Donnerstag, 10. November 2016

Beteigeuze - Ein Krimi (Kapitel 1)

Die Titanic in Southhampton
Hin und wieder finden sich in diesem Blog Teile der Fortsetzungsgeschichte um Timo und Julian, aber vielleicht möchte jemand etwas Spannenderes lesen, mal ein anderes Genre. Deswegen habe ich beschlossen, dass ich ganz tief in meine Schatzkiste greife, und einen der Romane hervorhole, die ich vor etwa dreizehn Jahren geschrieben habe. Es handelt sich um einen Krimi, der vor gut einhundert Jahren auf der Titanic spielt. Ich habe damals viel Spaß daran gehabt, das gesamte Ereignis zu recherchieren und einen möglichst wahrheitsgetreuen Rahmen zu schaffen für einen Kriminalfall an einem der etwas ungewöhnlicheren Schauplätze der Geschichte.
J.Bruce Ismay - Direktor der White Star Line
Das Buch ist bereits vollendet und ich werde hier - etwas regelmäßiger als bei Timo&Julian - die Kapitel veröffentlichen. Das bedeutet nicht, dass Letztere jetzt auf Eis liegen. Ich möchte nur das Angebot an Lektüre ein wenig erweitern und wünsche gute Unterhaltung auf einem legendenumwobenen Schiff...
Charles Lightoller - Zweiter Offizier der RMS Titanic



© 2004, 2006  Dr Hilarius



Der Kommentar über Fakten und Fiktion findet sich im letzten Kapitel des Buches wieder.



Vielen Dank an Carina, die mit mir die erste spannende Titanic-Expedition unternommen hat. Der Dank geht auch wieder an Cornelia für medizinische Details und an das Internet für historische Fakten. Danke an Lindt für Pralinés Nougat und an den Copy-Shop in der Olshausenstraße für den Druck. Es hat mir viel Genugtuung verschafft, dieses Buch zu schreiben, weil es endlich mal ohne den üblichen Humor auskommt. Das gebietet zumindest die Vergangenheit, die uns nicht immer nur Spaß präsentiert hat. 


Beteigeuze



Vorwort


„Ich wünsche Ihnen einen guten Abend und hoffe, Sie haben einen arbeitsreichen und ebenso die Früchte des Erfolgs tragenden Tag hinter sich gebracht. Früher, als ich jung war, habe ich es genossen, an den Abenden, so wie heute, durch meinen Garten zu wandern, die frische Luft einzuatmen und zu sinnieren, was wohl aus mir geworden wäre, wenn ich mich ganz früh für ein anderes Leben entschieden hätte. Heute hege ich diese Gedanken nicht mehr. Einzig der allabendliche Gang durch meinen Garten bleibt mir, und mittlerweile bin ich gegen eine Kälte, wie sie jetzt gerade herrscht, nicht mehr gewappnet. Es ist eine kalte, klare Nacht. Sehen Sie sich nur die Sterne an, durch keine Wolke verdeckt und in ihrem Leuchten von keinem Mond übertroffen. Damals war es ebenso kalt, eine klirrende, mondlose Nacht so wie heute. Der einzige Gedanke, der mich heute noch beschäftigt, ist, wie mein Leben sich verändert hätte, wenn ich in jener Nacht damals andere Wege gegangen wäre. Oh, wie ich wünschte, dass ich die Zeit zurückdrehen könnte, dass ich noch einmal die Chance erhielte, alles anders zu machen. Aber so etwas gibt es nur im Märchen, oder in Filmen und Büchern. Ich werde die Folgen der vergangenen Ereignisse auch weiterhin tragen müssen. Aber zumindest habe ich die unschätzbar wertvolle Gelegenheit, Ihnen zu schildern, was sich an jenem Abend auf der Titanic zugetragen hat. Ich möchte, dass Sie mich verstehen. Und dass Sie, sofern auch Sie noch jung sind, niemals den Fehler begehen, den ich damals begangen habe. Doch hören Sie nun eine Geschichte, die für Sie vielleicht unglaublich klingen mag – aber was kann in unserer modernen, technischen und von Vernunft gesteuerten Welt schon noch unglaublich sein?
Es ist der 14. April im Jahre 1912. Ein Sonntag, eine kalte, klare Nacht. Wie heute. Und wir befinden uns auf der Titanic, dem größten und luxuriösesten Schiff, das die Welt je gesehen hat…“

Sonntag, der 14. April 1912

20:20 Uhr

Zuerst öffnete er das linke Auge, dann schloss er es wieder. Langsam und flackernd hoben sich dann beide Augenlider, die Pupillen gewöhnten sich an das sanfte Licht seiner Wandlampe. Patrick Grearson atmete tief durch. Dann setzte er sich aufrecht auf sein Bett, wischte sich mit beiden Händen über die Augen und blickte aus dem Bullauge. Wasser, so weit das Auge reicht.
Grearson beugte sich hinunter und zog seine eleganten Schuhe wieder an, die er vor das Bett gestellt hatte, um es nicht zu beschmutzen. Im glänzenden Leder spiegelte sich sein Gesicht wieder. Er stand auf und trat vor den Spiegel über seinem Waschbecken. Nun sah man es ihm nicht mehr an, dass er sich kurz vorher in sein Bett begeben hatte, um einen Anfall von Seekrankheit auszustehen. Die Farbe war wieder zurückgekehrt, auch die Schwindelanfälle hatten nachgelassen. Grearson nahm einen Kamm und strich sich die Haare zurecht. Es war jetzt wichtig, dass er sich möglichst schnell wieder arrangierte, um beim Empfang gleich keinen übermüdeten Eindruck zu machen.  Von der Lehne des Stuhles nahm er sein schwarzes Jackett und streifte es über. Die Manschettenknöpfe wurden noch gerichtet, der Kragen glattgestrichen und die Falten beseitigt. Ein Blick auf die Taschenuhr kündigte den Empfang durch den Kapitän in zwanzig Minuten an.
Grearson ging zur Tür, schloss sie auf und öffnete. Sie ließ sich erstaunlich leicht öffnen, wie er bemerkte. Er ging einen Schritt zurück und die Tür schwang nach innen auf. Der Mann, der sich gegen die Tür gelehnt hatte, fiel rückwärts in die Kabine des Geschäftsreisenden Patrick Grearson. Dieser richtete seinen Blick auf den Körper, der ihm zu Füßen lag. Ein älterer Herr, sehr elegant gekleidet. Nur das Messer, das in seiner Brust steckte, mochte nicht recht zu dem Gesamteindruck passen.
Unverzüglich betätigte Grearson den Klingelknopf neben der Tür. Es dauerte keine fünf Minuten, als ein Steward den Gang hinunter zu Kabine C-52 gelaufen kam.
„Sie haben geläutet, Sir? Wie ich sehe, sind sie wieder auf den Beinen. Das ist erfreulich. Erstaunlich viele Menschen leiden an Seekrankheit. Sie sind nicht der Einzige, machen sie sich also keine Sorgen. Wie kann ich ihnen dienen?“ fragte der Steward mit freundlicher Miene. Er war mindestens ebenso korrekt gekleidet wie Grearson selbst, mit schwarzer Hose, weißer Weste und schwarzer Fliege. Sein Verhalten könnte man als „gebügelt“ bezeichnen, doch war ein pfiffiger Hinterton in seinen Worten nicht zu leugnen.
Doch für Charakterzüge hatte Grearson jetzt keine Zeit.
„Vielleicht sollten sie mal einen Blick in die Kabine werfen, Miller“, bellte er den Angestellten an.
Auf diese Einladung hin betrat Steward Miller die Kabine und stolperte dabei fast über die Leiche, die Grearson ein wenig weiter in seine Kabine gezogen hatte. Es sollte ja nicht jeder wissen, was sich hier zutrug…
„O mein Gott, das ist ja grausam!“
„Kennen sie diesen Menschen etwa?“ fragte Grearson.
Miller musterte ihn mit einem strafenden Blick.
„Ihre Unwissenheit scheint mir höchst amüsant, Sir, doch leider handelt es sich hier keinesfalls um eine Komödie. Vor ihnen liegt Joseph Bruce Ismay, der Präsident der White Star Linie. Ist er ohnmächtig?“
„Haben sie sich ihn mal genauer angesehen? Es steckt ein Messer in seiner Brust. Ich bezweifle ernsthaft, dass er noch lebt.“
Der Steward schluckte heftig und stützte sich kurz auf die Kommode neben der Tür. Schnell hatte er seine Fassung wiedergewonnen.
„Das ist eine Tragödie! Ich werde sofort den ersten Offizier Murdoch und Captain Smith unterrichten müssen. Warten sie am besten hier und erregen sie kein Aufsehen“, mahnte er Grearson. „Wir wollen doch nicht, dass Panik unter den Passagieren ausbricht!“
Hastig eilte Miller davon. Der Teppich auf den Gang schluckte seine schnellen Schritte, doch die Blicke der ihm entgegenkommenden Passagiere blieben neugierig an ihm haften.
Grearson hatte inzwischen wieder die Tür seiner Kabine geschlossen und blickte angewidert auf die Leiche auf dem Fußboden. Dies kann kein gutes Omen für eine Jungfernfahrt sein, wenn der Präsident der Schifffahrtsgesellschaft ermordet wird, dachte er und trocknete sich die Schweißperlen von der Stirn.

Ein Hauch von Dekadenz füllte den Saal des D-Decks, der für den Empfang der ersten Klasse bereitgehalten wurde. Eine illustre Gesellschaft hatte sich eingefunden, um in einer ruhigen Atmosphäre miteinander zu plaudern, wichtige Dinge zu besprechen oder über das neueste Nichts zu tratschen. Champagner und Sekt wurden gereicht, viele der Passagiere hatten sich in Ungeduld auf den Korbsesseln an den Tischen niedergelassen und warteten auf die Ansprache des Kapitäns.
Lange sollte es nicht dauern, dass Captain Smith sich zu der Menschenmenge gesellte und zunächst einige Worte an Einzelne richtete, die unmöglich wiederzugeben sind. Ein Stimmengewirr erhob sich nämlich in diesem Moment, alle erhoben sich von ihren Plätzen und blickten sich erwartungsvoll um. Man könnte diesen Anblick wohl mit einer Straußenherde vergleichen, in der einige ihre Köpfe recken und sich umblicken, was gerade Wichtiges geschehen ist.
Smith trat zum Fuß der großen Treppe und stieg zwei Stufen hinauf, damit er die Gruppe überblicken konnte und gleichzeitig für alle gut sichtbar war. Niemand soll sagen dürfen, dass EJ Smith nicht um seine Reisegäste besorgt gewesen wäre. Da sich sein Haupt über der Masse erhob, waren ihm nun die Blicke aller Anwesenden sicher. Darauf hatte er sich vorbereitet, trug seine elegante Kapitänskleidung, mit einem kleinen Steuerrad aus Gold sowie einem Emblem der White Star Linie als Anstecker an seiner Brusttasche. Die Rangabzeichen auf den Schultern hatte er noch kurz zuvor höchstpersönlich vom Staub der letzten Tage gesäubert.
„Meine sehr verehrten Reisegäste!“ erhob er seine kräftige Stimme und setzte eine strahlende Miene auf. Es gab keinen Zweifel daran, dass der Mann stolz war, ein Schiff wie die Titanic führen zu dürfen. Seine markanten Gesichtszüge ließen dabei gar nicht erst die Vermutung aufkommen, dass ihm diese Ehre zu Kopfe steigen könnte. Er wusste genau, welche Verantwortung man ihm in die Hände gelegt hatte, und er strahlte eine Zuversicht aus, die alle Anwesenden beruhigte.
„Etwas ungewöhnlich ist es schon, erst jetzt, am fünften Tag unserer Reise nach New York, die erste Klasse am Empfang willkommen zu heißen. Leider ließ es sich nicht früher organisieren. Ein Schiff dieser Größe verlangt ungeheure Planung und einen gewaltigen Überblick, der mir zugestanden wurde. Ich hoffe, diese Erwartungen zur Zufriedenheit erfüllen zu können.“
In der Pause, die er gekonnt folgen ließ, ließ sich die Gruppe der Zuhörenden zu einem kleinen Beifall hinreißen.
„Lassen sie sich sagen, dass wir bereits 1500 Meilen zurückgelegt haben – wir fliegen geradezu über das Wasser. Die Titanic ist ein Wunderwerk ihrer Zeit. Und wo ich gerade von der Zeit spreche – Es ist jetzt zwanzig Minuten nach acht. Sie sind sich sicherlich alle bewusst, dass wir durch den Nordatlantik reisen und es mittlerweile sehr kalt draußen ist. Wir empfehlen deshalb, nicht auf den Promenaden zu flanieren, sondern von den vielen Angeboten an Deck Gebrauch zu machen. Sie sollten auf jeden Fall einmal das türkische Bad besucht haben. Im Rauchsalon finden Gesellschaftsspiele statt, und wie sie hoffentlich bereits festgestellt haben, warten unsere Angestellten im Café Parisian nur darauf, sie nach Herzenslust zu verwöhnen. Ich wünsche ihnen noch eine angenehme Schiffsreise mit der Titanic und verbeuge mich erneut vor dem Meisterwerk, das hier geschaffen wurde!“
Erneut wurden dem Kapitän anerkennende Gesten der Gäste zuteil. Dann verließ Smith seine Rednerposition und trat in die Menge, um seine Unterhaltungen fortzusetzen. Einen Moment hatte er noch Zeit, bevor er sich wieder seinen Aufgaben zuwenden musste, die er, wie er im Geheimen dachte, schon durch das Abendessen mit dem Ehepaar Widener und seinen Besuch auf dem Empfang viel zu sehr vernachlässigt hatte.
Ein Mann mit Notizblock und einer Kamera um den Hals, offensichtlich ein Reporter, wollte auf direktem Weg zum Kapitän gehen, doch wurde ihm der Weg von einer gutaussehenden, jungen Dame abgeschnitten, die ihm rückwärts entgegenging, da sie sich gerade von jemandem verabschiedete. Trotz des Versuchs, noch im letzten Moment auszuweichen, stießen die beiden zusammen, wobei die junge Frau ein wenig ihres Sektes verschüttete. Schwungvoll drehte sie sich um und blickte ihrem Gegenüber ins Gesicht.
„Entschuldigen Sie bitte“, murmelte dieser peinlich berührt. „Ich wollte sie nicht anrempeln, aber sie kamen so schnell auf mich zu…“
Die junge Frau nahm ihm das Wort aus dem Mund.
„Aber sie brauchen sich doch nicht zu entschuldigen. Es war mein Fehler, wie kann ich mich nur mit einem Sektglas in der Hand rückwärts durch einen Raum voller Leute bewegen? Das war sehr leichtsinnig von mir.“ Dabei blickte sie zunächst verschämt nach unten und den Reporter dann mit einem unschuldigen Augenaufschlag an.
Dieser musterte sie mit einem kritischen Blick. Sie konnte nicht älter als dreißig sein, dachte er. Sie war nicht besonders auffällig gekleidet und hob sich allein dadurch von der höheren Gesellschaft, mit der sie gerade verkehrte, ab. Aber nicht nur die Kleidung zog seine Blicke an. Sie hatte eine wunderschön ebene, kaffeebraune Haut.
„Sagen sie, wo kommen sie eigentlich her? Sie sehen mir nicht sehr europäisch aus“, fragte er und trat sich in Gedanken im nächsten Moment selbst auf den Fuß ob dieser unverblümten Anrede. Glücklicherweise sah er die Frau lächeln.
Sie antwortete: „Sie haben das ganz richtig beobachtet. Schade eigentlich“, seufzte sie und betrachtete den Reporter von oben nach unten, „dass ich demnach wohl nicht ihrem Idealbild entspreche, aber es lässt sich wohl nicht ändern.“ Zufrieden sah sie den Reporter erröten. „Ich komme aus Afrika und mache eine journalistische Weltreise.“
„Ich wollte sie nicht beleidigen“, stammelte der andere. „Aber es schien mir so unwirklich, in diesem Schiff, aus England, eine Farbige anzutreffen. Aber, wenn sie Journalistin sind, dann kann ich sie ja beinahe als Kollegin betrachten! Mein Name ist Henry Stevens, ich komme aus Southampton und habe von meiner Zeitung den Auftrag bekommen, die Jungfernfahrt dieses Luxusdampfers zu dokumentieren.“
Stevens gab ihr die Hand.
„Sehr angenehm, Mr Stevens. Mein Name ist Susan Lockett. Sie sprechen von Luxus… das muss es wohl sein. Die Kabinen sind wirklich die Spitze exquisiten Geschmacks und – ach, die gesamte Ausstattung ist wunderbar.“
„Ja, White Star hat sich mit diesem Schiff wirklich etwas ganz Besonderes geleistet. Kommen sie doch, setzen wir uns. Es ist unbequem, hier so lange zu stehen. Und ich wäre froh, wenn ich mein Sektglas abstellen könnte.“
Stevens blickte sich kurz um und führte Ms Lockett zu einem der Tische in den hinteren Ecken, nahe einer der Türen zu den Kabinen des D-Decks. Beide setzten sich. Ms Lockett beugte sich interessiert über den Tisch.
„Was mich wirklich interessiert, vielleicht wissen sie es ja: Wie viele Menschen sind eigentlich an Bord? Das Schiff ist so riesig, da kann man ja nicht einmal schätzen.“
„Ich kann es ihnen noch nicht genau sagen. Laut meinen Angaben sollten es um die zweitausend Passagiere sein. Gewaltig, nicht wahr?“
„Oh ja.“
„Es sind sogar die hohen Persönlichkeiten an Bord, warten sie mal“, sagte Stevens und blätterte einige Seiten in seinem Notizblock zurück. Dann tippte er mit einem Kugelschreiber auf die entsprechenden Einträge.
„Bruce Ismay, der Präsident der White Star Linie fährt mit, das Ehepaar Widener und die Astors! Ursprünglich wollte der Gründer der IMM, John Pierpont Morgan, auch mitkommen, aber er hatte es terminlich nicht geschafft.“
„IMM?“ fragte Ms Lockett ihn verwirrt.
„Das ist die International Mercantile Marine Company, aber ich sollte sie nicht mit solchen Details nerven. Die IMM hat White Star aufgekauft.“
„Wie dem auch sei, es sind also viele hohe Leute hier an Bord.“
„Das können sie aber laut sagen. So muss es aber auch sein, denn die Kabinen der ersten Klasse müssen schließlich auch besetzt werden. Die Unmengen, die dieses Schiff gekostet hat und auch in der Unterhaltung verschlingt, wollen wieder verdient sein!“ Stevens warf einen Blick in die Gesellschaft. „Sehen sie, ich muss jetzt weiter, vielleicht hat Kapitän Smith etwas Zeit, um mir ein paar Auskünfte zu geben. Ich würde mich gerne wieder mit ihnen unterhalten, so von Reporter zu Reporter.“
Ms Lockett lehnte sich zurück und blickte den Reporter an.
„Ich fühle mich, wenn ich ehrlich bin, ein wenig überrumpelt. Ich habe sie hier noch gar nicht gesehen.“
„Meine Kabine ist auf dem C-Deck, Nummer 23.“
„Na, dann ist es ja kein Wunder. Meine Kabine ist A-12.“
„Toll, sie sind auf dem A-Deck untergebracht? Dann befinden sie sich ja mitten in der High Society!“ In seiner Stimme ließ sich Bewunderung vernehmen, doch die junge Frau winkte ab.
„Das kann auch seine Schattenseiten haben.“ Dann zeigte sie auf zwei ältliche Damen, die sich unweit von ihnen aufhielten und hin und wieder ein kreischendes Lachen vor Entzücken vernehmen ließen. „Sehen sie diese aufgetakelte Frau dort? Sie nervt ganz unerhört. Sie hält sich wegen ihres Titels für etwas Besseres. Das lässt sie auch alle Mitreisenden spüren. Sie und die Myers-Jones, die laufen immer zusammen auf dem Deck herum und suchen Gründe, um herumzumäkeln. Wenn die nichts mehr zu klagen hätten, würden sie wahrscheinlich eingehen. Denen sollten sie besser nicht unter die Augen treten.“
Stevens lächelte verschmitzt.
„Dann will ich mal versuchen, eine Begegnung der überkandidelten Art zu vermeiden. Ich möchte sie jetzt nicht weiter unter Druck setzen. Wie wäre es, wenn sie mich um“, er blickte auf seine Armbanduhr, „sagen wir, halb zehn auf dem Squashplatz treffen?“
„Halb zehn passt mir ganz gut. Aber wo ist hier ein Squashplatz? Ich habe noch nie Squash gespielt, ich wusste gar nicht, dass es auch dafür hier eine Einrichtung gibt.“
„Der ist ganz einfach zu finden. Hier links, die Tür ganz nahe bei uns, führt zu den Kabinen des D-Decks. Gehen sie durch diese Tür und den Korridor hinunter. Dann gehen sie nach links in den abzweigenden Gang und in die erste Tür rechts. Von da an müssen sie nur noch dem Gang folgen. Es geht ein paar Treppen hinunter, aber das finden sie schon.“
„Das hoffe ich doch. Jetzt muss ich aber erst einmal versuchen, an dieser unsäglichen Ms Dumonde vorbeizukommen.“
„Viel Glück“, wünschte der Reporter ihr augenzwinkernd.
„Das werde ich brauchen. Und sie sagen mir nachher, wie das Treffen mit Captain Smith war!“ rief Ms Lockett im Davongehen.
„Miss Lockett! Wie schön, sie hier zu sehen!“ rief eine schrille Stimme. Die Angesprochene zuckte zusammen und drehte sich langsam, in böser Vorahnung um. Es war ihr nicht gelungen, unbemerkt an Mrs Dumonde vorbeizuschleichen. Sie lächelte verlegen und ging auf die beiden älteren Damen zu. Mrs Dumonde wandte sich an ihre Gesprächspartnerin und zeigte dabei wohlwollend auf Ms Lockett.
„Schau, Eudora, dies ist das Mädchen aus dem Nachbarzimmer, Miss Lockett. Dies ist Eudora Myers-Jones, eine wunderbare Frau. Wir haben so viel gemeinsam!“
Ms Lockett betrachtete das Pärchen. Sie passten zusammen. Beide waren ungefähr fünfzig Jahre alt und trugen sehr altmodische Kleider, mit Nerzschals und geradezu unglaublichen Federkronen auf dem Haupt. Guter Geschmack war eine Sache, die Arroganz des Reichtums eine andere. Mrs Lockett rümpfte die Nase.
„Das glaube ich ihnen, Ms Dumonde“, sagte sie grimmig.
„Mrs Dumonde“, wiederholte die aufgetakelte Lady mit Nachdruck. „Das habe ich ihnen doch schon erklärt!“
Nun meldete sich auch Mrs Myers-Jones zu Wort: „Letty, sie haben mir gar nicht von ihrem Mann erzählt!“
„Ist auch nicht der Erwähnung wert. Sonst würde ich sehr großen Wert darauf legen, dass ich hier mit Lady Dumonde angeredet werde.“
„Sie haben einen Lord geheiratet? Das ist ja wunderbar!“
Mrs Myers-Jones blickte Lady Dumonde ehrfurchtsvoll an, während Susan Lockett genervt die Arme verschränkte und ungeduldig mit dem Fuß wippte.
„Tja, so muss sich halt jeder mit seinesgleichen abgeben.“
„Sind sie etwa neidisch auf Letitia?“
„Das könnte schon sein. Eudora, meine Liebe, sie wissen doch, dass nicht jeder viel mit Stil auf sich hält. Ach, aber ich schweife ab. Miss Lockett, ich habe sie heute den ganzen Tag noch nicht gesehen. Dabei residiere ich im Zimmer neben ihnen. Wie ist das möglich?“
„Haben sie mir etwa nachspioniert?“ Ms Lockett stemmte empört die Arme in die Hüften. Dann wandte sie sich an die Myers-Jones. „Mrs Dumonde hat die schreckliche Angewohnheit, zu spionieren. Und wenn sie dabei mal entdeckt wird, dann deckt sie ihren Gegenüber derart in einen Redeschwall ein, dass ihnen Hören und Sehen vergeht.“
Mrs Myers-Jones´ Reaktion darauf war wohl nicht ganz die erwartete. Sie klatschte begeistert in die Hände.
„Das ist ja ganz vorzüglich, meine Beste! Neuigkeiten austauschen, nur so wird die Welt am Leben erhalten.“
„Sie meinen wohl: Klatsch und Tratsch.“
„Natürlich, sie können so etwas ja nicht kennen“, mischte sich Mrs Dumonde beleidigt ein. „Sie schlagen sich andauernd mit irgendwelchen Männern herum, da haben sie bestimmt keine Zeit für irgendwelche tieferen Gespräche. In den letzten Tagen ist Miss Lockett erstaunlich oft in der Nähe von Bruce Ismay gewesen. Dass der so einen Pöbel überhaupt an sich heran lässt, ist schon ein Wunder. Aber was will sie nur von ihm?“
„Wie können sie es wagen, von mir in der dritten Person zu sprechen, während ich direkt neben ihnen stehe? Und überhaupt, sie nennen mich Pöbel? Nur weil sie auf ihrer hohen Wolke der Eleganz und des stinkenden Reichtums auf mich herablachen? Das muss ich mir doch nicht gefallen lassen. Ich wünsche ihnen noch einen schönen Abend!“
Wutschnaubend ging Ms Lockett davon. Wieder einmal war es der Lady gelungen, sie zur Weißglut zu treiben. Mrs Myers-Jones winkte ihr hinterher.
„Den werden wir haben. Was meinen sie, Letitia, sollen wir noch einmal ins Café Parisian gehen?“
Und sie flanierten in Richtung der Treppe. Die Stimmen wurden wieder lauter, man konnte nur wenig verstehen. So weiß wohl niemand genau, was Offizier Murdoch Captain Smith zuflüsterte, nachdem er ihn zur Seite genommen hatte. Einzig der bleiche Gesichtsausdruck des Kapitäns war zu erkennen. Gleich darauf gingen beide hastig über die Haupttreppe nach oben.
Ein Mann mittleren Alters kam ihnen entgegen und setzte seinen Weg zum Empfang fort. Er sah ein wenig zerstreut aus und nestelte ununterbrochen an einem Knopf seines Jacketts herum, während er durch die Menschenmenge ging. Plötzlich spürte er, wie ihm jemand auf die Schulter tippte. Ruckartig drehte er sich um und entdeckte ein junges Mädchen, etwa zwanzig Jahre alt, das ihn liebenswürdig anblickte.
„Entschuldigen sie, können sie mir sagen, wie spät es ist?“ fragte sie schüchtern.
„Aber sicher.“ Der Zerstreute warf einen Blick auf seine Taschenuhr. „Es hat gleich halb neun.“
„Vielen Dank. Sie sprechen mit einem interessanten Akzent. Sie kommen nicht aus England, nein?“
„Nein. Ich bin aus Deutschland, genauer gesagt aus München. Das ist in Süddeutschland.“
„Aber warum sind sie auf dem Weg nach New York?“
„Wissen sie, ich bin Atomphysiker, ich habe mich der Wissenschaft verschrieben. Das mag ihnen nicht allzu viel sagen, jedenfalls bin ich auf dem Weg zu Kollegen in Washington.“ Er blickte sich um und fuhr dann geheimnisvoll fort: „Es geht um bedeutende Entdeckungen.“
„Das hört sich ziemlich wichtig an“, meinte die junge Frau interessiert und seufzte. „Ich muss nach New York, um dort meinen Verlobten zu treffen.“
„Ich kann nicht behaupten, Begeisterung auf ihrem Gesicht zu entdecken. Erzählen sie, was ist es, das sie bedrückt?“
„Sie müssen wissen, dass meine Mutter auch hier an Bord ist. Es war ihre Idee, nach New York zu reisen. Sie hat einen Mann für mich ausgewählt, sie hat mir meinen Verlobten geradezu aufgezwungen. Dabei gehört mein Herz einem Anderen, den ich jetzt verlassen muss“, klagte sie.
„Ach, die junge Liebe. Und sie haben ihre Mutter nicht von dem anderen Mann überzeugen können? Warum sollte es denn unbedingt jener sein, den ihre Mutter ausgewählt hat?“
„Das weiß ich auch nicht. Meine Mutter ist sehr stur. Und sehr streng, sie lässt keinen Zweifel an ihren Entscheidungen zu.“
„Vielleicht habe ich ihre Mutter ja schon kennen gelernt?“
„Meine Güte, wenn Mutter mir eines beigebracht hat, dann doch die Manieren! Ich merke den Wink, wenn er mich erschlägt. Wir haben uns noch gar nicht vorgestellt, ich entschuldige mich für meine Unachtsamkeit. Mein Name ist Claris Hilton. Wir sind aus Dublin.“
„Ich heiße Harald Müller. Sehr erfreut, sie kennenzulernen“, grüßte der Physiker und küsste Ms Hilton die Hand. „Wenn sie aus Irland kommen, dass müssen sie ja in Queenstown zugestiegen sein, nicht wahr?“
„Das ist richtig. Ich bin seit dreieinhalb Tagen auf See.“
„Nun, dafür sehen sie recht gesund aus“, sagte Müller und lachte. „Ich habe schon mehrere Passagiere mit recht bleichen Gesichtern in ihren Kabinen verschwinden gesehen. Sie wissen schon, die Seekrankheit.“
„In welcher Kabine kann man sie denn finden?“
„Ich? Ich bin in B-27.“
„Ach, dann kennen sie sicher unseren Anwalt aus B-9, Carl Stansfield?“
„Vielleicht können sie ihn beschreiben?“
„Wenn sie ihn sehen, werden sie ihn sofort erkennen. Er sieht wirklich nach Anwalt aus. Er will seine Kanzlei nach New York verlegen, in die große Stadt, Welt der unendlichen Möglichkeiten. Meiner Mutter kommt das natürlich sehr gelegen. Sollte ich meinen Verlobten, den ich ja so sehr liebe“, sagte Claris Hilton mit sarkastischem Unterton, „heiraten, dann werden wir in New York bleiben, und dann bietet es sich ja an, den Anwalt gleich zu behalten.“
„Das ist schon verständlich, zumindest aus der Sicht ihrer Mutter. Ich bin sicher, dass sie nur das Beste für sie will.“
„Das Beste… genau das hat sie auch gesagt. Woher will sie denn wissen, was das Beste für mich ist? Sie bezieht mich in ihre Überlegungen überhaupt nicht ein, ich bin nur das fünfte Rad am Wagen.“
„So dürfen sie nicht denken.“ Dann legte Müller eine kleine Kunstpause ein. „Seien sie mal froh, dass es bei ihren Angelegenheiten nur um, entschuldigen sie bitte den Ausdruck, persönliche Interessen geht. Man will mich zur Rechenschaft ziehen, weil ich nicht ganz nach den Wünschen meiner Auftraggeber, meiner Sponsoren gehandelt habe. Man will mir mein Projekt entziehen, an dessen wunschgemäßer, wenn auch nicht korrekter Durchführung mein Gewissen mich gehindert hat. Aber das können diese Kretins ja nicht verstehen“, knurrte Müller und blickte grimmig.
„Das ist wirklich nicht sehr schön. Ich drücke ihnen die Daumen, dass sich alles noch zum Guten für sie wendet.“ Dann blickte Ms Hilton sich um. „Sagen sie, ich wollte eigentlich ein Mal nur mit Captain Smith sprechen. Eben war er doch noch hier. Wissen sie, wo er hingegangen ist?“
„Da kann ich ihnen leider nicht helfen. Er ist mir eben auf der Treppe entgegengekommen, er muss also irgendwo über uns sein. Aber wenn sie blind herumsuchen, finden sie ihn eh nicht. Da müssen sie mal die anderen Gäste hier fragen.“ Und der Rest des Gesprächs ging in belanglosen Kleinigkeiten unter.


Steward Miller
Mittlerweile herrschte in Kabine C-52 eine recht gespannte Atmosphäre. Patrick Grearson, der sich inzwischen wieder vom Schock erholt hatte, zeigte dem Kapitän die Leiche, die ihm auf so unkonventionelle Methode zugeschoben worden war.
Smith holte ein Taschentuch aus seiner Jacketttasche und wischte sich über die Stirn, während Offizier Murdoch und der Steward Miller ziemlich ratlos in der Kabine standen.
„Das ist ein Skandal“, rief Smith erregt. „Der Präsident von White Star – ermordet! Wir müssen herausfinden, wer das getan hat. Aber ich muss sie gleich dazu ermahnen, die Sache geheim zu halten, damit keine Panik ausbricht. Diese Angelegenheit bleibt unter uns. Hier auf See können wir sowieso nichts tun.“
Grearson schüttelte entnervt den Kopf.
„Wir könnten diesen Fall aufklären. Warum sollte wohl jemand die Leiche an meine Zimmertür lehnen? Ich fühle mich dadurch angegriffen. Wenn das ein Scherz sein sollte, um mich zu erschrecken, dann ist er geglückt. Aber warum passiert mir das? Ich kenne doch hier auf dem Schiff niemanden!“
„Ziemlich makaber. Wer sind sie überhaupt?“
„Patrick Grearson. Geschäftsmann auf dem Weg nach New York.“
„Ich bin Captain EJ Smith. Jetzt ist es aber genug der Freundlichkeiten, ich muss mich um die Brücke kümmern. Es ist ein Skandal! Murdoch, sie gehen wieder auf das Bootsdeck. Miller, sie kümmern sich bitte wieder um die Passagiere.“
Offizier Murdoch nickte und verließ die Kabine, während Miller noch einen Moment wartete.
Smith betrachtete noch einmal den Leichnam und ließ dann beiläufig seinen Blick durch die Kabine wandern. Sein Augenmerk wurde von einem Schmuckkästchen angezogen, das auf dem kleinen Beistelltisch vor dem Sofa stand. Es war ein Kästchen aus dunklem Holz, mit einem Glasdeckel, durch den man die Einlagen auf dem roten Samt betrachten konnte. In dem Kästchen lagen drei Saphire, in einer geraden Linie angeordnet. Rechts davon lagen zwei Diamanten, links ein weiterer Diamant. Wenn sich auch kein Muster erkennen ließ, so schien es doch, als wären die Steine absichtlich so angeordnet worden, als ergäben sie eine Figur.
Smith, der komplett in diesen Gedanken versunken war, schreckte hoch und bemühte sich um einen wachen Tonfall.
„Sie sollten ihre Wertsachen nicht einfach so herumliegen lassen. Gerade jetzt nicht, da hier an Bord ein Mörder umherschleicht. Bringen sie die besser zum Zahlmeister an der Haupttreppe. Einen angenehmen Abend noch!“
Damit nahm Smith seine Mütze, die er auf dem Tisch deponiert hatte, wieder an sich und machte sich auf den Weg zur Brücke.
„Schöner Abend… besser das, was davon noch übrig ist. Meinen sie, jemand will mir Angst einjagen?“ fragte Grearson den Steward.
Miller räusperte sich kurz und antwortete in leicht ironischem Tonfall: „Indem er den Chef der White Star Linie ermordet und vor ihre Tür stellt? Das glaube ich nicht.“ Dann warf er einen weiteren Blick auf den Leichnam, um kurz darauf fortzufahren: „Nein, ich denke schon, dass das Attentat Mr Ismay gegolten hat. Aber warum nur?“
„Wenn ich das wüsste. Ich werde versuchen, den Täter zu finden.“
„Sie belieben, zu scherzen. Ihnen ist doch bewusst, dass sie sich hier auf einem Schiff mit zweitausend Menschen an Bord befinden. Sie dürften eher die Nadel im Heuhaufen finden.“
„Nun, irgendwo muss ich ja anfangen. Am besten hier auf dem Deck. Es kann doch nicht unbemerkt geblieben sein, dass ein Toter an einer Kabinentür lehnt. Es gibt hier einen Fotografen, glaube ich. Jedenfalls ist hier ein Mann immer mit einer Kamera umhergegangen. Er heißt Stevens, aber ich kenne seine Kabine nicht. Sie muss auf dem anderen Gang liegen, bei den ungeraden Nummern. Wenn hier einer etwas gesehen hat, dann er.“
„Wenn sie ihren Schmuck abgeben, können sie den Zahlmeister gleich nach der Kabinennummer fragen. Er wird sie ihnen sicher mitteilen. Ich werde jetzt gehen und mit den Männern von der Aufsicht sprechen, damit man den Leichnam aus ihrer Kabine entfernt. Außerdem habe ich mich auch um die anderen Passagiere zu kümmern. Wenn sie mich also entschuldigen.“
„Natürlich. Danke, Miller.“
„Stets zu ihren Diensten.“
Nachdem der Steward die Tür unhörbar hinter sich geschlossen hatte, ging Grearson zu seinem Überseekoffer und entnahm ihm eine große Aktenmappe. Er öffnete sie und setzte sich mit den Unterlagen an den Tisch. Die Geschäftspapiere legte er beiseite und nahm sich einen Schreibblock mit Füllfederhalter zur Hand. Dann dachte er nach.
Wenn dieses Attentat eine Drohung gegen ihn war, war auch er selbst noch immer in Gefahr. Und wie Smith es gesagt hatte – hier auf dem Schiff konnte man nichts tun. Er war gefangen auf diesem Schiff und ein Mörder hatte freien Ausgang. Doch dann beruhigte Grearson sich wieder von diesem Anfall der Beklemmung. Miller wird schon Recht behalten. Das Attentat galt Ismay, und nun, da er gestorben war, bestand keine Gefahr mehr. Die Reise würde ihren gewohnten Gang gehen.

David Morrison blickte kritisch an sich herab. Hatte er sich dem Anlass entsprechend gekleidet? Vielleicht würde es den höheren Damen und Herren ein wenig zu leger erscheinen. Er trug ein weißes Hemd, darüber eine Lederweste, passend zu einer Cordhose und braunen Wildlederschuhen. Zusammen mit der Charakteristik seines Gesichts, die dem 38jährigen einen verschmitzten Zug einbrannte, machte das gesamte Bild doch einen verwegenen Eindruck. Die Atmosphäre eines Spielers umgab ihn, aber war es nicht genau das, was er erreichen wollte? Ein Spieler, jederzeit bereit, alles zu riskieren, um den großen Gewinn einzustreichen. Und schließlich war er nicht der einzige Mensch, der auf den Gewinn hoffte.
Lange hatte er den Traum von Amerika geträumt. Viel zu lange hatte er gezögert, nun sollte er endlich wahr werden. Warum sollte es einem freien Geist wie ihm versagt sein, in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten zu reisen, um dort das große Glück zu suchen? Aus der Westentasche holte er einen Würfel. Er war aus dunkelgrünem Material, das perlmuttern glänzte. Morrison war nicht abergläubisch, aber dieser Würfel war sein Glücksbringer. Das Einzige, was ihn an seine Vergangenheit erinnerte, und seiner festen Überzeugung nach auch das Einzige, was ihn bis hier gebracht hatte. Er blickte den Würfel eingehend an und schloss seine Hand darum. Dann öffnete er die Tür zum Rauchsalon der ersten Klasse.
Der Salon hatte die Form eines eckigen Hufeisens, an dessen einer Spitze Morrison hereingekommen war. Es war gemütlich warm hier drin, im Kamin am Kopfende flackerte ein Feuer, welches sehr zu der behaglichen Stimmung beitrug. Sehr viele Passagiere hielten sich hier auf, es waren fast alle Tische besetzt. Auf halber Raumhöhe begann der blaue Dunst der Zigarren und Zigaretten einen halbseidenen Schleier zu bilden, der die Szenerie sehr unwirklich erscheinen ließ. Allein die Stimmen, die in einem wilden Gewirr um Vorrecht kämpften, hielten die Wirklichkeit mit aller Macht fest.
Langsam spazierte Morrison den Gang hinunter und betrat das Kernstück des Saales. Er betrachtete ein Gemälde, das über dem Kamin hing. Es zeigte eine Aufnahme des Hafens von Plymouth.
„Sie haben verloren. Es tut mir leid. Wollen sie noch einmal?“
Erstaunlich klar hatte Morrison diese Stimme gehört und blickte sich um, woher sie gekommen sein mochte. Sein Blick fiel auf einen der Tische, an dem ein äußerst elegant gekleideter Herr einen Stapel Karten in der Hand mischte, während sein Gegenüber enttäuscht aufstand, um davonzugehen.
„Nein danke. Für heute habe ich genug.“
Zielstrebig ging David Morrison zu dem Tisch, an dem der andere Herr unermüdlich seine Karten mischte. Er setzte sich.
„Guten Abend“, sagte er.
„Ah, willkommen, Jacques Cartier begrüßt sie am Spieltisch. Wie heißen sie?“ Der Kartenspieler sprach mit einem sehr starken französischen Akzent.
„Morrison. David Morrison. Den Typen eben haben sie aber ganz schön abgezockt. Mit mir werden sie das nicht schaffen. Was spielen sie?“
„Black Jack.“ In den Augen blitzte das Feuer der Spielleidenschaft. „Und sie wollen gegen mich antreten? Sagen sie, habe ich sie nicht schon irgendwo gesehen? War es in Paris?“
„Das kann eigentlich nicht sein“, antwortete Morrison freundlich. Nur zu gut kannte er diese Masche der Spieler, hatte er selbst sie doch oft genug angewandt. Ich bin kein Anfänger, ich werde wachsam sein wie ein Fuchs, dachte er, verzog dabei aber keine Miene. „Ich komme aus London und war noch nie in Paris.“
„Nun gut, das soll uns die Laune nicht verderben. Wie wäre es mit einem Spiel?“
„Meine Karten.“
Cartier mischte die Karten ein letztes Mal und legte dann eine Karte offen und eine verdeckt vor Morrison auf den Tisch. Beide Spieler konnten eine Herz Zwei sehen. Morrison nahm die Karten auf und warf so einen Blick auf seine verdeckte Karte. Eine Pik Neun. Cartier legte sich selbst die Karten. Karo Fünf. Eine verdeckt. Ohne mit der Wimper zu zucken bat Morrison um eine weitere Karte.
Doch der Franzose zögerte.
„Sie sind ein Spieler. Das ist nicht zu übersehen. Und wenn sie aus Leidenschaft spielen, dann machen sie das nicht ohne Einsatz, nicht wahr? Ich möchte die Spannung erhöhen. Ich sehe, sie haben da einen sehr schönen Ring. Ihr Ring gegen diese Kette, was meinen sie?“
Und er legte eine Halskette auf den Tisch, die sehr wertvoll aussah. Morrison wusste aber, dass die Kette seinen Ring an Wert kaum übersteigen würde. Dennoch war ihm diese Herausforderung entgegengebracht worden, die er nicht ablehnen konnte.
„Einverstanden.“
Und er entfernte den Ring vom kleinen Finger seiner rechten Hand und legte ihn zu der Halskette.
Cartier reichte ihm eine weitere Karte. Herz Drei. Zusammen vierzehn Punkte. Mit einer sieben hätte er so gut wie gewonnen, und einen Black Jack schaffte sein Gegenüber auf keinen Fall mehr. Er bat um eine weitere Karte. Herz Sechs. Zwanzig Punkte. Er musste aufhören, jede weitere Karte wäre sein Ruin gewesen.
„Es reicht.“
Cartier schmunzelte und nahm sich selbst eine Karte. Dann eine weitere. Und noch eine. Fünf Karten, wie viele konnte er noch halten? Dann drehte er genüsslich eine nach der anderen um.
Die Karo fünf lag bereits offen. Eine Karo Zwei. Ein Pik As. Eine Pik zwei. Das waren zwanzig Punkte.
„Sehen sie, mein Freund. Ich habe zwanzig Punkte. Ich mache ihnen ein Angebot: Sie steigen jetzt aus und die Runde ist beendet. Ohne Gewinne oder Verluste.“
„Wie bitte?“ Morrison traute seinen Ohren nicht. Was war denn das für ein Angebot? Hatte Cartier etwa ein so gutes Blatt? Dann schüttelte Morrison entschlossen den Kopf. Er durfte nicht als Feigling aus diesem Spiel hervorgehen. Außerdem versteht sich ein guter Spieler aufs Bluffen.
Langsam wendete Cartier seine letzte Karte. Pik Zehn.
Morrison grinste. Cartier hatte zu hoch gepokert. Mehr als einundzwanzig Punkte und man hatte verloren. Das Grinsen erstarb jedoch sehr schnell, als Cartier auf das As tippte und ihn dadurch milde daran erinnerte, dass das As entweder elf Punkte oder einen Punkt zählen konnte, je nach der Situation. Damit hatte Cartier genau einundzwanzig Punkte.
Cartier lachte und sagte: „Scheint, als hätte ich heute einen guten Tag.“
Morrison seufzte und lehnte sich zurück. „Verdammt.“ Dieses Mal hatte der Würfel ihm kein Glück gebracht.
Eine elegante Frau war an den Spieltisch herangetreten und hatte die letzten Spielzüge interessiert beobachtet. Sie tat einen ausgiebigen Zug an ihrer Zigarette und hauchte ein zartes: „Guten Abend!“
Beide Gentlemen sahen sich verpflichtet, ein einladendes Nicken zu äußern.
„Verbringen sie eine angenehme Reise?“ fragte die Dame, ohne sich zu setzen.
„Von wegen.“ Das Lächeln auf Morrisons Gesicht verwandelte sich in eine mürrische Miene. „Dieser Betrüger hat mir meinen Ring abgeknöpft.“
„Darf ich mir den mal ansehen?“ fragte sie den französischen Kartenspieler und schenkte ihm ihren bezauberndsten Augenaufschlag. Cartier nickte. Sie nahm den Ring in die Hand, betrachtete das Funkeln im Schein der Deckenleuchter und legte ihn dann behutsam zurück. Sie wandte sich um.
„Wenn sie bitte mal mitkommen würden, Mister…“
„Morrison.“
„Gut, Mr Morrison. Kommen sie bitte!“
Und erstaunlich energisch führte die Frau ihn vom Spieltisch hinweg in eine andere Ecke des Rauchsalons, in der sie sich unbeobachtet fühlten.
„Was haben sie denn? Wer sind sie eigentlich“, lautete David Morrisons berechtigte Frage. Wieder der Augenaufschlag der Dame, als sie antwortete:
„Ich bin Lucia Borebank aus dem wunderschönen Cambridge. Zusammen mit meinem Mann ziehe ich um nach Amerika.“
„Sie ziehen um?“ Zweifelnd blickte Morrison auf Mrs Borebank. Sie sah ganz offensichtlich älter aus, als sie in Wirklichkeit war. Er schätzte ihr Alter auf knapp über 30 Jahre. Eigentlich noch zu jung, um schon umzuziehen, gerade nach Amerika! Oder war es nicht eher so, dass man mit Vorliebe in den jungen Jahren neue Abenteuer erleben wollte? Lucia Borebank schien seine Gedanken zu lesen.
„Na gut, das ist vielleicht übertrieben“, schwächte sie ihre Aussage ein wenig ab, „wir wollen einen langen Urlaub dort verbringen. Wir haben extra unser Automobil mitgenommen“, fügte sie nicht ohne Stolz hinzu.
„Aber warum wollten sie mich sprechen?“
„Ich habe sie eben mit Monsieur Cartier gesehen. Sie hätten nicht mit ihm spielen sollen, er beherrscht es, die Augen zu täuschen.“
„Das haben sie aber nett gesagt“, erwiderte Morrison grimmig. „Er betrügt schamlos, das habe ich mittlerweile auch gemerkt. Leider zu spät. Jetzt hat der Kerl meinen Ring. Der war ein Geschenk von meiner Freundin. Na ja, sie hat mich auch verlassen, vielleicht hat es das Schicksal so gewollt.“
Seine Masche hatte Erfolg. Die deprimierenden Worte, dazu seine Aufmachung mit Lederweste und Cordhose, ein wenig gammelig, ein wenig unangemessen, aber mit genau dem Charme, der hier vonnöten war.
„Nun seien sie doch nicht traurig, junger Mann.“
„Sie haben ja gut reden, ich bin bestimmt älter als sie!“
„Dabei wird mir so oft nachgesagt, ich sehe älter aus als ich bin. Doch eine Dame redet nicht gern über ihr Alter.“ Hier legte sie eine Kunstpause ein und zog genüsslich an ihrer Zigarette. Der Aschekegel erreichte eine bedrohliche Länge, und so hielt Mrs Borebank es für angebracht, ihn an einem nahegelegenen Aschenbecher abzuklopfen. Sie trat wieder an Grearson heran.
„Kommen wir zum Wichtigen: Ihr Ring ist falsch.“
Er wusste nicht, ob es daran lag, was sie sagte oder an der Art, wie sie es sagte. Für einen Moment jedenfalls blieb Morrison der Mund offen stehen. Eiskalt und trocken hatte sie jene Worte geäußert.
„Schauen sie nicht so entsetzt. Der Ring ist eine Fälschung. Ein Duplikat von einem sehr bekannten Ring, der einst in meinem Besitz war.“
„War? Hat man ihn gestohlen?“
„Nein, ich habe ihn meinem Kindermädchen geschenkt. Wissen sie was, ich will ihnen etwas Gutes tun. Gehen sie zu unserem Kindermädchen und bitten sie sie, ihnen den Ring zu geben. Sie ist auch hier an Bord. Sie arbeitet schon lange für uns, da konnte ich es ihr nicht zumuten, sie in England zurückzulassen. Ganz abgesehen davon ist sie eine Seele von Mensch, ich wüsste nicht, was ich ohne sie tun sollte. Ich werde sie später selbstverständlich dafür entschädigen.“
Morrison schüttelte den Kopf. Zu unwirklich waren die Geschehnisse um ihn herum.
„Wie komme ich denn zu der Ehre? Ich habe sie gerade erst getroffen und schon wollen sie mich derart reich beschenken?“
„Ich kann nun mal keine niedergeschlagenen Menschen sehen“, meinte Mrs Borebank gönnerhaft und geheimnisvoll.
„Welche Kabine hat das Mädchen denn?“
„Ach, sehen sie, da bin ich auch überfragt. Mein Mann hat das geregelt, ich weiß leider gar nichts davon. Dieses Schiff ist einfach zu groß, da findet man ja nur mit Glück seine eigene Residenz wieder. Und mein Mann, der Gute, er müsste gerade die Vorzüge des türkischen Bades genießen. Er würde es sicher nicht schätzen, wenn sie ihn dort störten. Also schlage ich vor, dass sie mit dem Zahlmeister sprechen. Er hat die Verwaltung dieses Schiffes voll unter Kontrolle.“
„Das ist wohl die beste Lösung. Aber dann müssen sie mir zumindest den Namen des Kindermädchens sagen, sonst komme ich nicht weiter.“
„Das ist mir jetzt aber peinlich“, murmelte die junge Frau und blickte beschämt zu Boden. „Da schicke ich sie zum Zahlmeister und weiß selbst nicht, nach wem sie suchen sollen. Sehen sie, ich rufe sie immer nur „Lucy“. Ihren Nachnamen habe ich ganz vergessen. Ach, es nützt wohl nichts. Gehen sie doch besser zu meinem Mann. Sagen sie ruhig, dass ich sie geschickt hätte. Sie wissen, wo das türkische Bad ist?“
„Danke, das finde ich schon.“
„Gut. Lassen sie mich nur noch darauf hinweisen, dass die gute Lucy eine Herumtreiberin ist, wenn sie nicht im Dienst ist. Sie werden sie wohl erst nach halb elf in ihrer Kabine antreffen, da führt kein Weg dran vorbei.“
„Aber das macht doch nichts. Wenn man jung ist, soll man Spaß haben. So ist es doch, oder?“ Morrison zwinkerte seiner Gesprächspartnerin zu. „Mrs Borebank, ich bin ihnen zutiefst dankbar“, sagte er und küsste ihre Hand. Daraufhin errötete sie.
„Ich helfe gerne, sie Schmeichler. Gehen sie nur und suchen sie meinen Mann. Und erzählen sie mir nachher, wie es gelaufen ist!“
Mrs Borebank spazierte gemächlich wieder zum Tisch von Monsieur Cartier, vermutlich um ein paar anderen Glücklosen zuzuschauen, die der Franzose nach allen Regeln der Höflichkeit über den Tisch zog. Morrison unterdessen machte sich auf die Suche nach dem Kindermädchen und dem Ring; zuerst galt es, Mr Borebank zu finden, aber das würde sich schon machen lassen, dachte er, während er auf der Haupttreppe achtern nach unten wanderte.

Sehr praktisch, dass sich alles auf dem C-Deck abspielt, dachte Patrick Grearson und klopfte an Kabine C-23. Nervös tippte er mit dem Fuß auf dem Boden.
„Mr Stevens?“ rief er, doch er bekam keine Antwort.
„Mr Stevens, sind sie da drin? Ich muss mit ihnen sprechen!“ Dann murmelte er leiser zu sich. „Der Zahlmeister hat doch gesagt, dass es C-23 ist. Vielleicht muss ich es später noch einmal versuchen.“ Vorher aber vergewisserte er sich noch einmal, dass er auch bei der richtigen Tür geklopft hatte. C-23, so stand es auf dem Messingschild. Kein Zweifel.
„Suchen sie etwas?“ ertönte da plötzlich eine Stimme hinter ihm. Henry Stevens hatte sich ihm unbemerkt genähert. Noch immer trug er den Fotoapparat um den Hals und den Notizblock in der Hand. Grearson drehte sich abrupt um.
„Sind sie Stevens?“
„Höchstpersönlich.“
„Das ist gut, dass ich sie treffe, ich muss sie unbedingt sprechen. Ich hatte schon die Befürchtung, dass ich auf diesem Schiff niemanden erreiche.“
„Ich war gerade noch bei dem Empfang auf dem D-Deck. Sie haben doch hoffentlich nicht lange gewartet?“
„Nein. Wie gesagt, ich hätte es sonst später noch einmal probiert. Mein Name ist Patrick Grearson“, stellte sich der Geschäftsmann vor und schüttelte Stevens die Hand. „Sie sind doch Fotograf, oder?“
„Nun ja, nicht ganz. Ich bin Reporter, da gehört das Fotografieren natürlich dazu.“
„Sie können mir vielleicht helfen. Mir ist nämlich etwas abhanden gekommen. Um genauer zu sein, fürchte ich, dass es gestohlen wurde.“ Grearson hoffte inständig, dass sein Gegenüber diese erfundene Geschichte glaubte. Schließlich war ihm untersagt worden, die Nachricht von Ismays Tod zu verbreiten. „Haben sie hier auf dem Flur, so gegen halb acht bis acht, jemanden gesehen, der sich verdächtig benommen hat?“
Stevens dachte kurz nach, dann ging ein Leuchten über sein Gesicht.
„Na, das können sie aber laut sagen! Doch gehen wir in meine Kabine. Es muss uns nicht jeder hören, außerdem habe ich mein Labor drinnen.“
Der Journalist holt einen kleinen Schlüssel aus seiner Hosentasche und schloss die Tür auf. In der Kabine war es dunkel. Stevens betätigte einen Knopf und schaltete damit das Rotlicht ein. Auf dem großen Tisch zu ihrer Linken hatte er ein kleines Fotolabor eingerichtet, dort standen Flaschen mit Entwickler, destilliertes Wasser, verschiedene Chemikalien, die Grearson überhaupt nichts sagten, zwei Fotoschalen. Zwei Scheren hatten vor kurzem noch dazu gedient, größere Fotobögen auf die nötige Größe zurechtzuschneiden. Über dem Tisch waren mehrere Leinen aufgehängt, an denen die frischen Fotos mit Klammern zum Trocknen aufgehängt waren. Während Stevens die Fotos durchsuchte, erklärte er, was es zu sehen gab.
„Jemand hat sich an der Tür zu Bruce Ismays Kabine zu schaffen gemacht. C-38, glaube ich. Ich habe sofort ein Foto gemacht. Leider ist die Person nicht ganz deutlich zu erkennen. Wo habe ich es denn bloß?“
Schließlich nahm er eines der Bilder von der Leine und reichte es Grearson. Der betrachtete die ganz leicht verschwommenen Einzelheiten, auf den ersten Blick eine einheitliche weiße Masse vor einer Kabinentür. Bei näherem Hinsehen entpuppte sich die weiße Masse als eine Person in weißer Kleidung mit weißen Haaren. Grearson zeigte sich ernüchtert.
„Das ist leider wirklich etwas undeutlich. Außerdem kniet diese Person gerade, als ob sie durch das Schlüsselloch schauen wollte. Und sie ist nur von hinten zu erkennen. Ich denke, es ist eine Frau. Stimmen sie mir da zu?“
„Es ist eine Frau. Auf dem Foto kann man es vielleicht noch an den Haaren erkennen, aber ich habe sie ja selbst gesehen.“
„Warum haben sie sie denn nicht auf ihr merkwürdiges Verhalten angesprochen?“
„Was weiß ich, ich war wohl zu aufgeregt und habe mir ja nichts Schlimmes dabei denken können. Ich war auf dem Weg zum Empfang und hatte meinen Kopf voll mit anderen Gedanken, mein Interview mit Captain Smith planen und so weiter. Wie hätten sie denn wohl in meiner Situation gehandelt?“
„Wahrscheinlich genauso. Ist ja in Ordnung, wir werden das schon regeln. Ich glaube, das ist ein Kittel, den sie da trägt. Oder eine Schürze? Sieht jedenfalls aus, als ob sie zum Personal gehört.“
„Das würde ich nicht so sehen. Sicher, es sind irgendwelche Arbeitsklamotten, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es einer der Angestellten wagen würde, auf dem Schiff herumzuspionieren“, gab Stevens zu bedenken und fuhr fort: „Ich würde doch eher vermuten, dass es sich um einen Passagier aus der dritten Klasse handelt.“
Grearson stöhnte.
„Wie hoch sind bloß die Chancen, diese Frau unter Hunderten von Menschen zu finden?“
„Sie müssen sich umhören, da führt kein Weg dran vorbei. Vielleicht haben ja auch andere Passagiere diese Person bemerkt. Bis jetzt wissen sie nur, dass es eine Frau im Kittel ist, aber das ist schon mal viel wert, nutzen sie dieses Wissen! Ich schenke ihnen das Foto.“
„Das ist sehr nett, danke. Was meinen sie, ob der Zahlmeister mir mehr sagen kann?“
„Im Notfall immer der Zahlmeister. Sie können es zumindest probieren. Viel Erfolg dabei, und wenn sie Fragen haben, kommen sie gerne wieder!“
Grearson nahm das Foto, tippte sich zum Gruß kurz an die Stirn und verließ Kabine C-23. Auf ein Neues, dachte er sich und marschierte den Flur hinunter zur Haupttreppe, um ein weiteres Mal mit dem Zahlmeister zu sprechen.
Die verschiedensten Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Selbst wenn er jetzt erfahren würde, wer diese Frau ist, was würde ihm das nützen? Dieses Foto reichte auf keinen Fall aus, um zu beweisen, dass sie Ismay ermordet hatte. Hatte sie es überhaupt getan? Was sagte dieses Foto denn eigentlich aus? Nur, dass diese Frau vor der Kabine des Präsidenten von White Star auf den Knien herumgerutscht ist. Er würde mit ihr sprechen müssen. Gedankenverloren betätigte Grearson die Klingel vor dem Zahlmeisterbüro, und ebenso gedankenverloren öffnete der Zahlmeister das kleine Holzfenster und sagte seine Standardbegrüßung, während er mit den Augen durch die Frachtliste der Titanic wanderte.
„Guten Abend, was kann ich für sie tun?“
Dann erst blickte er auf und erkannte seinen Gegenüber.
„Mr Grearson, sie sind es ja wieder. Wollen sie ihren Schmuck schon wiederhaben?“
„Nein, der ist bei ihnen gut aufgehoben“, sagte Grearson und dachte für einen Moment daran, dass die gesuchte Frau vielleicht tatsächlich eine Diebin war. „Ich habe hier ein Foto für sie. Es könnte ja sein, dass sie diese Frau heute zufällig gesehen haben.“
Grearson reichte dem Mann das Bild. Der hielt es in unterschiedlichem Winkel ins Licht und dachte scharf nach. Seine Antwort kam etwas zögernd.
„Also, ich habe heute eine Frau gesehen, die ebenfalls eine weiße Schürze trug. Eine ältere Frau, sie hat mich um Rat gefragt, ihren Namen aber nicht genannt. Diese Frau war um kurz vor halb acht hier und wollte wissen, in welcher Kabine Bruce Ismay residiert. Glauben sie etwa, dass sie etwas mit dem Mord zu tun hat?“
„Mr McElroy, nicht so laut! Hier sind überall Ohren. Sagen sie, woher wissen sie eigentlich von dem Mord?“
„Sind sie denn so zerstreut? Sie haben es mir doch selbst erzählt. Schließlich haben sie deshalb ihre Edelsteine zu mir gebracht!“
„Ach, stimmt ja. Egal. Finden sie das Foto denn nicht verdächtig? Sie hockt vor Ismays Tür und schaut durch das Schlüsselloch. Normale Menschen tun das nicht.“
„Das ist wohl richtig. Aber sie müssen diese Frau zuerst kennen lernen, um entscheiden zu können, ob sie es wirklich getan hat. Vielleicht hat sie nur geschaut, ob Ismay in seiner Kabine ist. Wenn ich die Vermutung anstellen darf – ich glaube, sie ist Passagierin der dritten Klasse. Vielleicht wollte sie nur sehen, wie die Kabine des Präsidenten aussieht.“
„Möglich ist es“, räumte Grearson ein, „aber doch sehr unwahrscheinlich. Ich werde mehr herausfinden, wenn ich mit ihr spreche. Nur, wie heißt diese Dame?“
„Ich sagte ihnen ja bereits, dass ich ihren Namen nicht kenne. Wie gesagt, sie scheint in der dritten Klasse zu reisen, ich vermute, irgendwo auf dem E-Deck. Gehen sie mal zum Liftboy. Ich bin fast überzeugt, dass er ihnen helfen wird.“
„Danke, das ist ein guter Rat.“
Grearson nickte ihm kurz zu und ging dann wieder zwischen einzelnen Paaren herumstehender Passagiere vorbei hinter die Haupttreppe, wo sich der Lift befand. Wie es der Zufall wollte, befand sich der Fahrstuhl gerade auf diesem Deck und der Liftboy, ein frecher junger Mann, ging davor auf und ab. Seine Miene änderte sich sofort, als er den Geschäftsmann auf sich zukommen sah. Zuvorkommend und mit einem Lächeln öffnete er die Fahrstuhltür und sagte:
„Schönen guten Abend. Wo darf ich sie hinbringen? Im Rauchsalon auf dem A-Deck finden Gesellschaftsspiele statt. Auf dem D-Deck können sie noch die Gesellschaft vom Empfang antreffen. Wohin?“
Grearson winkte ab.
„Danke für die Information, aber ich brauche nur eine Auskunft.“ Er zog das Foto hervor und zeigte es dem Jungen. „Kennen sie diese Frau? Vielleicht erkennen sie ihren Kittel wieder?“
Ohne einen Moment nachzudenken sagte der Liftboy gelangweilt: „Das ist Geraldine Dobbins.“
Patrick Grearson hatte nicht mit einer so spontanen Antwort gerechnet und zeigte sich erstaunt.
„Woher wissen sie das so genau?“
„Als Fahrstuhlführer gibt es nicht allzu viel geistige Arbeit zu tun, wissen sie? Da prägt man sich dann eben die Leute ein. Und sie glauben nicht, wie schnell die anfangen, zu reden. Wenn man etwas wissen will, dann sollte man nicht danach fragen, sondern die Leute einfach erzählen lassen. Dann plaudern sie mehr aus, als sie eigentlich wollen. Zumindest ist das bei den Reichen so, die wollen immer mit ihrem Geld angeben und erzählen schon mal pikante Details.“
„Und was hat ihnen Mrs Dobbins erzählt?“
Der Junge rümpfte die Nase.
„Hm, wie ich ihnen sagte: Die Reichen erzählen viel, um zu prahlen. Aber Mrs Dobbins ist nicht reich. Sie fährt dritte Klasse, so sieht sie auch aus. Und so als normaler Mensch, der für sein Leben hart arbeiten muss, da hat man andere Sorgen, als allen möglichen Menschen von sich zu erzählen. Sie schien ziemlich in Gedanken versunken zu sein, als ich sie traf. Ich habe sie gefragt, warum sie so finster dreinschaue.“
„Und was sagte sie?“
„Sie antwortete: ,Mein Junge, wenn du mal älter wirst, wirst du das wahre Leben kennen lernen, in dem nicht alles so schillernd ist wie auf diesem Schiff. Dann wirst du auch lernen, hinter die prachtvolle Fassade zu schauen, und da ist längst nicht alles so schön. Da gibt es dann Menschen wie mich. Ich habe in England alles aufgegeben und will ein neues Leben in Amerika beginnen. Aber das geht dich nichts an.“
„Hat sie gesagt, warum sie England aufgegeben hat?“
„Nein. Sie sagte nur, dass sie ein einziges Mal mit Mr Ismay sprechen wollte.“
„Warum denn das?“
In diesem Moment ließ sich ein Klingeln vernehmen, das anzeigte, dass jemand den Fahrstuhl rief. Der Liftjunge trat in den Fahrstuhl und meinte noch:
„Sie müssen sie schon selbst fragen. Ihr Name ist Geraldine Dobbins. Fragen sie beim Zahlmeister nach der Kabine.“
„Danke für die Auskunft! Übrigens, mein Name ist Patrick Grearson.“
Gönnerhaft warf Grearson dem Liftboy einen Schilling zu.
„Danke, Mister. Ich heiße Miles Hutchins und bin ihnen gerne wieder zu Diensten.“
Dann schloss sich die Lifttür. Grearson wurde es langsam unangenehm, den Zahlmeister fortwährend auf Trab zu halten. Es ließ sich aber nicht umgehen.
„Willkommen zurück, Mr Grearson. Hat ihnen der Junge weitergeholfen? Er ist manchmal ein wenig frech, aber äußerst hilfsbereit.“
„Ja, das Gespräch hat sich gelohnt. Ich brauche die Kabine von Geraldine Dobbins.“
Der Zahlmeister Michael McElroy blickte durch seine Listen und blieb dann beim entsprechenden Namen stehen.
„Kabine F-16. Sie sollten via Schottlandweg gehen, um dorthin zu gelangen.“
„Schottlandweg?“
„So heißt der lange Flur auf dem E-Deck. Sie werden es schon finden.“
„Das hoffe ich. Vielen Dank!“
Das waren gute Nachrichten für Grearson. Langsam kam er ein Stück weiter an die Lösung dieses Falles. Wer hatte die Leiche Ismays an seine Tür gestellt? Es musste doch jemand gewesen sein, der ihn kannte, der ihm einen bösen Streich spielen wollte. Er würde den Täter früher oder später ausfindig machen.

Kapitän Smith hatte sich nach der Katastrophe in Grearsons Kabine wieder auf die Schiffsbrücke begeben, um seiner Arbeit nachzugehen. Er blickte durch die großen Frontfenster über den Bug der Titanic auf das klare Meer, dann in den sternenklaren Himmel. Neben ihm stand der zweite Offizier Charles Lightoller. Smith fragte ihn:
„Haben wir noch immer freie Fahrt?“
„Ja. Fleet und Lee haben noch nichts gesehen, es gibt also keine Hindernisse.“
„Warum dann all diese Eiswarnungen“, fragte Smith mit ernster Stimme.
„Das Eis wird weggetrieben sein. Übrigens ist um 19.30 Uhr ein Funkspruch eingetroffen.“
Smith brauste auf.
„Von welchem Schiff? Und warum weiß ich nichts davon?“
„Ich weiß nicht, von welchem Schiff er stammte. Die üblichen Warnungen. Sie speisten gerade mit den Wideners, als Bride die Nachricht erhalten hat.“
„Schlamperei. Wenigstens gehen Bride und Phillips ihren Aufgaben sorgfältig nach. Ich hätte davon trotzdem früher benachrichtigt werden müssen!“
„Entschuldigen sie, Captain Smith.“
Smith blickte wieder geradeaus über das Meer, die endlose, blaue Weite in der mondlosen Nacht.
„Nun, es ist ja nichts passiert. Wenn alles glatt läuft bin ich zufrieden. Volle Kraft voraus, Lightoller!“
Majestätisch glitt die Titanic über das Meer, von unzähligen Lichtern erleuchtet, von unzähligen Schatten der Nacht umschlungen.
  
Fortsetzung folgt...

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen