Donnerstag, 5. Juli 2018

Was bleibt

Ich glaube, ich werde Manches tatsächlich vermissen... auf jeden Fall das Kollegium, was echt kollegial war, das war toll.

vorweg: Namen und Geschlechter sind wie immer eventuell geändert.

"Dr Hilarius, sie haben mein Leben verändert."

Wha... ... w... eh... ... hmm... - ganz richtig, in dem Moment war ich ehrlich sprachlos. DAS bleibt.

Aber von Anfang an. Heute waren die schulinternen Verabschiedungen an der Kieler Gelehrtenschule. Die Erfahrung (auf die ich mittlerweile zugreifen kann) lehrt mich, dass mein letzter Tag an einer Schule immer etwas Spezielles ist. Vielleicht habe ich ein paar Abschiedsworte vorbereitet - heute gab es Kreislers Opernboogie, der die üblichen Reaktionen hervorgerufen hat - und vielleicht haben mich der Personalrat und die Fachschaften auf eine schöne persönliche Art und Weise verabschiedet. Jedenfalls nehme ich immer unglaublich viele Eindrücke mit, wenn ich aus der Schule nach Hause komme.  Nach SPO habe ich bei der Rückkehr in meine Wohnung geweint. Bei den anderen Schulen war ich mehr oder weniger froh, oder aber indifferent.

Selbstverständlich ist es ein Meditationstag. Ich brauche Zeit, um die gesammelten Eindrücke zu verarbeiten. Das ist mir einfach zuviel, und ich brauche Sinnesdeprivation, das macht das Gedankenreisen einfacher. Mein Ziel ist es dann, vor dem Schlafengehen in meinem Kopf aufgeräumt zu haben. Ich lasse Szenen Revue passieren und das hilft mir oft, sie besser zu verstehen. Am Ende des Tages bleiben dann nur noch die wirklich eindrucksvollen Momente im Kopf, und es war heute sehr spannend, herauszufinden, welche Momente das wohl sein würden.

Es war nicht die Busfahrt mit zwei Blumengebinden in den Händen - gar nicht so leicht, damit in der Apotheke etwas für den Husten zu bekommen oder die Busfahrkarte vorzuzeigen. Es war nicht das wunderschöne Lied, das die Musikfachschaft zu Ehren des Kollegen einstudiert hat, der jetzt gerade sein zweites Examen bestanden hat. Und es war definitiv nichts vom Opernboogie, denn so ist das: Wenn ich einen Text auswendig gelernt habe, ist jeglicher Zauber des Textes verflogen. Ich habe mich gefühlt wie eine Maschine, die Zeilen runterrattert, aber für den Rest des Kollegiums war es immer noch wirkungsvoll. Es waren auch nicht die (positiven und negativen) Reaktionen auf eben jenen Vortrag.

Nein, interessanterweise habe ich diese Sachen jetzt durchgearbeitet - was bleibt, ist die erste große Pause. Ich hatte in den ersten beiden Stunden in einem Anfall von Einfallslosigkeit mit meinen Schülern Bill & Ted`s Excellent Adventure (1988) geschaut. Der geht eigentlich immer, und ist gar nicht mal so schlecht (noch immer staune ich, dass Roger Ebert dem zweiten Teil drei Sterne gegeben hat - manche finden die Filme einfach nur schwachsinnig). Klasse in die Pause entlassen und ich räume in Ruhe den Mediencontainer auf. Plötzlich stehen zwei Schüler in der Tür und schauen mir zu. "Dr Hilarius!" sagt der eine. Ich drehe mich um, erkenne das Gesicht und der Gedankenzug fährt ab.

Das ist Klaus. Ihn und seine Klasse habe ich tatsächlich nur sehr kurz unterrichtet, könnten so etwa sechs bis acht Wochen gewesen sein. Fand den aber cool, hat gut mitgemacht, war nicht so sehr auf dem Mainstream unterwegs. Und in diesem Moment fällt mir ein, was eine Kollegin schon gestern zu mir meinte: "Du, der Klaus hat nach dir gefragt, der sucht dich überall, weißt du, welcher das ist? Aus der Zehn B?" Ja, wusste ich, aber ich wusste nicht, was Klaus mit mir würde besprechen wollen.

Und er kommt direkt zum Punkt, als er sagt: "Ich möchte mich bei ihnen bedanken, denn sie haben mein Leben verändert." Das kam vollkommen ohne Vorwarnung, Kabel in der linken Hand, DVD in der rechten, und ich wusste wirklich nicht, was ich sagen soll. Hallo? Ich hatte den Knaben nichtmal zwei volle Monate im Unterricht, wie soll ich da etwas verändert haben?

"Das verstehe ich nicht, wie meinst du das?" antworte ich ihm. Klaus zeigt auf Fritz, der neben ihm steht, auch aus der Klasse. "Dank ihnen habe ich Fritz als Freund kennengelernt." Ich, immer noch hilflos, verstehe nicht, was gerade abgeht: "Äh, und das soll ich in der kurzen Zeit bewirkt haben?" - "Ja, ich habe einen Freund gewonnen und das tut so gut, weil ich alles Andere verloren habe", und nun kommen die Tränen. Die näheren Details haben hier nichts zu suchen; während ich Klaus' Geschichte höre, kommt mir ein Verdacht, und ich frage dazwischen: "Weißt du zufällig, wie intelligent du bist?" - Bingo, 'nuff said. 

Klaus' Fall taucht häufiger mal bei Hochbegabten auf: Sie kommen mit ihren Lehrern nicht so wirklich klar, melden sich nicht, können sich die Sachen nicht merken, weil sie sie nicht interessieren, fühlen sich wie ein Alien in der Klasse. Doch dann kommt ein neuer Lehrer - man kann es nicht beschreiben, glaube ich. Ich war damals ja auch so, und bei mir war es Steffi Schiller. Sie hat in meinem Kopf einen Schalter umgelegt - so wie ich bei Klaus, scheinbar.

Und werde ein bisschen wehmütig, denn an dem Fall würde ich gern näher dranbleiben. Natürlich gebe ich Klaus die Daten zu Andrea Brackmanns Buch über die Hochbegabung. Sage ihm, er soll das mal lesen, vielleicht bekommt er dann endlich das Verständnis, das ihm offensichtlich nicht viele Mitmenschen - Eltern inklusive - zukommen lassen. Die Tränen fließen weiter, denn natürlich wissen Klaus und ich - und Fritz, der dabeisteht - dass ich die Schule verlasse. Also schreibe ich unter die Buchdetails noch meine Mailadresse. Das mache ich öfters so: Mit Hochbegabten, die erst noch "entdeckt" werden mussten, bleibe ich gern in Kontakt. Und ich würde mich freuen, wenn Klaus das Buch liest und mir dann seine Reaktionen schreibt.

"Sie haben mein Leben verändert."

Liebe Kollegen: Viele von Euch kennen diese Situation, andere werden sie bestimmt einmal erleben. Es ist tatsächlich so: Wir können einen sehr starken Einfluss auf Kinder ausüben, im Positiven wie im Negativen. Dieses Potential sollte man nicht missbrauchen. Und wenn Eure Schülerin dann einmal zu Euch kommt und sagt: "Sie haben mein Leben verändert." - dann dürft Ihr stolz sein.

Darum bin ich Lehrer geworden. Um etwas bei Kindern zu bewirken.

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