22:40 Uhr
Offizier
Murdoch räusperte sich.
„Ich fasse
zusammen. Der Name der Toten ist Lucinda Maria Ratchett. Alter 22 Jahre.
Kindermädchen in privater Anstellung. Unverheiratet. Druckstellen am Hals
deuten darauf hin, dass das Opfer gewürgt wurde; möglicherweise stellt dies
bereits die Todesursache dar. Das kann zurzeit nicht festgestellt werden, da
der Mörder mit einer Nagelfeile so lange auf ihren Hals eingestochen hat, bis
die Halsschlagader durchtrennt war. Zuletzt wurde Ms Ratchett gesehen von Mr
Morrison, ist das richtig?“
„Nein. Wie
kommen sie darauf?“
David
Morrison saß angespannt auf einem Stuhl und wischte sich den Schweiß von der
Stirn. Die anderen Personen im Raum waren ebenso bedrückt wie er. Auf der
Bettkante saßen Lucia und Walter Borebank, wohl bedacht, ihre Kleidung nicht
mit dem großzügig über das Laken verteilten Blut des Opfers zu beschmutzen.
Walter fächelte seiner Frau, die sich von einem Zusammenbruch wieder erholt
hatte, Luft zu. Offizier Murdoch und Steward Miller standen mit aufmerksamem
Blick in der Mitte des Raumes. Kapitän Smith war nicht anwesend. Man hatte
beschlossen, ihn erst morgen mit dieser Angelegenheit zu belästigen. Patrick
Grearson lehnte verwirrt an der Wand.
Nachdem
Miller die Botschaft des Unglücks erhalten hatte, suchte er in heller Aufregung
nach Grearson. Als er ihn schließlich auf dem Oberdeck angetroffen hatte, erläuterte
er nur kurz, was geschehen war und zog ihn mit sich in das Innere des Schiffes.
Grearson war aber nicht nur wegen des neuen Mordes ziemlich außer Atem. Als er
sich auf dem Deck umgedreht hatte und einen Blick auf die Steuerbordseite
erhaschen konnte, entdeckte er die junge Frau, die dort an der Reling stand.
Reizend sah sie aus; aber kam sie ihm nicht irgendwie bekannt vor? Doch
Grearson hatte keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, da Miller ihm die
Zusammenhänge zu schildern versuchte.
Nun standen
sie alle versammelt in Kabine F-18.
„Wie kommen
sie darauf?“ wiederholte Morrison seine Frage.
Lucia
Borebank blickte auf.
„Na, sie
sollten doch zu ihr gehen, um den Ring abzuholen. Waren sie denn nicht bei
ihr?“
„Nein, das
war ich nicht! Ich wollte erst später zu ihr gehen. Wollen sie mir etwa
unterstellen, ich hätte sie umgebracht?“
„Mr
Morrison, niemand unterstellt ihnen hier etwas“, warf Miller ein.
„Ich habe
sie heute Abend noch munter gesehen“, sagte Grearson.
„Wann war
das etwa?“
„Um viertel
nach neun vielleicht.“
„Und sie
haben kein auffälliges Verhalten bemerkt? Nervosität? Oder hat sie ihnen
vielleicht gesagt, ob sie sich mit jemandem treffen wollte?“
„Nein. Wir
haben nur kurz über die Zimmernachbarin geplaudert, Mrs Dobbins. Ach wie geht
es ihr eigentlich? Kann sie schon wieder sprechen?“
„Ich werde
gleich nach ihr sehen, wenn wir hier fertig sind.“ Miller machte sich eine
gedankliche Notiz und schaute noch einmal die Leiche des jungen Mädchens an.
Dann wandte er sich an Mrs Borebank.
„Entschuldige
sie bitte, aber sie sagten etwas von einem Ring? Hatte Miss Ratchett einen
besonderen Ring?“
Mrs
Borebank atmete tief durch. Langsam fühlten sich ihre Knie nicht mehr weich an
und die Lebensgeister kehrten in ihren Körper zurück.
„Sie trug
immer einen Ring an ihrem Finger, den ich ihr einst geschenkt hatte. Sie war
sehr stolz darauf. Das ist ja auch kein Wunder, es war so ziemlich ihr einziger
Reichtum. Das gute Ding war ziemlich arm, stimmt´s nicht, Walter?“
Ihr Ehemann
nickte nur.
„Nun“,
sagte Miller, „ich möchte ihnen zu bedenken geben, dass der Ring nicht mehr an
ihrem Finger sitzt. Aber es dürfte sicher sein, dass sie ihn den ganzen Abend
getragen hat, da wir eine leichte Rötung hier feststellen können.“
Der Steward
deutete auf eine rötlich verfärbte Linie, die ein Stück unterhalb des
Mittelknöchels des rechten Ringfingers verlief. Dabei fiel sein Blick auf einen
kleinen Gegenstand, der unter das Bett gerollt war. Es war nur ein Stift.
Beiläufig hob Miller ihn auf und legte ihn auf das kleine Beistelltischchen am
Bett.
Murdoch
erwähnte: „Raubmord.“
„Das ist
gut möglich. Mr Grearson, versuchen sie bitte, sich zu erinnern. Als sie mit
Miss Ratchett sprachen, trug sie da einen Ring?“
Grearson
dachte einen kurzen Moment nach.
„Ja. Sie
war sehr glücklich, dass sie, Mrs Borebank, so großzügig zu ihr gewesen waren,
als sie ihr den Ring geschenkt hatten. Tatsächlich, sie hatte den Ring noch an
ihrer Hand.“
„Stellen
wir also fest: Miss Ratchett ist nach 21 Uhr ermordet worden. Vermutlich wurde
der Mord begangen, um an ihren Ring zu gelangen, der sehr wertvoll gewesen sein
muss. Ist das so, Mrs Borebank?“
„Ja. Der
Ring hatte einen sehr wertvollen Stein eingefasst. Dafür wird man heute einen
schönen Preis bekommen.“
„Es hilft
nichts. Mr Morrison, ich muss sie bitten, mit mir zu kommen. Sie stehen unter
Verdacht, Lucinda Ratchett ermordet und den Ring gestohlen zu haben“, sagte
Murdoch mit harter Stimme.
„Nein! Wie
können sie das nur glauben?“ erboste Morrison sich. „Warum hätte ich der
Kleinen das antun sollen? Sie hätte mir den Ring doch sowieso geben sollen,
warum hätte ich Gewalt anwenden sollen?“
„Wer weiß?
Vielleicht hat sie sich ja geweigert, ihnen den Stein zu geben. Warum haben sie
ihm den Ring überhaupt zugestanden, Mrs Borebank? Wenn ich das recht verstehe,
kannten sie beide sich doch kaum?“
Ein
peinliches Schweigen erfüllte den Raum. Mrs Borebank warf David Morrison
vielsagende Blicke zu, bis der schließlich die Stille durchbrach.
„Ich bin
ein Spieler. Aus Leidenschaft. Ich habe oben im Rauchsalon mit Mr Cartier
Karten gespielt und dabei meinen eigenen Ring verspielt. Mrs Borebank hat mich
dabei beobachtet und festgestellt, dass der Ring, den ich so leichtfertig
verspielt hatte, eine Fälschung war.“
„Und weil
ich gerne ein großherziger Mensch bin, wollte ich diesem charmanten Mann etwas
Gutes tun. Der echte Ring war ursprünglich in meinem Besitz. Und da konnte es
doch kein Umstand sein, den Ring von Lucy einzufordern und Mr Morrison zukommen
zu lassen.“
„Aha“,
unterbrach Murdoch sie. „Mr Morrison, sie wollten also ihren Ring abholen,
wurden aber von Miss Ratchett abgewiesen. Doch sie sahen das Feuer des
Edelsteines, den hohen Wert des Ringes, den sie einst zu besitzen glaubten und
wieder besitzen wollten, um ihre Spielsucht zu befriedigen. Daher töteten sie
Miss Ratchett. Das gibt ein gutes Motiv ab, nicht wahr?“
Morrison
wollte etwas sagen, doch der Steward winkte ab.
„Mr
Morrison, gehen sie bitte erst einmal mit Offizier Murdoch mit. Es tut mir
leid, aber sie sind im Moment der einzige Verdächtige in einem Mordfall, und da
werden sie einige weitere Fragen beantworten müssen. Mr Grearson, sie haben nun
ein Bild der Situation. Mr und Mrs Borebank, ich muss sie bitten, auf ihr
Zimmer zurückzugehen. Hier gibt es für uns nichts mehr zu tun.“
Auch wenn
es schwer fiel, das alles jetzt so zurückzulassen, so gab es doch keine andere
Wahl. Die Titanic würde ihre Reise unbeirrt fortsetzen. Bevor sie in New York
angekommen waren, hatte das meiste Trauern und Nachdenken sowieso keinen Sinn.
Oder?
Viel
langsamer als üblich stieg Patrick Grearson die Treppe der dritten Klasse
hinauf. Ein weiterer Mord auf der Titanic. Und es gab nicht den geringsten
Anhaltspunkt, dem man nachgehen könnte. Bis auf ein kurzes Gespräch kannte er
das Opfer gar nicht, wusste überhaupt nichts über sie. Er würde diese
Angelegenheit wohl oder übel Miller überlassen müssen. Schließlich versuchte er
selbst noch immer, seine Gedanken bezüglich Ismay zu ordnen, was ihm auch nur
schwerlich gelang.
Die weißen
Wände des Korridors auf dem E-Deck waren ihm zuwider. Alles blitzblank und
rein. Keine Unebenheiten, keine Einschlüsse, keine hervorstehenden Kanten.
Einfarbig. Wenn doch die Realität wenigstens ein einziges Mal so klar und
deutlich wäre wie diese frisch gestrichenen Wände, so einfach, so logisch. Aber
es schien für das Problem keine einfache Lösung zu geben. Und dann hatte er
diese junge Frau auf dem Oberdeck gesehen. Grearson war sich sicher, dass er
sie schon einmal irgendwo gesehen hatte. Vielleicht war sie noch dort. Er
beschleunigte seinen Schritt wieder.
Als er auf
dem A-Deck ankam, war er schon in eine Art Lauf verfallen, jedenfalls trat er
ein klein wenig außer Puste hinaus in die kalte Nacht. Dann wurde ihm bewusst,
dass er auf der falschen Seite des Schiffes stand. Er trat wieder in die
Treppenhalle, durchquerte sie und verließ das Interieur auf der anderen Seite.
Er trat an die Reling. Hier hatte sie gestanden.
Grearson
blickte zum Bug, dann zum Heck. Es war nichts zu sehen. Die junge Frau hatte
ihren Platz verlassen und Grearson verfluchte sich selbst, dass er sie nicht
gleich angesprochen hatte. Vielleicht würde er sie gar nicht wiedersehen, was
bei einem Schiff dieser Größe durchaus in den Bereich des Möglichen fiel.
Grearson seufzte und steckte die Hände in die Taschen seines Jacketts, um sie ein
wenig zu wärmen. Der Wind war mittlerweile beißend geworden. Nicht allzu stark,
aber er konnte dennoch die Tränen in die Augen treiben. Schnell drang die Kälte
durch den Stoff seiner Anzughose.
Dann fühlte
er einen Zettel in seiner Jacketttasche. Er holte ihn hervor und entfaltete
ihn. Es war die Notiz, die Mrs Dobbins unter seiner Tür hindurchgeschoben
hatte.
„Kommen sie
um 23 Uhr auf den Schottlandweg, zu Seil und Beil. Geraldine Dobbins.“
Grearson
musste unfreiwillig schmunzeln. Dies war sie, die einzige Spur. Der einzige
Anhaltspunkt, aber zu stumm, um zu reden. Doch warum gerade auf dem
Schottlandweg, warum gerade bei Seil und Beil? Was war überhaupt Seil und Beil?
Es half nichts, er musste selbst nachsehen. Gemütlich stieg er wieder die
Treppen auf das E-Deck hinab und grüßte freundlich die wenigen Passagiere, die
ihm entgegenkamen. Dann war er wieder bei den weißen Korridoren angekommen.
Aber was hatte die Hausfrau nur mit Seil und Beil gemeint? Langsam ging
Grearson das kurze Stück zum einen Ende des Flures. Nichts zu sehen. Dann
schritt er Meter für Meter den Weg ab. Suchend schweifte der Blick umher, um
nur ja kein Detail zu übersehen. Von Seil und Beil keine Spur. Die Hälfte des
Weges hatte er erreicht und trat durch die große Tür, die den vorderen Teil vom
hinteren Schottlandweg trennte.
Nichts.
Aber halt! Patrick Grearson hatte etwas entdeckt. Hastig lief er ein paar
Schritte voran. An der rechten Wand war ein Schild mit der Aufschrift „Im
Notfall“ angebracht. Hinter einer Glasscheibe hing dort an zwei Nägeln eine
große Axt. Sie war gedacht, um in einer eventuellen Notsituation die Türen
einschlagen zu können. Daneben hing ein langes, aufgerolltes Seil über einem
weiteren Haken. Dies musste Seil und Beil sein. Grearson betrachtete den Kasten
von allen Seiten, konnte aber keine Ungereimtheit entdecken. Wahrscheinlich war
Mrs Dobbins noch nicht hier gewesen, dachte er. Dann aber bemerkte er, dass man
den Kasten aushängen konnte. Er hob ihn ein kleines Stück hoch und nahm ihn von
der Aufhängung in der Wand. Und dort fand sich der Hinweis in Form eines
kleinen, schmutzigen Zettels, der mit einem Stück Wachs an der Rückseite des
Rettungskastens befestigt war. Hastig entfernte Grearson ihn und bemühte sich,
den Kasten wieder möglichst korrekt aufzuhängen.
Auf dem
Zettel waren mit einem Kohlestift und dementsprechend ungelenken Buchstaben nur
wenige Worte aufgekritzelt:
„Ich weiß
alles. Und der falsche Ruhm dieses Schiffes wird es ihnen beweisen!“
Miller war
als Einziger zurückgeblieben. Der Steward schaute sich das Innere der Kabine
F-18 genau an. Die blutgetränkte Bettwäsche war entfernt worden. Die Matratze
war nun von einem bräunlichen Fleck auf Nackenhöhe schmutzig verfärbt.
Ansonsten gab es kaum Auffälliges in dem Zimmer. Das Kindermädchen musste sehr
sparsam gelebt haben. Sie hatte nur wenig Gepäck auf ihrem Zimmer, keinen
übertriebenen Luxus. Nur das Nötigste eben, was eine junge Frau braucht. Die
Kabine war aufgeräumt. Scheinbar schien Miss Ratchett es sehr gründlich
gehalten zu haben. Vielleicht wurde sie ihrer Ordnung wegen von den Borebanks
eingestellt. Man wollte es hoffen. Miller trat von einer Zimmerseite zur
anderen. Hier stand ein Schreibtisch, darauf ein kleines Tintenfass und, Miller
hatte es schon erwartet, ein roséfarbenes, mit viel Kitsch verziertes Tagebuch.
Ein Büchlein eher, mit einer zierlichen Schleife verschlossen.
Ohne lange
zu überlegen, löste Miller das Band, um durch die Zeilen zu wandern. Nun dürfte
es dem jungen Mädchen ja nichts mehr ausmachen. Davon ganz abgesehen, gab es überhaupt
keine Anhaltspunkte zu diesem Fall. Lucinda Ratchett war eine Unbekannte.
Vielleicht würde Morrison noch ein wenig mehr erzählen können. Er war bestimmt
unschuldig; selbst wenn nicht, konnten die Offiziere ihn wahrscheinlich nicht
lange festhalten. Sie hatten nichts gegen ihn in der Hand. Aber so konnten sie
möglicherweise an interessante Informationen kommen.
Miller
schlug das Buch auf. Die Seiten waren ebenfalls in leichtem Rosa eingefärbt und
dufteten nach irgendeiner Substanz. Der Steward vermutete, dass die junge Frau
ihr Tagebuch parfümiert hatte. Kein unangenehmer Duft, unaufdringlich, was aber
auch daran lag, dass er sich schon zu einem großen Teil verloren hatte. Das
Büchlein war bis zur Hälfte beschrieben. Die Schrift zeugte von einer sorgfältigen
Ausbildung in Rechtschreibung zum Einen, denn es waren keine Fehler zu
entdecken. Zum anderen hatte Miss Ratchett wohl sehr viel Wert auf Schönschrift
gelegt. Die Grossbuchstaben waren mit kleinen Schleifen und Ranken verziert;
sie hatte äußerst sorgfältig geschrieben. Miller suchte in den letzten
Einträgen nach interessanten Hinweisen. Zunächst fand er nur bestätigt, was er
sich schon gedacht hatte. Dieses Mädchen hielt sich mit dem Job als
Kindermädchen knapp über Wasser und hatte für Spielereien kaum noch Geld übrig.
Das schien sie allerdings nie gestört zu haben. Dann begannen die letzten
Einträge, die etwas interessanter wurden:
„27. März
Die nächste
Woche werde ich nichts schreiben können, da muss ich mit den Borebanks auf
einen Familienausflug und werde sehr viel mit ihrem Jonathan beschäftigt sein.
Natürlich ist er ein liebes Kind und zum Glück nicht aufsässig, aber Walter hat
mir schon gesagt, dass sie bei diesem Urlaub sehr viel unterwegs sein werden
und das Kind nicht überall hin mitnehmen wollen. Also muss ich mich halt
kümmern. Deswegen lasse ich Dich zuhause. Ich bin aber sehr froh, dass sie mir
eine Zulage zahlen wollen. Ich brauche nicht viel Geld zum Leben, aber im
Moment ist es sehr knapp. Abigail scheint das Geld ja in Massen zu haben. Sie
kann sich andauernd neue Kleider leisten und macht sich schon über mich lustig.
Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, sie bekommt das Geld von Onkel Bruce
zugesteckt. Ich finde es schrecklich, dass jemand, ohne einen Finger zu rühren,
es sich so gut gehen lassen kann. Das ist doch ungerecht!
5. April
Das klingt
sehr missgünstig, was ich da über Abigail geschrieben habe. Ich sollte mich
lieber für sie freuen. Aber das hat mich auf eine Idee gebracht, die ich bald
umsetzen sollte, und es passt auch alles so wunderbar zusammen. Der Urlaub mit
den Borebanks war toll, ich hatte erstaunlich viel Freizeit. Ich merke, wie
vernünftig Jonathan mittlerweile wird. Er lernt nun endlich mal, was er tun
darf und was nicht. Also, ich meine, er kann es jetzt endlich alleine
entscheiden. Und eines Abends habe ich mit Lucia und Walter zusammengesessen
und wir haben über die Zukunft geplaudert. Das mag jetzt sehr seltsam klingen.
Über die Zukunft geplaudert, da muss ich ja fast lachen. Aber sie haben gesagt,
dass es nach Amerika gehen soll, in einer Woche schon! Sie wollen eine längere Zeit
dort verbringen und haben mich gefragt, ob ich nicht mitkommen möchte. Sie
hätten in ihrem Haus drüben ein Zimmer für mich frei und würden für meinen
Unterhalt sorgen. Ach, ich finde das so aufregend! Und… oh, ich schreibe
nächstes Mal weiter, Jonathan ruft mich!
6. April
So, wo war
ich denn stehen geblieben? Die Borebanks wollen mich nach Amerika mitnehmen.
Das wäre doch toll! Ich bin so stolz auf mich, dass ich mir das alles erarbeitet
habe! Ich möchte unbedingt mit ihnen mitgehen, aber ich komme mir so schlecht
dabei vor, dass ich ihnen dann vielleicht auf der Tasche liegen werde und
lästig werden könnte. Ich wäre schon gern ein wenig unabhängiger, daher brauche
ich nun doch ein wenig mehr Geld. Und wie es der Zufall so will, haben die
Borebanks geplant, die Überfahrt auf der Titanic zu begehen. Stell Dir das nur
vor, auf dem größten und schönsten Schiff der Welt! Ist das nicht traumhaft?
Und vielleicht buchen sie für mich auch eine Karte. Ach, wäre das schön! Aber
was noch viel wichtiger ist: Wenn ich wirklich auf der Titanic mitreisen darf,
dann habe ich die Chance, Onkel Bruce zu treffen. Der wird bestimmt auf der
Fahrt dabei sein. Er ist ja irgendeine wichtige Person bei der Schiffsgesellschaft.
Ich muss ihn unbedingt treffen.
8. April
Ich mag es
gar nicht glauben. Sie haben mir die Überfahrt spendiert! Natürlich werde ich
nicht in der ersten Klasse reisen, aber es ist so schön, dass ich dabei sein
darf. Und übermorgen geht es schon los. Ich will Bruce treffen, wenn ich erst
einmal auf dem Schiff bin. Das muss irgendwie möglich sein.
13. April
Die Titanic
ist traumhaft. Ich kann dieses tolle Erlebnis unmöglich in einem Buch
festhalten, ich muss es in meinen Erinnerungen bewahren. Ist es etwa möglich,
dass Abigail auch hier an Bord ist? Ich könnte schwören, dass ich sie in der
ersten Klasse gesehen habe. Es kann doch wohl nicht wahr sein, dass sie
Onkelchen schon wieder anbetteln will? Er wird sich nicht sehr darüber freuen.
Aber Abi war ja schon immer sein Liebling. Ich darf mich nicht um sie kümmern.
Ich muss endlich mal den hochheiligen Mr Ismay treffen. Die Borebanks kümmern
sich ganz reizend um mich, in der Hinsicht brauche ich mir also keine Sorgen zu
machen. Ich werde jetzt selbst in die erste Klasse gehen.“
Die
Eintragungen endeten hier.
Miller
musste mehrmals tief durchatmen. Zuerst lenkte er seine Gedanken zu Ismay. Lucy
Ratchett war also die Nichte von Bruce Ismay gewesen, ebenso wie eine gewisse
Abigail, die auch hier an Bord zu sein scheint. Der Fall wurde immer
undurchsichtiger, und Miller bemühte sich vergeblich, eine Ordnung in all die
Gäste zu bringen, die Ismay an diesem Abend besucht haben könnten. Es war
beinahe unmöglich, weiterzukommen, wenn er nicht seine fixe Idee von vorhin
weiterverfolgte.
Zunächst
einmal war es aber unbedingt nötig, mehr über das junge Fräulein Ratchett in
Erfahrung zu bringen. Es gab nicht viele Hinweise. Das Beste wäre wohl, sich
erst einmal über die Arbeitgeber zu informieren. Miller beschloss, zunächst zu
Mr Borebank zu gehen und ihn über das Kindermädchen zu befragen. Und dann
sollte er vielleicht auch mal wieder nach Mrs Dobbins schauen, ob von ihr eine
Antwort zu erwarten war. Bevor er das Zimmer verlassen konnte, wurde sein Blick
von einem Brief festgehalten, den Miss Ratchett wohl vergeblich unter der
Schreibtischauflage zu verstecken gesucht hatte. Eine weiße Ecke schaute
hervor. Miller zog den Umschlag hervor und zog einen Zettel mit großer Schrift
heraus.
„Meine
liebe Lucy, triff mich um 23 Uhr am elektrischen Pferd. Ich brauche deine
Zuneigung. John“
Und wer war
nun John? Miller zwang sich selbst, diesen Brief noch nicht weiter zu beachten
und steckte ihn in die Tasche. Er warf noch schnell einen Blick durch die
Kabine, entschied sich dazu, den eleganten Kugelschreiber, der zuvor unter das
Bett gerollt war, ebenfalls einzustecken und machte sich dann auf den Weg zu
den Borebanks.
Mrs
Dobbins´ Notiz konnte ihm nicht weiterhelfen. Im Gegenteil, sie verunsicherte
Patrick Grearson zutiefst. War also Geraldine Dobbins doch noch eine der
wichtigsten Zeuginnen? Er würde bald bei ihr vorbeischauen, aber er hatte noch
eine andere Idee. Er verfluchte sich, dass er nicht zuvor darauf gekommen war
und ging zum Zahlmeisterbüro. Inständig betete er darum, dass Elsa Whittle den
Schlüssel zu Ismays Kabine dort abgegeben hatte.
„Mr
McElroy?“
Er drückte
auf die kleine Klingel an der Theke.
„Mr
Grearson, sie sind es wieder! Na, wie kann ich ihnen denn dieses Mal helfen?“
„Erinnern
sie sich vielleicht an eine junge Frau, die einen Schlüssel hier abgegeben hat?
Das kann noch gar nicht so lange her sein, vielleicht eine halbe Stunde? Es
muss der Schlüssel zu Bruce Ismays Kabine sein.“
„Wieso? Was
wollen sie denn damit?“ fragte der Zahlmeister ein wenig misstrauisch und hakte
ein paar Zeilen auf seinem Klemmbrett ab.
Grearson
versuchte, möglichst geschäftig zu klingen: „Wissen sie, wir haben uns noch
nicht die Mühe gemacht und Mr Ismays Kabine angeschaut. Auch wenn er vielleicht
nicht dort ermordet wurde, so weiß ich mit Sicherheit, dass jemand anderes in
der Kabine gewesen ist. Dieser Jemand steht vielleicht mit dem Mord in
Verbindung, und ich hoffe, dass es in der Kabine Hinweise gibt.“
„Mr
Grearson, ihre Hilfsbereitschaft in dieser Sache in allen Ehren, aber ich weiß
nicht, ob ich ihnen den Schlüssel so einfach geben kann. Sie sind schließlich
kein Mitarbeiter des Schiffes. Ich bräuchte schon die Erlaubnis von einem der
höheren Angestellten.“
Grearson
lehnte sich vor, um nicht laut sprechen zu müssen. Ein weiterer, älterer Mann
wartete hinter ihm, um seinerseits etwas vom Zahlmeister abzuholen.
„McElroy,
nun stellen sie sich nicht so an. Es wird nicht lange dauern. Das muss ja
keiner mitbekommen, oder? Sie können nicht erwarten, dass Smith oder Murdoch ihre
Plätze auf dem Schiff verlassen, um sich um diese Angelegenheit zu kümmern. Sie
sind der Meinung, dass wir vor New York sowieso nichts tun können.“
McElroy
wurde es ein wenig unangenehm. Er trat zur Seite und holte einen kleinen
Schlüssel von einem Board. Er winkte dem Mann hinter Grearson zu und reichte
ihm den Schlüssel.
„Bitte, Mr
Hurst!“
Der ältere
Mann nickte kurz und war denn verschwunden. Nun wandte der Zahlmeister sich
wieder an Grearson.
„Denken sie
das etwa nicht? Ich meine, dass wir vor New York nichts tun können? So ist es
doch, oder?“
„Eben
nicht!“ sagte Grearson energisch. „Hören sie, ein Mörder läuft hier an Bord rum
und scheint volle Anonymität zu genießen. Soll er etwa weitermachen dürfen wie
bisher? Wir dürfen es nicht zulassen, dass vielleicht noch ein Mord geschieht.
Geben sie mir den Schlüssel“, befahl er in strengem Ton.
McElroy
zuckte zusammen und suchte Ismays Schlüssel. Er überreichte ihn Grearson.
„Den haben
sie nicht von mir“, fügte er kleinlaut hinzu.
„Vielen
Dank, Mr McElroy!“
Patrick
Grearson machte sich auf den Weg zu Ismays Kabine. Als er vor der Tür stand,
blickte er den Korridor auf und ab, ganz so, als sei er selbst der Einbrecher.
Es war aber niemand da.
Er trat ein
und erkannte sofort, dass diese Kabine anders aufgebaut war als die übrigen.
Sie war fast leer. An der Längswand stand ein großes Doppelbett mit vielen
Verzierungen und vier Säulen an den Ecken. Sie stellten Baumstämme dar, um die
sich zierlicher Efeu rankte. Auf beiden Seiten neben dem Bett stand je ein
Nachttisch. Das Bett war erstaunlich ordentlich; es musste frisch bezogen
worden sein. Am Kopfende türmten sich mehrere edle Kopfkissen auf. Grearson
schob die Decke und das Laken zur Seite, konnte aber auch an der Matratze keine
Blutspuren entdecken. Genau wie er erwartet hatte. Wahrscheinlich war Ismay
hier gar nicht ermordet worden. Der Teppich, der das Zimmer zierte und die
Schritte schluckte, war von einer hellen Tönung, so dass man jeden Fleck hätte
sehen müssen. Bis auf ein paar Schuhabdrücke war er jedoch sauber. Einzig ein
paar Markierungen weckten Grearsons Aufmerksamkeit. Es handelte sich um etwa
centgroße Vertiefungen im Teppich, die in unregelmäßigem Abstand von der linken
Seite des Bettes zur Zimmertür verliefen. Sie mussten irgendwie in den weichen Bodenbelag
gedrückt worden sein.
Gegenüber
dem Bett hingen zwei große Spiegel an der Wand. Außerdem befand sich in einer
Ecke des Zimmers auch noch ein Waschbecken. Der Nutzen dieses Raumes stand für
Grearson damit fest: Es hatte nur den Zweck, die Lust zu befriedigen. Hier
wollte sich wohl niemand länger als wirklich nötig aufhalten. Er kniete sich
hin und spähte unter das Bett. Auch hier war nichts zu sehen. Dann trat er an
die Spiegel. Sie reichten vom Boden bis fast zur Decke hinauf. Keine
Fingerabdrücke; sie glänzten blitzblank.
Grearson
drehte sich um und betrachtete den Aufbau des Zimmers noch einmal genauer. Dann
kam ihm eine Idee und er verließ das Zimmer. Draußen schloss er die Tür hinter
sich und kniete vor dem Schlüsselloch. Er wollte herausfinden, was Mrs Dobbins
womöglich gesehen haben konnte. Er schaute aus jedem erdenklichen Blickwinkel
durch das Schlüsselloch, aber es war ziemlich klein und erlaubte nur einen
Blick auf den vorderen der beiden Wandspiegel, das Waschbecken in der hinteren,
rechten Ecke und eines der Bullaugen. Vom Bett an der linken Seite war nichts
zu sehen. Wenn Grearson aber in den Spiegel blickte, konnte er den hinteren der
beiden Nachttische erblicken und eine Ecke des Bettes. Falls jemand dort
gelegen hat, konnte man zumindest von den Füßen bis ungefähr zur Hüfte aufwärts
blicken, je nach Lage.
Grearson
erhob sich und trat wieder in die Kabine. Er ging zum hinteren Teil des Bettes
und versuchte sich vorzustellen, wer da wohl gelegen haben mochte; ob es Ismay
oder seine jeweilige Errungenschaft war. Auch hier kniete er nochmals nieder
und schaute unter das Bett. Auch hier war nichts zu entdecken. Es schien, als
wäre der Raum nie benutzt worden. Beiläufig knipste Grearson die
Nachttischlampe an und wieder aus. Das von ihr ausgehende Licht wurde durch den
kitschigen roten Glasschirm erotisch eingefärbt. Dies führte Grearson dazu,
dass er das Hauptlicht löschte und nur die beiden kleinen Lampen einschaltete.
Das Zimmer war nun von einem tiefen Rot erfüllt, das gleichzeitig Wärme und
Versuchung ausstrahlte. Erneut verließ Grearson die Kabine und schaute von
außen durch das Schlüsselloch. Es war immerhin möglich, dass Mrs Dobbins Ismay
in dieser brisanten Situation entdeckt hatte. Konnte man bei dem roten Licht
überhaupt etwas durch das kleine Loch entdecken? Ja, alles sah genauso aus wie
vorher. Es gab nur eine kleine, aber wesentliche Änderung: Im Spiegel war
nichts mehr zu erkennen. Das rote Licht und die düsteren Vorhänge hinter dem
Bett sowie die dunklen Bezüge führten dazu, dass im Spiegel nur noch
einheitliches Düster zu erkennen war. Wenn also das Rotlicht eingeschaltet war,
konnte man die Reflektion im Spiegel nicht sehen.
Zurück in
der Kabine schaltete Grearson wieder das normale Licht an. Wenn Mrs Dobbins
also wirklich etwas gesehen hat, dann wohl keine Liebesszene. So romantisch das
Zimmer im roten Licht auch wirkte, so abweisend schloss es jeden Eindringling
im normalen Licht aus. Ismay würde seine Eroberung wohl kaum abschrecken
wollen. Und was sollte er bei dem Rotlicht schon außerhalb des Bettes wollen?
Patrick Grearson setzte sich auf die Bettkante. Zugegeben, dachte er sich, das
ist eine sehr löchrige Schlussfolgerung, aber sie war etwas wert. Immerhin eine
kleine Spur: Mrs Dobbins hatte Ismay – oder jemanden anderes! – bei einer Sache
beobachtet, die nicht nur Ruf schädigend, sondern vermutlich auch noch
illegaler Natur war. Grearson seufzte. Es hatte keinen Sinn, weiter
nachzudenken. Er schaltete das Licht aus, schloss die Tür hinter sich ab und
brachte den Schlüssel zurück zum Zahlmeister. Dann ging er zu Mrs Dobbins.
Das
gleißend helle Licht war schnell wieder verschwunden. Es hatte einer düsteren
Schwere Platz gemacht. Sterne tanzten vor ihren Augen auf und ab, Alpträume
quälten sie unaufhörlich. Und das Pochen, es ließ einfach nicht nach. Dann
verstummten mit einem Male alle Stimmen in ihrem Kopf. Langsam, ganz langsam
öffnete sie die Augen.
„Ich lebe.“
Diese zwei
Worte kosteten Geraldine Dobbins unglaublich viel Kraft. Die Schmerz- und
Beruhigungsmittel wirkten noch immer. Es dauerte lange, bis Mrs Dobbins ihren
Blick scharf stellen konnte. Dann fügte sich der weiße Einheitsbrei zu einem
langweiligen Muster aus Deckenverkleidung zusammen. Holz, frisch gestrichen.
Sie blickte an die Decke des Krankenzimmers. Beim Versuch, ihre Gelenke zu
bewegen, musste sie stark husten. Es tat schrecklich weh, ein Stechen durchfuhr
ihren ganzen Körper. Trotz aller Anstrengung schaffte sie es nicht, auch nur
den Arm zu heben. Sie blickte zum Fußende des Bettes, ihre Augen nur einen Spalt
geöffnet. Ihr Bein war dick verbunden, der leuchtend weiße Verband blendete
sie. Von dort kam der pochende Schmerz. Der Schuss war daneben gegangen,
stellte Mrs Dobbins nüchtern fest. Sie war zu müde, um eine freudige
Gefühlsregung zu zeigen.
Gerade wollte
sie die Augen wieder schließen, als sich die Tür zur Kabine öffnete. Wer auch
immer da eintrat, bemühte sich sehr, keinen Lärm zu machen. Behutsam schloss
der Besucher die Tür hinter sich und trat an das Bett heran.
„Mrs
Dobbins? Sind sie wach? Können sie mich hören?“
Sie öffnete
ihre Augen wieder und versuchte, den Kopf zur Seite zu drehen. Es gelang ihr
zumindest ein wenig und sie erkannte einen gepflegten Mann in weißem Jackett.
„Mrs
Dobbins, mein Name ist Miller. Ich bin Steward. Mr Grearson hat mir erzählt,
was vorgefallen ist.“
Geraldine
Dobbins wollte antworten, doch sie konnte nur ein paar Laute von sich geben.
„Sagen sie
nichts“, beruhigte der Steward sie. „Ich habe gehört, dass sie angeschossen
worden sind. Mr Grearson hat leider niemanden sehen können. Ich glaube, sie
haben aus der Entfernung auch nichts Deutliches erkennen können, oder?“
Mrs Dobbins
schüttelte leicht den Kopf.
„Das habe
ich befürchtet. Hören sie, ich weiß, dass sie heute am früheren Abend an Mr
Ismays Kabine waren und dort durch das Schlüsselloch geschaut haben. Niemand
will ihnen daraus einen Strick drehen. Sie trifft keine Schuld an dem, was
vorgefallen ist. Sie wissen, dass Mr Ismay tot ist. Ich glaube nicht, dass sie
die Täterin waren. Aber da sie um die betreffende Zeit herum in der Nähe waren,
hoffe ich, dass sie etwas Wichtiges gesehen haben, vielleicht Leute, die das
Zimmer betreten haben, oder vielleicht sogar den Mord beobachtet haben. Haben
sie den Mord gesehen, Mrs Dobbins?“
Die
Angesprochene schloss die Augen und versuchte nachzudenken. Sie schüttelte den
Kopf. Miller blickte enttäuscht zu Boden.
„Sie… sie
müssen…“
Mrs Dobbins
musste wieder husten. Miller schaute auf und ging noch näher an das Bett heran,
damit Mrs Dobbins nicht so laut sprechen musste.
„Finden sie…
das Auge. Ich habe es versteckt… und dann denken sie nach, denken sie… Was ist
schon ein Mann ohne Schultern?“
„Mrs
Dobbins, ich verstehe nicht? Wovon sprechen sie? Welches Auge?“ Den Hinweis mit
den Schultern hatte er taktvoll übergangen, da er dies auf eine
Unzurechnungsfähigkeit zurückführte.
„Gehen sie,
jetzt…“
Miller
schüttelte den Kopf.
„Es tut mir
leid, Mrs Dobbins. Sie müssen sich erholen. Ich habe sie schon viel zu sehr
erschöpft. Bitte schlafen sie. Ich will sehen, was ich tun kann.“
Miller trat
rückwärts Schritt für Schritt zur Tür und verließ das Krankenzimmer.
Geraldine
Dobbins legte den Kopf zur Seite. Sie hatte gesagt, was sie wusste. Sie war
müde. Aber sie war dem Steward sehr dankbar, weil er es zumindest für fünf
Minuten geschafft hatte, sie von dem Schmerz in ihrem Bein abzulenken, der
jetzt unaufhaltsam wiederkehrte. Sie schloss die Augen und war erstaunlich
schnell wieder eingeschlafen.
Abrupt
schreckte sie wieder aus den wirren Träumen auf. Jemand war in das Zimmer
getreten und hatte die Tür hinter sich zugeworfen. Patrick Grearson beugte sich
über das Bett.
„Mrs
Dobbins? Können sie reden? Sagen sie mir, was sie gesehen haben!“
Die
Patientin war ein wenig überrascht und erschrocken über den schroffen Tonfall,
den der Mann angeschlagen hatte. Dennoch kümmerte sie sich nicht weiter darum.
„Eine
Frau“, stammelte sie. „Eine Frau mit dunklen Beinen. Sie trug einen knielangen
Rock, glaube ich.“ Jedes der Worte bereitete ihr Schmerzen, doch sie sah, wie
Grearson aufatmete und war froh, helfen zu können. „Ich habe sie nur im Spiegel
erkennen können. Ich glaube, es lag jemand auf dem Bett. Jedenfalls verhielt
sie sich so. Und sie hatte einen Dolch dabei. So ein großes, verziertes Messer.
Ich…“
„Still, Mrs
Dobbins. Sie überanstrengen sich. Das ist schon sehr viel hilfreicher als
alles, was ich bisher erfahren habe. Können sie sich an mich erinnern? Es
scheint mir, als hätten sie eine Gehirnerschütterung erlitten. Erkennen sie
mich wieder?“
Mrs Dobbins
drehte den Kopf wieder auf die Seite und musterte Grearson. Nein, das
Gedächtnis hatte sie nicht verlassen.
„Sie sind
Mr Grearson. Ich erkenne sie wieder. Ich habe sie heute schon einmal gesehen.“
„Das ist
richtig. Wir haben uns bei ihnen im Zimmer unterhalten. Gut. Ich wollte nur
sichergehen, dass ihre Erinnerung an die Frau in Ismays Kabine auch wahr ist.
Schlafen sie jetzt, ich komme später wieder.“
Wie ein
Raubtier, das seine Beute umkreist, ging Offizier Murdoch immer wieder um den
Stuhl herum, auf dem David Morrison saß. Die Hände hatte er hinter dem Rücken
verschränkt. Morrison blickte ohne eine Gefühlsregung stur geradeaus.
Schweißperlen auf seiner Stirn glänzten im Licht der Deckenlampen.
„Mr
Morrison, ich verstehe die Lage nun so weit, dass wir sie hier wohl nicht
länger werden festhalten können. Leider. Uns fehlen die Beweise.“ Murdoch
überlegte einen kurzen Moment, dann korrigierte er sich. „Uns fehlt, um genau
zu sein, sogar das kleinste Indiz. Dieser Mord macht mich ratlos. Nun nützt es
nichts, zu schweigen. Tun sie uns doch bitte den Gefallen und sagen sie uns,
was sie über Lucy Ratchett wissen!“
Morrison
hatte keine Eile. Er zog seine Weste zurecht und schnippte eine imaginäre
Staubflocke von seinem weißen Hemd.
„Ich habe
Miss Ratchett früher einmal flüchtig kennen gelernt. Eine Affäre, nichts
weiter. Ein nettes kleines Abenteuer, wenn sie so wollen.“ Morrison blickte
weiter stur geradeaus. „Lucy dachte, es hätte irgendeine Bedeutung für mich
gehabt. Sie dachte, es wäre mir ernst mit ihr gewesen. Sie hat die Sache völlig
falsch eingeschätzt. Und wie Mrs Borebank das ja schon angedeutet hat, war da
dieser Ring. Lucy hatte ihn von ihr geschenkt bekommen und ein Imitat
anfertigen lassen. Und sie schenkte mir den nachgemachten Ring und meinte, dass
diese Ringe uns für immer verbinden sollten. Sie verstehen sicher, so eine Art
Heiratsantrag.“
Murdoch
trat an das Bullauge und schüttelte den Kopf.
„Was hätte
ich denn tun sollen? Hätte ich sagen sollen: Nein, ich will dich nicht, du
warst nur so ein Flirt für mich? Das konnte ich nicht tun. Es hätte ihr
wahrscheinlich das Herz gebrochen, und deshalb habe ich den Ring genommen und
habe sie heimlich verlassen.“
„Mr
Grearson, auch ich habe eine Freundin. Und wenn ich mich in Herzensdingen auch
vielleicht nicht so gut auskennen mag, so ist mir wohl bewusst, dass sie der
jungen Frau durch ihr geheimnisvolles Verschwinden noch mehr wehgetan haben als
wenn sie gleich Schluss gemacht hätten. Lieber ein Ende mit Schrecken als ein
Schrecken ohne Ende, wie der Volksmund sagt.“
Nun musste
David Morrison den Offizier doch bewundernd anschauen. Das war ein wahres Wort.
Doch schnell genug verfiel er wieder in seine verschlossene Haltung und blickte
geradeaus.
„Sie
stellen sich das vielleicht einfach vor. Die Zeit der Trennung, das war auch
die Zeit, in der ich Claris kennen gelernt habe. Meine wahre Liebe. Das beruhte
auf Gegenseitigkeit. Wir mochten uns auf Anhieb. Was glauben sie denn, wie
schnell Lucy da vergessen war. Nur der Ring erinnerte mich noch an sie, und der
war noch nicht einmal echt. Ich habe ihn hier im Rauchsalon verspielt und Mrs
Borebank wollte mir aus Mitleid das Original schenken lassen. Von Lucy. Ist
ihnen das Erklärung genug?“
„Ich will
es so formulieren: Es leuchtet mir alles ein. Aber es spricht eigentlich nichts
in dieser Erklärung dagegen, dass sie Miss Ratchett ermordet haben und den Ring
gestohlen haben.“
Entschlossen
stand Morrison von seinem Stuhl auf und tippte Murdoch provozierend ans
Abzeichen.
„Das sehen
sie richtig. Aber genauso gut könnte es jeder andere der Mitreisenden auf
diesem Schiff gewesen sein. Sie haben nichts in der Hand und lassen mich
deswegen gehen. Stimmt doch, oder?“
Murdoch
seufzte.
„Gehen sie,
in Gottes Namen. Nur beachten sie bitte eines: dieser Mord ist bereits der
zweite an Bord.“
Morrison
blickte auf.
„Mr Ismay
wurde umgebracht. Wir ermitteln bereits in dieser Sache. Sie wissen jetzt
genug. Um eine Massenhysterie zu vermeiden, ersuche ich sie dringlichst,
niemandem von den Morden zu erzählen! Sie können nun gehen.“
„Danke.
Warum nicht gleich so? Ich habe schließlich noch etwas zu erledigen.“ Morrison
trat zur Tür und fügte geheimnisvoll hinzu: „Das nächste Opfer wartet bereits!“
Ohne auf
die Reaktion des Offiziers zu warten, trat Morrison auf das Bootsdeck und
beeilte sich, in das Treppenhaus zu kommen. Dann machte er sich auf den Weg zu
Kabine D-12. Es war beinahe zu schön, um wahr zu sein. Sie hier an Bord? Voller
Vorfreude betrat Morrison den Empfang der ersten Klasse, um sich von dort zu
einem der Korridore zu begeben. Aufgeregt stand er vor der Kabinentür und klopfte.
„Claris?
Bist du da drin?“
„Wer ist
denn da?“ antwortete eine verheulte Stimme von innen und putzte sich die Nase.
„Claris?
Bist du es wirklich? Ich bin es, David!“
Von
verheulter Stimme war mit einem Mal nichts mehr zu merken. Morrison hörte, wie
jemand in der Kabine hastig aufsprang und zur Tür kam.
„David!
Mein Schatz! Bitte hilf mir!“
„Was ist
denn los?“ fragte der Schatz und wollte die Tür öffnen, doch sie war
verschlossen.
„Meine
Mutter hat mich hier eingesperrt. Du musst mich hier herausholen. Ich muss mit
meinem Vater sprechen.“
„Dein
Vater? Claris, was redest du da? Dein Vater ist weg!“
„Das ist
eine Lüge. David, hilf mir hier heraus!“
Morrison
rüttelte mehrmals vergeblich an der Türklinke.
„Claris,
geh von der Tür weg!“
Er
lauschte, wie die junge Frau wieder in die Kabine zurückging und holte dann
aus. Mit aller Kraft trat er auf Höhe des Schlosses gegen die Tür. Es krachte,
aber die Tür blieb verschlossen. Ein weiteres Mal sauste der Fuß gegen das
Holz. Es tat sich nichts. Morrison ignorierte den Schmerz, der von seinem Fuß
langsam nach oben kroch und trat ein drittes Mal gegen die Tür. Das Holz
splitterte. Schnell ging er an die Tür und versuchte, sie zu öffnen. Es klappte
noch immer nicht. David Morrison versuchte, sich zu konzentrieren und trat
nochmals gegen die Tür. Ein lautes Krachen kam herumfliegenden Holzsplittern
zuvor. Die Tür schwang nach innen auf.
Claris
Hilton kam herausgestürmt und fiel dem Mann um den Hals.
„David! Ich
habe schon gedacht, dass ich dich nie wiedersehen würde. Mein Retter!“
„Claris!“
Die beiden
umarmten sich innig. Dann wurde Claris hektisch.
„Schatz,
ich muss hier weg. Ich muss zu Bruce Ismay. Er ist mein wahrer Vater. Mutter
hat mir all die Jahre eine große Lügengeschichte erzählt. Ich muss mit ihm
sprechen.“
Morrison
schluckte hart.
„Was ist
los?“ fragte Claris verwirrt.
„Da gibt es
eine Sache… Mr Ismay ist tot. Er wurde hier an Bord ermordet.“
Die junge
Frau wurde leichenblass.
„Ermordet?“
Ihre Stimme war kaum mehr als ein Atmen. Morrison nickte.
„Es gab
noch einen weiteren Mord, in dem man mich verdächtigt hat. So habe ich davon
gehört.“
„Verdächtigt?
Dich? Was hast du getan, David?“
Beruhigend
legte er ihr die Hand auf die Schulter.
„Nichts.
Sei unbesorgt.“
„David! Ich
muss mit jemandem sprechen. Über den Mord an Bruce Ismay.“
„Schatz, du
darfst nicht mit der Crew reden. Die haben mir verboten, die Sache
weiterzuerzählen.“
„Aber mit
wem soll ich dann reden? Ich habe einen Verdacht, den muss ich loswerden.“
„Also… beim
Tatort des zweiten Mordes, da war noch so ein anderer Typ. Ich wusste zuerst
gar nicht, was der da sollte. Der muss irgendwie in den Nachforschungen mit
drinstecken, sonst wäre er nicht da gewesen. Grearson hieß er, glaube ich.“
„Grearson?
Patrick Grearson? Ich habe ihn heute Abend kennen gelernt, er hat sich mit mir
und Mr Müller unterhalten. Er ist darin verwickelt? Ich habe gar nichts
gemerkt.“
Offenbar
war es Morrison gar nicht recht, dass die Aufmerksamkeit seiner Geliebten nun
so sehr abgelenkt wurde.
„Schatz,
kümmere dich nicht weiter darum. Die Hauptsache ist, dass wir wieder zusammen
sind.“
Er wollte
sich zu einem Kuss vorbeugen, doch Claris entschlüpfte ihm und wandte sich zum
Gehen.
„Entschuldige,
Liebling, aber ich muss das erst loswerden. Danach darfst du mich so lange
sehen, wie du willst. Es geht hier um mein Leben, das ich retten will. Bitte
hab Verständnis!“
Noch bevor
David Morrison antworten konnte, war Ms Hilton um die Ecke verschwunden.
Patrick
Grearson legte sich wieder auf sein Bett und dachte an alles, was geschehen
war, seitdem er das letzte Mal aufgestanden war. Verschiedene Sätze, die er
gehört hatte, gingen ihm durch den Kopf, verschiedene Bilder und dazwischen
immer wieder das Gefühl, dass im Moment alles in Ordnung war. Vielleicht hatten
Smith und Murdoch Recht. Vielleicht konnte man hier an Bord wirklich nichts
tun. Diese Menge an Reisenden war einfach zu unübersichtlich und es gab zu
wenig Hinweise. Immerhin hatte Mrs Dobbins in Ismays Kabine eine Frau
beobachten können, mit einem großen verzierten Messer. Für ihn gab es nun
keinen Zweifel mehr daran, dass Bruce Ismay mit dem Dolch ermordet wurde, der
aus Ms Locketts Zimmer gestohlen worden war. Aber wer um alles in der Welt
konnte von diesen Dolchen wissen außer Ms Lockett selbst? Irgendjemand wollte
ihr den Mord anhängen, genauso wie jemand es für besonders wirkungsvoll
gehalten hatte, die Leiche vor seiner eigenen Tür zu platzieren. Und dann hatte
Mrs Dobbins auch noch diesen rätselhaften Hinweis am Schottlandweg
hinterlassen. Was konnte das nur bedeuten? Sie hatte eine Spur, das war sicher.
Sie wusste etwas sehr Wichtiges. Grearson musste es unbedingt finden, hatte
aber nicht die geringste Ahnung, was mit dem „falschen Ruhm des Schiffes“
gemeint sein könnte.
Seine
Gedanken wurden jäh unterbrochen. Jemand klopfte laut und hektisch an die Tür.
„Mr
Grearson, sind sie da drin? Machen sie bitte schnell auf, ich muss mit ihnen
reden!“
Träge erhob
er sich vom Bett und ging zur Tür. Er drehte den Schlüssel im Schloss und
öffnete.
Claris
Hilton stand im Flur und blickte sich um.
„Bitte
lassen sie mich herein. Es soll nicht jeder hören, was ich ihnen zu erzählen
habe.“
„Sind sie
nicht…?“
„Claris
Hilton. Wir haben uns vorher im Salon unterhalten. Und jetzt lassen sie mich
ein, ich bitte sie!“
Grearson
öffnete die Tür und machte eine einladende Handbewegung. Ms Hilton zögerte
nicht lange und ließ sich sogleich auf einem Stuhl in der Kabine nieder. Für
die Einrichtung hatte sie kein Auge. Sie blickte Grearson an und wartete, dass
auch er sich setzte. Dann begann sie zu sprechen.
„Mr Grearson.
Ich habe Informationen, die sie interessieren werden. Ich habe ihnen doch heute
von meiner Mutter erzählt.“ Grearson nickte zustimmend. „Und dabei habe ich
ihnen erzählt, dass ich nie meinen Vater getroffen habe. Und nun habe ich
herausgefunden, dass meine Mutter mir nur Lügen über ihn erzählt hat. Wollen
sie wissen, wer mein Vater ist? Oder besser: Wer er war? Bruce Ismay, und nun
ist er tot.“
Grearson
schaute überrascht auf. Zu Claris´ Enttäuschung galt seine Überraschung aber
nicht der Tatsache, dass Ismay ihr Vater war.
„Woher
wissen sie, dass er tot ist, Ms Hilton?“
„Also
stimmt es? Und ich hatte so gehofft, David würde sich irren. Mein Geliebter,
David Morrison, ist hier an Bord. Er hat es mir erzählt.“
„Morrison…
so ein Typ mit Cordhose und Weste?“
„Genau! Das
ist er. Aber bitte nennen sie ihn nicht einfach so „Typ“. Das klingt schon wie
meine Mutter. Sie fand ihn auch nie würdig genug, um mein Mann zu werden.“
„Entschuldigen
sie bitte. Eigentlich hätte er ihnen das gar nicht erzählen sollen, aber unter
diesen Umständen…“
„Eben.
Unter diesen Umständen. Mein Vater ist hier an Bord und er ist ermordet worden.
Und ich habe einen Verdacht, den ich kaum auszusprechen wage. Ich will ihnen
was erzählen. Meine Mutter hat mit unserem Anwalt gesprochen und sie haben
gemeinsam darüber diskutiert, dass das Problem mit meinem Vater am leichtesten
aus der Welt zu schaffen sei, wenn er – unser Anwalt – ihn aus dem Weg räumen
würde. Genau das haben sie gesagt.“
„Wollen sie
damit sagen, sie glauben, es sei ihr Anwalt gewesen?“ Grearson war der festen
Überzeugung nach Mrs Dobbins´ Aussage, dass eine Frau das Messer hat sprechen
lassen.
„Nein. Der
ist dazu viel zu ängstlich, er würde so etwas nie tun. Das hat meine Mutter ihm
auch vorgeworfen. Er sei zu schwächlich für diese Welt. Ich glaube, sie hat es
getan.“
„Miss
Hilton, wie können sie nur so etwas über ihre eigene Mutter sagen?“
„Meine
Mutter ist mir so egal, das können sie sich nicht vorstellen. Nachdem sie mir
meinen Geliebten weggenommen hat. Ich bin so froh, dass ich ihn wiedergefunden
habe. Und stellen sie sich vor, sie hat mich in unserer Kabine eingesperrt,
damit ich keinen Unsinn anstelle! Das ist für mich keine Mutterliebe mehr. Ich
glaube, dass sie es gewesen ist.“
Grearson
dachte einen Moment nach. Ein Motiv hätten wir also, und scheinbar auch eine
Person, die resolut genug ist, um es durchzuführen. Aber etwas störte ihn.
Irgendwo war ein Fehler.
„Miss
Hilton, das klingt durchaus überzeugend, aber es ist unmöglich. Da ist etwas
falsch… aber ich bin mir nicht sicher, was es ist. Sagen sie mir bitte, wann
haben ihre Mutter und der Anwalt dieses Gespräch geführt, bei dem es um Ismay
ging?“
„Ich habe
nicht auf die Uhr gesehen. Aber direkt danach hat sie mich eingeschlossen. Das
war ungefähr viertel nach Zehn, ein wenig früher vielleicht.“
Grearson
schaute auf seine Uhr.
„Da haben
wir ja auch schon den Knackpunkt. Wissen sie, Mr Ismay wurde am frühen Abend
ermordet, so um..:“
Grearson
verstummte. Die Frage der Tatzeit hatten er und Miller noch nicht eindeutig
geklärt. Da musste ein weiteres Gespräch geführt werden.
„So
ungefähr gegen zwanzig Uhr ist es geschehen. Das heißt, als ihre Mutter sich
mit ihrem Anwalt unterhalten hat, war Ismay bereits seit einiger Zeit tot, und
offensichtlich scheinen die beiden nichts davon geahnt zu haben.“
Jetzt war
es an Claris Hilton, zu schweigen. Es hatte alles so schön gepasst. Und nun ein
Satz dieses Mannes, der ihr gegenübersaß, und alles fiel zusammen. Doch sie war
nicht auf den Kopf gefallen.
„Sie mögen Recht
haben, wenn sie von Mr Stansfield reden. So heißt unser Anwalt. Ich bin sicher,
dass er nicht wusste, dass Ismay tot ist. Er sagte zu meiner Mutter, dass er
ihn den ganzen Abend nicht habe finden können, was ja wohl kein Wunder ist.
Aber es könnte doch gut sein, dass meine Mutter ihm etwas vorgespielt hat. Dass
sie meinen Vater umgebracht hat und danach einfach vorgegeben hat, nichts davon
zu wissen. Stansfield hat ihr jedenfalls geglaubt.“
„Nun ja,
das mag vielleicht eine Möglichkeit sein. Aber dieser Faden ist mir zu dünn,
ich komme daran nicht weiter. Mein Verdacht, dass es sich bei dem Mörder um
eine Frau handelt, wird dadurch zwar verstärkt, aber ich traue dem nicht. Ich
danke ihnen in jedem Fall für diese Informationen, Miss Hilton. Ich setze mich
mit ihnen in Verbindung, wenn ich wieder etwas wissen muss.“
„Ich bin
mir sicher, dass sie mich noch nicht wegschicken wollen“, sagte Claris eifrig.
„Ich kann ihnen noch mehr erzählen!“
„Und was
wäre das?“
„Ich habe
heute Abend mit einer außerordentlich hochrangigen, etwas verrückten aber sehr
netten Frau geredet. Ihr Name ist Letitia Dumonde.“
Bei
Erwähnung des Namens Dumonde seufzte Grearson. Auch ihm war ihr Auftritt in
guter Erinnerung geblieben.
„Sie hat es
mir nicht persönlich erzählt, aber ich habe es durch eine gute Freundin von ihr
zu hören bekommen, Mrs Myers-Jones. Sie sollten wissen, dass mein Vater
offensichtlich kein unbeschriebenes Blatt war. Meine Mutter war damals nur eine
von mehreren Affären, die er hatte. Mrs Dumonde war eine andere. Und ich kann
mir vorstellen, dass jede Frau, die von ihm so schmählich im Stich gelassen
wurde wie meine Mutter, einen guten Grund hat, ihn zu töten. Mrs Myers-Jones
sagte auch, dass die Dumonde damals sehr traurig gewesen ist.“
„Damals?“
fragte Grearson zweifelnd.
„Na ja. Es
ist schon einige Jahre her. Was sagte sie noch gleich? Zwanzig Jahre? Oder noch
länger?“
Patrick
Grearson seufzte erneut.
„Miss
Hilton, es ist sehr nett und zuvorkommend von ihnen, dass sie mir das alles
erzählen. Aber ich glaube nicht, dass uns das weiterhelfen kann. Wirklich
nicht. Ich werde später gerne einmal mit dieser – wie hieß sie doch gleich –
reden, aber…“
„Myers-Jones.
Sie hieß Myers-Jones“, unterbrach Ms Hilton ihn genervt. Sie hatte sich
wesentlich mehr Aufmerksamkeit erhofft.
„Nein, mit
ihr will ich nicht reden. Ich möchte das Ganze aus erster Hand erfahren.“
„Ach so.
Dann sprechen sie bitte persönlich mit Letitia Dumonde.“
„Genau.
Letitia Du…“ Nur für eine Sekunde stockte Grearson der Atem. Letitia Dumonde. Grearson
hatte den Bericht von Murdoch über den Mord an Ismay gelesen. Es wurde ein
Taschentuch mit einer Stickerei gefunden. Ein Monogramm, L, mit blauem Faden
eingenäht. L wie Letitia? Schweiß trat auf Grearsons Stirn.
„Mr
Grearson? Was ist los?“
„Ich habe
nur gerade überlegt. Mir ist da eine Vermutung gekommen, die mir nicht geheuer
ist. Sagt ihnen ein Taschentuch mit einem Monogramm, einem mit blauem Faden
eingenähten L etwas?“
„Meine
Mutter benutzt diese Taschentücher immer, wieso kommen sie darauf? Woher wissen
sie das?“
„Miss
Hilton! Haben sie noch nie überlegt, was das L zu bedeuten hat?“
Claris
schüttelte den Kopf.
„Natürlich
habe ich Mutter danach gefragt. Das Monogramm war von meinem Vater, Lester
Hilton.“
„Claris!
Sie haben keinen Vater, der Lester heißt!“
„Sie haben
ja Recht! Aber… was soll das bedeuten, ich verstehe das nicht!“
„Miss
Hilton, wir beenden das Gespräch hier. Nachdenken wird uns nicht viel
weiterbringen. Ich werde jetzt losgehen und mit Lady Dumonde sprechen. Ich habe
mich heute schon einmal mit ihr unterhalten. Das könnte schwierig werden.“
Grearson schmunzelte. „Und sie gehen bitte zu ihrer Mutter. Fragen sie sie,
woher sie diese Taschentücher hat.“
Als er sah,
wie Claris ein wenig enttäuscht aufstand, fügte er hinzu: „Aber bitte
beantworten sie mir noch eine Frage: Trug ihre Mutter heute Abend einen
knielangen Rock?“
Die junge
Frau antwortete sehr verwirrt: „Nein. Sie trägt grundsätzlich nur knöchellange
Röcke. Sehr edle Stücke zum Teil. Noch von ihrer Mutter. Aber warum fragen
sie?“
„Es ist
nichts Wichtiges. Aber ich bezweifle doch sehr, dass ihre Mutter seit unserer
Abreise jemals Ismays Kabine betreten hat.“
Ein paar
Minuten, nachdem Claris das Zimmer verlassen hatte, kam ihm ein entscheidender
Gedanke: Niemand hatte behauptet, dass Bruce Ismay in seinem Zimmer ermordet
wurde!
„Was ist
schon ein Mann ohne Schultern?“
Immer
wieder sagte der Steward diesen Satz vor sich hin, ohne jedoch seine Bedeutung
entschlüsseln zu können. Warum nur hatte Mrs Dobbins sich so kompliziert und
rätselhaft ausgedrückt? Offensichtlich war sie der Meinung, dass Miller dieses
Rätsel lüften könne, dass er irgendwie in der Lage sei, hinter das Geheimnis
der Botschaft zu kommen. Aber wie?
Miller saß
in einem Sessel im Foyer des C-Decks und hatte den Kopf in die Hand gestützt.
Je mehr er sich in diesen Satz vertiefte, umso weniger konnte er sich
konzentrieren. Deshalb beschloss er, seine eigene Spur weiterzuverfolgen. Dazu
hatte er jedoch nicht viel Gelegenheit. Als er den Korridor zum C-Deck betreten
wollte, kam ihm ganz energisch ein zerstreuter Mann entgegen. Ohne sich zu
entschuldigen, polterte er los.
„Na endlich
treffe ich jemanden. Sind sie hier zuständig? Ich brauch ihre Hilfe. Ich suche
Herrn Ismay. Fräulein Whittle war so nett, mir seine Zimmernummer zu geben,
aber es ist immer abgeschlossen. Können sie mir helfen? Sie sehen jedenfalls so
aus.“
Miller
räusperte sich.
„Vielen
Dank, Sir. Ich bin Steward. Aber die Information, die Miss Whittle ihnen
gegeben hat, ist nicht zutreffend. Die Kabine der Ismays befindet sich auf dem
B-Deck. Aber sie werden Mr Ismay auch dort nicht antreffen. Vielleicht kann ich
ihnen weiterhelfen?“
Der Andere
blickte ihn kritisch an.
„Ich will
es hoffen. Mein Name ist Harald Müller. Kommen sie mit, in eine Ecke. Noch muss
es nicht jeder wissen.“
Müller zog
den Steward in eine Ecke hinter den Fahrstühlen und atmete tief durch.
„Wovon
sprechen sie? Und warum sagten sie ´noch`?“
„Ich habe
für Harland & Wolff gearbeitet. In ein Forschungsteam hat man mich
eingespannt, zur Entwicklung bestimmter Materialien. Und es hat da einen
Skandal gegeben, der vertuscht wurde und noch immer vertuscht wird. Und ich
muss mit Ismay reden. Ich muss ihn zur Rede stellen und fordern, dass er alles
zugibt! Ich dachte immer, Herr Andrews, der Ingenieur sei verantwortlich für
diesen Schwindel, aber er sagte mir, dass Ismay selbst hinter allem steckt.
Wann kann ich ihn treffen?“
Kein
Zweifel, ein Deutscher. Miller rückte sein Jackett zurecht und versuchte, Zeit
zu gewinnen. Er konnte dem Wissenschaftler nicht erzählen, dass Ismay ermordet worden
war; andererseits schien dieser Skandal von Bedeutung zu sein und lieferte
vielleicht Hintergründe für den Mord an Ismay.
„Mr Müller,
sie müssen sich bitte beruhigen.“
Nervös
nestelte der an seiner Hornbrille und blickte immer wieder um sich.
„Natürlich,
beruhigen! Genau wie damals. Still sein, Gras darüber wachsen lassen. Wissen
sie, dass hier Menschen in Gefahr sind?“
„Sagen sie
mir, worum es geht. Ich werde es weitergeben. Ismay ist nicht zu sprechen. Sie
werden da keinen Erfolg haben, also sagen sie es mir!“
„Also gut.
Sie wissen hoffentlich, was sie dann zu tun haben. Ismay hat Harland &
Wolff beauftragt, billigen Stahl zu produzieren. Billig, um die Gesamtkosten
für die Titanic nicht ins Unermessliche wachsen zu lassen. Er gab es als
Forschungsprojekt mir gegenüber aus und erwähnte das Schiff mit keinem Wort.
Sagte, er wollte günstige Methoden für die Zukunft entwickeln. Wissen sie,
natürlich bedeutet ein hoher Preis nicht immer eine hohe Qualität, aber wenn es
um Stahl geht, dürfen sie davon ausgehen, dass gutes Material einiges kostet.
Und ich Idiot habe mich von ihm verwirren lassen, habe nur die Forschung und
nicht die damit verbundene Verantwortung gesehen! Der Stahl, den wir entwickelt
haben, ist schlecht. Deswegen ist er so günstig. Bereits bei den Tests hat sich
ergeben, dass dieses Material nur für normalen, alltäglichen Gebrauch zu
empfehlen ist, keinesfalls aber für die Belastung, die dieses Schiff mit sich
bringt.“
Müllers
Kopf wurde langsam rot. Er redete sich in Rage.
„Ich habe
davon nichts gewusst. Und nun ist die Titanic mit diesem Stahl verkleidet!
Stellen sie sich das nur vor – welchem Risiko Ismay seine Passagiere aussetzt,
und das nur um der niedrigen Kosten Willen! Ich kann das nicht mehr
verantworten. Teilen sie Ismay das mit, er soll es ruhig wissen. Er soll die
Titanic zum Umbau bringen, und wenn es noch so lange dauert und noch so teuer
wird. Ich verlange, dass er Maßnahmen ergreift. Ich werde sonst, sobald wir in
New York ankommen, den Skandal mit minderwertigem Stahl publik machen, darauf
dürfen sie sich verlassen, guter Mann!“
Jetzt kniff
der Mann die Lippen zusammen und atmete tief durch. Miller war ganz benebelt
von diesem Wortschwall. Fassungslos starrte er den kleinen Mann an und malte
sich aus, welch Niedergang die White Star Linie erwarten würde, käme diese
Geschichte an die Öffentlichkeit. Schade nur, dass Ismay seinen Betrug nicht
mehr ausmerzen konnte. Oder hatte er vielleicht schon in schrecklichstem Maße
dafür gebüßt? Nur einen Moment zog der Steward Müller in den Verdacht des
Mordes, wies ihn aber gleich wieder von sich. Falls er Ismay ermordet haben
sollte, würde er sein Motiv bestimmt nicht so offensichtlich zur Schau stellen.
Außerdem war dieser Betrug keine persönliche Angelegenheit von Müller; es hatte
vielleicht sein Gewissen verletzt, aber würde man deswegen jemanden ermorden?
Vor allem, wenn man ihn so gut in der Hand hatte?
Miller
erschrak. In der Hand…
„Sagen sie
das Ismay. Sagen sie ihm, dass ich die Beweise für den Betrug habe.“
Wutschnaubend
verließ Müller die seltsame Szene. Miller dagegen musste sich gegen die Wand
lehnen. Erpressung? Hatte Müller Ismay schon im Vorfeld erpresst? Und hatte
Ismay sich geweigert, seine Forderungen zu erfüllen? Machte Müller vielleicht
nur deshalb so viel Theater, um den Eindruck zu erzeugen, als habe er auf
dieser Fahrt noch nicht mit Ismay gesprochen? Obwohl er ihn vielleicht bereits
ermordet hat? Aber was um alles in der Welt hatte ein Mann ohne Schultern mit
dieser Sache zu tun?
Viel
verwirrter als zuvor ging Miller zum Zahlmeister, um sich nach Walter Borebanks
Zimmernummer zu erkundigen.
Was Ms
Hilton ihm erzählt hatte, hatte Grearson schon einmal aus erster Hand erfahren.
Er hatte die junge Frau aber nicht enttäuschen wollen. Allerdings war die Sache
mit dem Taschentuch neu. Insgeheim ärgerte er sich, dass er nicht früher darauf
gekommen war.
Der
Geschäftsmann klopfte an Kabine A-14. Taktgefühl. Taktgefühl und Schmeichelei,
alles Andere wäre sinnlos, wenn er tiefere Einblicke von Lady Dumonde erhalten
wollte. Sie musste sich in ihrer Position bestätigt fühlen, musste spüren, dass
man auf ihrer Seite stand. Sonst würde sie sofort wieder von ihrem hohen Ross
herabblicken.
Es dauerte
einen kleinen Moment, dann näherten sich schlurfende Schritte der Tür. Lady
Dumonde öffnete. Grearson musste sich zusammennehmen, um nicht laut
herauszulachen. Die alternde Lady hatte sich offensichtlich bereits
zurückgezogen und sah mit einem Mal richtig menschlich aus. Den zahlreichen
Schmuck hatte sie abgelegt und anstelle ihres altmodisch edlen Kleides trug sie
nun einen Morgenmantel. Offensichtlich hatte sie geraucht. Der Geruch schlug
Grearson aus ihrem Zimmer entgegen.
„Sie, Mr
Grearson? Haben sie mal auf die Uhr geschaut? Es ist fast elf Uhr. Was wollen
sie um diese ungastliche Zeit bei mir?“
„Ich
wundere mich, Lady Dumonde, dass sie sich bereits zurückgezogen haben. Wollten
sie sich nicht auf die Suche nach Mr Ismay machen? Und überhaupt, weshalb
ziehen sie sich jetzt schon zurück? Sicher ist es spät, aber wir befinden uns
hier auf der Titanic, wo die Aktivitäten und nette Unterhaltungen bis spät in
die Nacht locken. Sie sind doch ein gern gesehener Gast, wieso wollen sie sich
den anderen Reisenden vorenthalten?“
Lady
Dumonde lächelte. Wäre sie auch nur ein wenig misstrauischer gewesen, hätte sie
Grearsons Heuchelei sofort enttarnt, doch sie war bereits durch die korrekte
Anrede mit ihrem Titel so besänftigt, dass sie alles Andere nur noch als
Huldigung ihrer ehrwürdigen Gestalt, so verschlafen sie jetzt auch aussah,
wahrnahm.
„Sie haben
natürlich Recht, junger Mann, wenn sie sagen, dass meine lieben Freunde mich
vermissen werden. Ich fühle mich nur heute Abend irgendwie müde, irgendwie
schwach auf den Beinen. Vielleicht sollte ich einfach mal wieder vernünftig
schlafen, damit ich morgen umso wacher sein werde. Bruce hat über zwanzig Jahre
gewartet, da machen diese paar Stunden jetzt auch nichts mehr aus.“
Vor zwei
Stunden hat das aber noch ganz anders geklungen, dachte Grearson bei sich und
versuchte, einen Grund für diesen Sinneswandel auszumachen. War Lady Dumonde
dahinter gekommen, dass Ismay ermordet wurde? Wie sollte sie es erfahren haben?
Er beschloss, auf das Thema nicht weiter einzugehen und stattdessen mit ihr
über Ismay zu reden.
„Lady
Dumonde, wenn sie so nett wären, würden sie mir dann ein wenig über Bruce Ismay
erzählen? Ich meine, über das, was vor zwanzig Jahren geschehen ist?“
Die Dumonde
rückte ihren Morgenmantel zurecht und korrigierte den Faltenwurf. Zumindest
ihre Kleidung sah nun wieder edel aus. Dann öffnete sie die Tür ganz.
„Kommen sie
bitte herein, Mr Grearson. Ich will nicht, dass mich jeder so sieht. Das wäre
mir doch ein wenig unangenehm.“
Grearson
trat ein. Lady Dumonde hatte das meiste ihres Zimmers mit großen Stoffstücken
verkleidet, die jeden Ton schluckten. Die Lampen an den Wänden gaben ein
sanftes Licht ab, so dass die gesamte Atmosphäre unwirklich schien. Grearson
setzte sich in Erwartung unglaublicher Enthüllungen. Die würden den Eindruck
des geheimnisvollen Dumondschen Zimmers komplettieren.
„Mr
Grearson, was ich ihnen erzähle, geschieht im Vertrauen. Ich möchte, dass sie
sich dessen bewusst sind. Aber ich halte sie schon für fähig, wichtige von
unwichtigen Informationen zu trennen und die wichtigen für sich zu behalten.“
Grearson
nickte und sagte: „Sie können sich da ganz auf mich verlassen, Lady Dumonde.
Bitte beantworten sie mir nur eine einzige Frage im Voraus, damit ich sie nicht
vergesse. Sagt ihnen ein Taschentuch mit einem eingestickten blauen L etwas?“
Letitia
Dumonde schwieg und sah zu Boden.
„Das sind
meine Taschentücher“, sagte sie schließlich und holte aus der Schublade ihrer
Kommode ein weiteres Taschentuch, das genauso aussah, wie Murdoch es in dem
Bericht geschrieben hatte.
„Dann
beantworten sie mir bitte folgende Frage: Wie kommt eine Frau namens Diana
Hilton an eben diese Taschentücher?“
„Das ist
eine längere Geschichte.“ Sie atmete tief durch. „Vor 25 Jahren waren Bruce
Ismay und ich unsterblich ineinander verliebt. Er nannte es eine Affäre, aber
für mich war es noch mehr. Ich dachte, er könnte der Mann an meiner Seite
werden. Doch damals, in dieser verheerenden Sylvesternacht… es war so
wunderschön, die Musik, der Tanz, der Champagner. Wir verbrachten diese letzte
wunderschöne Nacht zusammen und er gestand mir, dass es an der Zeit sei, dass
wir uns trennten. In dieser Nacht, als ich dachte, dass es nicht mehr besser
werden könnte, da sagte Bruce mir, dass er sich in eine andere Frau verliebt
hatte.
Ich war
unendlich traurig. Bruce konnte das nicht verstehen. Er hatte in dieser
Beziehung niemals mehr als einen Flirt gesehen. Nie etwas Ernstes. Und deswegen
fühlte er auch nie meinen Schmerz in dieser Nacht. Doch es war endgültig. Bruce
hatte mich verlassen. Er hatte es mir so lieb und so schonend wie nur möglich
beigebracht, aber ich war einfach nur enttäuscht. Wochenlang habe ich mich im
Selbstmitleid ertränkt. Und dann habe ich entdeckt, dass ich schwanger bin. Ich
erwartete ein Kind. Ich war mir sicher, dass es von Bruce sein musste. Ich war
mit niemandem sonst in jener Zeit zusammen.“
Grearson
lauschte gespannt.
„Ich suchte
Bruce auf, um ihm davon zu erzählen. Seine neue Liebe, wie er es nannte, habe
ich nicht gesehen. Ich glaube, damals hätte ich ihr auch nicht unter die Augen
blicken können. Ich erzählte ihm von dem Kind und sagte ihm, dass wir es
niemals gemeinsam aufziehen könnten. Ich fing an zu weinen, weil ich nicht
wusste, was mit dem Baby passieren sollte. Dann bat ich Bruce, das Kind zu
nehmen. Bei ihm hätte es wenigstens Vater und Mutter, und schließlich war es ja
von ihm. Ich wollte mein Kind aufgeben, damit Bruce eine Familie hätte.“
Lady
Dumonde stand auf und ging zum Bullauge. Still schaute sie hinaus. Dann fuhr
sie fort.
„Ich bekam
das Kind. Ein Mädchen. Bruce war bei der Geburt dabei, seine Frau nicht. Ich
weiß nicht, ob sie geheiratet haben. Jedenfalls war es nicht seine jetzige
Frau. Er war so stolz, ein Kind in Händen zu halten. Und ich war glücklich,
dass unsere Beziehung nicht ganz ohne Erinnerungen verwehen würde. Danach habe
ich Bruce nicht mehr oft gesehen. Er hat mir geschrieben, wie es dem Kind geht,
hat es zusammen mit dieser Frau umsorgt und sich gekümmert. Es schien ihr
richtig gut zu gehen. Dann, eines Tages, hörten die Briefe auf. Ich hörte
nichts mehr von Bruce. Ich versuchte, ihm auf die Spur zu kommen, aber es schien,
als hätte er sich in Luft aufgelöst. Lange Zeit später erfuhr ich, dass er sich
von seiner Freundin getrennt hatte. Das Kind war bei ihr geblieben. Mehr weiß
ich nicht.“
„Und das
Taschentuch?“ fragte Grearson unauffällig.
„Ach ja,
das Taschentuch. Ich wollte, dass Bruce, wenn er das Kind sah, auch an mich
dachte. Damals bei der Geburt habe ich ihm drei meiner Taschentücher gegeben.
Er sollte sie seiner Tochter schenken, sobald sie erwachsen sei. Als
Wiedererkennungszeichen. Ich weiß nicht, was aus alledem geworden ist.“
Aber
Grearson wusste es. Taktvoll schwieg er und stand auf. Bei der Tür angekommen
sagte er: „Lady Dumonde, ich danke ihnen sehr, dass sie mir diese Geschichte
erzählt haben. Ich werde Schweigen darüber bewahren, seien sie versichert.“
Die
Dumonde, die noch immer mit dem Gesicht zum Bullauge stand, nickte nur. Dann
verließ Grearson das Zimmer.
Arme Claris
Hilton. Ohne Vater und bei der falschen Mutter aufgewachsen, ohne dass sie je
etwas wusste. Und nun ist der Vater tot und die Mutter, die sie für ihre eigene
hielt, steht unter Mordverdacht. Lange überlegte Patrick Grearson, ob er Claris
die Wahrheit über Letitia Dumonde erzählen sollte. Doch er entschied sich
dagegen.
„Schatz,
sag mir jetzt bitte, dass du nichts mit dieser Sache zu tun hast.“
Lucia
Borebanks Stimme hatte einen drohenden Unterton.
„Wovon
sprichst du, Liebling?“
„Von Lucy
natürlich. Von wem sonst? Und jetzt tu bitte nicht so unschuldig. Ich weiß
genau, dass du immer ganz besonders zuvorkommend zu ihr warst.“
Mr Borebank
setzte sich auf das Sofa und zog seine Schuhe aus. Die Füße taten ihm weh.
„Immer mit
der Ruhe. Glaubst du denn etwa, ich hätte Lucy auf dem Gewissen? Wie kannst du
solche Gedanken mir gegenüber nur aussprechen.“
Seine
Ehefrau setzte sich neben ihn und seufzte erschöpft.
„Es tut mir
leid. Ich wollte keine Vorwürfe machen. Die Geschichte ist nur so unglaublich.
Ich fühle mich, als ob ich hier ein Theaterstück aufführe. Es kommt mir alles
so inszeniert vor. Erst Mr Morrison, der seinen Ring verspielt, und nun der
Mord an Lucy. Ich kann das alles nicht verstehen. Aber bitte, gib mir die
Sicherheit, dass du nichts damit zu tun hast, ja?“
„Ich habe
Lucy nicht getötet. Sei beruhigt.“
Es klopfte
an der Tür.
„Das wird
wohl dieser Steward sein, Darling“, meinte Mrs Borebank und ging hinüber zur
Tür. Sie bat Miller herein, der eben auf seine Uhr blickte.
„Guten
Abend nochmals, Mrs Borebank“, sagte Miller.
„Und sie
wollen also jetzt mich verhören, sehe ich das richtig?“ ließ Walter seine
Stimme aus dem Inneren des Zimmers vernehmen. Miller kam herein und setzte sich
auf einen Stuhl, den Mrs Borebank ihm hinrückte.
„Nein. Es
geht mir nicht darum, sie zu verhören, wie sie das nennen. Es geht mir,
verstehen sie es nicht falsch, überhaupt nicht um sie. Ich hatte gehofft, von
ihnen etwas über Lucy Ratchett zu erfahren. Sie war ihr Kindermädchen?“
„Ja, für
unseren kleinen Jonathan. Er schläft im Nebenzimmer, seien sie bitte nicht so
laut!“
„Gut. Ich
wüsste gerne, ob sie etwas über Miss Ratchetts Familie wissen. Eltern, Geschwister,
Verwandte und so weiter.“
Mr Borebank
überlegte einen Moment.
„Ich weiß
nur, dass sie eine Schwester hat. Sie hat sie ein paar Male erwähnt, aber nur
kurz über sie gesprochen. Das Thema schien ihr immer ein wenig unangenehm. Ich
weiß nichts über ihre Eltern. Aber über ihre Familie zu reden schien Lucy auch
nie wichtig zu sein. Sie kam zu uns, um sich etwas Geld zu verdienen, und sie
machte ihre Arbeit immer sehr gut. Dafür zeigten wir uns natürlich auch gerne
erkenntlich.“
„Mr
Borebank, ich habe einen Verdacht, zu dem ich gerne ihre Meinung hören würde.
Sie sagten selbst, dass Lucy Geld brauchte?“
„Sie hatte
selbst nie viel. Sie lebte zwar ganz sparsam, so dass man meinen möchte, sie
hätte sich etwas angespart, aber so war es nicht. Ich weiß nicht, was sie mit
dem Geld machte.“
„Wohnte
Miss Ratchett bei ihnen?“
„Zeitweise
ja. Wenn wir mal länger unterwegs waren, nur wir beide, durfte sie bei uns
wohnen, um auf den Jungen aufzupassen. Wir hatten ihr angeboten, bei uns eine
feste Wohnung zu bekommen, aber ihr Zimmer in der Stadt war ihr aus irgendeinem
Grund sehr wichtig.“
„Ein Zimmer
in der Stadt?“
„Was ist
daran so ungewöhnlich? Sie war von zu Hause weggegangen. In der Stadt hatte sie
eine kleine Wohnung gemietet.“
„Dann wird
sie mit dem Geld die Wohnung unterhalten haben?“
„Die
Wohnung war nicht sehr teuer. Da musste schon ein Teil übrig geblieben sein.
Aber wie ich schon sagte, ich habe keinen Idee, was sie damit gemacht hat.“
Miller
legte die Stirn in Falten.
„Ich frage
mich, weshalb Miss Ratchett ihre Wohnung behalten wollte. Bei ihnen hätte sie
doch alles gehabt, was sie wollte. Es sei denn…“
„Es sei
denn was?“ fragte Mrs Borebank dazwischen. „Klären sie uns bitte auf! Uns liegt
die Wahrheit über Lucys Tod genauso am Herzen wie ihnen. Ich kann gar nicht
verstehen, wie jemand unserer Lucy nur so etwas Böses antun konnte, wo sie doch
so ein liebes, unschuldiges Mädchen war.“
„Hatte Lucy
einen Freund? Einen Verlobten?“
„Nein“,
antwortete Walter rasch. „Das hätte sie uns bestimmt erzählt. Sie brachte auch nie
jemanden mit zu uns. Und ich bin sicher, dass sie vor uns keine Geheimnisse
hatte. Nachdem sie sonst niemanden um sich herum hatte, waren wir zu ihren
einzigen Ansprechpartnern geworden.“
„Es muss da
noch jemand anderes gewesen sein. Abgesehen davon, dass Lucy neben ihnen auch
noch ihr Tagebuch hatte, dem sie alles anvertrauen konnte.“ Mrs Borebank wollte
etwas sagen, doch Miller wiegelte sie schnell ab. Er wollte jetzt keine
unangenehmen Fragen beantworten müssen. „Mir schwebt da immer noch die Angelegenheit
mit dem Ring durch den Kopf.“
„Was ist
mit dem Ring?“ fragte Borebank.
„Nun, er
wurde gestohlen. Soviel steht fest. Können sie mir etwas mehr über den Ring
erzählen?“
„Ich weiß
kaum etwas darüber. Schatz, das müsstest du dem Herrn doch erzählen können,
oder?“ wandte er sich an seine Frau.
Mrs
Borebank drehte sich zu ihnen um.
„Ja. Der
Ring war ein Geschenk von mir für Lucy. Für ihre treuen Dienste. Dafür, dass
sie uns mit Jonathan durch die schweren Zeiten geholfen hat. Wissen sie, Geld
und Wohlstand sind gut und schön, aber das allein kann kein Kind erziehen. Der
Ring war nicht allzu wertvoll, entgegen allem, was sie vielleicht hören mögen.
Ich habe ihn auf einem Basar gekauft. Der Händler versicherte mir, dass ich ihn
zu einem Spottpreis bekommen könnte. Billig war er trotzdem nicht. Aber das war
es mir wert. Der Edelstein, der in den Ring eingefasst war, trug einen
interessanten Namen.“ Sie überlegte kurz. „Ich vergesse ihn immer wieder, dabei
klingt er so faszinierend. Ach ja“, sagte sie und schnippte mit den Fingern,
„das war es. Der Name des Steines ist Bellatrix. Ich muss immer an eine
Tänzerin denken, wenn ich ihn höre. Bellatrix“, sagte Mrs Borebank noch einmal
verträumt.
„Bellatrix“,
murmelte Miller vor sich hin. „Der Mann ohne Schultern…“
„Was sagten
sie?“
„Ach,
nichts weiter. Es ist schade, dass keiner mehr mit Miss Ratchett persönlich
sprechen kann. Aber ich will möglichst viel über sie erfahren. Sie haben mir da
schon weiterhelfen können. Ich muss jetzt aber gehen“, meinte Miller mit einem Blick
auf die kleine Kaminuhr der Borebanks, die die Kommode zierte. „Ich habe noch
eine Verabredung.“
„Machen sie
sich einen schönen Abend, alter Knabe. Und wenn sie dann etwas Neues über Lucy
herausgefunden haben, teilen sie es uns doch bitte mit. Es wird sie nicht mehr
ins Leben zurückrufen, aber wenigstens können wir dann wieder beruhigt schlafen
gehen.“
„Selbstverständlich.“
Miller
wurde von Lucinda Borebank zur Tür begleitet. Nachdem sie sich hinter ihm
geschlossen hatte, fiel der Steward in einen hastigen Laufschritt. Es war kurz
vor elf Uhr. Wenn Miller dahinterkommen wollte, wer der mysteriöse John war,
der Ms Ratchett die Nachricht geschrieben hatte, musste er sich beeilen, um zum
elektrischen Pferd zu kommen.
Das
elektrische Pferd war ein Sportgerät in der Turnhalle, die sich auf dem
Bootsdeck befand. Miller war ein wenig außer Puste, als er dort ankam. Er
strich seinen Kragen glatt und bemühte sich, seinen Atem unter Kontrolle zu
bringen. Dann öffnete er die Tür. Die Turnhalle war leer. Er hatte nicht
erwartet, dass sich um diese Zeit und bei dieser Kälte, die draußen herrschte,
noch jemand an den Geräten ertüchtigen würde. Doch es war auch kein John da.
Miller ging
hinüber zu den Fahrrädern. Er setzte sich auf eines und trat ein wenig in die
Pedale. Quietschend setzten sie sich in Bewegung. Der Steward blickte immer
wieder auf die Eingangstür. Schließlich öffnete sie sich. Ein Mann trat ein.
„Mr
Phillips!“ rief Miller überrascht.
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