Sonntag, 8. Juli 2018

Die Lehrprobe

So hat er zu sein, der Lehrer...?

Ich erinnere mich an jede einzelne meiner Lehrproben in meiner Laufbahn als Nulltsemester und dann als Lehrkraft im Vorbereitungsdienst des Landes Schleswig-Holstein a.k.a. Referendar. Wie könnte ich auch nicht? Jede Lehrprobe dräute wie ein Todesurteil über mir, für mich hat es sich immer angefühlt, als müsste ich vor ein Erschießungskommando treten. Wundert das? Wenn ich eine Unterrichtsstunde zeigen soll, bei der im Hintergrund die Schulleitung sitzt, die Ausbildungskoordinatorin, mein Fachmentor und die gesamte Gruppe aller Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst unserer Schule?

"Zeigen sie uns einfach ganz normalen Unterricht, wir wollen keine Zauberstunden sehen."

Ja ne, is klar. In allen meiner achtzehn offiziellen Lehrproben habe ich diesen Satz als Zynismus empfunden, denn in dieser Stunde sitzen da hinten zwischen vier und neunzehn Besuchern, notieren jeden einzelnen Atemzug, den ich da vorne tätige, skrutinieren jegliche Armbewegung in meinem Unterricht, bereit, mich danach in der Stundenreflektion zu zerfleischen, und ich soll so tun, als seien sie nicht da? Und selbst, wenn ich das von Semester zu Semester trainiert hätte - meine ständig wechselnden Schüler haben das nicht unbedingt trainiert. Sie schauen nach vorne, im Rücken diese alten Männer und Frauen mit dem Kladden, als trügen sie Waffen, und die Schüler sollen sich entspannen?

Fuck you, System!

Also habe ich mir gar nicht erst vorgenommen, ganz normale Unterrichtsstunden zu zeigen, denn das wäre sowieso eine einzige Farce gewesen. Wenn die Lehrprobe schon einem Erschießungskommando gleicht, dann möchte ich die Damen und Herren erst einmal gründlich aus der Fassung bringen. Und so ging es dann in meinem ersten Semester an meine erste benotete Lehrprobe seitens der Schulleitung, Latein, Klasse neun, eine Klasse mit einem Ruf, wunderbar, das waren meine bevorzugten Lehrprobenschüler. Ganz ehrlich. Deswegen war ich auch froh, in meinem Examen die absolute Horrorklasse in Latein bekommen zu haben - dazu aber später.

Hier jetzt also der L3-Kurs, der den letzten Nulltsemester von der Schule geekelt hatte, worüber sie alle froh waren. Was mir aber keiner erzählt hat, sondern mich, quasi als cannon fodder, vor diese Jugendlichen gesetzt hat - perfekt! Mit Streberkursen kann ich nichts anfangen. Also hatte ich ein knappes Jahr Zeit, um diese kleinen Monster auf mein Kommando zu drillen - auf meine eigene Art. Und dann kam die Lehrprobe.

Mit klassischer Musik.

Um die Überraschung nicht vorweg zu nehmen, hatte ich das Stundenraster erst direkt zu Stundenbeginn ausgeteilt (bei schulintenernen Lehrproben war kein ausführlicher Unterrichtsentwurf nötig). Tafel zu. Lateinische Sätze angeschrieben. Und langsam tönte Edvard Grieg aus den Boxen, In the Hall of the Mountain King, Peer Gynt geht immer. Und im Takt der Musik habe ich dann die Farbmethode (lateinische Satzglieder, eigentlich nichts Ungewöhnliches, kannte der Kurs aber noch nicht) demonstriert, wortlos. Punktgenau mit dem letzten Ton hatte ich den Text quasi vorentlastet. Übersetzung nicht mehr nötig. Weiterhin wortlos die Tafel geöffnet, einen neuen lateinischen Text präsentiert und die bunte Kreide an ein paar Schüler verteilt. Davon hing alles ab: Entweder, sie hatten es kapiert und würden nun den Text vorentlasten oder die ganze bis in den letzten Winkel durchchoreographierte Stunde wäre für die Tonne.

Und es klappte... ... ...tatsächlich. Super. Der Rest der Stunde war dann ganz klassischer Lateinunterricht. Die Schulleiterin hat mir dann in einem ersten Schritt für die Stunde eine Eins gegeben, im zweiten Schritt dann aber gesagt, dass sie die nicht werten könne, weil das ja kein normaler Unterricht sei. Dementsprechend ist diese Note nicht in das Gutachten eingegangen. Ich lasse das an dieser Stelle unkommentiert.

Nicht alle Lehrproben waren Zauberstunden. Man konnte recht schnell erkennen, wer wirklich normale Stunden sehen wollte und wer das nur als Floskel vorschob, und so wurde auch meine schulinterne, benotete Englisch-Lehrprobe zu einer Zauberstunde mit Gedankenreise und Synästhetik-Phase im Englischkurs des Kunstprofils.

Im Gegensatz dazu fällt mir auf, wie ich vor den Studienleiterbesuchen wesentlich mehr "Respekt" hatte und es nicht auf Zauberstunden anlegen wollte, sondern auf normalen Unterricht, herkömmliche Einstiege, normale Phasierung, klassische Unterrichtsziele. Und dass ich darin völlig untalentiert war, hatte ich gleich in der ersten Lehrprobe bei meinem Studienleiter in Latein unter Beweis gestellt - der aber offensichtlich auf etwas ganz Anderes geachtet hatte als die strenge Einhaltung des Unterrichtsrasters und mir eine sehr seltsame, meiner Wahrnehmung nach nicht zu der gezeigten Stunde passende Rückmeldung zur Lehrprobe gegeben hat. Von diesem Zeitpunkt im ersten Semester an wurde mein Studienleiter zum Objekt genauer Beobachtung, denn von da an hatte ich eine grundlegende Idee dessen, was er im Unterricht sehen wollte, und diese Idee materialisierte sich mit jedem Zusammentreffen immer weiter. Und entlud sich in dem, was Hochbegabte zu lieben scheinen, als kleine Fingerübung oder große Herausforderung, je nach Umfang:

Manipulation.

Ich musste eigentlich für meine Examensstunden nichts weiter tun, als die Schüler dazu bringen, nach meiner Pfeife zu tanzen. Auf jeden meiner Fingerzeige so zu reagieren, wie ich es erwartete. Regisseur spielen: Antizipieren, wie das Publikum auf die gezeigte Show reagieren würde. Geplante Fehler meinerseits einbauen, die ich im Nachzug dann besprechen könnte. Und vor allem: Unschuldig tun. Ich hatte von meinem ersten Unterrichtsbesuch in Latein an etwa ein Jahr Zeit, um diese Examensstunde zu planen. Aber woher sollte ich die Zutaten bekommen?

Ich brauchte eine widerspenstige Schülerschaft, die keine Lust auf Unterricht hat, und die ich in den drei Monaten vor meinem Examen so dressieren konnte, dass sie Spaß an dem hatten, was ich mit ihnen durchführte. Ich brauchte schräge Schüler, die nicht so handeln, wie erwartet. Am besten einen Hochbegabten mit ADHS, der mir den Unterricht zerlegen will. Und vor allem eine Gruppe, die kein Bock auf Latein hat. Was gab es also Besseres als den neuen Latein Drei-Kurs in Klasse Acht, mit siebzehn Schülern, von denen nur vier sich bewusst für das Fach entschieden hatten, der Rest wurde aus den überfüllten Fächern NaWi und Informatik umsortiert. Wie geil! Das waren genau meine Leute, pubertär, widerspenstig, chaotisch, bunt. Wie ich.

Dann brauchte ich einen Unterrichtsinhalt, der nichts mit den üblichen Lehrproben zu tun hatte - so viele Referendare konzentrieren sich auf die Ausbildung von Sach- und Methodenkompetenz, schön und gut, aber weil das der Standard zu sein schien, wollte ich etwas Anderes machen. So wie immer: Normal ist langweilig. Also formulierte ich mein Stundenziel als Indem die Schülerinnen und Schüler ihre Übersetzungen nicht gegenseitig korrigieren, sondern nur Einhilfen geben, trainieren sie das ShS-Prinzip als Teil ihrer Sozialkompetenz. Ich hatte in meinem Ref keine einzige Stunde mit Schwerpunkt Sozialkompetenz gesehen - perfekt! Das war meine road less travelled.

Dann die Absprache mit meinem Lateinmentor, die nicht viel mit "Absprache" zu tun hatte. Wir setzten uns eines Tages im Glaskasten zusammen, ich legte ihm einen handschriftlichen Zettel hin und sagte: "So, collega cuneusligneus, das ist meine Examensstunde. Die klingt albern und komisch, aber ich werde sie genau so machen. Sie haben mir in den letzten zwei Semestern vertraut - bitte vertrauen sie mir auch auf diesen letzten Metern." Und der cc hat gelächelt, den Kopf geschüttelt und wir haben die Stunde per Handschlag abgemacht.

Manipulation in jedem Winkel und jeder Ecke, jeglicher Gesichtsausdruck genau festgelegt, ich fühlte mich ein bisschen wie Hitchcock: I like to play the audience like a piano. Und so kam es dann auch. Unerwartete Komponente war ein zusätzliches Mitglied der Prüfungskommission, der Schulartleiter im IQSH, aber das war dann eben schmückendes Beiwerk. Ich hatte siebzehn Schüler, die genau so agierten, wie es im Unterrichtsentwurf beschrieben war, und ich hatte eine Bewertungskommission, die genau so reagierte, wie ich es mir vorher zurecht gelegt hatte. Klasse. Alles Andere an diesem Examenstag war mir scheißegal. Die Lateinstunde hatte geklappt, meine kleine persönliche Spielerei, manipulatio delectat, ich war glücklich. Alles Weitere war Dreingabe.

Resümee

Mir ist bewusst, dass das Alles nicht einmal im Ansatz so gelaufen wäre, wenn ich einen gewissen (oder jeden) anderen Studienleiter in Latein gehabt hätte. Aber darin besteht ja gerade die Herausforderung in der Manipulation: Sich genau auf seinen Gegenüber einzustellen. Genau zu fühlen, wie er fühlt. Zu ahnen, wie er reagieren wird. Und die eigenen Pläne dementsprechend zu legen. Die besten Regisseure der Welt haben genau so gehandelt und tun es noch immer - und irgendwo habe ich mich als Lehrer auch immer in der Rolle eines Regisseurs gesehen.

Und auch wenn das alles sehr negativ klingen mag - jemand, der so gern und oft unbewusst manipuliert - so versuche ich das immer zum Positiven einzusetzen. Und weiß gleichzeitig auch, dass sehr intelligente Menschen diese Fähigkeit zum Negativen verwenden.

So sind wir Menschen nun einmal.

post scriptum: Und als Filmempfehlungen zu diesem Menschentyp wabern mir "Lawrence of Arabia", "Citizen Kane" und "Apocalypse Now" durch den Kopf, die sich allesamt mit enigmatischen Menschen beschäftigen, denen nicht einfach ein einziges Label angeheftet werden kann.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen