Diese Mail hat mich am Sonntag erreicht, als Reaktion auf die Geschichte von Klaus, die ich im Beitrag "Was bleibt" beschrieben hatte:
Hallo Dr Hilarius!
Soll ich am Anfang anfangen? An welchem Anfang tho. Hm. Schwierig.
Ich
fange mit gestern Mittag an. Ich bin nämlich von den alltäglichen
Stallarbeiten reingekommen und habe meine Mutter vorgefunden, mit Tränen
in den Augen, aber einem Lächeln im Gesicht. In der Hand hat sie ein
ganz bestimmtes Buch gehalten, das gestern oder vorgestern angekommen
sein muss. Ohne aufzusehen hat sie gesagt: “Ja, Klaus.“ Wie ja. Dann
hat sie mich angesehen und die Worte sind nur so aus ihr
herausgesprudelt. Noch nie habe ich meine Mutter mit einem derartigen
Enthusiasmus reden gehört. Ich habe mir ernsthaft Gedanken darüber
gemacht, ob sie gleich aufspringt und anfängt, mich zu schütteln. Was
ich aus ihren Worten entnommen habe ist, dass meine Kindergartenzeit
wohl voll und ganz auf die Beschreibung im Buch passt. Außerdem hat sie
wohl diese eine Sache sehr berührt, dass nämlich alle Erzieher und
später Grundschullehrer ihr vorgeworfen haben, dass sie mich zu sehr
pusht, dass sie ihren Ehrgeiz an mir auslässt, obwohl das komplett nicht
gestimmt hat. Sie war, wie exakt im Buch beschrieben, vollkommen
bestürzt über meine damalige Diagnose Hochbegabung gewesen. Außerdem
habe ich folgenden Dialog zwischen ihr und der Psychaterin aus ihrer
heutigen Erzählung genommen:
“Ich wollte doch einfach nur ein normales Kind! Wissen sie, woher das denn überhaupt kommen kann?“
“Hatten sie in ihrer Schulzeit Freunde?“
“Nicht wirklich.“
“Und wie haben sie ihre Schulzeit verbracht?“
“Also gelernt habe ich nicht.“
“Ja dann schauen Sie in den Spiegel, dann wissen Sie, woher das kommt!“
Ich
wusste, dass meine Mutter hochbegabt ist. Sowohl ihre als auch meine
Sensibilität hat uns beide immer wieder zur Weißglut getrieben und wir
hatten unzählige Male unnötig Streit, weil wir beide in bestimmten
Situationen zu sensibel waren. Mein Vater versteht uns nicht. Mein Vater
versteht sich mit meiner Mutter nicht. Mein Vater hätte mir dieses Buch
nicht mal gekauft. Wir beide können das Verhalten meines Vaters
mittlerweile nicht mehr ab. Für meine Mutter wäre es schon längst fällig
gewesen, wegzuziehen. Das hat sie nicht gemacht. Und heute habe ich
verstanden, warum.
Wir haben nämlich dann
geredet, lange, ohne jede Provokation, ernsthaft. Sie hat mir immer
weiter aus dem Buch vorgelesen, ich habe gesagt, wenn etwas davon auf
mich zutraf oder eben nicht. Ich habe den Rest des Tages dann immer
wieder durch das Buch geblättert, bis ich auf “drei besondere Fälle“
gestoßen bin und damit auf ein Mädchen namens Lilo. Vorher habe ich mir
die typischen Fälle von Hochbegabten wieder und wieder durchgelesen und
nur vereinzelt Dinge gefunden, die auf mich zugetroffen haben, ich habe
schon fast gedacht, ich wäre überhaupt nicht hochbegabt. Ja, und dann
der Fall mit Lilo, das war damals, als ich so 13 Jahre alt war, 1:1 ich.
Nur diese Sache mit dem Schuleschwänzen und dem Drogenkonsum hat nicht
zugetroffen. Weil ich auf dem Land wohne und darauf angewiesen war und
bin, dass meine Eltern mich überall hin fahren und abholen, war es
praktisch unmöglich, die Schule zu schwänzen oder viel Zeit mit falschen
Freunden zu verbringen. Zudem hatte und habe ich hier Verantwortungen,
die Pferde zum Beispiel. Sie haben mich damals davon abgehalten, solche
Dummheiten zu veranstalten. Zusätzlich gehe ich ja auch noch auf eine
relativ seriöse Schule, außerdem wollten die “Drogenleute“ sowieso nie
irgendetwas mit mir zu tun haben. Wäre meine Mutter allerdings mit mir
von meinem Vater weg in die Stadt gezogen, hätten die Dinge vollkommen
anders ausgesehen. Ich habe endlich verstanden, dass meine Mutter es
komplett richtig für mich ausgerichtet hat. Seit heute weiß ich sogar,
dass sie mich erst auf ein Hochbegabteninternat schicken wollte, nur
nicht das Geld dazu hatte. So kam diese schlaue Alternative zustande. Im
Nachhinein bin ich ihr voll und ganz dankbar. Das Verhältnis zu ihr hat
sich verändert (auch wenn es vielleicht nur für heute angehalten hat,
wer weiß).
Und da haben wir auch gleich, was
sich durch das Buch in jedem Fall geändert hat. Aber es hat sich noch
was geändert. Ich sehe mich, auch wenn es nur minimal ist, anders.
Dinge, die mir vorher “abnormal“ erschienen, sind mir jetzt als normal
vorgestellt worden. *Das* bin ich. *Das* ist, was es heißt, ich zu sein.
Wow.
Und deshalb muss ich Ihnen schon wieder danken, schon
wieder haben Sie mit einer für Sie vielleicht unbedeutenden Handlung
mein Leben ein kleines bisschen verändert.
Was
mich zum nächsten Thema bringt. Ich würde Ihnen nämlich gerne erzählen,
wie Sie das zuerst gemacht haben, weil es mir sehr am Herzen liegt.
Naja, zum Einen durch “Lola rennt“, ich meine, das letzte Mal, dass mich
ein Film so gepackt hat war, als ich mit sechs Jahren den
Zeichentrickfilm “Spirit“ gesehen habe, der, obwohl er ein ziemlicher
Kinderfilm ist, (vielleicht gerade deswegen) immer noch einen besonderen
Platz in meinem Herzen hat. Aber zum Anderen durch das, was Sie nach
der letzten richtigen Lateinstunde, die wir mit Ihnen hatten, gesagt
haben. Ich habe zwar darüber nachgedacht, aber es gab jemanden, dem Ihre
Worte wirklich und richtig zu Herzen gegangen sind. Fritz. Wir
kannten uns zu dem Zeitpunkt kaum, nur vom Sehen, nie haben wir wirklich
ein Wort gewechselt. Nach der Lateinstunde hatten wir Wipo. Er saß
schräg hinter mir, Dennis neben ihm, und zufällig ist mir aufgefallen,
dass er geweint hat, und Dennis neben ihm ziemlich hilflos war. Ich rücke
mit meinem Stuhl zu ihm.
“Hey, was ist denn?“
“Nichts.“
“Dann würdest du nicht weinen.“
“Es ist nichts, okay?“
“Ja, das sagen sie alle.“
Ein halbes Lachen huscht über sein Gesicht, aber er schluchzt sofort wieder los. Ich weiß keine Methode mehr und warte einfach.
“Das, was Dr Hilarius gesagt hat...“
“Ja?“
“Das ist so verdammt wahr.“
Wow. Ich weiß nicht mehr weiter, habe wohl irgendwas wie “ja, das stimmt“ oder so gestammelt, das nächste was ich weiß ist das:
“Wie kannst du das?“
“Was?“
“Ja, DAS!“
Ich habe absolut keine Ahnung, was er meint.
“Was??“
“Warum bist du immer so gut drauf?“
“Bin ich das?“
“Ja! Was war denn das eben?“
“Naja,
also, eh... ich habe glaube ich einfach gelernt, dass ich nichts
bewirken kann, wenn ich meine Launen immer auslebe, wenn ich immer gut
drauf zu sein scheine, dann... außerdem bin ich das gar nicht!“
“Aber du weißt immer, wie du dich verhalten musst.“
“Nein.“
“Doch!“
“Ist ja gut. Das Wichtigste ist, dass du stark bleibst. Ok? Nicht weinen. Kann ich sowieso nicht ab.“
Wieder
huscht sowas wie ein Lachen über sein Gesicht. Wir wechseln das Thema.
Wie damals auf der Skifahrt mit Paul, der jetzt eine Klasse wiederholen
musste, schaffe ich es auf eine mir unerklärliche Weise, Fritz (eine
mir bisher fremde Person) aufzuheitern, ihn zu reparieren. Danach
schreibt er mir. Es wird häufiger. Und dann wird es so, wie es jetzt
ist. Er wird der erste Mensch, der nicht meine Mutter ist, der mich
unterstützt und immer will, dass ich glücklich bin. Mit seiner Hilfe und
Unterstützung und mit meinem durch “Lola rennt“ veränderten Denken
verändere ich die eine Sache, die mein Leben seit der sechsten, siebten
Klasse bestimmt hat und bekomme die Bestätigung, dass meine “Freunde“
nie meine Freunde waren und dass meine ehemalige beste “Freundin“
(Verhältnis: Ich liebe sie, sie findet mich okay. Hätten wir doch nur
nicht so verdammt viel gemeinsam gehabt, bis hin zu den
IQ-Punkten!) absolut nichts für mich fühlt. Ich war so glücklich gewesen,
dass es an der weiterführenden Schule Menschen gegeben hatte, die
wenigstens eine geringe Ähnlichkeit mit mir gehabt haben und dann
spreche ich endlich die Wahrheit aus, was jeder normale Mensch schon
viel früher getan hätte und bekomme instantly meine alte Situation
wieder. Alles schmerzhaft Erarbeitete war dann wieder weg. Im Nachhinein
ist das aber nicht “alles verloren“. Aber mir ging es absolut nicht
gut, ich habe mich wie ein einziger großer Fail gefühlt, dieses Denken
hat Frau Wirwissenwer bestärkt. Und dann wurde ich, wieder durch Fritz, wieder stark. Habe unnötig Latein gepaukt, bis ich meine ach so
liebenswerte Lieblingslehrerin sprachlos gemacht habe. Und langsam kann
ich akzeptieren. Langsam besteht mein Leben nicht mehr nur aus “ihr“.
Warum erzähle ich Ihnen das alles?
Aber jetzt
mal im “Lola rennt“- Denken: Was wäre und wäre nicht passiert, hätten
Sie Fritz nicht zum Weinen gebracht? Wo wäre ich dann jetzt?
Ich
sollte Ihnen die Reaktionen zu dem Buch schreiben. Ich glaube, auch die
ganze Geschichte, von vorn bis jetzt, ist eine Reaktion auf das Buch,
weil ich jetzt die ganze Geschichte *verstanden* habe. Ich kann gar
nicht beschreiben, warum ich nur Ihnen das hier geschildert habe, denn
was sollen Sie schon damit anfangen.
Dennoch, danke. Für alles.
Klaus
Es war das zweite Mal, dass ich erstmal nicht wusste, was ich sagen, schreiben, antworten sollte.
Darum bin ich Lehrer geworden, und habe diese Entscheidung bisher nicht bereut.
post scriptum: Ich weiß, dass Klaus & Fritz diesen Beitrag lesen und bitte Euch auf diesem Weg um Geduld mit mir, eventuell steht eine neue Schule an, und sobald das geklärt ist, seid Ihr dran.
post scriptum: Ich weiß, dass Klaus & Fritz diesen Beitrag lesen und bitte Euch auf diesem Weg um Geduld mit mir, eventuell steht eine neue Schule an, und sobald das geklärt ist, seid Ihr dran.
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