Donnerstag, 17. November 2016

Beteigeuze (Kapitel 4)




22:05 Uhr

Sehr zufrieden ging Abigail Hopkins den Schottlandweg der Titanic hinab. Sie hatte nach ihrer Schwester geschaut und alles zu ihrer Zufriedenheit vorgefunden. Nun konnte sie wieder in ihre Kabine zurückgehen, ohne sich Sorgen zu machen. Aber eigentlich war der Abend noch so frisch. So unverbraucht, zumindest für ein junges Mädchen wie sie. Für ein junges, verwitwetes Mädchen wie sie.
Mrs Hopkins strich ein paar kaum sichtbare Falten aus ihrem altmodischen Kleid. Dabei blieb sie kurz stehen und blickte an sich herab. Sie sah aus wie eines dieser Bauernkinder, ein Mädchen aus einer Amish-Gemeinde. Dabei konnte sie dieser weltfremden Lebensweise noch nie etwas abgewinnen. Natürlich war auch für Abigail Hopkins ein zufriedenes Leben wichtig, im Einklang mit sich selbst. Die Natur hat sie nie groß gekümmert, aber sie hat sie auch nie absichtlich angegriffen. Aber dieses schrecklich bescheidene Leben, das konnte nicht das Wahre sein.
An dieser Stelle kehrten ihre Gedanken zu ihrer Schwester zurück. Schrecklich bescheiden. Geld allein, sagt man, macht nicht glücklich, aber es erleichtert doch vieles. Und die Dinge, die man sich davon kaufen konnte, die machten in der Tat glücklich. So zumindest stellte Abigail sich ihre Zukunft vor. Und ihre Schwester? Arm. Arm wie eine Kirchenmaus, und ausgerechnet die wagte es, von sich zu behaupten, sie sei glücklich und zufrieden. Dabei konnte sie sich von ihrem knappen Gehalt als Kindermädchen kaum mehr gute Kleidung leisten. Und Freizeit hatte sie auch keine.
Ach, Kleidung! Und schon dachte Mrs Hopkins wieder über ihr eigenes Kleid nach. Hinter dem Berg lebten sie, diese Amish Leute, aber ihre Kleidung, die hatte einen interessanten Stil, schlicht und doch elegant. Nicht so aufreizend, sondern… schlicht. Ihr fiel beim besten Willen kein besseres Wort ein. Und es wäre auch sehr unpassend, sich jetzt schon aufreizend zu kleiden.
Vor gerade einmal sechs Wochen war ihr Mann bei einem Zugunglück ums Leben gekommen. Es war schon seltsam, aber Abigail Hopkins konnte darüber nicht allzu traurig und erschüttert sein. Vielleicht lag es daran, dass sie beide sich noch nicht allzu sehr aneinander gewöhnt hatten. Und er war ja auch kein armer Schlucker gewesen; sie konnte nun zumindest für eine Zeit ganz gut leben. Tja, Geldquellen hat man oder man hat sie nicht, sagte sie sich und dachte vergnügt an ihren Onkel, dem das Geld doch schon zu den Ohren herausquellen musste. Na ja, das war nun kein Problem mehr für ihn.
Fröhlich schlenderte Abigail den Flur weiter. Als sie durch die Tür schritt, die zum vorderen Teil des Korridors führte, kam ihr ein junges Pärchen entgegen. Die beiden hielten Händchen. Als sie sich nach ihnen umdrehte, küssten die beiden sich.
Liebe! Sie kann so schön sein, dachte Abigail mit leichtem Schmerz in der Brust. Was die Liebe anbetrifft, kann man aber auch so unglaublich viel falsch machen. Und die Gedanken wanderten wieder zu ihrer Schwester. Sie ließ sich ausnutzen. Sie verliebte sich viel zu schnell, und das machte sie zur leichten Beute für die Männer. Mrs Hopkins wurde zornig. Auch sie war einst so dumm gewesen und hatte sich einem Mann hingeben wollen.
Sie schluckte und ging energisch weiter. Sie wollte diese Gedanken nicht zu Ende führen, doch es war unausweichlich. Sie kehrte zurück an jenen Tag, als sie sich von ihrem Liebhaber trennen wollte. Sie hatte erfahren, dass er sie nur benutzen wollte, nur eine kleine Affäre. Abigail Hopkins war nie so schwach wie ihre Schwester und hatte sich von ihm lösen wollen, doch…
Ihre Schritte wurden langsamer, ihre Knie wurden weich. Die Erinnerung kam wieder, und so sehr sie die Vergangenheit auch als geklärt abhaken mochte, es konnte ihr einfach nicht gelingen. Um nicht zusammenzubrechen, hockte sie sich mitten im Flur nieder.
Es war so schrecklich gewesen. Sie sagte ihm, dass sie nichts mehr von ihm wissen wollte, doch er hörte nicht auf sie. Gewaltsam hatte er sie am Arm gepackt und in sein Zimmer geschleppt. Abigail hatte schreien wollen, doch er zog ein Messer und drohte, ihr etwas viel Schlimmeres anzutun, als das, was nun folgen sollte. Abigail Hopkins war vergewaltigt worden.
Doch sie hatte sich gerächt. Auf eine Weise, wie sie schon fast meisterhaft war, denn sie hatte zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Ihr Peiniger würde in naher Zukunft hinter Gittern sitzen. Zusätzlich hatte sie sogar noch einen Gewinn für sich selbst herausgeschlagen, ohne sich die Finger schmutzig zu machen. Niemand würde sie jemals verdächtigen.
Nicht einmal Eifersucht würde ihr je wieder im Wege stehen, denn es gab keine Nebenbuhler zu ihrem Glück mehr. Die Zukunft konnte kommen, jetzt, da alle Hindernisse beseitigt waren und der Rücken gestärkt war. Bei diesen Überlegungen raffte Mrs Hopkins sich wieder auf und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Es war genug, ihre Bemühungen hatten jetzt ein Ende. Es galt, das Leben zu genießen, was auch immer da noch kommen sollte. Und mit dieser Überzeugung trat Abigail Hopkins and die Treppe, um das erste Mal auf ihrer Überfahrt auf das Bootsdeck hinauszutreten und endlich wieder frei durchzuatmen.

Wütend warf Patrick Grearson sein Jackett auf das Bett und setzte sich auf das Sofa. Seine Gedanken kreisten wie wild durch seinen Kopf, eine Ordnung dort hineinzubringen war unmöglich.
Mrs Dobbins war am Leben. Der Schuss, wer auch immer ihn abgefeuert hatte, hatte sie nur ins Bein getroffen. Die Hausfrau stand unter Schock und war nicht in der Lage, etwas zu sagen. Charles Lightoller, der gerade den Funkraum verlassen hatte, hatte den Schuss gehört und war sofort auf das Vorderdeck gestürmt. Gemeinsam mit ihm hatte Grearson die schwere Dame in die Krankenstation in der Nähe der Turnhalle gebracht und sie dort sofort in die Obhut der Ärzte gegeben.
Lightoller hatte gleich darauf mehrmals beteuert, dass der Schuss unmöglich vom Schiffsdeck gekommen sein konnte, auf jeden Fall nicht von der Backbordseite, da er niemanden sonst in seiner Nähe gesehen hatte. Grearson war zurück auf das Vorderdeck getreten und hatte zurückgeblickt. Es gab nur noch zwei sinnvolle Möglichkeiten, von wo der Schuss gekommen sein konnte. Zunächst einmal auf der Höhe des B-Decks, von wo aus man das Vorderdeck betreten konnte, oder von der Promenade des A-Decks. Wer auch immer es gewesen ist, war sofort nach der Tat verschwunden.
Man hat verhindern wollen, dass Mrs Dobbins etwas ausplaudert, dessen war Grearson sich sicher. Das wiederum hatte alles, was er sich so passend zurechtgelegt hatte, über den Haufen geworfen, und nun saß er in seiner Kabine und stützte den Kopf in die Hände.
Woher hatte Mrs Dobbins nur die Sache mit dem Messer gewusst? Das war nur möglich, wenn sie selbst Ismay ermordet hat. Und ihr schlechtes Gewissen oder einfach die Gewissheit, dass mit dem Mord an Ismay nun die Rache für den Tod ihres Mannes vollbracht war, hatte sie dann auf die Reling getrieben, um sich selbst in den Fluten des Atlantiks zu ertränken.
Aber dann dieser Schuss. Jemand wollte verhindern, dass sie Grearson etwas sagte, aber was? Grearson stand auf und wanderte wie ein Tiger in seiner Kabine auf und ab, blickte dabei immer wieder in den Spiegel. Seine Augen zeigten die Verwirrung, die ihn momentan beherrschte. Was war an diesem Abend passiert? Was war auf der Titanic geschehen, während er seine Seekrankheit auskuriert hatte?
Er legte sich auf das Bett, vorsichtig, um das Jackett nicht zu zerdrücken, und schloss die Augen. Die Bilder des vergangenen Abends schossen vor seinem inneren Auge vorbei. Und ganz langsam schlich sich eine Idee an Grearson heran. Mrs Dobbins hatte vor Ismays Kabine gehockt. Vielleicht, um zu schauen, ob er drin ist, vielleicht, um zu sehen, ob die Luft rein ist. Aber war es nicht möglich, dass sie etwas ganz Unerwartetes gesehen hatte?
Sie hatte etwas beobachtet, womit sie nicht gerechnet hatte, sie sah nicht Ismay, sondern jemand Anderes. Und vielleicht sah sie sogar, wie diese andere Person Ismay ermordete! Irgendwie hatte dieser Fremde dann erfahren, dass er beobachtet worden war, und wollte Mrs Dobbins zum Schweigen bringen, bevor sie ihn verraten konnte.
Natürlich! Daher wusste sie auch, dass Bruce Ismay erstochen worden war! Sie hatte den Mord durch das Schlüsselloch beobachtet. Sie hatte selbst vor, Ismay zu beseitigen, aber als sie sah, dass jemand Anderes die Arbeit vor ihr erledigt hatte, war ihre Aufgabe auf der Titanic erledigt und sie wollte sich umbringen. Das war alles schlüssig.
Grearson öffnete die Augen. Leider waren die Fragen dadurch nicht weniger geworden. Ganz im Gegenteil. Wer war diese unbekannte Person? Mrs Dobbins stand noch unter Schock. Hoffentlich würde sie bald wieder sprechen können, denn wenn der unerkannte Schütze dahinter kam, dass sie noch lebte, dann wäre sie in höchster Lebensgefahr.
Und das alles mochte noch so logisch erscheinen, kleine Haken waren da trotzdem. Genaugenommen wusste Grearson überhaupt nicht, was Mrs Dobbins gesehen hatte. Ein anderes Szenario war genauso möglich, zum Beispiel, dass Mrs Dobbins gesehen hatte, wie Ismay etwas in seinem Zimmer getan hatte, vielleicht mit einer anderen Person, was seinem oder ihrem Ruf geschadet hätte. Und nachdem sie lange genug beobachtet hatte und Ismay wieder allein war, da hatte sie sich eiskalt in sein Zimmer begeben und ihn erstochen. In dem Fall wäre sie doch der Mörder und der unbekannte Schütze war die andere Person aus dem Zimmer, die noch gar nicht wusste, dass Ismay nicht mehr lebte.
Viel verwirrter als zuvor stand Grearson von seinem Bett auf. Die Stille in seiner Kabine brachte ihn um den Verstand. Gesellschaft musste her, aber schnell. Er warf sich sein Jackett über und trat hinaus auf den Flur. Von der linken Flurseite hörte er das Geräusch einer sich schließenden Tür.
Er blickte nach links. Eine Frau mittleren Alters verließ gerade die Kabine von Bruce Ismay.
„Halt! Was machen sie da?“ rief Grearson.
Die Frau zuckte erschrocken zusammen und blickte den näherkommenden Mann an.
„Ich… ich habe gerade mein Zimmer verlassen. Ist daran vielleicht etwas Verbotenes?“
Grearson schüttelte den Kopf.
„Natürlich nicht. Wenn dieses denn ihr Zimmer wäre, aber das ist es nicht. Es gehört Bruce Ismay. Was suchen sie hier?“
„Es nützt wohl nichts, sich herauszureden. Bitte versprechen sie mir, dass es unter uns bleibt, wenn ich ihnen die Wahrheit sage. Das könnte sonst unangenehme Folgen für Bruce haben.“
Grearson nickte: „Da bin ich aber gespannt.“
„Also gut. Mein Name ist Elsa Whittle. Ich reise nach New York, um meinen Bruder dort zu besuchen. Ich bin alleinstehend, und mein Vater in Europa ist kürzlich verstorben.“
„Das tut mir leid.“
„Vielen Dank. Ich wusste nicht, was mich noch in England halten sollte. Ich war froh, als die notariellen Dinge erledigt waren, und will jetzt meinem Bruder die Nachricht überbringen, er weiß davon noch gar nichts. Selbstverständlich soll er seinen Anteil am Erbe erhalten.“
Grearson wurde ein wenig misstrauisch, allerdings eher diesem Anwalt gegenüber, der das Testament ohne den zweiten Erben vollstreckt hatte.
„Und gleich am ersten Abend auf diesem Schiff habe ich Bruce kennen gelernt. Wir haben uns gut unterhalten, er ist ja so charmant. Und er hat mich geradezu verführt“, fügte sie mit verträumtem Augenaufschlag hinzu.
Grearson wagte einen Einwurf: „Sie wissen doch hoffentlich, dass Mr Ismay verheiratet ist?“
„Aber ja doch! Das macht die Angelegenheit ja so prickelnd. Und heute sollte es dann so weit sein, Bruce hat mich auf sein Zimmer eingeladen, doch er ist nicht da! Vielleicht bin ich zu spät, ich sollte um zehn Uhr hier sein, jetzt ist es zehn Minuten später.“
„Habe ich das richtig verstanden? Sie wollten sich hier mit Mr Ismay treffen, um…“
„Sie wissen schon, worum es geht, das brauchen wir hier nicht auszuführen. Ja, ich hatte mich schon so gefreut, mal ein wenig Abwechslung zu haben!“
„Hatten sie denn keine Angst, dass Mrs Ismay sie entdeckt? Die Ehefrau sieht ihren Gattin mit einer fremden Dame, das wäre doch sehr kompromittierend.“
„Sie haben Recht, aber die Gefahr bestand nicht. Mrs Ismay blieb ja in ihrem Zimmer.“
Verwirrt schüttelte Grearson den Kopf.
„Das verstehe ich nicht. Die Ismays hatten getrennte Zimmer?“
„Nein, sie Dummerchen. Die Kabine der Ismays befindet sich auf dem B-Deck. Eine der Luxuskabinen, B-52,54,56, ein richtiger Palast. Aber hier auf dem C-Deck hat er ein zweites Zimmer. Davon weiß seine Frau nichts. Fragen sie mich nicht, ob er geahnt hat, dass solch eine Situation eintreffen würde, als er die Zimmer reserviert hat. Jedenfalls sagte er mir, er wolle mich hier sehen, da würde seine Frau nichts mitbekommen.“
„Nun, Ms Whittle, das erscheint mir recht einleuchtend. Bis auf eine Kleinigkeit. Das Zimmer war doch bestimmt verschlossen. Wie sind sie hineingekommen?“
„Wie denn wohl? Mit einem Schlüssel! Bruce hat mir seinen Schlüssel gegeben, damit ich hier auf ihn warte.“
Grearson hob die Hand, um die Frau in ihrer Rede zu stoppen.
„Bitte warten sie, das irritiert mich jetzt. Ismay hat ihnen seinen Schlüssel gegeben?“
Die Frau nickte. Aber wie kam dann ein Zimmerschlüssel in die Jacketttasche des Präsidenten? Das konnte nur der Zweitschlüssel sein. Verdammt, wie kam der Zweitschlüssel in das Jackett? Warum?
Auch Ms Whittle schien stutzig geworden zu sein.
„Sie haben mich da auf eine Idee gebracht. Meine Güte, was war ich dumm! Bruce kann ja noch gar nicht hier gewesen sein ohne seinen Schlüssel. Ich sollte einfach wieder ins Zimmer gehen und dort auf ihn warten.“
Sie wandte sich zum Gehen, doch Grearson nahm ihren Arm.
„Warten sie. Ich glaube nicht, dass Ismay heute noch erscheinen wird. Ich habe ihn verschiedene Dinge reden hören, vorher, auf dem Empfang“, log er, um die Frau wegzubekommen. „Bitte schließen sie das Zimmer ab. Und den Schlüssel sollten sie beim Zahlmeister für Mr Ismay abgeben. Ich habe die Vermutung, er hat die Verabredung mit ihnen schlicht und einfach vergessen. Oder vielleicht verplant. Er sagte etwas von „den ganzen Abend nur Geschäfte“ oder so ähnlich.“
Grearson baute darauf, dass die Frau so verliebt war, dass sie keine weiteren Fragen stellte. Er hatte Glück.
„Ist das so? Ach, das ist aber schade. Ich muss ihn unbedingt sprechen, aber wie es aussieht, wird das wohl erst morgen der Fall sein. Tja, das nützt wohl nichts. Danke für die Information!“
Ein wenig geknickt wanderte sie den Flur hinunter Richtung Haupttreppe.
Elsa Whittle hatte also den Zimmerschlüssel von Ismay. Aber, wie war Ismay dann selbst in sein Zimmer gekommen, als Mrs Dobbins ihn beobachtete?
Patrick Grearson schlug sich vor die Stirn. Nein. Es war alles falsch. Niemand wusste, was Mrs Dobbins gesehen hatte. Niemand behauptete, Ismay sei in seinem Zimmer ermordet worden. Dieser Fall wurde immer undurchsichtiger. Die einzige Spur führte zu Mrs Dobbins, und die war bewusstlos. Vielleicht würde nie jemand erfahren, was wirklich passiert ist. Grearson musste das verhindern, er musste eine Lösung finden, um die Gemüter zu beruhigen. Aber welche?

Claris Hilton hatte die Gesellschaft verlassen. Der Trubel hätte sie ablenken können, verstörte sie aber nur noch mehr. Die ganze Welt schien sich gegen sie verschworen zu haben, und so dankbar sie auch für die Aufmunterung durch ihre Mitmenschen war, so wenig nützte es. Langsam stieg sie die Treppe zum D-Deck hinab und betrat den Korridor zu ihrer Kabine. D-12. Behutsam öffnete sie die Tür, um nicht ihre Mutter zu wecken, die sich vielleicht schon zur Ruhe gelegt hatte. Zu ihrer Überraschung hörte Ms Hilton jedoch zwei verschiedene Stimmen aus der Kabine.
Sie öffnete die Tür nur einen Spalt weit, um ein wenig mitzuhören. Sie erkannte die Stimme ihrer Mutter, die etwas außer Atem schien. Die andere Stimme hatte sie schon einmal gehört. Eine Männerstimme.
„Ich kann ihn nirgends finden, Mrs Hilton“, sagte die Stimme.
„Das ist ja auch kein Wunder. Sie suchen doch jegliche Möglichkeiten, um einem Konflikt aus dem Weg zu gehen, Stansfield.“
Stansfield! Genau. Der Mann in der Kabine war ihr gemeinsamer Anwalt. Aber worüber sprachen sie gerade?
„Das ist nicht wahr. Ich verdiene schließlich mein Geld damit, Konflikte zu schlichten.“
„Aber wenn sie die Konfrontation mit Ismay vermeiden, machen sie die Sache um keinen Deut besser. Die Lage ist schlecht für sie!“
Ismay?
„Wir sind noch ein gutes Stück unterwegs, Mrs Hilton. Ich werde ihn finden und die Angelegenheit regeln.“
„Mann, reden sie nicht herum, sondern gehen sie endlich. Und vermeiden sie um Himmels Willen, dass Claris etwas erfährt. Ich glaube, sie wäre nicht sehr erfreut, dass wir sie jahrelang angelogen haben.“
Das wurde ja immer interessanter! Langsam traten kleine Schweißperlen auf die Stirn der jungen Frau, die an der Tür lauschte. Am liebsten wäre sie schon jetzt in das Zimmer geplatzt, um die Unterhaltung zu unterbrechen und die Wahrheit zu erfahren, aber sie hielt sich zurück. Vielleicht würden die beiden von sich aus gesprächiger.
„Angelogen ist nicht das richtige Wort. Ich meine, selbst wenn sie davon wüsste, wie hoch stehen da die Chancen, dass sie ihren Vater wiedersieht? Er ist ein vielbeschäftigter Mann. Wie wollen sie an ihn herankommen? Sie haben vorhin selbst noch gesagt, dass er Claris nie gesehen hat. Und sie meinten, dass er auch sie kaum wiedererkennen wird, Mrs Hilton. Er wird nichts glauben, er wird als Vater nicht mehr existieren. Also haben sie ihre Tochter nicht angelogen.“
„Das haben sie ganz famos ausgedrückt, Mr Stansfield. Er wird als Vater nicht mehr existieren. Deswegen sollen sie ihn ja auch beseitigen. Bruce Ismay darf nicht mehr existieren!“
Stansfield schwieg für einen Moment. Diana Hilton hatte sich klar und deutlich geäußert und mit einer Härte gesprochen, die fast schon erschreckend war.
Weniger durch die Härte ihrer eigenen Mutter als durch den Inhalt ihrer Rede erschrocken war ihre Tochter vor der Tür. Bruce Ismay. Es stimmte also, dass sie das Ergebnis einer Affäre war. Wütend stieß sie die Tür auf, so dass der Anwalt und ihre Mutter zusammenzuckten.
„Was hat das zu bedeuten?“ schrie sie ihre Mutter mit tränenerstickter Stimme an.
„Claris!“
„Ich gehe wohl besser“, murmelte der Anwalt, räumte hastig seine Aktentasche zusammen und verschwand aus der Kabine, in der sich ein handfester Familienstreit anzubahnen drohte.
„Mama! Ist Bruce Ismay mein Vater? Habe ich das richtig verstanden?“
Diana Hilton seufzte tief. Sie blickte zu Boden.
„Ja, das hast du.“
„Aber warum hast du mich all die Jahre angelogen? Ist es, weil Ismay nur eine Affäre war? Ist es, weil er mich nicht wiedererkennen wird? Mutter, ich will ihn sehen! Sofort!“
„Kind, das ist aber nicht möglich. Bruce hat dich nie gesehen. Und das ist schon so lange her, selbst ich habe ihn all die Jahre nicht zu Gesicht bekommen!“
„Aber du kannst doch nicht einfach meinen Vater aus dem Gedächtnis streichen! Ich will zu ihm.“
„Claris!“ Ihre Mutter schlug einen strengen Ton an. „Das ist nicht möglich. Das ist alles geschehen und vorbei. Wir müssen uns jetzt auf das konzentrieren, was uns in Amerika erwartet! Dein Verlobter!“
„Mein Verlobter?“ Mit roten Augen blickte Claris ihre Mutter an. „Ich hasse ihn, dass du es nur weißt! Wie kannst du das nur tun? Du hast mir einmal das Leben zerstört, indem du mir meinen Vater genommen hast, und nun willst du es ein zweites Mal ruinieren? Was für eine Mutter bist du?“
„Claris!!“
Diana Hilton stand auf und ging forsch zur Zimmertür. Mit lauter Stimme sagte sie: „Es reicht jetzt, junges Fräulein. So redest du nicht mit mir. Du weißt ja überhaupt nicht, was damals alles passiert ist. Denkst du, ich sage es nur zum Spaß, dass ich stets das Beste für dich will? Ich habe noch nie dein Leben ruiniert, das kannst du mir glauben. Und ich lasse mir von dir nicht vorwerfen, eine schlechte Mutter zu sein! Du bleibst jetzt hier in deinem Zimmer und denkst über deine Dummheit nach!“
Bevor Claris unter Tränen zur Tür stürmen konnte, hatte ihre Mutter diese bereits geschlossen und den Schlüssel mit leisem Geräusch herumgedreht. Sie war eingeschlossen worden. Claris drückte die Klinke herunter und rüttelte an der Tür, sie schlug mit Fäusten dagegen, aber es war nichts zu machen. Die Nachbarkabinen waren nicht besetzt. Verzweifelt sank das junge Mädchen an der Tür zu Boden und weinte bitterlich.

Zwar hatte Susan Lockett sich nach dem etwas ungemütlichen Treffen mit Stevens auf dem Squashplatz entschlossen, auf ihre Kabine zurückzukehren, aber das hatte sie nur gesagt, um den Fotographen möglichst wenig unhöflich abzuschütteln. Es galt, Ausschau zu halten. Ausschau nach etwas, was ihr gestohlen wurde. Was ihrer Familie gestohlen wurde.
Nach dem, was sie früher am Abend gesehen hatte, war sie überzeugt, dass es sich auf dem Schiff befinden musste. Die Suche war fast unmöglich, wäre da nicht die Gesprächigkeit der Leute. Aber selbst im Speisesaal der ersten Klasse fand sie niemanden, der ihr über die Vorgänge auf der Titanic Auskunft geben konnte. Somit verließ sie die große Halle und machte sich auf den Weg zu ihrer Kabine. Sie bemerkte gar nicht, dass sie ihre Handtasche über der Stuhllehne des Speisesaales vergessen hatte.
Dort fand sie zum Glück Steward Miller, ein Mensch, der ehrlich genug war,  etwas Gefundenes dem rechtmäßigen Besitzer wiederzugeben. Miller war eigentlich noch immer auf der Suche nach Patrick Grearson, um ihm von der doch sehr verwirrenden Angelegenheit mit dem Kabinenschlüssel zu erzählen. Er wusste ja nicht, dass Grearson inzwischen noch viel verwirrendere Enthüllungen über eben diesen Schlüssel zu Tage gefördert hatte.
Miller hatte Grearson im Speisesaal vermutet für eine kleine Speise vom Abendbüfett, da Mr Grearson die Hauptmahlzeit schließlich mit Seekrankheit in seiner Kabine verbracht hatte. Es waren nur noch wenige Passagiere im Speisesaal. Um diese Zeit hatten sich die Älteren bereits zurückgezogen und die Jüngeren in die Gesellschaftsräume begeben. Hier und da saßen vereinzelt junge Männer und Frauen an den Tischen, einige von ihnen betrunken, und starrten mit ausdruckslosen Blicken auf die Tischplatten. Grearson war nirgends zu entdecken.
Als Miller aber seinen Blick schweifen ließ, fiel ihm eine Handtasche auf, die verlassen an einer Stuhllehne baumelte. Er erkannte sie an einer exquisiten Lederarbeit auf der Vorderseite wieder. Ein Muster, das man nicht allzu oft sah. Miller erinnerte sich, dass er die Tasche heute bereits gesehen hatte, es fiel ihm allerdings nicht ein, an wem.
Er ging zum Stuhl hinüber und nahm die Tasche herunter. Dabei fiel aus einer Seitentasche ein Blatt Papier. Miller hob es auf und entdeckte bei näherem Betrachten, dass es ein Zeitungsartikel war. Er war unachtsam aus einer Tageszeitung herausgerissen worden, weder das Datum noch der Name der Zeitung waren zu erkennen. Der Steward überfolg den Artikel.
„Skandal! Diebstahl einer ethnischen Ikone erschüttert Westafrika! Ein Ereignis dieser Art gab es zuvor noch nie in einem kleinen Stamm an der Elfenbeinküste. Ein berühmter Rubin von unschätzbarem ideellem Wert wurde während eines Staatsempfanges gestohlen. Da niemand aus dem niederen Volke zu der Zeremonie zugelassen war, steht fest, dass der Diebstahl von einem der hohen geladenen Gäste begangen wurde. Dies macht die Untat nur noch unerklärlicher. Experten schätzen den Wert des Rubins mit dem Namen Beteigeuze auf ungefähr 40.000 Pfund ein, der religiöse Wert sei aber geradezu unermesslich. Der Stein trägt seinen Namen nach dem Stern im Sternbild Orion, Beteigeuze, auch Alpha Orionis genannt. Der Volksstamm, in dessen Besitz der Stein sich seit Tausenden von Jahren befand, verehrte den Gott Orion unter dem Namen Nun´Xite als Schutzheiligen; der Edelstein stellt einen wichtigen Bestandteil eines Götteridols in der Hauptstadt Veridjan dar. Das Volk zeigt sich über diesen beispiellosen Frevel erzürnt und hat geschworen, den Stein mit allen Mitteln wiederzuerlangen. Die internationale Polizei ist bereits eingeschaltet, sagt aber, ihr seien die Hände aufgrund der hohen Stellungen der Persönlichkeiten gebunden. Wie aus internen Kreisen verlautete…“
Der Rest des Artikels fehlte. Miller prägte sich die Fakten ein und steckte den Artikel zurück in die Handtasche. Dabei fiel sein Blick auf den Ausweis – natürlich. Susan Lockett, die reizende junge Frau, mit der er kurz zuvor geplaudert hatte. Hatte sie nicht behauptet, sich kaum für die Religion ihres Volkes zu interessieren? Hier war ein klärendes Gespräch überfällig.
Miller ging zum Zahlmeister und fragte nach der Kabine der jungen Frau. Als er wenige Minuten später vor dem Zimmer von Ms Lockett stand und klopfte, musste er nicht lange warten, bis die Tür sich öffnete.
„Ach, sie sind es!“
Ms Lockett schien erfreut, den Steward zu treffen.
„Sie müssen entschuldigen, aber ich kann sie nicht hereinbitten. Mein Zimmer sieht ein wenig unaufgeräumt aus. Ich meine, sehen sie doch nur!“
Sie öffnete die Tür ein wenig weiter und deutete mit dem Arm auf eine ziemliche Unordnung. Miller war überrascht, bei einer so korrekten Frau ein so unaufgeräumtes Zimmer vorzufinden, entschloss sich aber dazu, nicht weiter auf dieses Thema einzugehen.
„Ms Lockett, ich muss mit ihnen reden. Es geht um…“
Abrupt unterbrach der Steward seinen Satz. Sein Blick war auf ein kleines Detail in Ms Locketts Zimmer gefallen, das ihn stutzig machte. Etwas verwirrt blickte er hin und her.
„Ist alles in Ordnung mit ihnen?“ fragte Ms Lockett anteilsvoll, der der seltsame Auftritt des Stewards nicht geheuer war. „Soll ich ihnen ein Glas Wasser bringen?“
Miller fasste sich wieder.
„Nein, vielen Dank. Es ist schon in Ordnung, ich war nur gerade etwas abgelenkt. Es geht um ihre Handtasche, ich habe sie im Speisesaal gefunden. Das ist doch ihre, oder?“
Er reichte ihr das elegante Täschchen.
„Ja, das ist sie! Gott sei Dank haben sie sie gefunden, nicht auszudenken, wenn jemand Anderes sie einfach eingesteckt hätte. Vielen Dank! Darin sind all meine Papiere und sehr wichtige Unterlagen. Sagen sie“, fuhr die junge Frau fort, während sie die Tasche von allen Seiten betrachtete, „hier in der Seitentasche war ein Zettel. Den haben sie nicht zufällig gesehen, nein?“
„Als ich ihre Tasche fand, lag auf dem Boden ein solcher Zettel. Ich habe nicht genau darauf geachtet, aber es wurde Afrika in der Überschrift erwähnt. Das hat mich an sie erinnert.“
„Genau das ist er“, murmelte Susan eifrig.
„Ich habe ihn in die Tasche gelegt, damit er nicht wieder so leicht herausfällt.“
„Sie sind ein Engel, Mr Miller. Vielen Dank, dass sie mir die Tasche zurückgebracht haben! Und so diskret!“
„Immer gerne doch, Ms Lockett. Und nun müssen sie mich bitte entschuldigen. Die Arbeit ruft.“
„Selbstverständlich. Ich wünsche ihnen noch einen schönen Abend!“
Miller drehte sich um und wanderte den Gang zur Haupttreppe hinunter. Wo war nur Mr Grearson? Der Steward musste mit ihm sprechen. Er hatte mit Ms Lockett über den Zeitungsartikel sprechen wollen, aber dann hatte er etwas in Ms Locketts Zimmer gesehen, das ihm nicht geheuer war. Zwischen all dem Chaos stand auf dem niedrigen Couchtisch eine Art Podest aus Holz, klein und mit vielen Verzierungen geschmückt. Darauf standen Dolche mit ähnlichen Dekorationen wie auf Ms Locketts Handtasche. Blitzartig war Millers Erinnerung an den Mord zurückgekehrt. Ein Dolch steckte in Ismays Brust. Ein Ritualdolch mit demselben Schmuck wie die anderen in Ms Locketts Zimmer. Damit nicht genug: Das Holzpodest bot Platz für fünf Dolche. Es standen aber nur vier dort. Der zweite von rechts fehlte…

So taktvoll Carl Stansfield sich auch von dem Streit zwischen Diana Hilton und ihrer Tochter distanziert hatte, so dreist war er an der Tür stehen geblieben und hatte gelauscht. So hatte er von der gespannten und verzweifelten Lage der Hiltons erfahren und sofort Mitleid mit dem jungen Mädchen bekommen. Er war rechtzeitig verschwunden, bevor die wutentbrannte Mutter das Zimmer verlassen und abgeschlossen hatte.
Aber wie könnte man nun Hilfe leisten? Wie könnte man der jungen Frau Zuspruch spenden? Es hatte keinen Sinn. Hier auf dem Schiff würde man nicht viel machen können. So entschloss sich der Anwalt, seine gestressten Nerven ein wenig zu entspannen. Zu viele Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Was sollte mit Bruce Ismay geschehen, sollte er es erfahren oder nicht, was würde aus Claris werden, würde sie mit der ganzen Situation fertig werden, wie konnte er sein Schweigen vor Ismay verantworten, was würde Mrs Hilton tun, war Mrs Hilton etwa zu einem Mord fähig?
Stansfield marschierte von der Kabine der Hiltons aus weiter hinab auf das F-Deck. Die Laune gebot ihm einen beruhigenden Aufenthalt im türkischen Bad.
Seiner Sachen entledigt atmete Stansfield die schwere, süßliche Luft des Bades ein. Sie benebelte den Geist umgehend und er setzte sich auf einen der Liegestühle. Er spürte, wie sein Körper träge wurde, schließlich war er auch nicht mehr der jüngste.
Stansfield schloss die Augen. So reizten ihn die vielen Dunstschwaden nicht mehr. Er atmete tief ein und aus, ließ alle Gedanken hinausströmen und merkte, wie trotz der drückenden Luft sein Körper ganz leicht wurde. Seine Augen waren geschlossen; vor seinem inneren Auge bildete sich ein weißer Nebel, der sich langsam ausbreitete, sich dann herabsenkte und Blick freigab auf ein weites Tal. Doch plötzlich verdunkelte sich der Ausblick.
„Nabend, Mister, sie kenne ich doch!“
Stansfield, der sich schon fast einem leichten Schlummer hingegeben hatte, schreckte auf und blickte nach oben an die Decke der Halle. Von oben blickte ein junger Mann auf ihn herab und grinste. Stansfield hätte schwören können, das türkische Bad sei bei seinem Eintreten unbesucht gewesen. Aber ein Gast hatte sich dort noch aufgehalten.
Nach seinem Gespräch mit Walter Borebank hatte David Morrison es für eine gute Idee befunden, die Wartezeit bis zu dem Treffen mit Lucy Ratchett abzukürzen, indem er ein gemütliches Päuschen mit süßen Gedanken an den wertvollen Ring einlegte.
Nun war Morrison zu Stansfield herangetreten.
„Ich bin mir sicher, ich kenne sie irgendwoher. Wir haben uns schon einmal gesehen, stimmt´s?“
Stansfield war sehr verwirrt und richtete sich zunächst mal auf. Dann betrachtete er den anderen genauer und schließlich erinnerte auch er sich wieder.
„Natürlich. Sie sind, nein, sie waren doch der Freund von Claris Hilton! Oder irre ich mich da?“
„Natürlich! Sie sind der Anwalt der Hiltons! Was machen sie denn hier an Bord?“ Morrison wurde richtig aufgeregt. „Ist Claris etwa auch hier?“
Stansfield ging sofort ein Licht auf.
„Was für ein Glück, dass sie hier sind! Das junge Mädchen braucht sie jetzt. Mehr als alles andere! Sie müssen mit ihr reden, sie hatte einen sehr schlimmen Streit mit ihrer Mutter. Sie müssen sie aufbauen!“
„Claris ist an Bord! Das ist ja ein Glück! Ich muss zu ihr. Wo ist sie?“
„Kabine D-12. Beten sie, dass ihre Mutter nicht da ist, die wird sie zu Kleinholz verarbeiten, wenn sie ihr über den Weg laufen. Sie hat mit ihnen abgeschlossen.“
„Eines dürfen sie mir glauben, ich habe mir auch keine Hoffnungen mehr gemacht, Claris jemals wiederzusehen. Das ist ja ein Wunder, es ist alles so wunderbar! Erst der echte Ring, und nun Claris! Sie sollten König werden“, rief Morrison überglücklich und verließ das türkische Bad.
Auch Stansfield war sehr mit sich zufrieden. Vielleicht schaffte dieser junge Mann es ja, den Familiensegen der Hiltons wiederherzustellen. Stansfield lehnte sich wieder zurück und schloss die Augen.

Patrick Grearson hatte dieselbe Idee wie Miller. Sie mussten sprechen. Aber wie sollte man sich auf einem so großen Schiff ohne vereinbarten Treffpunkt nur wiederfinden? Grearson tat, was er für sinnvoll hielt – er setzte sich in einen der Korbsessel am Fuße der Haupttreppe auf dem C-Deck. Miller würde bestimmt hier vorbeikommen, sei es, um mit dem Zahlmeister zu sprechen, sei es, um Grearson in seiner Kabine aufzusuchen.
Der Steward indessen hatte genau das vor. Ms Lockett schien einen heißen Anhaltspunkt zu bieten, um den Grearson sich doch bitte kümmern sollte. Hastig schritt Miller die Treppe hinunter. Auf dem dritten Deck angekommen fiel sein Blick sofort auf Grearson. Er nickte ihm vielsagend zu und Grearson stand auf. Beide gingen in Grearsons Kabine, denn was es zu besprechen gab, sollte nicht unter aller Ohren geschehen.
Der Geschäftsreisende setzte sich auf einen Sessel, während Miller es vorzog, zu stehen.
„Miller, endlich finde ich sie! Ich habe ihnen ein paar Neuigkeiten mitzuteilen, die sie überraschen werden.“
„Das gilt auch für mich, Mr Grearson, aber beginnen sie doch bitte. Vielleicht haben wir ja ein paar gemeinsame Informationen erfahren können.“
„In Ordnung. Ich hatte ihnen von der Hausfrau erzählt, die sich vor Ismay Kabine aufgehalten hat, nicht wahr?“
„Richtig. Wie war noch gleich der Name?“
„Geraldine Dobbins. Nachdem sie mich so schroff abgewiesen hatte, hat sie mir eine Nachricht zukommen lassen, dass sie mich dringend sprechen wolle.“
„Dringend?“
„Mehr oder weniger. Sie hat ein Treffen um elf Uhr vorgeschlagen. Das wird die Gute aber nicht wahrnehmen können. Sie wurde auf dem Bootsdeck angeschossen.“
Erschrocken hielt Miller sich die Hand vor den Mund. Die Unglücksfälle auf der Titanic schienen sich zu häufen.
„Das darf nicht wahr sein! Haben sie jemanden entdecken können? Auf dem Bootsdeck ist doch keiner so leicht zu übersehen!“
„Bedenken sie, Miller, dass wir keinen Mond haben und die Ausleuchtung des Vorderdecks nicht sehr gut ist. Davon abgesehen, bin ich sicher, dass dieser Jemand auf der Promenade stand und von dort geschossen hat. Ich hätte den Täter sehen müssen, wäre er weggerannt. Es ist aber gut möglich, dass der Unbekannte für eine Zeit hinter der Brüstung in Deckung gegangen ist. Es klingt für mich selbst unglaublich, aber fest steht, dass Mrs Dobbins den Angreifer erkannt hat.“
„Warum finden sie das unglaublich? Ich denke, der Unbekannte wird ein Motiv haben, und ein solches resultiert meistens aus einer Bekanntschaft mit dem Opfer.“
„Sie haben schon Recht, aber es erstaunt mich, dass Mrs Dobbins aus so großer Entfernung jemanden auf der Promenade entdecken konnte, geschweige denn erkennen, um wen es sich handelte. Sie ist eine ältere Frau, das dürfen sie nicht vergessen, und sie stand ganz an der Spitze des Deckes, sie war auf die Reling geklettert.“
„Aber was um Himmels Willen wollte die Frau auf der Reling? Reden sie schon!“
„Ich habe mir die Geschichte so zurecht gelegt. Mrs Dobbins war verheiratet mit einem der Dockarbeiter, die an der Titanic beteiligt waren. Ihr Mann ist beim Stapellauf ums Leben gekommen, davon bin ich überzeugt. Mr Andrews, der Ingenieur, hat mir bestätigt, dass es damals einen Unglücksfall gegeben hat. Mrs Dobbins meinte, sie wolle Rache nehmen an Ismay. Sie hatte ihn für alles, was mit der Titanic zu tun hat, verantwortlich gemacht. Sie sagte etwas von „Das Werk ist vollbracht“, womit sie sicherlich die Leiche Ismays meinte. Es ist damit aber noch immer unklar, ob sie selbst ihn ermordet hat oder beobachtet hat, wie er ermordet wurde. Aus den jüngsten Ereignissen folgere ich, dass Mrs Dobbins den Mörder Ismays gesehen hat und eben um dieser Kenntnis wegen angeschossen wurde. Sie hat Glück, dass sie mit dem Leben davongekommen ist.“
Miller war außer Atem.
„Wo ist sie? Kann ich mit ihr sprechen?“
„Sie liegt auf der Krankenstation. Glauben sie mir, wenn sie bei Bewusstsein wäre, hätte ich sie schon längst über alles befragt, was in meinem Kopf schwirrt. Aber sie ist zurzeit noch nicht bei Sinnen.“
„Mrs Dobbins spielt tatsächlich eine wichtige Rolle“, murmelte Miller. „Vielleicht war sie in Ismays Kabine. Das ist für mich im Moment noch die größte Frage: Wer war wann in Ismays Kabine, warum und vor allen Dingen: Wie?“
„Ach ja, ich habe herausgefunden, dass alle möglichen Leute den Schlüssel gehabt haben können. Vor einer Viertelstunde vielleicht habe ich eine junge Dame getroffen, Elsa Whittle, die aus Ismays Kabine kam. Sie sagte mir, dass er ihr den Schlüssel am frühen Abend zugesteckt hatte.“
„Aber das macht die Geschichte ja noch komplizierter. Wie soll jemand anderes in die Kabine gekommen sein, wenn diese Frau den Schlüssel hatte?“
„Es wäre immerhin möglich, dass Miss Whittle irgendjemandes Komplizin ist und für denjenigen den Schlüssel beschaffen sollte. Aber ich glaube nicht, dass sie sich dann noch in seiner Kabine hätte blicken lassen. Ach, und eines noch zum Thema Kabine: Das Zimmer, in dem er höchstwahrscheinlich ermordet wurde – ich meine, auch das wissen wir nicht genau – ist gar nicht sein richtiges Zimmer, sondern eines, das er in Unkenntnis seiner Frau reserviert hat. Für eine Liaison oder vielleicht auch nur eine nette Abendbegleitung. So treu, wie wir vielleicht glauben mögen, war unser Mr Ismay nämlich nicht. Aber seine Frau war um keinen Deut besser. Sie sollten in der Hinsicht mal mit dem Liftboy Miles Hutchins sprechen. Für einen Penny oder zwei wird er auch ihnen von seinen kleinen Sorgen und Nöten berichten.“
„Mister Grearson, wie es mir scheint, sind sie nur auf dem Schiff hin und hergelaufen und tragen mir solch eine Menge an Informationen zu. Ich kann das gar nicht alles so schnell verarbeiten.“
Der Steward zog es nun doch vor, sich zu setzen, und blickte abwesend auf den Couchtisch. Zu viele Hinweise. Es war zu viel auf einmal. Dann kam Miller eine Idee, nur ein kleiner Ansatz, den er aber weiter verfolgen musste.
„He, nun sind sie aber dran mit dem Erzählen, Miller“, forderte Grearson den anderen Mann auf.
„Oh, natürlich.“ Miller schien aus seiner Trance zu erwachen. „Ich will mich auf das Wichtige beschränken, sonst verwirre ich mich nur selbst. Du meine Güte. Es ist meinerseits nicht viel geschehen, wann immer ich mich umzuhören versuche, werde ich von den Offizieren an meine Arbeit hier erinnert. Und das ist schon richtig so. Aber eines sollten sie bearbeiten. Hinterfragen, meine ich.“
Grearson blickte neugierig auf.
„Kennen sie Ms Lockett? Eine junge Schwarze, sie reist aus Afrika nach New York.“
Grearson überlegte kurz, schüttelte dann aber den Kopf.
„Ich habe sie heute zufällig kennen gelernt. Ich habe ein Blick in ihr Zimmer werfen können, und dabei ist mir etwas aufgefallen, was mich zutiefst erschüttert hat. Miss Lockett hat afrikanische Dolche in ihrem Zimmer. Das ist ja noch nichts Besonderes, aber es war eine Zierhalterung für fünf Dolche. Einer davon fehlte, es standen nur vier darin. Und ich meine mich erinnern zu können, dass Ismay von einem Ritualdolch ermordet worden war. Die Verzierungen an der Mordwaffe waren ethnischer Natur und ich habe ähnliche Dekorationen an der Handtasche dieser jungen Frau gesehen. Ich habe die Befürchtung, dass sie etwas mit dem Mord zu tun hat. Könnten sie nicht zu ihr gehen, sich nett vorstellen, ein wenig ihren Charme spielen lassen und die junge Frau diskret über ihre Dolche ausfragen? Das würde mich sehr beruhigen.“
„Hoffentlich beruhigen und nicht in noch mehr Aufregung versetzen. Ich werde es versuchen, aber was soll ich ihr nur erzählen? Es muss ja einen Grund geben, dass ich plötzlich vor ihrer Tür stehe. Ach, und nebenbei, welches Zimmer hat sie eigentlich?“
„Das war auf dem A-Deck, Kabine A-12. Ich war gerade erst dort. Klopfen sie an und sagen sie einfach, sie hätten sie zufällig im Cafe Parisian gesehen und sie wäre ihnen gleich sympathisch gewesen. Ich habe mich früher am Abend mit ihr im Cafe unterhalten, sie war also dort. Fragen sie bitte in der Richtung weiter.“
„Das geht in Ordnung. Und sie gehen dann mal wieder ihrer Tätigkeit nach, wenn es die Gemüter da oben“, er zeigte zur Zimmerdecke, „so erhitzt. Dann bleibt uns auch nichts anderes übrig, als zu warten, bis Mrs Dobbins sich wieder erholt hat.“
„Da stimme ich ihnen zu. Wir sprechen uns später wieder!“
Mit diesen Worten nickte der Steward Grearson kurz zu und verließ dann Kabine C-52. Erst auf dem Bootsdeck bemerkte er eine kleine Unachtsamkeit. In der Eile hatte er ganz vergessen, von dem nachgemachten Schlüssel zu erzählen.

Grearson wartete nicht lange. Er ging, wie von Miller geraten, hinauf zu Kabine A-12 und klopfte höflich. Nur einen kleinen Moment dauerte es, bis ein Schlüssel sich im Schloss drehte, die Tür sich öffnete und Susan Lockett herausblickte.
Patrick Grearson sah die junge Frau zum ersten Mal auf dieser Fahrt und war sofort von ihr angetan, von ihrer zarten Figur und der doch resoluten Ausstrahlung ihrer Augen. Miss Lockett schien ein wenig durcheinander zu sein; jedenfalls wirkte sie etwas abgelenkt.
„Ja?“
„Entschuldigen sie die Störung, Miss Lockett. Mein Name ist Patrick Grearson. Sie werden sich sicher fragen, weshalb ich hier so einfach an ihre Tür klopfe, noch dazu um diese unmögliche Zeit. Der Grund ist ganz einfach. Ich habe sie heute im Cafe Parisian gesehen“, log er und versuchte dabei, einen unauffälligen Blick durch die nur halb geöffnete Tür in das Zimmer zu werfen. Es dauerte nicht lange, da hatte er das Podest mit den Dolchen entdeckt. Tatsächlich, der einer von denen fehlte.
„Sie hatten sich gerade mit einem der Stewards unterhalten“, fuhr Grearson fort, „und ich muss sagen, ihr reizendes Auftreten hat mich sehr angetan. Möchten sie vielleicht mit auf einen Drink kommen?“
Miss Lockett war müde, aber sie mühte sich zu einem Lächeln.
„Mister Grearson, dass ist sehr nett von ihnen, aber im Moment bin ich ziemlich zerstreut. Mir ist wirklich nicht nach einem Drink zumute.“
„Dann darf ich ihnen einen sinnvolleren Vorschlag machen? Nehmen sie ihren Mantel mit und wir gehen auf das Bootsdeck. Die frische Luft wird ihnen gut tun, der Ausblick wird sie ablenken. Ich würde mich wirklich gerne mit ihnen unterhalten.“
Die junge Frau zögerte ein wenig, doch schließlich gab sie nach.
„Ja, es ist vielleicht wirklich gut, wenn ich mir einen freien Kopf mache. Warten sie bitte.“
Für eine kurze Weile schloss sie die Tür. Grearson überlegte, wie er das Gespräch auf die Dolche lenken sollte, doch bevor er zu einer sinnvollen Lösung kam, trat Miss Lockett aus ihrer Kabine. Sie hatte einen schwarzen Mantel umgelegt und sah nun sehr edel aus. Die Müdigkeit war wie durch Magie aus ihrem Gesicht verschwunden.
Gemeinsam gingen die beiden ans Oberdeck. Grearson, der nur im Jackett nach draußen getreten war, überkam sofort ein kleiner Schauer, aber er ließ sich nichts anmerken. Sie stellten sich an die Reling auf der Backbordseite und blickten zum Horizont.
„Erzählen sie, Mister Grearson. Was machen sie hier auf der Titanic?“
„Ich reise geschäftlich nach New York. Ich bin viel unterwegs, und mit diesem Schiff geht es recht schnell.“
„Da haben sie allerdings Recht. Ich habe mir heute auch schon von den faszinierenden Details vorschwärmen lassen. Ein Meisterwerk.“
Schweigen.
„Und warum wollen sie in die Staaten?“ fragte Grearson.
„Ich habe eine Partneragentur mit einer Zweigstelle dort drüben. Ich muss nach dem rechten sehen.“
„Natürlich.“
Schweigen. Der kalte Wind schien niemanden zu stören. Bis auf die Geräusche der Maschinen war es still. Morrow ging noch immer beim Funkraum auf und ab.
„Aber, wenn ich das richtig gesehen habe, stammen sie nicht aus England, oder? Ich meine, der ethnische Schmuck in ihrem Zimmer…“
„Das haben sie ganz richtig beobachtet. Ich komme aus Afrika. Die Sachen sind aus der Heimat.“
„Auch die schönen Dolche?“
„Ach, die sind ihnen aufgefallen?“ Miss Lockett lachte leise. „Ja, die auch. Es waren fünf Dolche, aber…“
„Aber? Erzählen sie, ich verrate es schon keinem weiter.“
„Ihnen wird doch bestimmt die Unordnung in meinem Zimmer aufgefallen sein. Bei mir wurde eingebrochen, mein Zimmer ist durchwühlt worden! Ich weiß nicht, was noch alles gestohlen wurde, aber einer der Dolche ist verschwunden!“
Grearson seufzte.
„Das ist ein Unglück. Das tut mir Leid für sie. Haben sie es schon gemeldet?“
„Nein, ich war zu verwirrt. Ich möchte erst noch nachschauen, ob ansonsten alles da ist. Es sind auch ein paar sehr wertvolle Stücke dabei. Ich hoffe, sie sind noch dort. Mr Grearson, sie müssen mich bitte entschuldigen. Es wird mir hier draußen doch sehr frisch. Das ist sehr nett von ihnen, dass sie mir meinen Kopf ein wenig freigeräumt haben, aber ich denke, ich muss jetzt zurück in mein Zimmer. Wenn es ihnen passt, würde ich mich gerne morgen wieder mit ihnen unterhalten.“
„Natürlich, Miss Lockett, natürlich.“
„Lassen sie mich nur noch einmal neugierig sein: Wie sind sie eigentlich an meinen Namen gekommen, und woher kannten sie mein Zimmer?“
Grearson lächelte.
„Ich habe mit dem Steward gesprochen. Er sagte mir ihren Namen und vom Zahlmeister habe ich dann die Zimmernummer bekommen.“
„Sie sind mir ein Charmeur, spionieren jungen Damen nach!“ Miss Lockett zwinkerte und wandte sich zum Gehen. „Aber das war sehr reizend von ihnen!“
Damit verschwand sie unauffällig.
Grearson lehnte noch immer an der Reling. Knapp über dem Horizont in Richtung des Bugs erkannte er das Sternbild des Orion wieder. Ein Einbruch. Nun war die schöne Fährte wieder so gut verwischt. Wer auch immer bei Miss Lockett eingebrochen hatte, er hatte den Dolch gestohlen und damit Bruce Ismay ermordet. Sicherlich hatte er diesen Dolch genommen, um den Verdacht auf Miss Lockett zu lenken. Also musste es jemand sein, der einen Groll gegen sie hegte. Aber wer konnte dieser netten jungen Frau böse sein? Und weshalb? Je mehr Grearson darüber nachdachte, umso stärker spürte er, dass ein Haken an der ganzen Sache war, vermochte aber nicht, ihn auszumachen. Wer hatte Joseph Bruce Ismay ermordet?

„Walter? Walter, bist du das?“
„Ja, Liebes, ich bin wieder da“, antwortete Walter Borebank, der nach seinem Aufenthalt im türkischen Bad in die gemeinsame Kabine zurückgekehrt war. Seine Ehefrau Lucia kam zu ihm.
„Walter, ich habe auf die Uhr geschaut. Meinst du, ich kann Lucy jetzt in ihrem Zimmer treffen? Ich muss ihr eine Entschädigung für den Ring geben. Hat dieser junge Mann dich aufgesucht, dieser…“
„Morrison. Ja, das hat er.“ Mr Borebank legte sein Jackett über eine Stuhllehne und begann, sich seine Pfeife zu stopfen. „Geh doch einfach mal hin und schau, ob Lucy da ist.“
„Das mache ich. Und bitte, geh doch mit der Pfeife in den Rauchsalon. Dieser Rauchgestank macht mich immer ganz kribbelig, das weißt du doch genau!“
„Ist ja schon gut, Liebling.“
„Welche Kabine hat Lucy denn?“
„F-18, da musst du ein bisschen suchen. Oder soll ich es dir zeigen?“
Mrs Borebank winkte ab und hängte sich ihre Handtasche um.
„Lass nur, Darling, ich komme schon allein zurecht.“
Sie schloss die Tür hinter sich und ging zu den Fahrstühlen. In den Treppenfoyers der Decks war noch erstaunlich viel los, obwohl immer alle sagten, dass sie heute früh zu Bett gehen wollten. Vielleicht wollte niemand sich die Gesellschaft auf einem so herrlichen Schiff entgehen lassen. Mrs Borebank hing ihren eigenen Gedanken nach, bis sie plötzlich vor Kabine F-18 stand. Sie klopfte energisch gegen die Tür.
„Lucy! Sind sie da? Hier ist Lucia. Wenn sie da sind, dann machen sie doch bitte auf! Wir müssen reden.“
Es kam keine Antwort.
„Ach, Lucy, warum müssen sie sich nur immer so lange herumtreiben. Sie sollten sich nicht wundern, dass sie eine leichte Beute für zwielichtige Gestalten darstellen, die um diese Zeit ihr Unwesen treiben“, sagte Mrs Borebank zu sich selbst. Bevor sie sich zum Gehen wandte, klopfte sie noch einmal.
„Lucy!“
Sie rüttelte an der Klinke, und zu ihrer Überraschung sprang die Tür auf. Sie war nicht verschlossen. Vorsichtig öffnete sie und trat ein. Suchend wanderte ihr Blick durch das Zimmer.
„Lucy, sind sie hier? Sind sie eingeschlafen? Sie haben ihre Tür offen stehen lassen, es kann jeder hier eintreten.“
Sie trat ein paar Schritte weiter ins Zimmer.
„Lucy! Langsam wird es mir zu bunt. Wenn sie vergessen hat, ihr Zimmer hinter sich abzuschließen… also, dieses Mädchen ist so unachtsam! Zum Glück passt sie auf unseren kleinen Engel noch immer gut auf. Lucy?“
Mrs Borebank trat zum Bett hinüber. Ganz offensichtlich war das Kindermädchen eingenickt und hatte deswegen vergessen, abzuschließen. Die große, weiche Decke verdeckte ihren Körper von Kopf bis Fuß. Mrs Borebank schlug schwungvoll die Decke zurück.
„Lucy!“

Abigail Hopkins trat auf das Bootsdeck hinaus. Luft. Stille. Die Ferne. Sie lehnte sich an die Reling auf der Steuerbordseite. Die Kälte kümmerte sie nicht im Geringsten. Endlich Freiheit. Freiheit von Menschen, die sie abhängig machen wollten, Freiheit vor finanziellen Zwängen. Endlich standen alle Wege offen. Sie atmete tief durch und schmunzelte. Das Schmunzeln verwandelte sich schnell in ein Lachen. Abigail Hopkins stand an der Reling und lachte aus vollem Herzen in die tiefschwarze Nacht hinein.

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