Die Titanic in Southhampton
Hin und wieder finden sich in diesem Blog Teile der Fortsetzungsgeschichte um Timo und Julian, aber vielleicht möchte jemand etwas Spannenderes lesen, mal ein anderes Genre. Deswegen habe ich beschlossen, dass ich ganz tief in meine Schatzkiste greife, und einen der Romane hervorhole, die ich vor etwa dreizehn Jahren geschrieben habe. Es handelt sich um einen Krimi, der vor gut einhundert Jahren auf der Titanic spielt. Ich habe damals viel Spaß daran gehabt, das gesamte Ereignis zu recherchieren und einen möglichst wahrheitsgetreuen Rahmen zu schaffen für einen Kriminalfall an einem der etwas ungewöhnlicheren Schauplätze der Geschichte.
J.Bruce Ismay - Direktor der White Star Line
Das Buch ist bereits vollendet und ich werde hier - etwas regelmäßiger als bei Timo&Julian - die Kapitel veröffentlichen. Das bedeutet nicht, dass Letztere jetzt auf Eis liegen. Ich möchte nur das Angebot an Lektüre ein wenig erweitern und wünsche gute Unterhaltung auf einem legendenumwobenen Schiff...
Charles Lightoller - Zweiter Offizier der RMS Titanic
© 2004, 2006 Dr Hilarius
Der
Kommentar über Fakten und Fiktion findet sich im letzten Kapitel des Buches
wieder.
Vielen
Dank an Carina, die mit mir die erste spannende Titanic-Expedition unternommen
hat. Der Dank geht auch wieder an Cornelia für medizinische Details und an das
Internet für historische Fakten. Danke an Lindt für Pralinés Nougat und an den
Copy-Shop in der Olshausenstraße für den Druck. Es hat mir viel Genugtuung
verschafft, dieses Buch zu schreiben, weil es endlich mal ohne den üblichen
Humor auskommt. Das gebietet zumindest die Vergangenheit, die uns nicht immer
nur Spaß präsentiert hat.
Beteigeuze
Vorwort
„Ich
wünsche Ihnen einen guten Abend und hoffe, Sie haben einen arbeitsreichen und
ebenso die Früchte des Erfolgs tragenden Tag hinter sich gebracht. Früher, als
ich jung war, habe ich es genossen, an den Abenden, so wie heute, durch meinen
Garten zu wandern, die frische Luft einzuatmen und zu sinnieren, was wohl aus
mir geworden wäre, wenn ich mich ganz früh für ein anderes Leben entschieden
hätte. Heute hege ich diese Gedanken nicht mehr. Einzig der allabendliche Gang
durch meinen Garten bleibt mir, und mittlerweile bin ich gegen eine Kälte, wie
sie jetzt gerade herrscht, nicht mehr gewappnet. Es ist eine kalte, klare
Nacht. Sehen Sie sich nur die Sterne an, durch keine Wolke verdeckt und in
ihrem Leuchten von keinem Mond übertroffen. Damals war es ebenso kalt, eine
klirrende, mondlose Nacht so wie heute. Der einzige Gedanke, der mich heute
noch beschäftigt, ist, wie mein Leben sich verändert hätte, wenn ich in jener
Nacht damals andere Wege gegangen wäre. Oh, wie ich wünschte, dass ich die Zeit
zurückdrehen könnte, dass ich noch einmal die Chance erhielte, alles anders zu
machen. Aber so etwas gibt es nur im Märchen, oder in Filmen und Büchern. Ich
werde die Folgen der vergangenen Ereignisse auch weiterhin tragen müssen. Aber
zumindest habe ich die unschätzbar wertvolle Gelegenheit, Ihnen zu schildern,
was sich an jenem Abend auf der Titanic zugetragen hat. Ich möchte, dass Sie
mich verstehen. Und dass Sie, sofern auch Sie noch jung sind, niemals den
Fehler begehen, den ich damals begangen habe. Doch hören Sie nun eine
Geschichte, die für Sie vielleicht unglaublich klingen mag – aber was kann in
unserer modernen, technischen und von Vernunft gesteuerten Welt schon noch
unglaublich sein?
Es ist der 14.
April im Jahre 1912. Ein Sonntag, eine kalte, klare Nacht. Wie heute. Und wir
befinden uns auf der Titanic, dem größten und luxuriösesten Schiff, das die
Welt je gesehen hat…“
Sonntag, der 14. April 1912
20:20 Uhr
Zuerst
öffnete er das linke Auge, dann schloss er es wieder. Langsam und flackernd
hoben sich dann beide Augenlider, die Pupillen gewöhnten sich an das sanfte
Licht seiner Wandlampe. Patrick Grearson atmete tief durch. Dann setzte er sich
aufrecht auf sein Bett, wischte sich mit beiden Händen über die Augen und blickte
aus dem Bullauge. Wasser, so weit das Auge reicht.
Grearson
beugte sich hinunter und zog seine eleganten Schuhe wieder an, die er vor das
Bett gestellt hatte, um es nicht zu beschmutzen. Im glänzenden Leder spiegelte
sich sein Gesicht wieder. Er stand auf und trat vor den Spiegel über seinem
Waschbecken. Nun sah man es ihm nicht mehr an, dass er sich kurz vorher in sein
Bett begeben hatte, um einen Anfall von Seekrankheit auszustehen. Die Farbe war
wieder zurückgekehrt, auch die Schwindelanfälle hatten nachgelassen. Grearson
nahm einen Kamm und strich sich die Haare zurecht. Es war jetzt wichtig, dass
er sich möglichst schnell wieder arrangierte, um beim Empfang gleich keinen
übermüdeten Eindruck zu machen. Von der Lehne
des Stuhles nahm er sein schwarzes Jackett und streifte es über. Die
Manschettenknöpfe wurden noch gerichtet, der Kragen glattgestrichen und die
Falten beseitigt. Ein Blick auf die Taschenuhr kündigte den Empfang durch den
Kapitän in zwanzig Minuten an.
Grearson
ging zur Tür, schloss sie auf und öffnete. Sie ließ sich erstaunlich leicht
öffnen, wie er bemerkte. Er ging einen Schritt zurück und die Tür schwang nach
innen auf. Der Mann, der sich gegen die Tür gelehnt hatte, fiel rückwärts in
die Kabine des Geschäftsreisenden Patrick Grearson. Dieser richtete seinen
Blick auf den Körper, der ihm zu Füßen lag. Ein älterer Herr, sehr elegant
gekleidet. Nur das Messer, das in seiner Brust steckte, mochte nicht recht zu
dem Gesamteindruck passen.
Unverzüglich
betätigte Grearson den Klingelknopf neben der Tür. Es dauerte keine fünf
Minuten, als ein Steward den Gang hinunter zu Kabine C-52 gelaufen kam.
„Sie haben
geläutet, Sir? Wie ich sehe, sind sie wieder auf den Beinen. Das ist
erfreulich. Erstaunlich viele Menschen leiden an Seekrankheit. Sie sind nicht
der Einzige, machen sie sich also keine Sorgen. Wie kann ich ihnen dienen?“
fragte der Steward mit freundlicher Miene. Er war mindestens ebenso korrekt
gekleidet wie Grearson selbst, mit schwarzer Hose, weißer Weste und schwarzer
Fliege. Sein Verhalten könnte man als „gebügelt“ bezeichnen, doch war ein
pfiffiger Hinterton in seinen Worten nicht zu leugnen.
Doch für
Charakterzüge hatte Grearson jetzt keine Zeit.
„Vielleicht
sollten sie mal einen Blick in die Kabine werfen, Miller“, bellte er den Angestellten
an.
Auf diese
Einladung hin betrat Steward Miller die Kabine und stolperte dabei fast über
die Leiche, die Grearson ein wenig weiter in seine Kabine gezogen hatte. Es
sollte ja nicht jeder wissen, was sich hier zutrug…
„O mein
Gott, das ist ja grausam!“
„Kennen sie
diesen Menschen etwa?“ fragte Grearson.
Miller
musterte ihn mit einem strafenden Blick.
„Ihre
Unwissenheit scheint mir höchst amüsant, Sir, doch leider handelt es sich hier
keinesfalls um eine Komödie. Vor ihnen liegt Joseph Bruce Ismay, der Präsident
der White Star Linie. Ist er ohnmächtig?“
„Haben sie
sich ihn mal genauer angesehen? Es steckt ein Messer in seiner Brust. Ich
bezweifle ernsthaft, dass er noch lebt.“
Der Steward
schluckte heftig und stützte sich kurz auf die Kommode neben der Tür. Schnell
hatte er seine Fassung wiedergewonnen.
„Das ist
eine Tragödie! Ich werde sofort den ersten Offizier Murdoch und Captain Smith
unterrichten müssen. Warten sie am besten hier und erregen sie kein Aufsehen“,
mahnte er Grearson. „Wir wollen doch nicht, dass Panik unter den Passagieren
ausbricht!“
Hastig
eilte Miller davon. Der Teppich auf den Gang schluckte seine schnellen
Schritte, doch die Blicke der ihm entgegenkommenden Passagiere blieben
neugierig an ihm haften.
Grearson
hatte inzwischen wieder die Tür seiner Kabine geschlossen und blickte
angewidert auf die Leiche auf dem Fußboden. Dies kann kein gutes Omen für eine
Jungfernfahrt sein, wenn der Präsident der Schifffahrtsgesellschaft ermordet
wird, dachte er und trocknete sich die Schweißperlen von der Stirn.
Ein Hauch
von Dekadenz füllte den Saal des D-Decks, der für den Empfang der ersten Klasse
bereitgehalten wurde. Eine illustre Gesellschaft hatte sich eingefunden, um in
einer ruhigen Atmosphäre miteinander zu plaudern, wichtige Dinge zu besprechen
oder über das neueste Nichts zu tratschen. Champagner und Sekt wurden gereicht,
viele der Passagiere hatten sich in Ungeduld auf den Korbsesseln an den Tischen
niedergelassen und warteten auf die Ansprache des Kapitäns.
Lange
sollte es nicht dauern, dass Captain Smith sich zu der Menschenmenge gesellte
und zunächst einige Worte an Einzelne richtete, die unmöglich wiederzugeben
sind. Ein Stimmengewirr erhob sich nämlich in diesem Moment, alle erhoben sich
von ihren Plätzen und blickten sich erwartungsvoll um. Man könnte diesen
Anblick wohl mit einer Straußenherde vergleichen, in der einige ihre Köpfe
recken und sich umblicken, was gerade Wichtiges geschehen ist.
Smith trat
zum Fuß der großen Treppe und stieg zwei Stufen hinauf, damit er die Gruppe
überblicken konnte und gleichzeitig für alle gut sichtbar war. Niemand soll
sagen dürfen, dass EJ Smith nicht um seine Reisegäste besorgt gewesen wäre. Da
sich sein Haupt über der Masse erhob, waren ihm nun die Blicke aller Anwesenden
sicher. Darauf hatte er sich vorbereitet, trug seine elegante Kapitänskleidung,
mit einem kleinen Steuerrad aus Gold sowie einem Emblem der White Star Linie
als Anstecker an seiner Brusttasche. Die Rangabzeichen auf den Schultern hatte
er noch kurz zuvor höchstpersönlich vom Staub der letzten Tage gesäubert.
„Meine sehr
verehrten Reisegäste!“ erhob er seine kräftige Stimme und setzte eine
strahlende Miene auf. Es gab keinen Zweifel daran, dass der Mann stolz war, ein
Schiff wie die Titanic führen zu dürfen. Seine markanten Gesichtszüge ließen
dabei gar nicht erst die Vermutung aufkommen, dass ihm diese Ehre zu Kopfe
steigen könnte. Er wusste genau, welche Verantwortung man ihm in die Hände
gelegt hatte, und er strahlte eine Zuversicht aus, die alle Anwesenden
beruhigte.
„Etwas
ungewöhnlich ist es schon, erst jetzt, am fünften Tag unserer Reise nach New
York, die erste Klasse am Empfang willkommen zu heißen. Leider ließ es sich
nicht früher organisieren. Ein Schiff dieser Größe verlangt ungeheure Planung
und einen gewaltigen Überblick, der mir zugestanden wurde. Ich hoffe, diese
Erwartungen zur Zufriedenheit erfüllen zu können.“
In der
Pause, die er gekonnt folgen ließ, ließ sich die Gruppe der Zuhörenden zu einem
kleinen Beifall hinreißen.
„Lassen sie
sich sagen, dass wir bereits 1500 Meilen zurückgelegt haben – wir fliegen
geradezu über das Wasser. Die Titanic ist ein Wunderwerk ihrer Zeit. Und wo ich
gerade von der Zeit spreche – Es ist jetzt zwanzig Minuten nach acht. Sie sind
sich sicherlich alle bewusst, dass wir durch den Nordatlantik reisen und es
mittlerweile sehr kalt draußen ist. Wir empfehlen deshalb, nicht auf den
Promenaden zu flanieren, sondern von den vielen Angeboten an Deck Gebrauch zu
machen. Sie sollten auf jeden Fall einmal das türkische Bad besucht haben. Im
Rauchsalon finden Gesellschaftsspiele statt, und wie sie hoffentlich bereits
festgestellt haben, warten unsere Angestellten im Café Parisian nur darauf, sie
nach Herzenslust zu verwöhnen. Ich wünsche ihnen noch eine angenehme
Schiffsreise mit der Titanic und verbeuge mich erneut vor dem Meisterwerk, das
hier geschaffen wurde!“
Erneut
wurden dem Kapitän anerkennende Gesten der Gäste zuteil. Dann verließ Smith
seine Rednerposition und trat in die Menge, um seine Unterhaltungen
fortzusetzen. Einen Moment hatte er noch Zeit, bevor er sich wieder seinen
Aufgaben zuwenden musste, die er, wie er im Geheimen dachte, schon durch das
Abendessen mit dem Ehepaar Widener und seinen Besuch auf dem Empfang viel zu
sehr vernachlässigt hatte.
Ein Mann
mit Notizblock und einer Kamera um den Hals, offensichtlich ein Reporter,
wollte auf direktem Weg zum Kapitän gehen, doch wurde ihm der Weg von einer
gutaussehenden, jungen Dame abgeschnitten, die ihm rückwärts entgegenging, da
sie sich gerade von jemandem verabschiedete. Trotz des Versuchs, noch im
letzten Moment auszuweichen, stießen die beiden zusammen, wobei die junge Frau
ein wenig ihres Sektes verschüttete. Schwungvoll drehte sie sich um und blickte
ihrem Gegenüber ins Gesicht.
„Entschuldigen
Sie bitte“, murmelte dieser peinlich berührt. „Ich wollte sie nicht anrempeln,
aber sie kamen so schnell auf mich zu…“
Die junge
Frau nahm ihm das Wort aus dem Mund.
„Aber sie
brauchen sich doch nicht zu entschuldigen. Es war mein Fehler, wie kann ich
mich nur mit einem Sektglas in der Hand rückwärts durch einen Raum voller Leute
bewegen? Das war sehr leichtsinnig von mir.“ Dabei blickte sie zunächst
verschämt nach unten und den Reporter dann mit einem unschuldigen
Augenaufschlag an.
Dieser
musterte sie mit einem kritischen Blick. Sie konnte nicht älter als dreißig
sein, dachte er. Sie war nicht besonders auffällig gekleidet und hob sich
allein dadurch von der höheren Gesellschaft, mit der sie gerade verkehrte, ab.
Aber nicht nur die Kleidung zog seine Blicke an. Sie hatte eine wunderschön
ebene, kaffeebraune Haut.
„Sagen sie,
wo kommen sie eigentlich her? Sie sehen mir nicht sehr europäisch aus“, fragte
er und trat sich in Gedanken im nächsten Moment selbst auf den Fuß ob dieser
unverblümten Anrede. Glücklicherweise sah er die Frau lächeln.
Sie
antwortete: „Sie haben das ganz richtig beobachtet. Schade eigentlich“, seufzte
sie und betrachtete den Reporter von oben nach unten, „dass ich demnach wohl
nicht ihrem Idealbild entspreche, aber es lässt sich wohl nicht ändern.“
Zufrieden sah sie den Reporter erröten. „Ich komme aus Afrika und mache eine
journalistische Weltreise.“
„Ich wollte
sie nicht beleidigen“, stammelte der andere. „Aber es schien mir so unwirklich,
in diesem Schiff, aus England, eine Farbige anzutreffen. Aber, wenn sie Journalistin
sind, dann kann ich sie ja beinahe als Kollegin betrachten! Mein Name ist Henry
Stevens, ich komme aus Southampton und habe von meiner Zeitung den Auftrag
bekommen, die Jungfernfahrt dieses Luxusdampfers zu dokumentieren.“
Stevens gab
ihr die Hand.
„Sehr
angenehm, Mr Stevens. Mein Name ist Susan Lockett. Sie sprechen von Luxus… das
muss es wohl sein. Die Kabinen sind wirklich die Spitze exquisiten Geschmacks
und – ach, die gesamte Ausstattung ist wunderbar.“
„Ja, White
Star hat sich mit diesem Schiff wirklich etwas ganz Besonderes geleistet.
Kommen sie doch, setzen wir uns. Es ist unbequem, hier so lange zu stehen. Und
ich wäre froh, wenn ich mein Sektglas abstellen könnte.“
Stevens
blickte sich kurz um und führte Ms Lockett zu einem der Tische in den hinteren
Ecken, nahe einer der Türen zu den Kabinen des D-Decks. Beide setzten sich. Ms
Lockett beugte sich interessiert über den Tisch.
„Was mich
wirklich interessiert, vielleicht wissen sie es ja: Wie viele Menschen sind
eigentlich an Bord? Das Schiff ist so riesig, da kann man ja nicht einmal
schätzen.“
„Ich kann
es ihnen noch nicht genau sagen. Laut meinen Angaben sollten es um die
zweitausend Passagiere sein. Gewaltig, nicht wahr?“
„Oh ja.“
„Es sind
sogar die hohen Persönlichkeiten an Bord, warten sie mal“, sagte Stevens und
blätterte einige Seiten in seinem Notizblock zurück. Dann tippte er mit einem
Kugelschreiber auf die entsprechenden Einträge.
„Bruce
Ismay, der Präsident der White Star Linie fährt mit, das Ehepaar Widener und
die Astors! Ursprünglich wollte der Gründer der IMM, John Pierpont Morgan, auch
mitkommen, aber er hatte es terminlich nicht geschafft.“
„IMM?“
fragte Ms Lockett ihn verwirrt.
„Das ist
die International Mercantile Marine Company, aber ich sollte sie nicht mit
solchen Details nerven. Die IMM hat White Star aufgekauft.“
„Wie dem
auch sei, es sind also viele hohe Leute hier an Bord.“
„Das können
sie aber laut sagen. So muss es aber auch sein, denn die Kabinen der ersten
Klasse müssen schließlich auch besetzt werden. Die Unmengen, die dieses Schiff
gekostet hat und auch in der Unterhaltung verschlingt, wollen wieder verdient
sein!“ Stevens warf einen Blick in die Gesellschaft. „Sehen sie, ich muss jetzt
weiter, vielleicht hat Kapitän Smith etwas Zeit, um mir ein paar Auskünfte zu
geben. Ich würde mich gerne wieder mit ihnen unterhalten, so von Reporter zu
Reporter.“
Ms Lockett
lehnte sich zurück und blickte den Reporter an.
„Ich fühle
mich, wenn ich ehrlich bin, ein wenig überrumpelt. Ich habe sie hier noch gar
nicht gesehen.“
„Meine
Kabine ist auf dem C-Deck, Nummer 23.“
„Na, dann
ist es ja kein Wunder. Meine Kabine ist A-12.“
„Toll, sie
sind auf dem A-Deck untergebracht? Dann befinden sie sich ja mitten in der High
Society!“ In seiner Stimme ließ sich Bewunderung vernehmen, doch die junge Frau
winkte ab.
„Das kann
auch seine Schattenseiten haben.“ Dann zeigte sie auf zwei ältliche Damen, die
sich unweit von ihnen aufhielten und hin und wieder ein kreischendes Lachen vor
Entzücken vernehmen ließen. „Sehen sie diese aufgetakelte Frau dort? Sie nervt
ganz unerhört. Sie hält sich wegen ihres Titels für etwas Besseres. Das lässt
sie auch alle Mitreisenden spüren. Sie und die Myers-Jones, die laufen immer
zusammen auf dem Deck herum und suchen Gründe, um herumzumäkeln. Wenn die
nichts mehr zu klagen hätten, würden sie wahrscheinlich eingehen. Denen sollten
sie besser nicht unter die Augen treten.“
Stevens
lächelte verschmitzt.
„Dann will
ich mal versuchen, eine Begegnung der überkandidelten Art zu vermeiden. Ich
möchte sie jetzt nicht weiter unter Druck setzen. Wie wäre es, wenn sie mich
um“, er blickte auf seine Armbanduhr, „sagen wir, halb zehn auf dem Squashplatz
treffen?“
„Halb zehn
passt mir ganz gut. Aber wo ist hier ein Squashplatz? Ich habe noch nie Squash
gespielt, ich wusste gar nicht, dass es auch dafür hier eine Einrichtung gibt.“
„Der ist
ganz einfach zu finden. Hier links, die Tür ganz nahe bei uns, führt zu den
Kabinen des D-Decks. Gehen sie durch diese Tür und den Korridor hinunter. Dann
gehen sie nach links in den abzweigenden Gang und in die erste Tür rechts. Von
da an müssen sie nur noch dem Gang folgen. Es geht ein paar Treppen hinunter,
aber das finden sie schon.“
„Das hoffe
ich doch. Jetzt muss ich aber erst einmal versuchen, an dieser unsäglichen Ms
Dumonde vorbeizukommen.“
„Viel
Glück“, wünschte der Reporter ihr augenzwinkernd.
„Das werde
ich brauchen. Und sie sagen mir nachher, wie das Treffen mit Captain Smith
war!“ rief Ms Lockett im Davongehen.
„Miss
Lockett! Wie schön, sie hier zu sehen!“ rief eine schrille Stimme. Die
Angesprochene zuckte zusammen und drehte sich langsam, in böser Vorahnung um.
Es war ihr nicht gelungen, unbemerkt an Mrs Dumonde vorbeizuschleichen. Sie
lächelte verlegen und ging auf die beiden älteren Damen zu. Mrs Dumonde wandte
sich an ihre Gesprächspartnerin und zeigte dabei wohlwollend auf Ms Lockett.
„Schau,
Eudora, dies ist das Mädchen aus dem Nachbarzimmer, Miss Lockett. Dies ist
Eudora Myers-Jones, eine wunderbare Frau. Wir haben so viel gemeinsam!“
Ms Lockett
betrachtete das Pärchen. Sie passten zusammen. Beide waren ungefähr fünfzig
Jahre alt und trugen sehr altmodische Kleider, mit Nerzschals und geradezu
unglaublichen Federkronen auf dem Haupt. Guter Geschmack war eine Sache, die
Arroganz des Reichtums eine andere. Mrs Lockett rümpfte die Nase.
„Das glaube
ich ihnen, Ms Dumonde“, sagte sie grimmig.
„Mrs
Dumonde“, wiederholte die aufgetakelte Lady mit Nachdruck. „Das habe ich ihnen
doch schon erklärt!“
Nun meldete
sich auch Mrs Myers-Jones zu Wort: „Letty, sie haben mir gar nicht von ihrem
Mann erzählt!“
„Ist auch
nicht der Erwähnung wert. Sonst würde ich sehr großen Wert darauf legen, dass
ich hier mit Lady Dumonde angeredet werde.“
„Sie haben
einen Lord geheiratet? Das ist ja wunderbar!“
Mrs
Myers-Jones blickte Lady Dumonde ehrfurchtsvoll an, während Susan Lockett
genervt die Arme verschränkte und ungeduldig mit dem Fuß wippte.
„Tja, so
muss sich halt jeder mit seinesgleichen abgeben.“
„Sind sie
etwa neidisch auf Letitia?“
„Das könnte
schon sein. Eudora, meine Liebe, sie wissen doch, dass nicht jeder viel mit
Stil auf sich hält. Ach, aber ich schweife ab. Miss Lockett, ich habe sie heute
den ganzen Tag noch nicht gesehen. Dabei residiere ich im Zimmer neben ihnen.
Wie ist das möglich?“
„Haben sie
mir etwa nachspioniert?“ Ms Lockett stemmte empört die Arme in die Hüften. Dann
wandte sie sich an die Myers-Jones. „Mrs Dumonde hat die schreckliche
Angewohnheit, zu spionieren. Und wenn sie dabei mal entdeckt wird, dann deckt
sie ihren Gegenüber derart in einen Redeschwall ein, dass ihnen Hören und Sehen
vergeht.“
Mrs
Myers-Jones´ Reaktion darauf war wohl nicht ganz die erwartete. Sie klatschte
begeistert in die Hände.
„Das ist ja
ganz vorzüglich, meine Beste! Neuigkeiten austauschen, nur so wird die Welt am
Leben erhalten.“
„Sie meinen
wohl: Klatsch und Tratsch.“
„Natürlich,
sie können so etwas ja nicht kennen“, mischte sich Mrs Dumonde beleidigt ein.
„Sie schlagen sich andauernd mit irgendwelchen Männern herum, da haben sie
bestimmt keine Zeit für irgendwelche tieferen Gespräche. In den letzten Tagen
ist Miss Lockett erstaunlich oft in der Nähe von Bruce Ismay gewesen. Dass der
so einen Pöbel überhaupt an sich heran lässt, ist schon ein Wunder. Aber was
will sie nur von ihm?“
„Wie können
sie es wagen, von mir in der dritten Person zu sprechen, während ich direkt
neben ihnen stehe? Und überhaupt, sie nennen mich Pöbel? Nur weil sie auf ihrer
hohen Wolke der Eleganz und des stinkenden Reichtums auf mich herablachen? Das
muss ich mir doch nicht gefallen lassen. Ich wünsche ihnen noch einen schönen Abend!“
Wutschnaubend
ging Ms Lockett davon. Wieder einmal war es der Lady gelungen, sie zur Weißglut
zu treiben. Mrs Myers-Jones winkte ihr hinterher.
„Den werden
wir haben. Was meinen sie, Letitia, sollen wir noch einmal ins Café Parisian
gehen?“
Und sie flanierten
in Richtung der Treppe. Die Stimmen wurden wieder lauter, man konnte nur wenig
verstehen. So weiß wohl niemand genau, was Offizier Murdoch Captain Smith
zuflüsterte, nachdem er ihn zur Seite genommen hatte. Einzig der bleiche
Gesichtsausdruck des Kapitäns war zu erkennen. Gleich darauf gingen beide
hastig über die Haupttreppe nach oben.
Ein Mann
mittleren Alters kam ihnen entgegen und setzte seinen Weg zum Empfang fort. Er
sah ein wenig zerstreut aus und nestelte ununterbrochen an einem Knopf seines
Jacketts herum, während er durch die Menschenmenge ging. Plötzlich spürte er,
wie ihm jemand auf die Schulter tippte. Ruckartig drehte er sich um und
entdeckte ein junges Mädchen, etwa zwanzig Jahre alt, das ihn liebenswürdig
anblickte.
„Entschuldigen
sie, können sie mir sagen, wie spät es ist?“ fragte sie schüchtern.
„Aber
sicher.“ Der Zerstreute warf einen Blick auf seine Taschenuhr. „Es hat gleich
halb neun.“
„Vielen
Dank. Sie sprechen mit einem interessanten Akzent. Sie kommen nicht aus
England, nein?“
„Nein. Ich
bin aus Deutschland, genauer gesagt aus München. Das ist in Süddeutschland.“
„Aber warum
sind sie auf dem Weg nach New York?“
„Wissen
sie, ich bin Atomphysiker, ich habe mich der Wissenschaft verschrieben. Das mag
ihnen nicht allzu viel sagen, jedenfalls bin ich auf dem Weg zu Kollegen in
Washington.“ Er blickte sich um und fuhr dann geheimnisvoll fort: „Es geht um
bedeutende Entdeckungen.“
„Das hört
sich ziemlich wichtig an“, meinte die junge Frau interessiert und seufzte. „Ich
muss nach New York, um dort meinen Verlobten zu treffen.“
„Ich kann
nicht behaupten, Begeisterung auf ihrem Gesicht zu entdecken. Erzählen sie, was
ist es, das sie bedrückt?“
„Sie müssen
wissen, dass meine Mutter auch hier an Bord ist. Es war ihre Idee, nach New
York zu reisen. Sie hat einen Mann für mich ausgewählt, sie hat mir meinen
Verlobten geradezu aufgezwungen. Dabei gehört mein Herz einem Anderen, den ich
jetzt verlassen muss“, klagte sie.
„Ach, die
junge Liebe. Und sie haben ihre Mutter nicht von dem anderen Mann überzeugen
können? Warum sollte es denn unbedingt jener sein, den ihre Mutter ausgewählt
hat?“
„Das weiß
ich auch nicht. Meine Mutter ist sehr stur. Und sehr streng, sie lässt keinen
Zweifel an ihren Entscheidungen zu.“
„Vielleicht
habe ich ihre Mutter ja schon kennen gelernt?“
„Meine
Güte, wenn Mutter mir eines beigebracht hat, dann doch die Manieren! Ich merke
den Wink, wenn er mich erschlägt. Wir haben uns noch gar nicht vorgestellt, ich
entschuldige mich für meine Unachtsamkeit. Mein Name ist Claris Hilton. Wir
sind aus Dublin.“
„Ich heiße
Harald Müller. Sehr erfreut, sie kennenzulernen“, grüßte der Physiker und
küsste Ms Hilton die Hand. „Wenn sie aus Irland kommen, dass müssen sie ja in
Queenstown zugestiegen sein, nicht wahr?“
„Das ist
richtig. Ich bin seit dreieinhalb Tagen auf See.“
„Nun, dafür
sehen sie recht gesund aus“, sagte Müller und lachte. „Ich habe schon mehrere
Passagiere mit recht bleichen Gesichtern in ihren Kabinen verschwinden gesehen.
Sie wissen schon, die Seekrankheit.“
„In welcher
Kabine kann man sie denn finden?“
„Ich? Ich
bin in B-27.“
„Ach, dann
kennen sie sicher unseren Anwalt aus B-9, Carl Stansfield?“
„Vielleicht
können sie ihn beschreiben?“
„Wenn sie
ihn sehen, werden sie ihn sofort erkennen. Er sieht wirklich nach Anwalt aus.
Er will seine Kanzlei nach New York verlegen, in die große Stadt, Welt der
unendlichen Möglichkeiten. Meiner Mutter kommt das natürlich sehr gelegen.
Sollte ich meinen Verlobten, den ich ja so sehr liebe“, sagte Claris Hilton mit
sarkastischem Unterton, „heiraten, dann werden wir in New York bleiben, und
dann bietet es sich ja an, den Anwalt gleich zu behalten.“
„Das ist
schon verständlich, zumindest aus der Sicht ihrer Mutter. Ich bin sicher, dass
sie nur das Beste für sie will.“
„Das Beste…
genau das hat sie auch gesagt. Woher will sie denn wissen, was das Beste für
mich ist? Sie bezieht mich in ihre Überlegungen überhaupt nicht ein, ich bin
nur das fünfte Rad am Wagen.“
„So dürfen
sie nicht denken.“ Dann legte Müller eine kleine Kunstpause ein. „Seien sie mal
froh, dass es bei ihren Angelegenheiten nur um, entschuldigen sie bitte den
Ausdruck, persönliche Interessen geht. Man will mich zur Rechenschaft ziehen,
weil ich nicht ganz nach den Wünschen meiner Auftraggeber, meiner Sponsoren
gehandelt habe. Man will mir mein Projekt entziehen, an dessen wunschgemäßer, wenn
auch nicht korrekter Durchführung mein Gewissen mich gehindert hat. Aber das
können diese Kretins ja nicht verstehen“, knurrte Müller und blickte grimmig.
„Das ist
wirklich nicht sehr schön. Ich drücke ihnen die Daumen, dass sich alles noch
zum Guten für sie wendet.“ Dann blickte Ms Hilton sich um. „Sagen sie, ich
wollte eigentlich ein Mal nur mit Captain Smith sprechen. Eben war er doch noch
hier. Wissen sie, wo er hingegangen ist?“
„Da kann ich
ihnen leider nicht helfen. Er ist mir eben auf der Treppe entgegengekommen, er
muss also irgendwo über uns sein. Aber wenn sie blind herumsuchen, finden sie
ihn eh nicht. Da müssen sie mal die anderen Gäste hier fragen.“ Und der Rest
des Gesprächs ging in belanglosen Kleinigkeiten unter.
Steward Miller
Mittlerweile
herrschte in Kabine C-52 eine recht gespannte Atmosphäre. Patrick Grearson, der
sich inzwischen wieder vom Schock erholt hatte, zeigte dem Kapitän die Leiche,
die ihm auf so unkonventionelle Methode zugeschoben worden war.
Smith holte
ein Taschentuch aus seiner Jacketttasche und wischte sich über die Stirn,
während Offizier Murdoch und der Steward Miller ziemlich ratlos in der Kabine
standen.
„Das ist
ein Skandal“, rief Smith erregt. „Der Präsident von White Star – ermordet! Wir
müssen herausfinden, wer das getan hat. Aber ich muss sie gleich dazu ermahnen,
die Sache geheim zu halten, damit keine Panik ausbricht. Diese Angelegenheit
bleibt unter uns. Hier auf See können wir sowieso nichts tun.“
Grearson
schüttelte entnervt den Kopf.
„Wir
könnten diesen Fall aufklären. Warum sollte wohl jemand die Leiche an meine
Zimmertür lehnen? Ich fühle mich dadurch angegriffen. Wenn das ein Scherz sein
sollte, um mich zu erschrecken, dann ist er geglückt. Aber warum passiert mir
das? Ich kenne doch hier auf dem Schiff niemanden!“
„Ziemlich
makaber. Wer sind sie überhaupt?“
„Patrick
Grearson. Geschäftsmann auf dem Weg nach New York.“
„Ich bin
Captain EJ Smith. Jetzt ist es aber genug der Freundlichkeiten, ich muss mich
um die Brücke kümmern. Es ist ein Skandal! Murdoch, sie gehen wieder auf das
Bootsdeck. Miller, sie kümmern sich bitte wieder um die Passagiere.“
Offizier
Murdoch nickte und verließ die Kabine, während Miller noch einen Moment
wartete.
Smith
betrachtete noch einmal den Leichnam und ließ dann beiläufig seinen Blick durch
die Kabine wandern. Sein Augenmerk wurde von einem Schmuckkästchen angezogen,
das auf dem kleinen Beistelltisch vor dem Sofa stand. Es war ein Kästchen aus
dunklem Holz, mit einem Glasdeckel, durch den man die Einlagen auf dem roten
Samt betrachten konnte. In dem Kästchen lagen drei Saphire, in einer geraden
Linie angeordnet. Rechts davon lagen zwei Diamanten, links ein weiterer
Diamant. Wenn sich auch kein Muster erkennen ließ, so schien es doch, als wären
die Steine absichtlich so angeordnet worden, als ergäben sie eine Figur.
Smith, der
komplett in diesen Gedanken versunken war, schreckte hoch und bemühte sich um
einen wachen Tonfall.
„Sie
sollten ihre Wertsachen nicht einfach so herumliegen lassen. Gerade jetzt
nicht, da hier an Bord ein Mörder umherschleicht. Bringen sie die besser zum
Zahlmeister an der Haupttreppe. Einen angenehmen Abend noch!“
Damit nahm
Smith seine Mütze, die er auf dem Tisch deponiert hatte, wieder an sich und
machte sich auf den Weg zur Brücke.
„Schöner
Abend… besser das, was davon noch übrig ist. Meinen sie, jemand will mir Angst
einjagen?“ fragte Grearson den Steward.
Miller
räusperte sich kurz und antwortete in leicht ironischem Tonfall: „Indem er den
Chef der White Star Linie ermordet und vor ihre Tür stellt? Das glaube ich
nicht.“ Dann warf er einen weiteren Blick auf den Leichnam, um kurz darauf
fortzufahren: „Nein, ich denke schon, dass das Attentat Mr Ismay gegolten hat.
Aber warum nur?“
„Wenn ich
das wüsste. Ich werde versuchen, den Täter zu finden.“
„Sie
belieben, zu scherzen. Ihnen ist doch bewusst, dass sie sich hier auf einem
Schiff mit zweitausend Menschen an Bord befinden. Sie dürften eher die Nadel im
Heuhaufen finden.“
„Nun,
irgendwo muss ich ja anfangen. Am besten hier auf dem Deck. Es kann doch nicht
unbemerkt geblieben sein, dass ein Toter an einer Kabinentür lehnt. Es gibt
hier einen Fotografen, glaube ich. Jedenfalls ist hier ein Mann immer mit einer
Kamera umhergegangen. Er heißt Stevens, aber ich kenne seine Kabine nicht. Sie
muss auf dem anderen Gang liegen, bei den ungeraden Nummern. Wenn hier einer
etwas gesehen hat, dann er.“
„Wenn sie
ihren Schmuck abgeben, können sie den Zahlmeister gleich nach der Kabinennummer
fragen. Er wird sie ihnen sicher mitteilen. Ich werde jetzt gehen und mit den
Männern von der Aufsicht sprechen, damit man den Leichnam aus ihrer Kabine
entfernt. Außerdem habe ich mich auch um die anderen Passagiere zu kümmern.
Wenn sie mich also entschuldigen.“
„Natürlich.
Danke, Miller.“
„Stets zu
ihren Diensten.“
Nachdem der
Steward die Tür unhörbar hinter sich geschlossen hatte, ging Grearson zu seinem
Überseekoffer und entnahm ihm eine große Aktenmappe. Er öffnete sie und setzte
sich mit den Unterlagen an den Tisch. Die Geschäftspapiere legte er beiseite
und nahm sich einen Schreibblock mit Füllfederhalter zur Hand. Dann dachte er
nach.
Wenn dieses
Attentat eine Drohung gegen ihn war, war auch er selbst noch immer in Gefahr.
Und wie Smith es gesagt hatte – hier auf dem Schiff konnte man nichts tun. Er
war gefangen auf diesem Schiff und ein Mörder hatte freien Ausgang. Doch dann
beruhigte Grearson sich wieder von diesem Anfall der Beklemmung. Miller wird
schon Recht behalten. Das Attentat galt Ismay, und nun, da er gestorben war, bestand
keine Gefahr mehr. Die Reise würde ihren gewohnten Gang gehen.
David
Morrison blickte kritisch an sich herab. Hatte er sich dem Anlass entsprechend
gekleidet? Vielleicht würde es den höheren Damen und Herren ein wenig zu leger
erscheinen. Er trug ein weißes Hemd, darüber eine Lederweste, passend zu einer
Cordhose und braunen Wildlederschuhen. Zusammen mit der Charakteristik seines
Gesichts, die dem 38jährigen einen verschmitzten Zug einbrannte, machte das
gesamte Bild doch einen verwegenen Eindruck. Die Atmosphäre eines Spielers
umgab ihn, aber war es nicht genau das, was er erreichen wollte? Ein Spieler,
jederzeit bereit, alles zu riskieren, um den großen Gewinn einzustreichen. Und
schließlich war er nicht der einzige Mensch, der auf den Gewinn hoffte.
Lange hatte
er den Traum von Amerika geträumt. Viel zu lange hatte er gezögert, nun sollte
er endlich wahr werden. Warum sollte es einem freien Geist wie ihm versagt sein,
in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten zu reisen, um dort das große Glück
zu suchen? Aus der Westentasche holte er einen Würfel. Er war aus dunkelgrünem
Material, das perlmuttern glänzte. Morrison war nicht abergläubisch, aber
dieser Würfel war sein Glücksbringer. Das Einzige, was ihn an seine
Vergangenheit erinnerte, und seiner festen Überzeugung nach auch das Einzige,
was ihn bis hier gebracht hatte. Er blickte den Würfel eingehend an und schloss
seine Hand darum. Dann öffnete er die Tür zum Rauchsalon der ersten Klasse.
Der Salon
hatte die Form eines eckigen Hufeisens, an dessen einer Spitze Morrison
hereingekommen war. Es war gemütlich warm hier drin, im Kamin am Kopfende
flackerte ein Feuer, welches sehr zu der behaglichen Stimmung beitrug. Sehr
viele Passagiere hielten sich hier auf, es waren fast alle Tische besetzt. Auf
halber Raumhöhe begann der blaue Dunst der Zigarren und Zigaretten einen
halbseidenen Schleier zu bilden, der die Szenerie sehr unwirklich erscheinen
ließ. Allein die Stimmen, die in einem wilden Gewirr um Vorrecht kämpften,
hielten die Wirklichkeit mit aller Macht fest.
Langsam
spazierte Morrison den Gang hinunter und betrat das Kernstück des Saales. Er
betrachtete ein Gemälde, das über dem Kamin hing. Es zeigte eine Aufnahme des
Hafens von Plymouth.
„Sie haben
verloren. Es tut mir leid. Wollen sie noch einmal?“
Erstaunlich
klar hatte Morrison diese Stimme gehört und blickte sich um, woher sie gekommen
sein mochte. Sein Blick fiel auf einen der Tische, an dem ein äußerst elegant
gekleideter Herr einen Stapel Karten in der Hand mischte, während sein
Gegenüber enttäuscht aufstand, um davonzugehen.
„Nein
danke. Für heute habe ich genug.“
Zielstrebig
ging David Morrison zu dem Tisch, an dem der andere Herr unermüdlich seine
Karten mischte. Er setzte sich.
„Guten
Abend“, sagte er.
„Ah,
willkommen, Jacques Cartier begrüßt sie am Spieltisch. Wie heißen sie?“ Der
Kartenspieler sprach mit einem sehr starken französischen Akzent.
„Morrison.
David Morrison. Den Typen eben haben sie aber ganz schön abgezockt. Mit mir
werden sie das nicht schaffen. Was spielen sie?“
„Black Jack.“
In den Augen blitzte das Feuer der Spielleidenschaft. „Und sie wollen gegen
mich antreten? Sagen sie, habe ich sie nicht schon irgendwo gesehen? War es in
Paris?“
„Das kann
eigentlich nicht sein“, antwortete Morrison freundlich. Nur zu gut kannte er diese
Masche der Spieler, hatte er selbst sie doch oft genug angewandt. Ich bin kein
Anfänger, ich werde wachsam sein wie ein Fuchs, dachte er, verzog dabei aber
keine Miene. „Ich komme aus London und war noch nie in Paris.“
„Nun gut,
das soll uns die Laune nicht verderben. Wie wäre es mit einem Spiel?“
„Meine
Karten.“
Cartier
mischte die Karten ein letztes Mal und legte dann eine Karte offen und eine
verdeckt vor Morrison auf den Tisch. Beide Spieler konnten eine Herz Zwei
sehen. Morrison nahm die Karten auf und warf so einen Blick auf seine verdeckte
Karte. Eine Pik Neun. Cartier legte sich selbst die Karten. Karo Fünf. Eine
verdeckt. Ohne mit der Wimper zu zucken bat Morrison um eine weitere Karte.
Doch der
Franzose zögerte.
„Sie sind
ein Spieler. Das ist nicht zu übersehen. Und wenn sie aus Leidenschaft spielen,
dann machen sie das nicht ohne Einsatz, nicht wahr? Ich möchte die Spannung
erhöhen. Ich sehe, sie haben da einen sehr schönen Ring. Ihr Ring gegen diese
Kette, was meinen sie?“
Und er
legte eine Halskette auf den Tisch, die sehr wertvoll aussah. Morrison wusste
aber, dass die Kette seinen Ring an Wert kaum übersteigen würde. Dennoch war
ihm diese Herausforderung entgegengebracht worden, die er nicht ablehnen
konnte.
„Einverstanden.“
Und er
entfernte den Ring vom kleinen Finger seiner rechten Hand und legte ihn zu der
Halskette.
Cartier
reichte ihm eine weitere Karte. Herz Drei. Zusammen vierzehn Punkte. Mit einer
sieben hätte er so gut wie gewonnen, und einen Black Jack schaffte sein Gegenüber
auf keinen Fall mehr. Er bat um eine weitere Karte. Herz Sechs. Zwanzig Punkte.
Er musste aufhören, jede weitere Karte wäre sein Ruin gewesen.
„Es
reicht.“
Cartier
schmunzelte und nahm sich selbst eine Karte. Dann eine weitere. Und noch eine.
Fünf Karten, wie viele konnte er noch halten? Dann drehte er genüsslich eine
nach der anderen um.
Die Karo
fünf lag bereits offen. Eine Karo Zwei. Ein Pik As. Eine Pik zwei. Das waren zwanzig
Punkte.
„Sehen sie,
mein Freund. Ich habe zwanzig Punkte. Ich mache ihnen ein Angebot: Sie steigen
jetzt aus und die Runde ist beendet. Ohne Gewinne oder Verluste.“
„Wie
bitte?“ Morrison traute seinen Ohren nicht. Was war denn das für ein Angebot?
Hatte Cartier etwa ein so gutes Blatt? Dann schüttelte Morrison entschlossen
den Kopf. Er durfte nicht als Feigling aus diesem Spiel hervorgehen. Außerdem
versteht sich ein guter Spieler aufs Bluffen.
Langsam
wendete Cartier seine letzte Karte. Pik Zehn.
Morrison
grinste. Cartier hatte zu hoch gepokert. Mehr als einundzwanzig Punkte und man hatte
verloren. Das Grinsen erstarb jedoch sehr schnell, als Cartier auf das As
tippte und ihn dadurch milde daran erinnerte, dass das As entweder elf Punkte
oder einen Punkt zählen konnte, je nach der Situation. Damit hatte Cartier
genau einundzwanzig Punkte.
Cartier
lachte und sagte: „Scheint, als hätte ich heute einen guten Tag.“
Morrison
seufzte und lehnte sich zurück. „Verdammt.“ Dieses Mal hatte der Würfel ihm
kein Glück gebracht.
Eine
elegante Frau war an den Spieltisch herangetreten und hatte die letzten
Spielzüge interessiert beobachtet. Sie tat einen ausgiebigen Zug an ihrer
Zigarette und hauchte ein zartes: „Guten Abend!“
Beide
Gentlemen sahen sich verpflichtet, ein einladendes Nicken zu äußern.
„Verbringen
sie eine angenehme Reise?“ fragte die Dame, ohne sich zu setzen.
„Von
wegen.“ Das Lächeln auf Morrisons Gesicht verwandelte sich in eine mürrische
Miene. „Dieser Betrüger hat mir meinen Ring abgeknöpft.“
„Darf ich
mir den mal ansehen?“ fragte sie den französischen Kartenspieler und schenkte
ihm ihren bezauberndsten Augenaufschlag. Cartier nickte. Sie nahm den Ring in
die Hand, betrachtete das Funkeln im Schein der Deckenleuchter und legte ihn
dann behutsam zurück. Sie wandte sich um.
„Wenn sie
bitte mal mitkommen würden, Mister…“
„Morrison.“
„Gut, Mr
Morrison. Kommen sie bitte!“
Und
erstaunlich energisch führte die Frau ihn vom Spieltisch hinweg in eine andere
Ecke des Rauchsalons, in der sie sich unbeobachtet fühlten.
„Was haben
sie denn? Wer sind sie eigentlich“, lautete David Morrisons berechtigte Frage.
Wieder der Augenaufschlag der Dame, als sie antwortete:
„Ich bin
Lucia Borebank aus dem wunderschönen Cambridge. Zusammen mit meinem Mann ziehe
ich um nach Amerika.“
„Sie ziehen
um?“ Zweifelnd blickte Morrison auf Mrs Borebank. Sie sah ganz offensichtlich
älter aus, als sie in Wirklichkeit war. Er schätzte ihr Alter auf knapp über 30
Jahre. Eigentlich noch zu jung, um schon umzuziehen, gerade nach Amerika! Oder
war es nicht eher so, dass man mit Vorliebe in den jungen Jahren neue Abenteuer
erleben wollte? Lucia Borebank schien seine Gedanken zu lesen.
„Na gut,
das ist vielleicht übertrieben“, schwächte sie ihre Aussage ein wenig ab, „wir
wollen einen langen Urlaub dort verbringen. Wir haben extra unser Automobil
mitgenommen“, fügte sie nicht ohne Stolz hinzu.
„Aber warum
wollten sie mich sprechen?“
„Ich habe
sie eben mit Monsieur Cartier gesehen. Sie hätten nicht mit ihm spielen sollen,
er beherrscht es, die Augen zu täuschen.“
„Das haben
sie aber nett gesagt“, erwiderte Morrison grimmig. „Er betrügt schamlos, das
habe ich mittlerweile auch gemerkt. Leider zu spät. Jetzt hat der Kerl meinen
Ring. Der war ein Geschenk von meiner Freundin. Na ja, sie hat mich auch
verlassen, vielleicht hat es das Schicksal so gewollt.“
Seine
Masche hatte Erfolg. Die deprimierenden Worte, dazu seine Aufmachung mit
Lederweste und Cordhose, ein wenig gammelig, ein wenig unangemessen, aber mit
genau dem Charme, der hier vonnöten war.
„Nun seien
sie doch nicht traurig, junger Mann.“
„Sie haben
ja gut reden, ich bin bestimmt älter als sie!“
„Dabei wird
mir so oft nachgesagt, ich sehe älter aus als ich bin. Doch eine Dame redet
nicht gern über ihr Alter.“ Hier legte sie eine Kunstpause ein und zog
genüsslich an ihrer Zigarette. Der Aschekegel erreichte eine bedrohliche Länge,
und so hielt Mrs Borebank es für angebracht, ihn an einem nahegelegenen
Aschenbecher abzuklopfen. Sie trat wieder an Grearson heran.
„Kommen wir
zum Wichtigen: Ihr Ring ist falsch.“
Er wusste
nicht, ob es daran lag, was sie sagte oder an der Art, wie sie es sagte. Für
einen Moment jedenfalls blieb Morrison der Mund offen stehen. Eiskalt und
trocken hatte sie jene Worte geäußert.
„Schauen
sie nicht so entsetzt. Der Ring ist eine Fälschung. Ein Duplikat von einem sehr
bekannten Ring, der einst in meinem Besitz war.“
„War? Hat
man ihn gestohlen?“
„Nein, ich
habe ihn meinem Kindermädchen geschenkt. Wissen sie was, ich will ihnen etwas
Gutes tun. Gehen sie zu unserem Kindermädchen und bitten sie sie, ihnen den
Ring zu geben. Sie ist auch hier an Bord. Sie arbeitet schon lange für uns, da
konnte ich es ihr nicht zumuten, sie in England zurückzulassen. Ganz abgesehen
davon ist sie eine Seele von Mensch, ich wüsste nicht, was ich ohne sie tun
sollte. Ich werde sie später selbstverständlich dafür entschädigen.“
Morrison
schüttelte den Kopf. Zu unwirklich waren die Geschehnisse um ihn herum.
„Wie komme
ich denn zu der Ehre? Ich habe sie gerade erst getroffen und schon wollen sie
mich derart reich beschenken?“
„Ich kann
nun mal keine niedergeschlagenen Menschen sehen“, meinte Mrs Borebank
gönnerhaft und geheimnisvoll.
„Welche
Kabine hat das Mädchen denn?“
„Ach, sehen
sie, da bin ich auch überfragt. Mein Mann hat das geregelt, ich weiß leider gar
nichts davon. Dieses Schiff ist einfach zu groß, da findet man ja nur mit Glück
seine eigene Residenz wieder. Und mein Mann, der Gute, er müsste gerade die
Vorzüge des türkischen Bades genießen. Er würde es sicher nicht schätzen, wenn
sie ihn dort störten. Also schlage ich vor, dass sie mit dem Zahlmeister
sprechen. Er hat die Verwaltung dieses Schiffes voll unter Kontrolle.“
„Das ist
wohl die beste Lösung. Aber dann müssen sie mir zumindest den Namen des
Kindermädchens sagen, sonst komme ich nicht weiter.“
„Das ist
mir jetzt aber peinlich“, murmelte die junge Frau und blickte beschämt zu
Boden. „Da schicke ich sie zum Zahlmeister und weiß selbst nicht, nach wem sie
suchen sollen. Sehen sie, ich rufe sie immer nur „Lucy“. Ihren Nachnamen habe
ich ganz vergessen. Ach, es nützt wohl nichts. Gehen sie doch besser zu meinem
Mann. Sagen sie ruhig, dass ich sie geschickt hätte. Sie wissen, wo das
türkische Bad ist?“
„Danke, das
finde ich schon.“
„Gut.
Lassen sie mich nur noch darauf hinweisen, dass die gute Lucy eine
Herumtreiberin ist, wenn sie nicht im Dienst ist. Sie werden sie wohl erst nach
halb elf in ihrer Kabine antreffen, da führt kein Weg dran vorbei.“
„Aber das
macht doch nichts. Wenn man jung ist, soll man Spaß haben. So ist es doch,
oder?“ Morrison zwinkerte seiner Gesprächspartnerin zu. „Mrs Borebank, ich bin
ihnen zutiefst dankbar“, sagte er und küsste ihre Hand. Daraufhin errötete sie.
„Ich helfe
gerne, sie Schmeichler. Gehen sie nur und suchen sie meinen Mann. Und erzählen
sie mir nachher, wie es gelaufen ist!“
Mrs
Borebank spazierte gemächlich wieder zum Tisch von Monsieur Cartier, vermutlich
um ein paar anderen Glücklosen zuzuschauen, die der Franzose nach allen Regeln
der Höflichkeit über den Tisch zog. Morrison unterdessen machte sich auf die
Suche nach dem Kindermädchen und dem Ring; zuerst galt es, Mr Borebank zu finden,
aber das würde sich schon machen lassen, dachte er, während er auf der
Haupttreppe achtern nach unten wanderte.
Sehr
praktisch, dass sich alles auf dem C-Deck abspielt, dachte Patrick Grearson und
klopfte an Kabine C-23. Nervös tippte er mit dem Fuß auf dem Boden.
„Mr
Stevens?“ rief er, doch er bekam keine Antwort.
„Mr
Stevens, sind sie da drin? Ich muss mit ihnen sprechen!“ Dann murmelte er
leiser zu sich. „Der Zahlmeister hat doch gesagt, dass es C-23 ist. Vielleicht
muss ich es später noch einmal versuchen.“ Vorher aber vergewisserte er sich
noch einmal, dass er auch bei der richtigen Tür geklopft hatte. C-23, so stand
es auf dem Messingschild. Kein Zweifel.
„Suchen sie
etwas?“ ertönte da plötzlich eine Stimme hinter ihm. Henry Stevens hatte sich
ihm unbemerkt genähert. Noch immer trug er den Fotoapparat um den Hals und den
Notizblock in der Hand. Grearson drehte sich abrupt um.
„Sind sie
Stevens?“
„Höchstpersönlich.“
„Das ist
gut, dass ich sie treffe, ich muss sie unbedingt sprechen. Ich hatte schon die
Befürchtung, dass ich auf diesem Schiff niemanden erreiche.“
„Ich war
gerade noch bei dem Empfang auf dem D-Deck. Sie haben doch hoffentlich nicht
lange gewartet?“
„Nein. Wie
gesagt, ich hätte es sonst später noch einmal probiert. Mein Name ist Patrick
Grearson“, stellte sich der Geschäftsmann vor und schüttelte Stevens die Hand.
„Sie sind doch Fotograf, oder?“
„Nun ja,
nicht ganz. Ich bin Reporter, da gehört das Fotografieren natürlich dazu.“
„Sie können
mir vielleicht helfen. Mir ist nämlich etwas abhanden gekommen. Um genauer zu
sein, fürchte ich, dass es gestohlen wurde.“ Grearson hoffte inständig, dass
sein Gegenüber diese erfundene Geschichte glaubte. Schließlich war ihm
untersagt worden, die Nachricht von Ismays Tod zu verbreiten. „Haben sie hier
auf dem Flur, so gegen halb acht bis acht, jemanden gesehen, der sich
verdächtig benommen hat?“
Stevens
dachte kurz nach, dann ging ein Leuchten über sein Gesicht.
„Na, das
können sie aber laut sagen! Doch gehen wir in meine Kabine. Es muss uns nicht
jeder hören, außerdem habe ich mein Labor drinnen.“
Der
Journalist holt einen kleinen Schlüssel aus seiner Hosentasche und schloss die
Tür auf. In der Kabine war es dunkel. Stevens betätigte einen Knopf und
schaltete damit das Rotlicht ein. Auf dem großen Tisch zu ihrer Linken hatte er
ein kleines Fotolabor eingerichtet, dort standen Flaschen mit Entwickler,
destilliertes Wasser, verschiedene Chemikalien, die Grearson überhaupt nichts
sagten, zwei Fotoschalen. Zwei Scheren hatten vor kurzem noch dazu gedient, größere
Fotobögen auf die nötige Größe zurechtzuschneiden. Über dem Tisch waren mehrere
Leinen aufgehängt, an denen die frischen Fotos mit Klammern zum Trocknen
aufgehängt waren. Während Stevens die Fotos durchsuchte, erklärte er, was es zu
sehen gab.
„Jemand hat
sich an der Tür zu Bruce Ismays Kabine zu schaffen gemacht. C-38, glaube ich.
Ich habe sofort ein Foto gemacht. Leider ist die Person nicht ganz deutlich zu
erkennen. Wo habe ich es denn bloß?“
Schließlich
nahm er eines der Bilder von der Leine und reichte es Grearson. Der betrachtete
die ganz leicht verschwommenen Einzelheiten, auf den ersten Blick eine
einheitliche weiße Masse vor einer Kabinentür. Bei näherem Hinsehen entpuppte
sich die weiße Masse als eine Person in weißer Kleidung mit weißen Haaren.
Grearson zeigte sich ernüchtert.
„Das ist
leider wirklich etwas undeutlich. Außerdem kniet diese Person gerade, als ob sie
durch das Schlüsselloch schauen wollte. Und sie ist nur von hinten zu erkennen.
Ich denke, es ist eine Frau. Stimmen sie mir da zu?“
„Es ist
eine Frau. Auf dem Foto kann man es vielleicht noch an den Haaren erkennen,
aber ich habe sie ja selbst gesehen.“
„Warum
haben sie sie denn nicht auf ihr merkwürdiges Verhalten angesprochen?“
„Was weiß
ich, ich war wohl zu aufgeregt und habe mir ja nichts Schlimmes dabei denken
können. Ich war auf dem Weg zum Empfang und hatte meinen Kopf voll mit anderen
Gedanken, mein Interview mit Captain Smith planen und so weiter. Wie hätten sie
denn wohl in meiner Situation gehandelt?“
„Wahrscheinlich
genauso. Ist ja in Ordnung, wir werden das schon regeln. Ich glaube, das ist
ein Kittel, den sie da trägt. Oder eine Schürze? Sieht jedenfalls aus, als ob
sie zum Personal gehört.“
„Das würde
ich nicht so sehen. Sicher, es sind irgendwelche Arbeitsklamotten, aber ich
kann mir nicht vorstellen, dass es einer der Angestellten wagen würde, auf dem
Schiff herumzuspionieren“, gab Stevens zu bedenken und fuhr fort: „Ich würde
doch eher vermuten, dass es sich um einen Passagier aus der dritten Klasse
handelt.“
Grearson
stöhnte.
„Wie hoch
sind bloß die Chancen, diese Frau unter Hunderten von Menschen zu finden?“
„Sie müssen
sich umhören, da führt kein Weg dran vorbei. Vielleicht haben ja auch andere
Passagiere diese Person bemerkt. Bis jetzt wissen sie nur, dass es eine Frau im
Kittel ist, aber das ist schon mal viel wert, nutzen sie dieses Wissen! Ich
schenke ihnen das Foto.“
„Das ist
sehr nett, danke. Was meinen sie, ob der Zahlmeister mir mehr sagen kann?“
„Im Notfall
immer der Zahlmeister. Sie können es zumindest probieren. Viel Erfolg dabei,
und wenn sie Fragen haben, kommen sie gerne wieder!“
Grearson
nahm das Foto, tippte sich zum Gruß kurz an die Stirn und verließ Kabine C-23.
Auf ein Neues, dachte er sich und marschierte den Flur hinunter zur
Haupttreppe, um ein weiteres Mal mit dem Zahlmeister zu sprechen.
Die
verschiedensten Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Selbst wenn er jetzt
erfahren würde, wer diese Frau ist, was würde ihm das nützen? Dieses Foto
reichte auf keinen Fall aus, um zu beweisen, dass sie Ismay ermordet hatte.
Hatte sie es überhaupt getan? Was sagte dieses Foto denn eigentlich aus? Nur,
dass diese Frau vor der Kabine des Präsidenten von White Star auf den Knien
herumgerutscht ist. Er würde mit ihr sprechen müssen. Gedankenverloren
betätigte Grearson die Klingel vor dem Zahlmeisterbüro, und ebenso
gedankenverloren öffnete der Zahlmeister das kleine Holzfenster und sagte seine
Standardbegrüßung, während er mit den Augen durch die Frachtliste der Titanic
wanderte.
„Guten
Abend, was kann ich für sie tun?“
Dann erst
blickte er auf und erkannte seinen Gegenüber.
„Mr
Grearson, sie sind es ja wieder. Wollen sie ihren Schmuck schon wiederhaben?“
„Nein, der
ist bei ihnen gut aufgehoben“, sagte Grearson und dachte für einen Moment
daran, dass die gesuchte Frau vielleicht tatsächlich eine Diebin war. „Ich habe
hier ein Foto für sie. Es könnte ja sein, dass sie diese Frau heute zufällig
gesehen haben.“
Grearson
reichte dem Mann das Bild. Der hielt es in unterschiedlichem Winkel ins Licht
und dachte scharf nach. Seine Antwort kam etwas zögernd.
„Also, ich
habe heute eine Frau gesehen, die ebenfalls eine weiße Schürze trug. Eine
ältere Frau, sie hat mich um Rat gefragt, ihren Namen aber nicht genannt. Diese
Frau war um kurz vor halb acht hier und wollte wissen, in welcher Kabine Bruce
Ismay residiert. Glauben sie etwa, dass sie etwas mit dem Mord zu tun hat?“
„Mr
McElroy, nicht so laut! Hier sind überall Ohren. Sagen sie, woher wissen sie
eigentlich von dem Mord?“
„Sind sie
denn so zerstreut? Sie haben es mir doch selbst erzählt. Schließlich haben sie
deshalb ihre Edelsteine zu mir gebracht!“
„Ach,
stimmt ja. Egal. Finden sie das Foto denn nicht verdächtig? Sie hockt vor
Ismays Tür und schaut durch das Schlüsselloch. Normale Menschen tun das nicht.“
„Das ist
wohl richtig. Aber sie müssen diese Frau zuerst kennen lernen, um entscheiden
zu können, ob sie es wirklich getan hat. Vielleicht hat sie nur geschaut, ob
Ismay in seiner Kabine ist. Wenn ich die Vermutung anstellen darf – ich glaube,
sie ist Passagierin der dritten Klasse. Vielleicht wollte sie nur sehen, wie
die Kabine des Präsidenten aussieht.“
„Möglich
ist es“, räumte Grearson ein, „aber doch sehr unwahrscheinlich. Ich werde mehr
herausfinden, wenn ich mit ihr spreche. Nur, wie heißt diese Dame?“
„Ich sagte ihnen
ja bereits, dass ich ihren Namen nicht kenne. Wie gesagt, sie scheint in der
dritten Klasse zu reisen, ich vermute, irgendwo auf dem E-Deck. Gehen sie mal
zum Liftboy. Ich bin fast überzeugt, dass er ihnen helfen wird.“
„Danke, das
ist ein guter Rat.“
Grearson
nickte ihm kurz zu und ging dann wieder zwischen einzelnen Paaren
herumstehender Passagiere vorbei hinter die Haupttreppe, wo sich der Lift
befand. Wie es der Zufall wollte, befand sich der Fahrstuhl gerade auf diesem
Deck und der Liftboy, ein frecher junger Mann, ging davor auf und ab. Seine
Miene änderte sich sofort, als er den Geschäftsmann auf sich zukommen sah.
Zuvorkommend und mit einem Lächeln öffnete er die Fahrstuhltür und sagte:
„Schönen
guten Abend. Wo darf ich sie hinbringen? Im Rauchsalon auf dem A-Deck finden
Gesellschaftsspiele statt. Auf dem D-Deck können sie noch die Gesellschaft vom
Empfang antreffen. Wohin?“
Grearson
winkte ab.
„Danke für
die Information, aber ich brauche nur eine Auskunft.“ Er zog das Foto hervor
und zeigte es dem Jungen. „Kennen sie diese Frau? Vielleicht erkennen sie ihren
Kittel wieder?“
Ohne einen
Moment nachzudenken sagte der Liftboy gelangweilt: „Das ist Geraldine Dobbins.“
Patrick
Grearson hatte nicht mit einer so spontanen Antwort gerechnet und zeigte sich
erstaunt.
„Woher
wissen sie das so genau?“
„Als
Fahrstuhlführer gibt es nicht allzu viel geistige Arbeit zu tun, wissen sie? Da
prägt man sich dann eben die Leute ein. Und sie glauben nicht, wie schnell die
anfangen, zu reden. Wenn man etwas wissen will, dann sollte man nicht danach
fragen, sondern die Leute einfach erzählen lassen. Dann plaudern sie mehr aus,
als sie eigentlich wollen. Zumindest ist das bei den Reichen so, die wollen
immer mit ihrem Geld angeben und erzählen schon mal pikante Details.“
„Und was
hat ihnen Mrs Dobbins erzählt?“
Der Junge
rümpfte die Nase.
„Hm, wie
ich ihnen sagte: Die Reichen erzählen viel, um zu prahlen. Aber Mrs Dobbins ist
nicht reich. Sie fährt dritte Klasse, so sieht sie auch aus. Und so als
normaler Mensch, der für sein Leben hart arbeiten muss, da hat man andere
Sorgen, als allen möglichen Menschen von sich zu erzählen. Sie schien ziemlich
in Gedanken versunken zu sein, als ich sie traf. Ich habe sie gefragt, warum
sie so finster dreinschaue.“
„Und was
sagte sie?“
„Sie
antwortete: ,Mein Junge, wenn du mal älter wirst, wirst du das wahre Leben kennen
lernen, in dem nicht alles so schillernd ist wie auf diesem Schiff. Dann wirst
du auch lernen, hinter die prachtvolle Fassade zu schauen, und da ist längst
nicht alles so schön. Da gibt es dann Menschen wie mich. Ich habe in England
alles aufgegeben und will ein neues Leben in Amerika beginnen. Aber das geht
dich nichts an.“
„Hat sie
gesagt, warum sie England aufgegeben hat?“
„Nein. Sie
sagte nur, dass sie ein einziges Mal mit Mr Ismay sprechen wollte.“
„Warum denn
das?“
In diesem
Moment ließ sich ein Klingeln vernehmen, das anzeigte, dass jemand den
Fahrstuhl rief. Der Liftjunge trat in den Fahrstuhl und meinte noch:
„Sie müssen
sie schon selbst fragen. Ihr Name ist Geraldine Dobbins. Fragen sie beim
Zahlmeister nach der Kabine.“
„Danke für
die Auskunft! Übrigens, mein Name ist Patrick Grearson.“
Gönnerhaft
warf Grearson dem Liftboy einen Schilling zu.
„Danke,
Mister. Ich heiße Miles Hutchins und bin ihnen gerne wieder zu Diensten.“
Dann
schloss sich die Lifttür. Grearson wurde es langsam unangenehm, den Zahlmeister
fortwährend auf Trab zu halten. Es ließ sich aber nicht umgehen.
„Willkommen
zurück, Mr Grearson. Hat ihnen der Junge weitergeholfen? Er ist manchmal ein
wenig frech, aber äußerst hilfsbereit.“
„Ja, das
Gespräch hat sich gelohnt. Ich brauche die Kabine von Geraldine Dobbins.“
Der
Zahlmeister Michael McElroy blickte durch seine Listen und blieb dann beim
entsprechenden Namen stehen.
„Kabine
F-16. Sie sollten via Schottlandweg gehen, um dorthin zu gelangen.“
„Schottlandweg?“
„So heißt
der lange Flur auf dem E-Deck. Sie werden es schon finden.“
„Das hoffe
ich. Vielen Dank!“
Das waren
gute Nachrichten für Grearson. Langsam kam er ein Stück weiter an die Lösung
dieses Falles. Wer hatte die Leiche Ismays an seine Tür gestellt? Es musste
doch jemand gewesen sein, der ihn kannte, der ihm einen bösen Streich spielen
wollte. Er würde den Täter früher oder später ausfindig machen.
Kapitän
Smith hatte sich nach der Katastrophe in Grearsons Kabine wieder auf die
Schiffsbrücke begeben, um seiner Arbeit nachzugehen. Er blickte durch die
großen Frontfenster über den Bug der Titanic auf das klare Meer, dann in den
sternenklaren Himmel. Neben ihm stand der zweite Offizier Charles Lightoller.
Smith fragte ihn:
„Haben wir
noch immer freie Fahrt?“
„Ja. Fleet
und Lee haben noch nichts gesehen, es gibt also keine Hindernisse.“
„Warum dann
all diese Eiswarnungen“, fragte Smith mit ernster Stimme.
„Das Eis
wird weggetrieben sein. Übrigens ist um 19.30 Uhr ein Funkspruch eingetroffen.“
Smith
brauste auf.
„Von
welchem Schiff? Und warum weiß ich nichts davon?“
„Ich weiß
nicht, von welchem Schiff er stammte. Die üblichen Warnungen. Sie speisten
gerade mit den Wideners, als Bride die Nachricht erhalten hat.“
„Schlamperei.
Wenigstens gehen Bride und Phillips ihren Aufgaben sorgfältig nach. Ich hätte
davon trotzdem früher benachrichtigt werden müssen!“
„Entschuldigen
sie, Captain Smith.“
Smith
blickte wieder geradeaus über das Meer, die endlose, blaue Weite in der
mondlosen Nacht.
„Nun, es
ist ja nichts passiert. Wenn alles glatt läuft bin ich zufrieden. Volle Kraft
voraus, Lightoller!“
Majestätisch
glitt die Titanic über das Meer, von unzähligen Lichtern erleuchtet, von
unzähligen Schatten der Nacht umschlungen.
Fortsetzung folgt...
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