22:05 Uhr
Sehr
zufrieden ging Abigail Hopkins den Schottlandweg der Titanic hinab. Sie hatte
nach ihrer Schwester geschaut und alles zu ihrer Zufriedenheit vorgefunden. Nun
konnte sie wieder in ihre Kabine zurückgehen, ohne sich Sorgen zu machen. Aber
eigentlich war der Abend noch so frisch. So unverbraucht, zumindest für ein
junges Mädchen wie sie. Für ein junges, verwitwetes Mädchen wie sie.
Mrs Hopkins
strich ein paar kaum sichtbare Falten aus ihrem altmodischen Kleid. Dabei blieb
sie kurz stehen und blickte an sich herab. Sie sah aus wie eines dieser
Bauernkinder, ein Mädchen aus einer Amish-Gemeinde. Dabei konnte sie dieser
weltfremden Lebensweise noch nie etwas abgewinnen. Natürlich war auch für
Abigail Hopkins ein zufriedenes Leben wichtig, im Einklang mit sich selbst. Die
Natur hat sie nie groß gekümmert, aber sie hat sie auch nie absichtlich
angegriffen. Aber dieses schrecklich bescheidene Leben, das konnte nicht das
Wahre sein.
An dieser
Stelle kehrten ihre Gedanken zu ihrer Schwester zurück. Schrecklich bescheiden.
Geld allein, sagt man, macht nicht glücklich, aber es erleichtert doch vieles.
Und die Dinge, die man sich davon kaufen konnte, die machten in der Tat
glücklich. So zumindest stellte Abigail sich ihre Zukunft vor. Und ihre
Schwester? Arm. Arm wie eine Kirchenmaus, und ausgerechnet die wagte es, von
sich zu behaupten, sie sei glücklich und zufrieden. Dabei konnte sie sich von
ihrem knappen Gehalt als Kindermädchen kaum mehr gute Kleidung leisten. Und
Freizeit hatte sie auch keine.
Ach,
Kleidung! Und schon dachte Mrs Hopkins wieder über ihr eigenes Kleid nach.
Hinter dem Berg lebten sie, diese Amish Leute, aber ihre Kleidung, die hatte
einen interessanten Stil, schlicht und doch elegant. Nicht so aufreizend, sondern…
schlicht. Ihr fiel beim besten Willen kein besseres Wort ein. Und es wäre auch
sehr unpassend, sich jetzt schon aufreizend zu kleiden.
Vor gerade
einmal sechs Wochen war ihr Mann bei einem Zugunglück ums Leben gekommen. Es
war schon seltsam, aber Abigail Hopkins konnte darüber nicht allzu traurig und
erschüttert sein. Vielleicht lag es daran, dass sie beide sich noch nicht allzu
sehr aneinander gewöhnt hatten. Und er war ja auch kein armer Schlucker
gewesen; sie konnte nun zumindest für eine Zeit ganz gut leben. Tja,
Geldquellen hat man oder man hat sie nicht, sagte sie sich und dachte vergnügt
an ihren Onkel, dem das Geld doch schon zu den Ohren herausquellen musste. Na
ja, das war nun kein Problem mehr für ihn.
Fröhlich
schlenderte Abigail den Flur weiter. Als sie durch die Tür schritt, die zum
vorderen Teil des Korridors führte, kam ihr ein junges Pärchen entgegen. Die
beiden hielten Händchen. Als sie sich nach ihnen umdrehte, küssten die beiden
sich.
Liebe! Sie
kann so schön sein, dachte Abigail mit leichtem Schmerz in der Brust. Was die
Liebe anbetrifft, kann man aber auch so unglaublich viel falsch machen. Und die
Gedanken wanderten wieder zu ihrer Schwester. Sie ließ sich ausnutzen. Sie
verliebte sich viel zu schnell, und das machte sie zur leichten Beute für die
Männer. Mrs Hopkins wurde zornig. Auch sie war einst so dumm gewesen und hatte
sich einem Mann hingeben wollen.
Sie
schluckte und ging energisch weiter. Sie wollte diese Gedanken nicht zu Ende
führen, doch es war unausweichlich. Sie kehrte zurück an jenen Tag, als sie
sich von ihrem Liebhaber trennen wollte. Sie hatte erfahren, dass er sie nur
benutzen wollte, nur eine kleine Affäre. Abigail Hopkins war nie so schwach wie
ihre Schwester und hatte sich von ihm lösen wollen, doch…
Ihre Schritte
wurden langsamer, ihre Knie wurden weich. Die Erinnerung kam wieder, und so
sehr sie die Vergangenheit auch als geklärt abhaken mochte, es konnte ihr
einfach nicht gelingen. Um nicht zusammenzubrechen, hockte sie sich mitten im
Flur nieder.
Es war so schrecklich
gewesen. Sie sagte ihm, dass sie nichts mehr von ihm wissen wollte, doch er
hörte nicht auf sie. Gewaltsam hatte er sie am Arm gepackt und in sein Zimmer
geschleppt. Abigail hatte schreien wollen, doch er zog ein Messer und drohte,
ihr etwas viel Schlimmeres anzutun, als das, was nun folgen sollte. Abigail
Hopkins war vergewaltigt worden.
Doch sie
hatte sich gerächt. Auf eine Weise, wie sie schon fast meisterhaft war, denn
sie hatte zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Ihr Peiniger würde in naher
Zukunft hinter Gittern sitzen. Zusätzlich hatte sie sogar noch einen Gewinn für
sich selbst herausgeschlagen, ohne sich die Finger schmutzig zu machen. Niemand
würde sie jemals verdächtigen.
Nicht
einmal Eifersucht würde ihr je wieder im Wege stehen, denn es gab keine
Nebenbuhler zu ihrem Glück mehr. Die Zukunft konnte kommen, jetzt, da alle
Hindernisse beseitigt waren und der Rücken gestärkt war. Bei diesen
Überlegungen raffte Mrs Hopkins sich wieder auf und wischte sich eine Träne aus
dem Augenwinkel. Es war genug, ihre Bemühungen hatten jetzt ein Ende. Es galt,
das Leben zu genießen, was auch immer da noch kommen sollte. Und mit dieser
Überzeugung trat Abigail Hopkins and die Treppe, um das erste Mal auf ihrer
Überfahrt auf das Bootsdeck hinauszutreten und endlich wieder frei
durchzuatmen.
Wütend warf
Patrick Grearson sein Jackett auf das Bett und setzte sich auf das Sofa. Seine
Gedanken kreisten wie wild durch seinen Kopf, eine Ordnung dort hineinzubringen
war unmöglich.
Mrs Dobbins
war am Leben. Der Schuss, wer auch immer ihn abgefeuert hatte, hatte sie nur
ins Bein getroffen. Die Hausfrau stand unter Schock und war nicht in der Lage,
etwas zu sagen. Charles Lightoller, der gerade den Funkraum verlassen hatte,
hatte den Schuss gehört und war sofort auf das Vorderdeck gestürmt. Gemeinsam
mit ihm hatte Grearson die schwere Dame in die Krankenstation in der Nähe der
Turnhalle gebracht und sie dort sofort in die Obhut der Ärzte gegeben.
Lightoller
hatte gleich darauf mehrmals beteuert, dass der Schuss unmöglich vom
Schiffsdeck gekommen sein konnte, auf jeden Fall nicht von der Backbordseite,
da er niemanden sonst in seiner Nähe gesehen hatte. Grearson war zurück auf das
Vorderdeck getreten und hatte zurückgeblickt. Es gab nur noch zwei sinnvolle
Möglichkeiten, von wo der Schuss gekommen sein konnte. Zunächst einmal auf der
Höhe des B-Decks, von wo aus man das Vorderdeck betreten konnte, oder von der
Promenade des A-Decks. Wer auch immer es gewesen ist, war sofort nach der Tat
verschwunden.
Man hat
verhindern wollen, dass Mrs Dobbins etwas ausplaudert, dessen war Grearson sich
sicher. Das wiederum hatte alles, was er sich so passend zurechtgelegt hatte,
über den Haufen geworfen, und nun saß er in seiner Kabine und stützte den Kopf
in die Hände.
Woher hatte
Mrs Dobbins nur die Sache mit dem Messer gewusst? Das war nur möglich, wenn sie
selbst Ismay ermordet hat. Und ihr schlechtes Gewissen oder einfach die
Gewissheit, dass mit dem Mord an Ismay nun die Rache für den Tod ihres Mannes
vollbracht war, hatte sie dann auf die Reling getrieben, um sich selbst in den
Fluten des Atlantiks zu ertränken.
Aber dann
dieser Schuss. Jemand wollte verhindern, dass sie Grearson etwas sagte, aber
was? Grearson stand auf und wanderte wie ein Tiger in seiner Kabine auf und ab,
blickte dabei immer wieder in den Spiegel. Seine Augen zeigten die Verwirrung,
die ihn momentan beherrschte. Was war an diesem Abend passiert? Was war auf der
Titanic geschehen, während er seine Seekrankheit auskuriert hatte?
Er legte
sich auf das Bett, vorsichtig, um das Jackett nicht zu zerdrücken, und schloss
die Augen. Die Bilder des vergangenen Abends schossen vor seinem inneren Auge
vorbei. Und ganz langsam schlich sich eine Idee an Grearson heran. Mrs Dobbins
hatte vor Ismays Kabine gehockt. Vielleicht, um zu schauen, ob er drin ist,
vielleicht, um zu sehen, ob die Luft rein ist. Aber war es nicht möglich, dass
sie etwas ganz Unerwartetes gesehen hatte?
Sie hatte
etwas beobachtet, womit sie nicht gerechnet hatte, sie sah nicht Ismay, sondern
jemand Anderes. Und vielleicht sah sie sogar, wie diese andere Person Ismay
ermordete! Irgendwie hatte dieser Fremde dann erfahren, dass er beobachtet
worden war, und wollte Mrs Dobbins zum Schweigen bringen, bevor sie ihn
verraten konnte.
Natürlich!
Daher wusste sie auch, dass Bruce Ismay erstochen worden war! Sie hatte den
Mord durch das Schlüsselloch beobachtet. Sie hatte selbst vor, Ismay zu
beseitigen, aber als sie sah, dass jemand Anderes die Arbeit vor ihr erledigt
hatte, war ihre Aufgabe auf der Titanic erledigt und sie wollte sich umbringen.
Das war alles schlüssig.
Grearson
öffnete die Augen. Leider waren die Fragen dadurch nicht weniger geworden. Ganz
im Gegenteil. Wer war diese unbekannte Person? Mrs Dobbins stand noch unter
Schock. Hoffentlich würde sie bald wieder sprechen können, denn wenn der
unerkannte Schütze dahinter kam, dass sie noch lebte, dann wäre sie in höchster
Lebensgefahr.
Und das
alles mochte noch so logisch erscheinen, kleine Haken waren da trotzdem.
Genaugenommen wusste Grearson überhaupt nicht, was Mrs Dobbins gesehen hatte.
Ein anderes Szenario war genauso möglich, zum Beispiel, dass Mrs Dobbins
gesehen hatte, wie Ismay etwas in seinem Zimmer getan hatte, vielleicht mit
einer anderen Person, was seinem oder ihrem Ruf geschadet hätte. Und nachdem
sie lange genug beobachtet hatte und Ismay wieder allein war, da hatte sie sich
eiskalt in sein Zimmer begeben und ihn erstochen. In dem Fall wäre sie doch der
Mörder und der unbekannte Schütze war die andere Person aus dem Zimmer, die
noch gar nicht wusste, dass Ismay nicht mehr lebte.
Viel
verwirrter als zuvor stand Grearson von seinem Bett auf. Die Stille in seiner
Kabine brachte ihn um den Verstand. Gesellschaft musste her, aber schnell. Er
warf sich sein Jackett über und trat hinaus auf den Flur. Von der linken
Flurseite hörte er das Geräusch einer sich schließenden Tür.
Er blickte
nach links. Eine Frau mittleren Alters verließ gerade die Kabine von Bruce
Ismay.
„Halt! Was
machen sie da?“ rief Grearson.
Die Frau
zuckte erschrocken zusammen und blickte den näherkommenden Mann an.
„Ich… ich
habe gerade mein Zimmer verlassen. Ist daran vielleicht etwas Verbotenes?“
Grearson
schüttelte den Kopf.
„Natürlich
nicht. Wenn dieses denn ihr Zimmer wäre, aber das ist es nicht. Es gehört Bruce
Ismay. Was suchen sie hier?“
„Es nützt
wohl nichts, sich herauszureden. Bitte versprechen sie mir, dass es unter uns
bleibt, wenn ich ihnen die Wahrheit sage. Das könnte sonst unangenehme Folgen
für Bruce haben.“
Grearson
nickte: „Da bin ich aber gespannt.“
„Also gut. Mein
Name ist Elsa Whittle. Ich reise nach New York, um meinen Bruder dort zu
besuchen. Ich bin alleinstehend, und mein Vater in Europa ist kürzlich
verstorben.“
„Das tut
mir leid.“
„Vielen
Dank. Ich wusste nicht, was mich noch in England halten sollte. Ich war froh,
als die notariellen Dinge erledigt waren, und will jetzt meinem Bruder die
Nachricht überbringen, er weiß davon noch gar nichts. Selbstverständlich soll
er seinen Anteil am Erbe erhalten.“
Grearson
wurde ein wenig misstrauisch, allerdings eher diesem Anwalt gegenüber, der das
Testament ohne den zweiten Erben vollstreckt hatte.
„Und gleich
am ersten Abend auf diesem Schiff habe ich Bruce kennen gelernt. Wir haben uns
gut unterhalten, er ist ja so charmant. Und er hat mich geradezu verführt“,
fügte sie mit verträumtem Augenaufschlag hinzu.
Grearson
wagte einen Einwurf: „Sie wissen doch hoffentlich, dass Mr Ismay verheiratet
ist?“
„Aber ja
doch! Das macht die Angelegenheit ja so prickelnd. Und heute sollte es dann so
weit sein, Bruce hat mich auf sein Zimmer eingeladen, doch er ist nicht da!
Vielleicht bin ich zu spät, ich sollte um zehn Uhr hier sein, jetzt ist es zehn
Minuten später.“
„Habe ich
das richtig verstanden? Sie wollten sich hier mit Mr Ismay treffen, um…“
„Sie wissen
schon, worum es geht, das brauchen wir hier nicht auszuführen. Ja, ich hatte
mich schon so gefreut, mal ein wenig Abwechslung zu haben!“
„Hatten sie
denn keine Angst, dass Mrs Ismay sie entdeckt? Die Ehefrau sieht ihren Gattin
mit einer fremden Dame, das wäre doch sehr kompromittierend.“
„Sie haben Recht,
aber die Gefahr bestand nicht. Mrs Ismay blieb ja in ihrem Zimmer.“
Verwirrt
schüttelte Grearson den Kopf.
„Das
verstehe ich nicht. Die Ismays hatten getrennte Zimmer?“
„Nein, sie
Dummerchen. Die Kabine der Ismays befindet sich auf dem B-Deck. Eine der
Luxuskabinen, B-52,54,56, ein richtiger Palast. Aber hier auf dem C-Deck hat er
ein zweites Zimmer. Davon weiß seine Frau nichts. Fragen sie mich nicht, ob er
geahnt hat, dass solch eine Situation eintreffen würde, als er die Zimmer
reserviert hat. Jedenfalls sagte er mir, er wolle mich hier sehen, da würde
seine Frau nichts mitbekommen.“
„Nun, Ms
Whittle, das erscheint mir recht einleuchtend. Bis auf eine Kleinigkeit. Das
Zimmer war doch bestimmt verschlossen. Wie sind sie hineingekommen?“
„Wie denn
wohl? Mit einem Schlüssel! Bruce hat mir seinen Schlüssel gegeben, damit ich
hier auf ihn warte.“
Grearson
hob die Hand, um die Frau in ihrer Rede zu stoppen.
„Bitte
warten sie, das irritiert mich jetzt. Ismay hat ihnen seinen Schlüssel
gegeben?“
Die Frau
nickte. Aber wie kam dann ein Zimmerschlüssel in die Jacketttasche des
Präsidenten? Das konnte nur der Zweitschlüssel sein. Verdammt, wie kam der
Zweitschlüssel in das Jackett? Warum?
Auch Ms
Whittle schien stutzig geworden zu sein.
„Sie haben
mich da auf eine Idee gebracht. Meine Güte, was war ich dumm! Bruce kann ja
noch gar nicht hier gewesen sein ohne seinen Schlüssel. Ich sollte einfach
wieder ins Zimmer gehen und dort auf ihn warten.“
Sie wandte
sich zum Gehen, doch Grearson nahm ihren Arm.
„Warten
sie. Ich glaube nicht, dass Ismay heute noch erscheinen wird. Ich habe ihn
verschiedene Dinge reden hören, vorher, auf dem Empfang“, log er, um die Frau
wegzubekommen. „Bitte schließen sie das Zimmer ab. Und den Schlüssel sollten
sie beim Zahlmeister für Mr Ismay abgeben. Ich habe die Vermutung, er hat die
Verabredung mit ihnen schlicht und einfach vergessen. Oder vielleicht verplant.
Er sagte etwas von „den ganzen Abend nur Geschäfte“ oder so ähnlich.“
Grearson
baute darauf, dass die Frau so verliebt war, dass sie keine weiteren Fragen
stellte. Er hatte Glück.
„Ist das
so? Ach, das ist aber schade. Ich muss ihn unbedingt sprechen, aber wie es
aussieht, wird das wohl erst morgen der Fall sein. Tja, das nützt wohl nichts.
Danke für die Information!“
Ein wenig
geknickt wanderte sie den Flur hinunter Richtung Haupttreppe.
Elsa
Whittle hatte also den Zimmerschlüssel von Ismay. Aber, wie war Ismay dann
selbst in sein Zimmer gekommen, als Mrs Dobbins ihn beobachtete?
Patrick
Grearson schlug sich vor die Stirn. Nein. Es war alles falsch. Niemand wusste,
was Mrs Dobbins gesehen hatte. Niemand behauptete, Ismay sei in seinem Zimmer
ermordet worden. Dieser Fall wurde immer undurchsichtiger. Die einzige Spur
führte zu Mrs Dobbins, und die war bewusstlos. Vielleicht würde nie jemand
erfahren, was wirklich passiert ist. Grearson musste das verhindern, er musste
eine Lösung finden, um die Gemüter zu beruhigen. Aber welche?
Claris
Hilton hatte die Gesellschaft verlassen. Der Trubel hätte sie ablenken können,
verstörte sie aber nur noch mehr. Die ganze Welt schien sich gegen sie
verschworen zu haben, und so dankbar sie auch für die Aufmunterung durch ihre
Mitmenschen war, so wenig nützte es. Langsam stieg sie die Treppe zum D-Deck
hinab und betrat den Korridor zu ihrer Kabine. D-12. Behutsam öffnete sie die
Tür, um nicht ihre Mutter zu wecken, die sich vielleicht schon zur Ruhe gelegt
hatte. Zu ihrer Überraschung hörte Ms Hilton jedoch zwei verschiedene Stimmen
aus der Kabine.
Sie öffnete
die Tür nur einen Spalt weit, um ein wenig mitzuhören. Sie erkannte die Stimme
ihrer Mutter, die etwas außer Atem schien. Die andere Stimme hatte sie schon
einmal gehört. Eine Männerstimme.
„Ich kann
ihn nirgends finden, Mrs Hilton“, sagte die Stimme.
„Das ist ja
auch kein Wunder. Sie suchen doch jegliche Möglichkeiten, um einem Konflikt aus
dem Weg zu gehen, Stansfield.“
Stansfield!
Genau. Der Mann in der Kabine war ihr gemeinsamer Anwalt. Aber worüber sprachen
sie gerade?
„Das ist
nicht wahr. Ich verdiene schließlich mein Geld damit, Konflikte zu schlichten.“
„Aber wenn
sie die Konfrontation mit Ismay vermeiden, machen sie die Sache um keinen Deut
besser. Die Lage ist schlecht für sie!“
Ismay?
„Wir sind
noch ein gutes Stück unterwegs, Mrs Hilton. Ich werde ihn finden und die
Angelegenheit regeln.“
„Mann,
reden sie nicht herum, sondern gehen sie endlich. Und vermeiden sie um Himmels
Willen, dass Claris etwas erfährt. Ich glaube, sie wäre nicht sehr erfreut,
dass wir sie jahrelang angelogen haben.“
Das wurde
ja immer interessanter! Langsam traten kleine Schweißperlen auf die Stirn der
jungen Frau, die an der Tür lauschte. Am liebsten wäre sie schon jetzt in das
Zimmer geplatzt, um die Unterhaltung zu unterbrechen und die Wahrheit zu
erfahren, aber sie hielt sich zurück. Vielleicht würden die beiden von sich aus
gesprächiger.
„Angelogen
ist nicht das richtige Wort. Ich meine, selbst wenn sie davon wüsste, wie hoch
stehen da die Chancen, dass sie ihren Vater wiedersieht? Er ist ein
vielbeschäftigter Mann. Wie wollen sie an ihn herankommen? Sie haben vorhin
selbst noch gesagt, dass er Claris nie gesehen hat. Und sie meinten, dass er
auch sie kaum wiedererkennen wird, Mrs Hilton. Er wird nichts glauben, er wird
als Vater nicht mehr existieren. Also haben sie ihre Tochter nicht angelogen.“
„Das haben
sie ganz famos ausgedrückt, Mr Stansfield. Er wird als Vater nicht mehr
existieren. Deswegen sollen sie ihn ja auch beseitigen. Bruce Ismay darf nicht
mehr existieren!“
Stansfield
schwieg für einen Moment. Diana Hilton hatte sich klar und deutlich geäußert
und mit einer Härte gesprochen, die fast schon erschreckend war.
Weniger
durch die Härte ihrer eigenen Mutter als durch den Inhalt ihrer Rede
erschrocken war ihre Tochter vor der Tür. Bruce Ismay. Es stimmte also, dass
sie das Ergebnis einer Affäre war. Wütend stieß sie die Tür auf, so dass der
Anwalt und ihre Mutter zusammenzuckten.
„Was hat
das zu bedeuten?“ schrie sie ihre Mutter mit tränenerstickter Stimme an.
„Claris!“
„Ich gehe
wohl besser“, murmelte der Anwalt, räumte hastig seine Aktentasche zusammen und
verschwand aus der Kabine, in der sich ein handfester Familienstreit anzubahnen
drohte.
„Mama! Ist
Bruce Ismay mein Vater? Habe ich das richtig verstanden?“
Diana
Hilton seufzte tief. Sie blickte zu Boden.
„Ja, das
hast du.“
„Aber warum
hast du mich all die Jahre angelogen? Ist es, weil Ismay nur eine Affäre war?
Ist es, weil er mich nicht wiedererkennen wird? Mutter, ich will ihn sehen!
Sofort!“
„Kind, das
ist aber nicht möglich. Bruce hat dich nie gesehen. Und das ist schon so lange
her, selbst ich habe ihn all die Jahre nicht zu Gesicht bekommen!“
„Aber du
kannst doch nicht einfach meinen Vater aus dem Gedächtnis streichen! Ich will
zu ihm.“
„Claris!“
Ihre Mutter schlug einen strengen Ton an. „Das ist nicht möglich. Das ist alles
geschehen und vorbei. Wir müssen uns jetzt auf das konzentrieren, was uns in
Amerika erwartet! Dein Verlobter!“
„Mein
Verlobter?“ Mit roten Augen blickte Claris ihre Mutter an. „Ich hasse ihn, dass
du es nur weißt! Wie kannst du das nur tun? Du hast mir einmal das Leben
zerstört, indem du mir meinen Vater genommen hast, und nun willst du es ein
zweites Mal ruinieren? Was für eine Mutter bist du?“
„Claris!!“
Diana
Hilton stand auf und ging forsch zur Zimmertür. Mit lauter Stimme sagte sie:
„Es reicht jetzt, junges Fräulein. So redest du nicht mit mir. Du weißt ja
überhaupt nicht, was damals alles passiert ist. Denkst du, ich sage es nur zum
Spaß, dass ich stets das Beste für dich will? Ich habe noch nie dein Leben
ruiniert, das kannst du mir glauben. Und ich lasse mir von dir nicht vorwerfen,
eine schlechte Mutter zu sein! Du bleibst jetzt hier in deinem Zimmer und
denkst über deine Dummheit nach!“
Bevor
Claris unter Tränen zur Tür stürmen konnte, hatte ihre Mutter diese bereits
geschlossen und den Schlüssel mit leisem Geräusch herumgedreht. Sie war
eingeschlossen worden. Claris drückte die Klinke herunter und rüttelte an der
Tür, sie schlug mit Fäusten dagegen, aber es war nichts zu machen. Die
Nachbarkabinen waren nicht besetzt. Verzweifelt sank das junge Mädchen an der
Tür zu Boden und weinte bitterlich.
Zwar hatte
Susan Lockett sich nach dem etwas ungemütlichen Treffen mit Stevens auf dem
Squashplatz entschlossen, auf ihre Kabine zurückzukehren, aber das hatte sie
nur gesagt, um den Fotographen möglichst wenig unhöflich abzuschütteln. Es
galt, Ausschau zu halten. Ausschau nach etwas, was ihr gestohlen wurde. Was
ihrer Familie gestohlen wurde.
Nach dem,
was sie früher am Abend gesehen hatte, war sie überzeugt, dass es sich auf dem
Schiff befinden musste. Die Suche war fast unmöglich, wäre da nicht die
Gesprächigkeit der Leute. Aber selbst im Speisesaal der ersten Klasse fand sie
niemanden, der ihr über die Vorgänge auf der Titanic Auskunft geben konnte.
Somit verließ sie die große Halle und machte sich auf den Weg zu ihrer Kabine.
Sie bemerkte gar nicht, dass sie ihre Handtasche über der Stuhllehne des
Speisesaales vergessen hatte.
Dort fand
sie zum Glück Steward Miller, ein Mensch, der ehrlich genug war, etwas Gefundenes dem rechtmäßigen Besitzer
wiederzugeben. Miller war eigentlich noch immer auf der Suche nach Patrick
Grearson, um ihm von der doch sehr verwirrenden Angelegenheit mit dem
Kabinenschlüssel zu erzählen. Er wusste ja nicht, dass Grearson inzwischen noch
viel verwirrendere Enthüllungen über eben diesen Schlüssel zu Tage gefördert
hatte.
Miller
hatte Grearson im Speisesaal vermutet für eine kleine Speise vom Abendbüfett,
da Mr Grearson die Hauptmahlzeit schließlich mit Seekrankheit in seiner Kabine
verbracht hatte. Es waren nur noch wenige Passagiere im Speisesaal. Um diese
Zeit hatten sich die Älteren bereits zurückgezogen und die Jüngeren in die
Gesellschaftsräume begeben. Hier und da saßen vereinzelt junge Männer und
Frauen an den Tischen, einige von ihnen betrunken, und starrten mit ausdruckslosen
Blicken auf die Tischplatten. Grearson war nirgends zu entdecken.
Als Miller
aber seinen Blick schweifen ließ, fiel ihm eine Handtasche auf, die verlassen
an einer Stuhllehne baumelte. Er erkannte sie an einer exquisiten Lederarbeit
auf der Vorderseite wieder. Ein Muster, das man nicht allzu oft sah. Miller
erinnerte sich, dass er die Tasche heute bereits gesehen hatte, es fiel ihm
allerdings nicht ein, an wem.
Er ging zum
Stuhl hinüber und nahm die Tasche herunter. Dabei fiel aus einer Seitentasche
ein Blatt Papier. Miller hob es auf und entdeckte bei näherem Betrachten, dass
es ein Zeitungsartikel war. Er war unachtsam aus einer Tageszeitung
herausgerissen worden, weder das Datum noch der Name der Zeitung waren zu
erkennen. Der Steward überfolg den Artikel.
„Skandal!
Diebstahl einer ethnischen Ikone erschüttert Westafrika! Ein Ereignis dieser
Art gab es zuvor noch nie in einem kleinen Stamm an der Elfenbeinküste. Ein
berühmter Rubin von unschätzbarem ideellem Wert wurde während eines
Staatsempfanges gestohlen. Da niemand aus dem niederen Volke zu der Zeremonie
zugelassen war, steht fest, dass der Diebstahl von einem der hohen geladenen
Gäste begangen wurde. Dies macht die Untat nur noch unerklärlicher. Experten
schätzen den Wert des Rubins mit dem Namen Beteigeuze auf ungefähr 40.000 Pfund
ein, der religiöse Wert sei aber geradezu unermesslich. Der Stein trägt seinen
Namen nach dem Stern im Sternbild Orion, Beteigeuze, auch Alpha Orionis
genannt. Der Volksstamm, in dessen Besitz der Stein sich seit Tausenden von
Jahren befand, verehrte den Gott Orion unter dem Namen Nun´Xite als
Schutzheiligen; der Edelstein stellt einen wichtigen Bestandteil eines
Götteridols in der Hauptstadt Veridjan dar. Das Volk zeigt sich über diesen
beispiellosen Frevel erzürnt und hat geschworen, den Stein mit allen Mitteln
wiederzuerlangen. Die internationale Polizei ist bereits eingeschaltet, sagt
aber, ihr seien die Hände aufgrund der hohen Stellungen der Persönlichkeiten
gebunden. Wie aus internen Kreisen verlautete…“
Der Rest
des Artikels fehlte. Miller prägte sich die Fakten ein und steckte den Artikel
zurück in die Handtasche. Dabei fiel sein Blick auf den Ausweis – natürlich.
Susan Lockett, die reizende junge Frau, mit der er kurz zuvor geplaudert hatte.
Hatte sie nicht behauptet, sich kaum für die Religion ihres Volkes zu
interessieren? Hier war ein klärendes Gespräch überfällig.
Miller ging
zum Zahlmeister und fragte nach der Kabine der jungen Frau. Als er wenige
Minuten später vor dem Zimmer von Ms Lockett stand und klopfte, musste er nicht
lange warten, bis die Tür sich öffnete.
„Ach, sie
sind es!“
Ms Lockett
schien erfreut, den Steward zu treffen.
„Sie müssen
entschuldigen, aber ich kann sie nicht hereinbitten. Mein Zimmer sieht ein
wenig unaufgeräumt aus. Ich meine, sehen sie doch nur!“
Sie öffnete
die Tür ein wenig weiter und deutete mit dem Arm auf eine ziemliche Unordnung.
Miller war überrascht, bei einer so korrekten Frau ein so unaufgeräumtes Zimmer
vorzufinden, entschloss sich aber dazu, nicht weiter auf dieses Thema einzugehen.
„Ms
Lockett, ich muss mit ihnen reden. Es geht um…“
Abrupt
unterbrach der Steward seinen Satz. Sein Blick war auf ein kleines Detail in Ms
Locketts Zimmer gefallen, das ihn stutzig machte. Etwas verwirrt blickte er hin
und her.
„Ist alles
in Ordnung mit ihnen?“ fragte Ms Lockett anteilsvoll, der der seltsame Auftritt
des Stewards nicht geheuer war. „Soll ich ihnen ein Glas Wasser bringen?“
Miller
fasste sich wieder.
„Nein,
vielen Dank. Es ist schon in Ordnung, ich war nur gerade etwas abgelenkt. Es
geht um ihre Handtasche, ich habe sie im Speisesaal gefunden. Das ist doch
ihre, oder?“
Er reichte
ihr das elegante Täschchen.
„Ja, das
ist sie! Gott sei Dank haben sie sie gefunden, nicht auszudenken, wenn jemand
Anderes sie einfach eingesteckt hätte. Vielen Dank! Darin sind all meine
Papiere und sehr wichtige Unterlagen. Sagen sie“, fuhr die junge Frau fort,
während sie die Tasche von allen Seiten betrachtete, „hier in der Seitentasche
war ein Zettel. Den haben sie nicht zufällig gesehen, nein?“
„Als ich
ihre Tasche fand, lag auf dem Boden ein solcher Zettel. Ich habe nicht genau
darauf geachtet, aber es wurde Afrika in der Überschrift erwähnt. Das hat mich
an sie erinnert.“
„Genau das
ist er“, murmelte Susan eifrig.
„Ich habe
ihn in die Tasche gelegt, damit er nicht wieder so leicht herausfällt.“
„Sie sind
ein Engel, Mr Miller. Vielen Dank, dass sie mir die Tasche zurückgebracht
haben! Und so diskret!“
„Immer
gerne doch, Ms Lockett. Und nun müssen sie mich bitte entschuldigen. Die Arbeit
ruft.“
„Selbstverständlich.
Ich wünsche ihnen noch einen schönen Abend!“
Miller
drehte sich um und wanderte den Gang zur Haupttreppe hinunter. Wo war nur Mr
Grearson? Der Steward musste mit ihm sprechen. Er hatte mit Ms Lockett über den
Zeitungsartikel sprechen wollen, aber dann hatte er etwas in Ms Locketts Zimmer
gesehen, das ihm nicht geheuer war. Zwischen all dem Chaos stand auf dem
niedrigen Couchtisch eine Art Podest aus Holz, klein und mit vielen
Verzierungen geschmückt. Darauf standen Dolche mit ähnlichen Dekorationen wie
auf Ms Locketts Handtasche. Blitzartig war Millers Erinnerung an den Mord
zurückgekehrt. Ein Dolch steckte in Ismays Brust. Ein Ritualdolch mit demselben
Schmuck wie die anderen in Ms Locketts Zimmer. Damit nicht genug: Das
Holzpodest bot Platz für fünf Dolche. Es standen aber nur vier dort. Der zweite
von rechts fehlte…
So taktvoll
Carl Stansfield sich auch von dem Streit zwischen Diana Hilton und ihrer
Tochter distanziert hatte, so dreist war er an der Tür stehen geblieben und
hatte gelauscht. So hatte er von der gespannten und verzweifelten Lage der
Hiltons erfahren und sofort Mitleid mit dem jungen Mädchen bekommen. Er war
rechtzeitig verschwunden, bevor die wutentbrannte Mutter das Zimmer verlassen
und abgeschlossen hatte.
Aber wie
könnte man nun Hilfe leisten? Wie könnte man der jungen Frau Zuspruch spenden?
Es hatte keinen Sinn. Hier auf dem Schiff würde man nicht viel machen können.
So entschloss sich der Anwalt, seine gestressten Nerven ein wenig zu
entspannen. Zu viele Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Was sollte mit Bruce
Ismay geschehen, sollte er es erfahren oder nicht, was würde aus Claris werden,
würde sie mit der ganzen Situation fertig werden, wie konnte er sein Schweigen
vor Ismay verantworten, was würde Mrs Hilton tun, war Mrs Hilton etwa zu einem
Mord fähig?
Stansfield
marschierte von der Kabine der Hiltons aus weiter hinab auf das F-Deck. Die
Laune gebot ihm einen beruhigenden Aufenthalt im türkischen Bad.
Seiner
Sachen entledigt atmete Stansfield die schwere, süßliche Luft des Bades ein.
Sie benebelte den Geist umgehend und er setzte sich auf einen der Liegestühle.
Er spürte, wie sein Körper träge wurde, schließlich war er auch nicht mehr der
jüngste.
Stansfield
schloss die Augen. So reizten ihn die vielen Dunstschwaden nicht mehr. Er
atmete tief ein und aus, ließ alle Gedanken hinausströmen und merkte, wie trotz
der drückenden Luft sein Körper ganz leicht wurde. Seine Augen waren
geschlossen; vor seinem inneren Auge bildete sich ein weißer Nebel, der sich
langsam ausbreitete, sich dann herabsenkte und Blick freigab auf ein weites
Tal. Doch plötzlich verdunkelte sich der Ausblick.
„Nabend,
Mister, sie kenne ich doch!“
Stansfield,
der sich schon fast einem leichten Schlummer hingegeben hatte, schreckte auf
und blickte nach oben an die Decke der Halle. Von oben blickte ein junger Mann
auf ihn herab und grinste. Stansfield hätte schwören können, das türkische Bad
sei bei seinem Eintreten unbesucht gewesen. Aber ein Gast hatte sich dort noch
aufgehalten.
Nach seinem
Gespräch mit Walter Borebank hatte David Morrison es für eine gute Idee
befunden, die Wartezeit bis zu dem Treffen mit Lucy Ratchett abzukürzen, indem
er ein gemütliches Päuschen mit süßen Gedanken an den wertvollen Ring einlegte.
Nun war
Morrison zu Stansfield herangetreten.
„Ich bin
mir sicher, ich kenne sie irgendwoher. Wir haben uns schon einmal gesehen,
stimmt´s?“
Stansfield
war sehr verwirrt und richtete sich zunächst mal auf. Dann betrachtete er den
anderen genauer und schließlich erinnerte auch er sich wieder.
„Natürlich.
Sie sind, nein, sie waren doch der Freund von Claris Hilton! Oder irre ich mich
da?“
„Natürlich!
Sie sind der Anwalt der Hiltons! Was machen sie denn hier an Bord?“ Morrison
wurde richtig aufgeregt. „Ist Claris etwa auch hier?“
Stansfield
ging sofort ein Licht auf.
„Was für
ein Glück, dass sie hier sind! Das junge Mädchen braucht sie jetzt. Mehr als
alles andere! Sie müssen mit ihr reden, sie hatte einen sehr schlimmen Streit
mit ihrer Mutter. Sie müssen sie aufbauen!“
„Claris ist
an Bord! Das ist ja ein Glück! Ich muss zu ihr. Wo ist sie?“
„Kabine
D-12. Beten sie, dass ihre Mutter nicht da ist, die wird sie zu Kleinholz
verarbeiten, wenn sie ihr über den Weg laufen. Sie hat mit ihnen
abgeschlossen.“
„Eines
dürfen sie mir glauben, ich habe mir auch keine Hoffnungen mehr gemacht, Claris
jemals wiederzusehen. Das ist ja ein Wunder, es ist alles so wunderbar! Erst
der echte Ring, und nun Claris! Sie sollten König werden“, rief Morrison
überglücklich und verließ das türkische Bad.
Auch
Stansfield war sehr mit sich zufrieden. Vielleicht schaffte dieser junge Mann
es ja, den Familiensegen der Hiltons wiederherzustellen. Stansfield lehnte sich
wieder zurück und schloss die Augen.
Patrick
Grearson hatte dieselbe Idee wie Miller. Sie mussten sprechen. Aber wie sollte
man sich auf einem so großen Schiff ohne vereinbarten Treffpunkt nur
wiederfinden? Grearson tat, was er für sinnvoll hielt – er setzte sich in einen
der Korbsessel am Fuße der Haupttreppe auf dem C-Deck. Miller würde bestimmt
hier vorbeikommen, sei es, um mit dem Zahlmeister zu sprechen, sei es, um
Grearson in seiner Kabine aufzusuchen.
Der Steward
indessen hatte genau das vor. Ms Lockett schien einen heißen Anhaltspunkt zu
bieten, um den Grearson sich doch bitte kümmern sollte. Hastig schritt Miller
die Treppe hinunter. Auf dem dritten Deck angekommen fiel sein Blick sofort auf
Grearson. Er nickte ihm vielsagend zu und Grearson stand auf. Beide gingen in
Grearsons Kabine, denn was es zu besprechen gab, sollte nicht unter aller Ohren
geschehen.
Der Geschäftsreisende
setzte sich auf einen Sessel, während Miller es vorzog, zu stehen.
„Miller,
endlich finde ich sie! Ich habe ihnen ein paar Neuigkeiten mitzuteilen, die sie
überraschen werden.“
„Das gilt
auch für mich, Mr Grearson, aber beginnen sie doch bitte. Vielleicht haben wir
ja ein paar gemeinsame Informationen erfahren können.“
„In
Ordnung. Ich hatte ihnen von der Hausfrau erzählt, die sich vor Ismay Kabine
aufgehalten hat, nicht wahr?“
„Richtig.
Wie war noch gleich der Name?“
„Geraldine
Dobbins. Nachdem sie mich so schroff abgewiesen hatte, hat sie mir eine
Nachricht zukommen lassen, dass sie mich dringend sprechen wolle.“
„Dringend?“
„Mehr oder
weniger. Sie hat ein Treffen um elf Uhr vorgeschlagen. Das wird die Gute aber
nicht wahrnehmen können. Sie wurde auf dem Bootsdeck angeschossen.“
Erschrocken
hielt Miller sich die Hand vor den Mund. Die Unglücksfälle auf der Titanic
schienen sich zu häufen.
„Das darf
nicht wahr sein! Haben sie jemanden entdecken können? Auf dem Bootsdeck ist
doch keiner so leicht zu übersehen!“
„Bedenken
sie, Miller, dass wir keinen Mond haben und die Ausleuchtung des Vorderdecks
nicht sehr gut ist. Davon abgesehen, bin ich sicher, dass dieser Jemand auf der
Promenade stand und von dort geschossen hat. Ich hätte den Täter sehen müssen,
wäre er weggerannt. Es ist aber gut möglich, dass der Unbekannte für eine Zeit
hinter der Brüstung in Deckung gegangen ist. Es klingt für mich selbst
unglaublich, aber fest steht, dass Mrs Dobbins den Angreifer erkannt hat.“
„Warum
finden sie das unglaublich? Ich denke, der Unbekannte wird ein Motiv haben, und
ein solches resultiert meistens aus einer Bekanntschaft mit dem Opfer.“
„Sie haben
schon Recht, aber es erstaunt mich, dass Mrs Dobbins aus so großer Entfernung
jemanden auf der Promenade entdecken konnte, geschweige denn erkennen, um wen
es sich handelte. Sie ist eine ältere Frau, das dürfen sie nicht vergessen, und
sie stand ganz an der Spitze des Deckes, sie war auf die Reling geklettert.“
„Aber was
um Himmels Willen wollte die Frau auf der Reling? Reden sie schon!“
„Ich habe
mir die Geschichte so zurecht gelegt. Mrs Dobbins war verheiratet mit einem der
Dockarbeiter, die an der Titanic beteiligt waren. Ihr Mann ist beim Stapellauf
ums Leben gekommen, davon bin ich überzeugt. Mr Andrews, der Ingenieur, hat mir
bestätigt, dass es damals einen Unglücksfall gegeben hat. Mrs Dobbins meinte,
sie wolle Rache nehmen an Ismay. Sie hatte ihn für alles, was mit der Titanic
zu tun hat, verantwortlich gemacht. Sie sagte etwas von „Das Werk ist vollbracht“,
womit sie sicherlich die Leiche Ismays meinte. Es ist damit aber noch immer
unklar, ob sie selbst ihn ermordet hat oder beobachtet hat, wie er ermordet
wurde. Aus den jüngsten Ereignissen folgere ich, dass Mrs Dobbins den Mörder
Ismays gesehen hat und eben um dieser Kenntnis wegen angeschossen wurde. Sie
hat Glück, dass sie mit dem Leben davongekommen ist.“
Miller war
außer Atem.
„Wo ist
sie? Kann ich mit ihr sprechen?“
„Sie liegt
auf der Krankenstation. Glauben sie mir, wenn sie bei Bewusstsein wäre, hätte
ich sie schon längst über alles befragt, was in meinem Kopf schwirrt. Aber sie
ist zurzeit noch nicht bei Sinnen.“
„Mrs
Dobbins spielt tatsächlich eine wichtige Rolle“, murmelte Miller. „Vielleicht
war sie in Ismays Kabine. Das ist für mich im Moment noch die größte Frage: Wer
war wann in Ismays Kabine, warum und vor allen Dingen: Wie?“
„Ach ja,
ich habe herausgefunden, dass alle möglichen Leute den Schlüssel gehabt haben
können. Vor einer Viertelstunde vielleicht habe ich eine junge Dame getroffen,
Elsa Whittle, die aus Ismays Kabine kam. Sie sagte mir, dass er ihr den
Schlüssel am frühen Abend zugesteckt hatte.“
„Aber das
macht die Geschichte ja noch komplizierter. Wie soll jemand anderes in die
Kabine gekommen sein, wenn diese Frau den Schlüssel hatte?“
„Es wäre
immerhin möglich, dass Miss Whittle irgendjemandes Komplizin ist und für
denjenigen den Schlüssel beschaffen sollte. Aber ich glaube nicht, dass sie
sich dann noch in seiner Kabine hätte blicken lassen. Ach, und eines noch zum
Thema Kabine: Das Zimmer, in dem er höchstwahrscheinlich ermordet wurde – ich
meine, auch das wissen wir nicht genau – ist gar nicht sein richtiges Zimmer,
sondern eines, das er in Unkenntnis seiner Frau reserviert hat. Für eine
Liaison oder vielleicht auch nur eine nette Abendbegleitung. So treu, wie wir
vielleicht glauben mögen, war unser Mr Ismay nämlich nicht. Aber seine Frau war
um keinen Deut besser. Sie sollten in der Hinsicht mal mit dem Liftboy Miles
Hutchins sprechen. Für einen Penny oder zwei wird er auch ihnen von seinen
kleinen Sorgen und Nöten berichten.“
„Mister
Grearson, wie es mir scheint, sind sie nur auf dem Schiff hin und hergelaufen
und tragen mir solch eine Menge an Informationen zu. Ich kann das gar nicht
alles so schnell verarbeiten.“
Der Steward
zog es nun doch vor, sich zu setzen, und blickte abwesend auf den Couchtisch.
Zu viele Hinweise. Es war zu viel auf einmal. Dann kam Miller eine Idee, nur
ein kleiner Ansatz, den er aber weiter verfolgen musste.
„He, nun
sind sie aber dran mit dem Erzählen, Miller“, forderte Grearson den anderen
Mann auf.
„Oh,
natürlich.“ Miller schien aus seiner Trance zu erwachen. „Ich will mich auf das
Wichtige beschränken, sonst verwirre ich mich nur selbst. Du meine Güte. Es ist
meinerseits nicht viel geschehen, wann immer ich mich umzuhören versuche, werde
ich von den Offizieren an meine Arbeit hier erinnert. Und das ist schon richtig
so. Aber eines sollten sie bearbeiten. Hinterfragen, meine ich.“
Grearson
blickte neugierig auf.
„Kennen sie
Ms Lockett? Eine junge Schwarze, sie reist aus Afrika nach New York.“
Grearson
überlegte kurz, schüttelte dann aber den Kopf.
„Ich habe
sie heute zufällig kennen gelernt. Ich habe ein Blick in ihr Zimmer werfen
können, und dabei ist mir etwas aufgefallen, was mich zutiefst erschüttert hat.
Miss Lockett hat afrikanische Dolche in ihrem Zimmer. Das ist ja noch nichts
Besonderes, aber es war eine Zierhalterung für fünf Dolche. Einer davon fehlte,
es standen nur vier darin. Und ich meine mich erinnern zu können, dass Ismay
von einem Ritualdolch ermordet worden war. Die Verzierungen an der Mordwaffe
waren ethnischer Natur und ich habe ähnliche Dekorationen an der Handtasche
dieser jungen Frau gesehen. Ich habe die Befürchtung, dass sie etwas mit dem
Mord zu tun hat. Könnten sie nicht zu ihr gehen, sich nett vorstellen, ein
wenig ihren Charme spielen lassen und die junge Frau diskret über ihre Dolche
ausfragen? Das würde mich sehr beruhigen.“
„Hoffentlich
beruhigen und nicht in noch mehr Aufregung versetzen. Ich werde es versuchen,
aber was soll ich ihr nur erzählen? Es muss ja einen Grund geben, dass ich
plötzlich vor ihrer Tür stehe. Ach, und nebenbei, welches Zimmer hat sie
eigentlich?“
„Das war
auf dem A-Deck, Kabine A-12. Ich war gerade erst dort. Klopfen sie an und sagen
sie einfach, sie hätten sie zufällig im Cafe Parisian gesehen und sie wäre
ihnen gleich sympathisch gewesen. Ich habe mich früher am Abend mit ihr im Cafe
unterhalten, sie war also dort. Fragen sie bitte in der Richtung weiter.“
„Das geht
in Ordnung. Und sie gehen dann mal wieder ihrer Tätigkeit nach, wenn es die
Gemüter da oben“, er zeigte zur Zimmerdecke, „so erhitzt. Dann bleibt uns auch
nichts anderes übrig, als zu warten, bis Mrs Dobbins sich wieder erholt hat.“
„Da stimme
ich ihnen zu. Wir sprechen uns später wieder!“
Mit diesen
Worten nickte der Steward Grearson kurz zu und verließ dann Kabine C-52. Erst
auf dem Bootsdeck bemerkte er eine kleine Unachtsamkeit. In der Eile hatte er
ganz vergessen, von dem nachgemachten Schlüssel zu erzählen.
Grearson
wartete nicht lange. Er ging, wie von Miller geraten, hinauf zu Kabine A-12 und
klopfte höflich. Nur einen kleinen Moment dauerte es, bis ein Schlüssel sich im
Schloss drehte, die Tür sich öffnete und Susan Lockett herausblickte.
Patrick
Grearson sah die junge Frau zum ersten Mal auf dieser Fahrt und war sofort von
ihr angetan, von ihrer zarten Figur und der doch resoluten Ausstrahlung ihrer
Augen. Miss Lockett schien ein wenig durcheinander zu sein; jedenfalls wirkte
sie etwas abgelenkt.
„Ja?“
„Entschuldigen
sie die Störung, Miss Lockett. Mein Name ist Patrick Grearson. Sie werden sich
sicher fragen, weshalb ich hier so einfach an ihre Tür klopfe, noch dazu um
diese unmögliche Zeit. Der Grund ist ganz einfach. Ich habe sie heute im Cafe
Parisian gesehen“, log er und versuchte dabei, einen unauffälligen Blick durch
die nur halb geöffnete Tür in das Zimmer zu werfen. Es dauerte nicht lange, da
hatte er das Podest mit den Dolchen entdeckt. Tatsächlich, der einer von denen
fehlte.
„Sie hatten
sich gerade mit einem der Stewards unterhalten“, fuhr Grearson fort, „und ich
muss sagen, ihr reizendes Auftreten hat mich sehr angetan. Möchten sie
vielleicht mit auf einen Drink kommen?“
Miss
Lockett war müde, aber sie mühte sich zu einem Lächeln.
„Mister
Grearson, dass ist sehr nett von ihnen, aber im Moment bin ich ziemlich
zerstreut. Mir ist wirklich nicht nach einem Drink zumute.“
„Dann darf
ich ihnen einen sinnvolleren Vorschlag machen? Nehmen sie ihren Mantel mit und
wir gehen auf das Bootsdeck. Die frische Luft wird ihnen gut tun, der Ausblick
wird sie ablenken. Ich würde mich wirklich gerne mit ihnen unterhalten.“
Die junge
Frau zögerte ein wenig, doch schließlich gab sie nach.
„Ja, es ist
vielleicht wirklich gut, wenn ich mir einen freien Kopf mache. Warten sie
bitte.“
Für eine
kurze Weile schloss sie die Tür. Grearson überlegte, wie er das Gespräch auf
die Dolche lenken sollte, doch bevor er zu einer sinnvollen Lösung kam, trat
Miss Lockett aus ihrer Kabine. Sie hatte einen schwarzen Mantel umgelegt und
sah nun sehr edel aus. Die Müdigkeit war wie durch Magie aus ihrem Gesicht
verschwunden.
Gemeinsam
gingen die beiden ans Oberdeck. Grearson, der nur im Jackett nach draußen
getreten war, überkam sofort ein kleiner Schauer, aber er ließ sich nichts
anmerken. Sie stellten sich an die Reling auf der Backbordseite und blickten
zum Horizont.
„Erzählen
sie, Mister Grearson. Was machen sie hier auf der Titanic?“
„Ich reise
geschäftlich nach New York. Ich bin viel unterwegs, und mit diesem Schiff geht
es recht schnell.“
„Da haben
sie allerdings Recht. Ich habe mir heute auch schon von den faszinierenden
Details vorschwärmen lassen. Ein Meisterwerk.“
Schweigen.
„Und warum
wollen sie in die Staaten?“ fragte Grearson.
„Ich habe
eine Partneragentur mit einer Zweigstelle dort drüben. Ich muss nach dem
rechten sehen.“
„Natürlich.“
Schweigen.
Der kalte Wind schien niemanden zu stören. Bis auf die Geräusche der Maschinen
war es still. Morrow ging noch immer beim Funkraum auf und ab.
„Aber, wenn
ich das richtig gesehen habe, stammen sie nicht aus England, oder? Ich meine,
der ethnische Schmuck in ihrem Zimmer…“
„Das haben
sie ganz richtig beobachtet. Ich komme aus Afrika. Die Sachen sind aus der
Heimat.“
„Auch die
schönen Dolche?“
„Ach, die
sind ihnen aufgefallen?“ Miss Lockett lachte leise. „Ja, die auch. Es waren
fünf Dolche, aber…“
„Aber?
Erzählen sie, ich verrate es schon keinem weiter.“
„Ihnen wird
doch bestimmt die Unordnung in meinem Zimmer aufgefallen sein. Bei mir wurde
eingebrochen, mein Zimmer ist durchwühlt worden! Ich weiß nicht, was noch alles
gestohlen wurde, aber einer der Dolche ist verschwunden!“
Grearson
seufzte.
„Das ist
ein Unglück. Das tut mir Leid für sie. Haben sie es schon gemeldet?“
„Nein, ich
war zu verwirrt. Ich möchte erst noch nachschauen, ob ansonsten alles da ist.
Es sind auch ein paar sehr wertvolle Stücke dabei. Ich hoffe, sie sind noch
dort. Mr Grearson, sie müssen mich bitte entschuldigen. Es wird mir hier
draußen doch sehr frisch. Das ist sehr nett von ihnen, dass sie mir meinen Kopf
ein wenig freigeräumt haben, aber ich denke, ich muss jetzt zurück in mein
Zimmer. Wenn es ihnen passt, würde ich mich gerne morgen wieder mit ihnen
unterhalten.“
„Natürlich,
Miss Lockett, natürlich.“
„Lassen sie
mich nur noch einmal neugierig sein: Wie sind sie eigentlich an meinen Namen
gekommen, und woher kannten sie mein Zimmer?“
Grearson
lächelte.
„Ich habe
mit dem Steward gesprochen. Er sagte mir ihren Namen und vom Zahlmeister habe
ich dann die Zimmernummer bekommen.“
„Sie sind
mir ein Charmeur, spionieren jungen Damen nach!“ Miss Lockett zwinkerte und
wandte sich zum Gehen. „Aber das war sehr reizend von ihnen!“
Damit
verschwand sie unauffällig.
Grearson
lehnte noch immer an der Reling. Knapp über dem Horizont in Richtung des Bugs
erkannte er das Sternbild des Orion wieder. Ein Einbruch. Nun war die schöne
Fährte wieder so gut verwischt. Wer auch immer bei Miss Lockett eingebrochen
hatte, er hatte den Dolch gestohlen und damit Bruce Ismay ermordet. Sicherlich
hatte er diesen Dolch genommen, um den Verdacht auf Miss Lockett zu lenken. Also
musste es jemand sein, der einen Groll gegen sie hegte. Aber wer konnte dieser
netten jungen Frau böse sein? Und weshalb? Je mehr Grearson darüber nachdachte,
umso stärker spürte er, dass ein Haken an der ganzen Sache war, vermochte aber
nicht, ihn auszumachen. Wer hatte Joseph Bruce Ismay ermordet?
„Walter?
Walter, bist du das?“
„Ja,
Liebes, ich bin wieder da“, antwortete Walter Borebank, der nach seinem
Aufenthalt im türkischen Bad in die gemeinsame Kabine zurückgekehrt war. Seine
Ehefrau Lucia kam zu ihm.
„Walter,
ich habe auf die Uhr geschaut. Meinst du, ich kann Lucy jetzt in ihrem Zimmer
treffen? Ich muss ihr eine Entschädigung für den Ring geben. Hat dieser junge
Mann dich aufgesucht, dieser…“
„Morrison.
Ja, das hat er.“ Mr Borebank legte sein Jackett über eine Stuhllehne und
begann, sich seine Pfeife zu stopfen. „Geh doch einfach mal hin und schau, ob
Lucy da ist.“
„Das mache
ich. Und bitte, geh doch mit der Pfeife in den Rauchsalon. Dieser Rauchgestank
macht mich immer ganz kribbelig, das weißt du doch genau!“
„Ist ja
schon gut, Liebling.“
„Welche
Kabine hat Lucy denn?“
„F-18, da
musst du ein bisschen suchen. Oder soll ich es dir zeigen?“
Mrs
Borebank winkte ab und hängte sich ihre Handtasche um.
„Lass nur,
Darling, ich komme schon allein zurecht.“
Sie schloss
die Tür hinter sich und ging zu den Fahrstühlen. In den Treppenfoyers der Decks
war noch erstaunlich viel los, obwohl immer alle sagten, dass sie heute früh zu
Bett gehen wollten. Vielleicht wollte niemand sich die Gesellschaft auf einem
so herrlichen Schiff entgehen lassen. Mrs Borebank hing ihren eigenen Gedanken
nach, bis sie plötzlich vor Kabine F-18 stand. Sie klopfte energisch gegen die
Tür.
„Lucy! Sind
sie da? Hier ist Lucia. Wenn sie da sind, dann machen sie doch bitte auf! Wir
müssen reden.“
Es kam
keine Antwort.
„Ach, Lucy,
warum müssen sie sich nur immer so lange herumtreiben. Sie sollten sich nicht
wundern, dass sie eine leichte Beute für zwielichtige Gestalten darstellen, die
um diese Zeit ihr Unwesen treiben“, sagte Mrs Borebank zu sich selbst. Bevor
sie sich zum Gehen wandte, klopfte sie noch einmal.
„Lucy!“
Sie
rüttelte an der Klinke, und zu ihrer Überraschung sprang die Tür auf. Sie war
nicht verschlossen. Vorsichtig öffnete sie und trat ein. Suchend wanderte ihr
Blick durch das Zimmer.
„Lucy, sind
sie hier? Sind sie eingeschlafen? Sie haben ihre Tür offen stehen lassen, es
kann jeder hier eintreten.“
Sie trat
ein paar Schritte weiter ins Zimmer.
„Lucy!
Langsam wird es mir zu bunt. Wenn sie vergessen hat, ihr Zimmer hinter sich abzuschließen…
also, dieses Mädchen ist so unachtsam! Zum Glück passt sie auf unseren kleinen
Engel noch immer gut auf. Lucy?“
Mrs
Borebank trat zum Bett hinüber. Ganz offensichtlich war das Kindermädchen
eingenickt und hatte deswegen vergessen, abzuschließen. Die große, weiche Decke
verdeckte ihren Körper von Kopf bis Fuß. Mrs Borebank schlug schwungvoll die
Decke zurück.
„Lucy!“
Abigail
Hopkins trat auf das Bootsdeck hinaus. Luft. Stille. Die Ferne. Sie lehnte sich
an die Reling auf der Steuerbordseite. Die Kälte kümmerte sie nicht im
Geringsten. Endlich Freiheit. Freiheit von Menschen, die sie abhängig machen
wollten, Freiheit vor finanziellen Zwängen. Endlich standen alle Wege offen.
Sie atmete tief durch und schmunzelte. Das Schmunzeln verwandelte sich schnell
in ein Lachen. Abigail Hopkins stand an der Reling und lachte aus vollem Herzen
in die tiefschwarze Nacht hinein.
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