Donnerstag, 3. November 2016

"Ich kultiviere Unverständnis."


Diesen kleinen, aber genialen Satz habe ich gestern zu lesen bekommen. Es hat ein paar Momente gedauert, bis er richtig gewirkt hat, aber seitdem bekomme ich ihn nicht mehr so einfach aus dem Kopf, und das ist vielleicht auch gut so.

Man hat den gestrigen Beitrag im Blog ja durchaus so lesen können, als regte ich mich auf - oder machte mich zumindest lustig - über bestimmte Menschen, die kein Verständnis für mein Verhalten aufbringen können. Unabhängig von der Lesart ist es tatsächlich so: Es braucht eine gewisse Offenheit und Bereitschaft, das Andersartige kennenlernen zu wollen (und irgendwann vielleicht auch zu akzeptieren), um mein Verhalten zu verstehen. Ich kenne nur wenige Menschen, die wirklich verstehen, wie ich ticke, und das hat Jahre gedauert. Oder diese Menschen haben das gleiche Problem: Sie sind hochbegabt und verhalten sich für viele Menschen nicht nachvollziehbar.

Und an dieser Stelle kommt das titelgebende Zitat ins Spiel. In etwa zweiundzwanzig Jahre lang habe ich mich intensiv bemüht, mich anzupassen, bloß nicht aufzufallen. Es sollte doch um Himmels Willen niemand merken, dass ich "anders" bin, dass ich jenseits der Norm liege. Mein Streben war es immer, wenn ich mit anderen Menschen zu tun hatte, es diesen Menschen Recht zu machen. Dass sie mich bloß akzeptierten! Und wenn ich mich dafür noch so sehr verbogen habe, und wenn es mich noch so sehr verletzt hat, nicht "ich" sein zu dürfen.

Und dann bin ich mit einer Schulfreundin in eine WG zusammengezogen, die selbst Jahre ihres Lebens damit verbracht hat, auf ihre Art "anders" zu sein. Das hat sie gelehrt, offen und neugierig zuzugehen auf Andersartigkeit - weil sie möchte, dass man mit ihr genauso umgeht. Den positiven Umgang, den wir uns von anderen Menschen wünschen, müssen wir ihnen vorleben, nichts Anderes hilft. Es ist, wie Erich Kästner gesagt hat: "Es nützt nichts, unsere Kinder irgendwie erziehen zu wollen. Sie machen uns sowieso alles nach." Und somit bin ich in unserer WG mit Offenheit in Berührung gekommen und habe endlich angefangen, "ich selbst" zu werden. Ein Prozess, der nach über zwanzig Jahren Anpassung einige Jahre in Anspruch genommen hat.

Ich weiß nicht, ob ich mittlerweile "ich selbst" geworden bin, oder ob Stücke des Weges noch zu gehen sind. Ich entdecke immer wieder neue Seiten an mir. Tatsache ist aber, dass ich mich kaum noch verbiege und es meinen Mitmenschen kaum noch Recht mache. Und die Konsequenz ist:

"Ich kultiviere Unverständnis."

Und zwar bei all jenen Menschen, die lieber einfach, schnell und in Schubladen denken, weil alles Andere Zeit braucht, zu anstregend ist oder wenig komplexe Weltbilder in Frage stellt. All' jene Menschen begegnen mir mit Unverständnis, das ich wie ein Gärtner durch mein Verhalten mehre. Und so gern ich diese Situation ändern würde, so gern ich all diesen Menschen mit einem klärenden Gespräch begegnen würde, so sehr sitzt mir ein anderes Zitat im Kopf:

"Du kannst Verständnis nicht forcieren."

Und das bedeutet für mich: Die Menschen müssen von sich aus merken, dass ihr Blickwinkel, ihr Urteil über mich vielleicht unbegründet ist. Das kann ich nicht mit einem konfrontativen Gespräch herbeiführen. Und das ist ein Prozess, der lange Zeit braucht. Ich habe auch bei Flo Unverständnis kultiviert. Ich habe ihn intensiv vorgewarnt, dass das ein harter Ritt werden könnte, aber er hat nicht locker gelassen. Und in der Konsequenz sind bei ihm die bisherigen Kulissen des großen Welttheaters als einsturzgefährdet deklariert worden. Und alle Offenheit, die er nach und nach für mich aufzubringen versucht hat, musste sich gegen den Druck seiner eigenen Außenwelt stellen, das hat irgendwann nicht mehr geklappt.

Das Leben könnte so einfach sein. Ist es aber nicht, weil die grenzenlose menschliche Dummheit (nach Einstein) dem im Wege steht. Und so kultiviere ich weiter und schere mich nicht ernsthaft drum, denn meine Lebens- und vor allem meine Denkzeit möchte ich nicht verschwenden.

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