mir oft, sie besser zu verstehen. Am Ende des Tages bleiben dann nur noch die wirklich eindrucksvollen Momente im Kopf, und es war heute sehr spannend, herauszufinden, welche Momente das wohl sein würden.

Es war nicht die Busfahrt mit zwei Blumengebinden in den Händen - gar nicht so leicht, damit in der Apotheke etwas für den Husten zu bekommen oder die Busfahrkarte vorzuzeigen. Es war nicht das wunderschöne Lied, das die Musikfachschaft zu Ehren des Kollegen einstudiert hat, der jetzt gerade sein zweites Examen bestanden hat. Und es war definitiv nichts vom Opernboogie, denn so ist das: Wenn ich einen Text auswendig gelernt habe, ist jeglicher Zauber des Textes verflogen. Ich habe mich gefühlt wie eine Maschine, die Zeilen runterrattert, aber für den Rest des Kollegiums war es immer noch wirkungsvoll. Es waren auch nicht die (positiven und negativen) Reaktionen auf eben jenen Vortrag.

Nein, interessanterweise habe ich diese Sachen jetzt durchgearbeitet - was bleibt, ist die erste große Pause. Ich hatte in den ersten beiden Stunden in einem Anfall von Einfallslosigkeit mit meinen Schülern Bill & Ted`s Excellent Adventure (1988) geschaut. Der geht eigentlich immer, und ist gar nicht mal so schlecht (noch immer staune ich, dass Roger Ebert dem zweiten Teil drei Sterne gegeben hat - manche finden die Filme einfach nur schwachsinnig). Klasse in die Pause entlassen und ich räume in Ruhe den Mediencontainer auf. Plötzlich stehen zwei Schüler in der Tür und schauen mir zu. "Dr Hilarius!" sagt der eine. Ich drehe mich um, erkenne das Gesicht und der Gedankenzug fährt ab.

Das ist Klaus. Ihn und seine Klasse habe ich tatsächlich nur sehr kurz unterrichtet, könnten so etwa sechs bis acht Wochen gewesen sein. Fand den aber cool, hat gut mitgemacht, war nicht so sehr auf dem Mainstream unterwegs. Und in diesem Moment fällt mir ein, was eine Kollegin schon gestern zu mir meinte: "Du, der Klaus hat nach dir gefragt, der sucht dich überall, weißt du, welcher das ist? Aus der Zehn B?" Ja, wusste ich, aber ich wusste nicht, was Klaus mit mir würde besprechen wollen.

Und er kommt direkt zum Punkt, als er sagt: "Ich möchte mich bei ihnen bedanken, denn sie haben mein Leben verändert." Das kam vollkommen ohne Vorwarnung, Kabel in der linken Hand, DVD in der rechten, und ich wusste wirklich nicht, was ich sagen soll. Hallo? Ich hatte den Knaben nichtmal zwei volle Monate im Unterricht, wie soll ich da etwas verändert haben?

"Das verstehe ich nicht, wie meinst du das?" antworte ich ihm. Klaus zeigt auf Fritz, der neben ihm steht, auch aus der Klasse. "Dank ihnen habe ich Fritz als Freund kennengelernt." Ich, immer noch hilflos, verstehe nicht, was gerade abgeht: "Äh, und das soll ich in der kurzen Zeit bewirkt haben?" - "Ja, ich habe einen Freund gewonnen und das tut so gut, weil ich alles Andere verloren habe", und nun kommen die Tränen. Die näheren Details haben hier nichts zu suchen; während ich Klaus' Geschichte höre, kommt mir ein Verdacht, und ich frage dazwischen: "Weißt du zufällig, wie intelligent du bist?" - Bingo, 'nuff said. 

Klaus' Fall taucht häufiger mal bei Hochbegabten auf: Sie kommen mit ihren Lehrern nicht so wirklich klar, melden sich nicht, können sich die Sachen nicht merken, weil sie sie nicht interessieren, fühlen sich wie ein Alien in der Klasse. Doch dann kommt ein neuer Lehrer - man kann es nicht beschreiben, glaube ich. Ich war damals ja auch so, und bei mir war es Steffi Schiller. Sie hat in meinem Kopf einen Schalter umgelegt - so wie ich bei Klaus, scheinbar.

Und werde ein bisschen wehmütig, denn an dem Fall würde ich gern näher dranbleiben. Natürlich gebe ich Klaus die Daten zu Andrea Brackmanns Buch über die Hochbegabung. Sage ihm, er soll das mal lesen, vielleicht bekommt er dann endlich das Verständnis, das ihm offensichtlich nicht viele Mitmenschen - Eltern inklusive - zukommen lassen. Die Tränen fließen weiter, denn natürlich wissen Klaus und ich - und Fritz, der dabeisteht - dass ich die Schule verlasse. Also schreibe ich unter die Buchdetails noch meine Mailadresse. Das mache ich öfters so: Mit Hochbegabten, die erst noch "entdeckt" werden mussten, bleibe ich gern in Kontakt. Und ich würde mich freuen, wenn Klaus das Buch liest und mir dann seine Reaktionen schreibt.

"Sie haben mein Leben verändert."

Liebe Kollegen: Viele von Euch kennen diese Situation, andere werden sie bestimmt einmal erleben. Es ist tatsächlich so: Wir können einen sehr starken Einfluss auf Kinder ausüben, im Positiven wie im Negativen. Dieses Potential sollte man nicht missbrauchen. Und wenn Eure Schülerin dann einmal zu Euch kommt und sagt: "Sie haben mein Leben verändert." - dann dürft Ihr stolz sein.

Darum bin ich Lehrer geworden. Um etwas bei Kindern zu bewirken.

Sonntag, 1. Juli 2018

Kresch Buhm Beng!


Seit Sonntag dürfen Frauen in Saudi-Arabien ein Auto fahren. Ist es rückständig, wenn Frauen das Fahrverbot einhalten müssen? Ich denke schon. Und, wenngleich es ein großer Schritt vorwärts ist für die dortigen Frauenrechte, so muss es weitergehen, wie in den Nachrichten vermerkt wurde; zum Beispiel muss die männliche Vormundschaft für Frauen abgeschafft werden.

"Ja, also wirklich, die Menschenrechte müssen eingehalten werden" hört man es dann öfters tönen - also seien nur die Saudis "schlecht". Ich mag diesen Begriff nicht, weil ich versuche, mich an der Humanistischen Pädagogik zu orientieren, und die sieht zuallererst, dass jeder Mensch an sich gut ist. Manchmal mögen uns die Verhaltensweisen der Anderen missfallen, doch hat jedes Verhalten seine Gründe und ich denke nicht, dass es "das Böse" gibt. Nur ein Potential des Menschen, "Böses" zu tun (das Leitthema der TV-Serie Twin Peaks).

Und leider zeigen mir die Nachrichten Tag für Tag, was die Menschen Negatives zu tun imstande sind, und um eine solche Situation geht es mir heute. Wenn ich mit Schülern spreche, sind es ihrer Meinung nach immer ganz schlimme Menschen, die Schlimmes tun. Zum Glück sind es nur die Anderen, man selbst natürlich nicht. Okay, hin und wieder ist man frech, man macht die Hausaufgaben nicht, man stört im Unterricht, aber was richtig Schlimmes würde man nie tun. Okay, ja, man hat vielleicht mal einen Mitschüler gemobbt, geschubst, in's Wasser geworfen, mit Müll beworfen, aber das ist ja alles nur Spaß. Ja okay, der Mitschüler hat dann Selbstmord begangen, oder hat einen Amoklauf gemacht, aber der war ja sowieso ein Spasti, der war nie richtig im Kopf, total behindert, der Typ.

Dass auch in ihnen selbst das Potential zu Negativem ruht, merken viele zu diesem Zeitpunkt noch nicht, und viele merken es ihr Leben lang nicht. Wir sind Menschen, und deswegen sollte uns nichts Menschliches fremd sein, wie Terenz einst geschrieben hat. Wir alle können Schlechtes tun, und oft geschieht das mit den ursprünglich besten Absichten.

So bin ich mir sicher, dass auch Donald Trump eigentlich nur das Richtige machen wollte - und dennoch gelangen immer wieder Skandale aus seinem Stab in die News, aus dem Weißen Haus - oder von ihm selbst, schnell und praktisch via Twitter. Dass dabei die Grenze guten Geschmacks oft überschritten wird, wissen wir. Doch vielleicht ist gerade das der Grund, weshalb ihn knapp die Hälfte der amerikanischen Bevölkerung zum Präsidenten gewählt hat.

Eine der Skandalnudeln in Trumps Mitarbeiterriege ist Corey Lewandowski, und ich möchte mich nur auf eine winzige Aussage von ihm beziehen. Eines der aktuellen Probleme der USA liegt in der Trennung von Familien, die in die USA zu fliehen versuchen. Kinder werden von Müttern isoliert, Ihr kennt die ganze Story. In einem Interview wird Lewandowski mit diesem Umstand konfrontiert, es geht um ein kleines Mädchen mit special needs, das ohne seine Mutter klarkommen muss. Ohne den Interviewer ausreden zu lassen, wirft Lewandowski ein "Womp womp!" ein.

Das entspricht so etwa dem Sound, der mit dem Spielshow-Zonk verbunden ist. "Reingefallen!" oder "Pech gehabt!" oder "Mehr Glück beim nächsten Mal!" - was in dieser Situation einfach schrecklich ist, das lässt sich nicht wegdiskutieren. "How dare you!" antwortet der Interviewer entrüstet, und vollkommen zu Recht. Wie kann man nur so wenig Respekt vor einem menschlichen Leben haben, es widert mich an. Und trotzdem muss ich mir bewusst sein, dass ich auch Dinge tue, die aus diversen Blickwinkeln negativ erscheinen.

Um zum Start zurückzukehren: Aus irgendeinem dieser Blickwinkel mag es richtig gewesen sein, Frauen kein Auto fahren zu lassen. Aus allen anderen Winkeln nicht. Frauen verursachen mehr Unfälle? Whatever - Männer sind diejenigen, die drängeln, rechts überholen und vieles mehr.

Wir sollten alle von unseren Voreingenommenheiten ablassen, damit wir nicht aus Versehen auch unser Potential zu Schlechtem ausreizen. Manchmal bekommen wir es nicht mit, dass das, was wir gerade getan haben, negativ gewirkt haben kann. Vielleicht wäre es gut, besonnener zu handeln. Mir würde es jedenfalls gut tun, wenn ich manchmal etwas mehr nachdächte, bevor ich handele.

post scriptum.: Hier das Interview: