Freitag, 18. November 2016

Beteigeuze (Kapitel 5)




22:40 Uhr

Offizier Murdoch räusperte sich.
„Ich fasse zusammen. Der Name der Toten ist Lucinda Maria Ratchett. Alter 22 Jahre. Kindermädchen in privater Anstellung. Unverheiratet. Druckstellen am Hals deuten darauf hin, dass das Opfer gewürgt wurde; möglicherweise stellt dies bereits die Todesursache dar. Das kann zurzeit nicht festgestellt werden, da der Mörder mit einer Nagelfeile so lange auf ihren Hals eingestochen hat, bis die Halsschlagader durchtrennt war. Zuletzt wurde Ms Ratchett gesehen von Mr Morrison, ist das richtig?“
„Nein. Wie kommen sie darauf?“
David Morrison saß angespannt auf einem Stuhl und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die anderen Personen im Raum waren ebenso bedrückt wie er. Auf der Bettkante saßen Lucia und Walter Borebank, wohl bedacht, ihre Kleidung nicht mit dem großzügig über das Laken verteilten Blut des Opfers zu beschmutzen. Walter fächelte seiner Frau, die sich von einem Zusammenbruch wieder erholt hatte, Luft zu. Offizier Murdoch und Steward Miller standen mit aufmerksamem Blick in der Mitte des Raumes. Kapitän Smith war nicht anwesend. Man hatte beschlossen, ihn erst morgen mit dieser Angelegenheit zu belästigen. Patrick Grearson lehnte verwirrt an der Wand.
Nachdem Miller die Botschaft des Unglücks erhalten hatte, suchte er in heller Aufregung nach Grearson. Als er ihn schließlich auf dem Oberdeck angetroffen hatte, erläuterte er nur kurz, was geschehen war und zog ihn mit sich in das Innere des Schiffes. Grearson war aber nicht nur wegen des neuen Mordes ziemlich außer Atem. Als er sich auf dem Deck umgedreht hatte und einen Blick auf die Steuerbordseite erhaschen konnte, entdeckte er die junge Frau, die dort an der Reling stand. Reizend sah sie aus; aber kam sie ihm nicht irgendwie bekannt vor? Doch Grearson hatte keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, da Miller ihm die Zusammenhänge zu schildern versuchte.
Nun standen sie alle versammelt in Kabine F-18.
„Wie kommen sie darauf?“ wiederholte Morrison seine Frage.
Lucia Borebank blickte auf.
„Na, sie sollten doch zu ihr gehen, um den Ring abzuholen. Waren sie denn nicht bei ihr?“
„Nein, das war ich nicht! Ich wollte erst später zu ihr gehen. Wollen sie mir etwa unterstellen, ich hätte sie umgebracht?“
„Mr Morrison, niemand unterstellt ihnen hier etwas“, warf Miller ein.
„Ich habe sie heute Abend noch munter gesehen“, sagte Grearson.
„Wann war das etwa?“
„Um viertel nach neun vielleicht.“
„Und sie haben kein auffälliges Verhalten bemerkt? Nervosität? Oder hat sie ihnen vielleicht gesagt, ob sie sich mit jemandem treffen wollte?“
„Nein. Wir haben nur kurz über die Zimmernachbarin geplaudert, Mrs Dobbins. Ach wie geht es ihr eigentlich? Kann sie schon wieder sprechen?“
„Ich werde gleich nach ihr sehen, wenn wir hier fertig sind.“ Miller machte sich eine gedankliche Notiz und schaute noch einmal die Leiche des jungen Mädchens an. Dann wandte er sich an Mrs Borebank.
„Entschuldige sie bitte, aber sie sagten etwas von einem Ring? Hatte Miss Ratchett einen besonderen Ring?“
Mrs Borebank atmete tief durch. Langsam fühlten sich ihre Knie nicht mehr weich an und die Lebensgeister kehrten in ihren Körper zurück.
„Sie trug immer einen Ring an ihrem Finger, den ich ihr einst geschenkt hatte. Sie war sehr stolz darauf. Das ist ja auch kein Wunder, es war so ziemlich ihr einziger Reichtum. Das gute Ding war ziemlich arm, stimmt´s nicht, Walter?“
Ihr Ehemann nickte nur.
„Nun“, sagte Miller, „ich möchte ihnen zu bedenken geben, dass der Ring nicht mehr an ihrem Finger sitzt. Aber es dürfte sicher sein, dass sie ihn den ganzen Abend getragen hat, da wir eine leichte Rötung hier feststellen können.“
Der Steward deutete auf eine rötlich verfärbte Linie, die ein Stück unterhalb des Mittelknöchels des rechten Ringfingers verlief. Dabei fiel sein Blick auf einen kleinen Gegenstand, der unter das Bett gerollt war. Es war nur ein Stift. Beiläufig hob Miller ihn auf und legte ihn auf das kleine Beistelltischchen am Bett.
Murdoch erwähnte: „Raubmord.“
„Das ist gut möglich. Mr Grearson, versuchen sie bitte, sich zu erinnern. Als sie mit Miss Ratchett sprachen, trug sie da einen Ring?“
Grearson dachte einen kurzen Moment nach.
„Ja. Sie war sehr glücklich, dass sie, Mrs Borebank, so großzügig zu ihr gewesen waren, als sie ihr den Ring geschenkt hatten. Tatsächlich, sie hatte den Ring noch an ihrer Hand.“
„Stellen wir also fest: Miss Ratchett ist nach 21 Uhr ermordet worden. Vermutlich wurde der Mord begangen, um an ihren Ring zu gelangen, der sehr wertvoll gewesen sein muss. Ist das so, Mrs Borebank?“
„Ja. Der Ring hatte einen sehr wertvollen Stein eingefasst. Dafür wird man heute einen schönen Preis bekommen.“
„Es hilft nichts. Mr Morrison, ich muss sie bitten, mit mir zu kommen. Sie stehen unter Verdacht, Lucinda Ratchett ermordet und den Ring gestohlen zu haben“, sagte Murdoch mit harter Stimme.
„Nein! Wie können sie das nur glauben?“ erboste Morrison sich. „Warum hätte ich der Kleinen das antun sollen? Sie hätte mir den Ring doch sowieso geben sollen, warum hätte ich Gewalt anwenden sollen?“
„Wer weiß? Vielleicht hat sie sich ja geweigert, ihnen den Stein zu geben. Warum haben sie ihm den Ring überhaupt zugestanden, Mrs Borebank? Wenn ich das recht verstehe, kannten sie beide sich doch kaum?“
Ein peinliches Schweigen erfüllte den Raum. Mrs Borebank warf David Morrison vielsagende Blicke zu, bis der schließlich die Stille durchbrach.
„Ich bin ein Spieler. Aus Leidenschaft. Ich habe oben im Rauchsalon mit Mr Cartier Karten gespielt und dabei meinen eigenen Ring verspielt. Mrs Borebank hat mich dabei beobachtet und festgestellt, dass der Ring, den ich so leichtfertig verspielt hatte, eine Fälschung war.“
„Und weil ich gerne ein großherziger Mensch bin, wollte ich diesem charmanten Mann etwas Gutes tun. Der echte Ring war ursprünglich in meinem Besitz. Und da konnte es doch kein Umstand sein, den Ring von Lucy einzufordern und Mr Morrison zukommen zu lassen.“
„Aha“, unterbrach Murdoch sie. „Mr Morrison, sie wollten also ihren Ring abholen, wurden aber von Miss Ratchett abgewiesen. Doch sie sahen das Feuer des Edelsteines, den hohen Wert des Ringes, den sie einst zu besitzen glaubten und wieder besitzen wollten, um ihre Spielsucht zu befriedigen. Daher töteten sie Miss Ratchett. Das gibt ein gutes Motiv ab, nicht wahr?“
Morrison wollte etwas sagen, doch der Steward winkte ab.
„Mr Morrison, gehen sie bitte erst einmal mit Offizier Murdoch mit. Es tut mir leid, aber sie sind im Moment der einzige Verdächtige in einem Mordfall, und da werden sie einige weitere Fragen beantworten müssen. Mr Grearson, sie haben nun ein Bild der Situation. Mr und Mrs Borebank, ich muss sie bitten, auf ihr Zimmer zurückzugehen. Hier gibt es für uns nichts mehr zu tun.“
Auch wenn es schwer fiel, das alles jetzt so zurückzulassen, so gab es doch keine andere Wahl. Die Titanic würde ihre Reise unbeirrt fortsetzen. Bevor sie in New York angekommen waren, hatte das meiste Trauern und Nachdenken sowieso keinen Sinn. Oder?

Viel langsamer als üblich stieg Patrick Grearson die Treppe der dritten Klasse hinauf. Ein weiterer Mord auf der Titanic. Und es gab nicht den geringsten Anhaltspunkt, dem man nachgehen könnte. Bis auf ein kurzes Gespräch kannte er das Opfer gar nicht, wusste überhaupt nichts über sie. Er würde diese Angelegenheit wohl oder übel Miller überlassen müssen. Schließlich versuchte er selbst noch immer, seine Gedanken bezüglich Ismay zu ordnen, was ihm auch nur schwerlich gelang.
Die weißen Wände des Korridors auf dem E-Deck waren ihm zuwider. Alles blitzblank und rein. Keine Unebenheiten, keine Einschlüsse, keine hervorstehenden Kanten. Einfarbig. Wenn doch die Realität wenigstens ein einziges Mal so klar und deutlich wäre wie diese frisch gestrichenen Wände, so einfach, so logisch. Aber es schien für das Problem keine einfache Lösung zu geben. Und dann hatte er diese junge Frau auf dem Oberdeck gesehen. Grearson war sich sicher, dass er sie schon einmal irgendwo gesehen hatte. Vielleicht war sie noch dort. Er beschleunigte seinen Schritt wieder.
Als er auf dem A-Deck ankam, war er schon in eine Art Lauf verfallen, jedenfalls trat er ein klein wenig außer Puste hinaus in die kalte Nacht. Dann wurde ihm bewusst, dass er auf der falschen Seite des Schiffes stand. Er trat wieder in die Treppenhalle, durchquerte sie und verließ das Interieur auf der anderen Seite. Er trat an die Reling. Hier hatte sie gestanden.
Grearson blickte zum Bug, dann zum Heck. Es war nichts zu sehen. Die junge Frau hatte ihren Platz verlassen und Grearson verfluchte sich selbst, dass er sie nicht gleich angesprochen hatte. Vielleicht würde er sie gar nicht wiedersehen, was bei einem Schiff dieser Größe durchaus in den Bereich des Möglichen fiel. Grearson seufzte und steckte die Hände in die Taschen seines Jacketts, um sie ein wenig zu wärmen. Der Wind war mittlerweile beißend geworden. Nicht allzu stark, aber er konnte dennoch die Tränen in die Augen treiben. Schnell drang die Kälte durch den Stoff seiner Anzughose.
Dann fühlte er einen Zettel in seiner Jacketttasche. Er holte ihn hervor und entfaltete ihn. Es war die Notiz, die Mrs Dobbins unter seiner Tür hindurchgeschoben hatte.
„Kommen sie um 23 Uhr auf den Schottlandweg, zu Seil und Beil. Geraldine Dobbins.“
Grearson musste unfreiwillig schmunzeln. Dies war sie, die einzige Spur. Der einzige Anhaltspunkt, aber zu stumm, um zu reden. Doch warum gerade auf dem Schottlandweg, warum gerade bei Seil und Beil? Was war überhaupt Seil und Beil? Es half nichts, er musste selbst nachsehen. Gemütlich stieg er wieder die Treppen auf das E-Deck hinab und grüßte freundlich die wenigen Passagiere, die ihm entgegenkamen. Dann war er wieder bei den weißen Korridoren angekommen. Aber was hatte die Hausfrau nur mit Seil und Beil gemeint? Langsam ging Grearson das kurze Stück zum einen Ende des Flures. Nichts zu sehen. Dann schritt er Meter für Meter den Weg ab. Suchend schweifte der Blick umher, um nur ja kein Detail zu übersehen. Von Seil und Beil keine Spur. Die Hälfte des Weges hatte er erreicht und trat durch die große Tür, die den vorderen Teil vom hinteren Schottlandweg trennte.
Nichts. Aber halt! Patrick Grearson hatte etwas entdeckt. Hastig lief er ein paar Schritte voran. An der rechten Wand war ein Schild mit der Aufschrift „Im Notfall“ angebracht. Hinter einer Glasscheibe hing dort an zwei Nägeln eine große Axt. Sie war gedacht, um in einer eventuellen Notsituation die Türen einschlagen zu können. Daneben hing ein langes, aufgerolltes Seil über einem weiteren Haken. Dies musste Seil und Beil sein. Grearson betrachtete den Kasten von allen Seiten, konnte aber keine Ungereimtheit entdecken. Wahrscheinlich war Mrs Dobbins noch nicht hier gewesen, dachte er. Dann aber bemerkte er, dass man den Kasten aushängen konnte. Er hob ihn ein kleines Stück hoch und nahm ihn von der Aufhängung in der Wand. Und dort fand sich der Hinweis in Form eines kleinen, schmutzigen Zettels, der mit einem Stück Wachs an der Rückseite des Rettungskastens befestigt war. Hastig entfernte Grearson ihn und bemühte sich, den Kasten wieder möglichst korrekt aufzuhängen.
Auf dem Zettel waren mit einem Kohlestift und dementsprechend ungelenken Buchstaben nur wenige Worte aufgekritzelt:
„Ich weiß alles. Und der falsche Ruhm dieses Schiffes wird es ihnen beweisen!“

Miller war als Einziger zurückgeblieben. Der Steward schaute sich das Innere der Kabine F-18 genau an. Die blutgetränkte Bettwäsche war entfernt worden. Die Matratze war nun von einem bräunlichen Fleck auf Nackenhöhe schmutzig verfärbt. Ansonsten gab es kaum Auffälliges in dem Zimmer. Das Kindermädchen musste sehr sparsam gelebt haben. Sie hatte nur wenig Gepäck auf ihrem Zimmer, keinen übertriebenen Luxus. Nur das Nötigste eben, was eine junge Frau braucht. Die Kabine war aufgeräumt. Scheinbar schien Miss Ratchett es sehr gründlich gehalten zu haben. Vielleicht wurde sie ihrer Ordnung wegen von den Borebanks eingestellt. Man wollte es hoffen. Miller trat von einer Zimmerseite zur anderen. Hier stand ein Schreibtisch, darauf ein kleines Tintenfass und, Miller hatte es schon erwartet, ein roséfarbenes, mit viel Kitsch verziertes Tagebuch. Ein Büchlein eher, mit einer zierlichen Schleife verschlossen.
Ohne lange zu überlegen, löste Miller das Band, um durch die Zeilen zu wandern. Nun dürfte es dem jungen Mädchen ja nichts mehr ausmachen. Davon ganz abgesehen, gab es überhaupt keine Anhaltspunkte zu diesem Fall. Lucinda Ratchett war eine Unbekannte. Vielleicht würde Morrison noch ein wenig mehr erzählen können. Er war bestimmt unschuldig; selbst wenn nicht, konnten die Offiziere ihn wahrscheinlich nicht lange festhalten. Sie hatten nichts gegen ihn in der Hand. Aber so konnten sie möglicherweise an interessante Informationen kommen.
Miller schlug das Buch auf. Die Seiten waren ebenfalls in leichtem Rosa eingefärbt und dufteten nach irgendeiner Substanz. Der Steward vermutete, dass die junge Frau ihr Tagebuch parfümiert hatte. Kein unangenehmer Duft, unaufdringlich, was aber auch daran lag, dass er sich schon zu einem großen Teil verloren hatte. Das Büchlein war bis zur Hälfte beschrieben. Die Schrift zeugte von einer sorgfältigen Ausbildung in Rechtschreibung zum Einen, denn es waren keine Fehler zu entdecken. Zum anderen hatte Miss Ratchett wohl sehr viel Wert auf Schönschrift gelegt. Die Grossbuchstaben waren mit kleinen Schleifen und Ranken verziert; sie hatte äußerst sorgfältig geschrieben. Miller suchte in den letzten Einträgen nach interessanten Hinweisen. Zunächst fand er nur bestätigt, was er sich schon gedacht hatte. Dieses Mädchen hielt sich mit dem Job als Kindermädchen knapp über Wasser und hatte für Spielereien kaum noch Geld übrig. Das schien sie allerdings nie gestört zu haben. Dann begannen die letzten Einträge, die etwas interessanter wurden:
„27. März
Die nächste Woche werde ich nichts schreiben können, da muss ich mit den Borebanks auf einen Familienausflug und werde sehr viel mit ihrem Jonathan beschäftigt sein. Natürlich ist er ein liebes Kind und zum Glück nicht aufsässig, aber Walter hat mir schon gesagt, dass sie bei diesem Urlaub sehr viel unterwegs sein werden und das Kind nicht überall hin mitnehmen wollen. Also muss ich mich halt kümmern. Deswegen lasse ich Dich zuhause. Ich bin aber sehr froh, dass sie mir eine Zulage zahlen wollen. Ich brauche nicht viel Geld zum Leben, aber im Moment ist es sehr knapp. Abigail scheint das Geld ja in Massen zu haben. Sie kann sich andauernd neue Kleider leisten und macht sich schon über mich lustig. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, sie bekommt das Geld von Onkel Bruce zugesteckt. Ich finde es schrecklich, dass jemand, ohne einen Finger zu rühren, es sich so gut gehen lassen kann. Das ist doch ungerecht!
5. April
Das klingt sehr missgünstig, was ich da über Abigail geschrieben habe. Ich sollte mich lieber für sie freuen. Aber das hat mich auf eine Idee gebracht, die ich bald umsetzen sollte, und es passt auch alles so wunderbar zusammen. Der Urlaub mit den Borebanks war toll, ich hatte erstaunlich viel Freizeit. Ich merke, wie vernünftig Jonathan mittlerweile wird. Er lernt nun endlich mal, was er tun darf und was nicht. Also, ich meine, er kann es jetzt endlich alleine entscheiden. Und eines Abends habe ich mit Lucia und Walter zusammengesessen und wir haben über die Zukunft geplaudert. Das mag jetzt sehr seltsam klingen. Über die Zukunft geplaudert, da muss ich ja fast lachen. Aber sie haben gesagt, dass es nach Amerika gehen soll, in einer Woche schon! Sie wollen eine längere Zeit dort verbringen und haben mich gefragt, ob ich nicht mitkommen möchte. Sie hätten in ihrem Haus drüben ein Zimmer für mich frei und würden für meinen Unterhalt sorgen. Ach, ich finde das so aufregend! Und… oh, ich schreibe nächstes Mal weiter, Jonathan ruft mich!
6. April
So, wo war ich denn stehen geblieben? Die Borebanks wollen mich nach Amerika mitnehmen. Das wäre doch toll! Ich bin so stolz auf mich, dass ich mir das alles erarbeitet habe! Ich möchte unbedingt mit ihnen mitgehen, aber ich komme mir so schlecht dabei vor, dass ich ihnen dann vielleicht auf der Tasche liegen werde und lästig werden könnte. Ich wäre schon gern ein wenig unabhängiger, daher brauche ich nun doch ein wenig mehr Geld. Und wie es der Zufall so will, haben die Borebanks geplant, die Überfahrt auf der Titanic zu begehen. Stell Dir das nur vor, auf dem größten und schönsten Schiff der Welt! Ist das nicht traumhaft? Und vielleicht buchen sie für mich auch eine Karte. Ach, wäre das schön! Aber was noch viel wichtiger ist: Wenn ich wirklich auf der Titanic mitreisen darf, dann habe ich die Chance, Onkel Bruce zu treffen. Der wird bestimmt auf der Fahrt dabei sein. Er ist ja irgendeine wichtige Person bei der Schiffsgesellschaft. Ich muss ihn unbedingt treffen.
8. April
Ich mag es gar nicht glauben. Sie haben mir die Überfahrt spendiert! Natürlich werde ich nicht in der ersten Klasse reisen, aber es ist so schön, dass ich dabei sein darf. Und übermorgen geht es schon los. Ich will Bruce treffen, wenn ich erst einmal auf dem Schiff bin. Das muss irgendwie möglich sein.
13. April
Die Titanic ist traumhaft. Ich kann dieses tolle Erlebnis unmöglich in einem Buch festhalten, ich muss es in meinen Erinnerungen bewahren. Ist es etwa möglich, dass Abigail auch hier an Bord ist? Ich könnte schwören, dass ich sie in der ersten Klasse gesehen habe. Es kann doch wohl nicht wahr sein, dass sie Onkelchen schon wieder anbetteln will? Er wird sich nicht sehr darüber freuen. Aber Abi war ja schon immer sein Liebling. Ich darf mich nicht um sie kümmern. Ich muss endlich mal den hochheiligen Mr Ismay treffen. Die Borebanks kümmern sich ganz reizend um mich, in der Hinsicht brauche ich mir also keine Sorgen zu machen. Ich werde jetzt selbst in die erste Klasse gehen.“
Die Eintragungen endeten hier.
Miller musste mehrmals tief durchatmen. Zuerst lenkte er seine Gedanken zu Ismay. Lucy Ratchett war also die Nichte von Bruce Ismay gewesen, ebenso wie eine gewisse Abigail, die auch hier an Bord zu sein scheint. Der Fall wurde immer undurchsichtiger, und Miller bemühte sich vergeblich, eine Ordnung in all die Gäste zu bringen, die Ismay an diesem Abend besucht haben könnten. Es war beinahe unmöglich, weiterzukommen, wenn er nicht seine fixe Idee von vorhin weiterverfolgte.
Zunächst einmal war es aber unbedingt nötig, mehr über das junge Fräulein Ratchett in Erfahrung zu bringen. Es gab nicht viele Hinweise. Das Beste wäre wohl, sich erst einmal über die Arbeitgeber zu informieren. Miller beschloss, zunächst zu Mr Borebank zu gehen und ihn über das Kindermädchen zu befragen. Und dann sollte er vielleicht auch mal wieder nach Mrs Dobbins schauen, ob von ihr eine Antwort zu erwarten war. Bevor er das Zimmer verlassen konnte, wurde sein Blick von einem Brief festgehalten, den Miss Ratchett wohl vergeblich unter der Schreibtischauflage zu verstecken gesucht hatte. Eine weiße Ecke schaute hervor. Miller zog den Umschlag hervor und zog einen Zettel mit großer Schrift heraus.
„Meine liebe Lucy, triff mich um 23 Uhr am elektrischen Pferd. Ich brauche deine Zuneigung. John“
Und wer war nun John? Miller zwang sich selbst, diesen Brief noch nicht weiter zu beachten und steckte ihn in die Tasche. Er warf noch schnell einen Blick durch die Kabine, entschied sich dazu, den eleganten Kugelschreiber, der zuvor unter das Bett gerollt war, ebenfalls einzustecken und machte sich dann auf den Weg zu den Borebanks.

Mrs Dobbins´ Notiz konnte ihm nicht weiterhelfen. Im Gegenteil, sie verunsicherte Patrick Grearson zutiefst. War also Geraldine Dobbins doch noch eine der wichtigsten Zeuginnen? Er würde bald bei ihr vorbeischauen, aber er hatte noch eine andere Idee. Er verfluchte sich, dass er nicht zuvor darauf gekommen war und ging zum Zahlmeisterbüro. Inständig betete er darum, dass Elsa Whittle den Schlüssel zu Ismays Kabine dort abgegeben hatte.
„Mr McElroy?“
Er drückte auf die kleine Klingel an der Theke.
„Mr Grearson, sie sind es wieder! Na, wie kann ich ihnen denn dieses Mal helfen?“
„Erinnern sie sich vielleicht an eine junge Frau, die einen Schlüssel hier abgegeben hat? Das kann noch gar nicht so lange her sein, vielleicht eine halbe Stunde? Es muss der Schlüssel zu Bruce Ismays Kabine sein.“
„Wieso? Was wollen sie denn damit?“ fragte der Zahlmeister ein wenig misstrauisch und hakte ein paar Zeilen auf seinem Klemmbrett ab.
Grearson versuchte, möglichst geschäftig zu klingen: „Wissen sie, wir haben uns noch nicht die Mühe gemacht und Mr Ismays Kabine angeschaut. Auch wenn er vielleicht nicht dort ermordet wurde, so weiß ich mit Sicherheit, dass jemand anderes in der Kabine gewesen ist. Dieser Jemand steht vielleicht mit dem Mord in Verbindung, und ich hoffe, dass es in der Kabine Hinweise gibt.“
„Mr Grearson, ihre Hilfsbereitschaft in dieser Sache in allen Ehren, aber ich weiß nicht, ob ich ihnen den Schlüssel so einfach geben kann. Sie sind schließlich kein Mitarbeiter des Schiffes. Ich bräuchte schon die Erlaubnis von einem der höheren Angestellten.“
Grearson lehnte sich vor, um nicht laut sprechen zu müssen. Ein weiterer, älterer Mann wartete hinter ihm, um seinerseits etwas vom Zahlmeister abzuholen.
„McElroy, nun stellen sie sich nicht so an. Es wird nicht lange dauern. Das muss ja keiner mitbekommen, oder? Sie können nicht erwarten, dass Smith oder Murdoch ihre Plätze auf dem Schiff verlassen, um sich um diese Angelegenheit zu kümmern. Sie sind der Meinung, dass wir vor New York sowieso nichts tun können.“
McElroy wurde es ein wenig unangenehm. Er trat zur Seite und holte einen kleinen Schlüssel von einem Board. Er winkte dem Mann hinter Grearson zu und reichte ihm den Schlüssel.
„Bitte, Mr Hurst!“
Der ältere Mann nickte kurz und war denn verschwunden. Nun wandte der Zahlmeister sich wieder an Grearson.
„Denken sie das etwa nicht? Ich meine, dass wir vor New York nichts tun können? So ist es doch, oder?“
„Eben nicht!“ sagte Grearson energisch. „Hören sie, ein Mörder läuft hier an Bord rum und scheint volle Anonymität zu genießen. Soll er etwa weitermachen dürfen wie bisher? Wir dürfen es nicht zulassen, dass vielleicht noch ein Mord geschieht. Geben sie mir den Schlüssel“, befahl er in strengem Ton.
McElroy zuckte zusammen und suchte Ismays Schlüssel. Er überreichte ihn Grearson.
„Den haben sie nicht von mir“, fügte er kleinlaut hinzu.
„Vielen Dank, Mr McElroy!“
Patrick Grearson machte sich auf den Weg zu Ismays Kabine. Als er vor der Tür stand, blickte er den Korridor auf und ab, ganz so, als sei er selbst der Einbrecher. Es war aber niemand da.
Er trat ein und erkannte sofort, dass diese Kabine anders aufgebaut war als die übrigen. Sie war fast leer. An der Längswand stand ein großes Doppelbett mit vielen Verzierungen und vier Säulen an den Ecken. Sie stellten Baumstämme dar, um die sich zierlicher Efeu rankte. Auf beiden Seiten neben dem Bett stand je ein Nachttisch. Das Bett war erstaunlich ordentlich; es musste frisch bezogen worden sein. Am Kopfende türmten sich mehrere edle Kopfkissen auf. Grearson schob die Decke und das Laken zur Seite, konnte aber auch an der Matratze keine Blutspuren entdecken. Genau wie er erwartet hatte. Wahrscheinlich war Ismay hier gar nicht ermordet worden. Der Teppich, der das Zimmer zierte und die Schritte schluckte, war von einer hellen Tönung, so dass man jeden Fleck hätte sehen müssen. Bis auf ein paar Schuhabdrücke war er jedoch sauber. Einzig ein paar Markierungen weckten Grearsons Aufmerksamkeit. Es handelte sich um etwa centgroße Vertiefungen im Teppich, die in unregelmäßigem Abstand von der linken Seite des Bettes zur Zimmertür verliefen. Sie mussten irgendwie in den weichen Bodenbelag gedrückt worden sein.
Gegenüber dem Bett hingen zwei große Spiegel an der Wand. Außerdem befand sich in einer Ecke des Zimmers auch noch ein Waschbecken. Der Nutzen dieses Raumes stand für Grearson damit fest: Es hatte nur den Zweck, die Lust zu befriedigen. Hier wollte sich wohl niemand länger als wirklich nötig aufhalten. Er kniete sich hin und spähte unter das Bett. Auch hier war nichts zu sehen. Dann trat er an die Spiegel. Sie reichten vom Boden bis fast zur Decke hinauf. Keine Fingerabdrücke; sie glänzten blitzblank.
Grearson drehte sich um und betrachtete den Aufbau des Zimmers noch einmal genauer. Dann kam ihm eine Idee und er verließ das Zimmer. Draußen schloss er die Tür hinter sich und kniete vor dem Schlüsselloch. Er wollte herausfinden, was Mrs Dobbins womöglich gesehen haben konnte. Er schaute aus jedem erdenklichen Blickwinkel durch das Schlüsselloch, aber es war ziemlich klein und erlaubte nur einen Blick auf den vorderen der beiden Wandspiegel, das Waschbecken in der hinteren, rechten Ecke und eines der Bullaugen. Vom Bett an der linken Seite war nichts zu sehen. Wenn Grearson aber in den Spiegel blickte, konnte er den hinteren der beiden Nachttische erblicken und eine Ecke des Bettes. Falls jemand dort gelegen hat, konnte man zumindest von den Füßen bis ungefähr zur Hüfte aufwärts blicken, je nach Lage.
Grearson erhob sich und trat wieder in die Kabine. Er ging zum hinteren Teil des Bettes und versuchte sich vorzustellen, wer da wohl gelegen haben mochte; ob es Ismay oder seine jeweilige Errungenschaft war. Auch hier kniete er nochmals nieder und schaute unter das Bett. Auch hier war nichts zu entdecken. Es schien, als wäre der Raum nie benutzt worden. Beiläufig knipste Grearson die Nachttischlampe an und wieder aus. Das von ihr ausgehende Licht wurde durch den kitschigen roten Glasschirm erotisch eingefärbt. Dies führte Grearson dazu, dass er das Hauptlicht löschte und nur die beiden kleinen Lampen einschaltete. Das Zimmer war nun von einem tiefen Rot erfüllt, das gleichzeitig Wärme und Versuchung ausstrahlte. Erneut verließ Grearson die Kabine und schaute von außen durch das Schlüsselloch. Es war immerhin möglich, dass Mrs Dobbins Ismay in dieser brisanten Situation entdeckt hatte. Konnte man bei dem roten Licht überhaupt etwas durch das kleine Loch entdecken? Ja, alles sah genauso aus wie vorher. Es gab nur eine kleine, aber wesentliche Änderung: Im Spiegel war nichts mehr zu erkennen. Das rote Licht und die düsteren Vorhänge hinter dem Bett sowie die dunklen Bezüge führten dazu, dass im Spiegel nur noch einheitliches Düster zu erkennen war. Wenn also das Rotlicht eingeschaltet war, konnte man die Reflektion im Spiegel nicht sehen.
Zurück in der Kabine schaltete Grearson wieder das normale Licht an. Wenn Mrs Dobbins also wirklich etwas gesehen hat, dann wohl keine Liebesszene. So romantisch das Zimmer im roten Licht auch wirkte, so abweisend schloss es jeden Eindringling im normalen Licht aus. Ismay würde seine Eroberung wohl kaum abschrecken wollen. Und was sollte er bei dem Rotlicht schon außerhalb des Bettes wollen? Patrick Grearson setzte sich auf die Bettkante. Zugegeben, dachte er sich, das ist eine sehr löchrige Schlussfolgerung, aber sie war etwas wert. Immerhin eine kleine Spur: Mrs Dobbins hatte Ismay – oder jemanden anderes! – bei einer Sache beobachtet, die nicht nur Ruf schädigend, sondern vermutlich auch noch illegaler Natur war. Grearson seufzte. Es hatte keinen Sinn, weiter nachzudenken. Er schaltete das Licht aus, schloss die Tür hinter sich ab und brachte den Schlüssel zurück zum Zahlmeister. Dann ging er zu Mrs Dobbins.

Das gleißend helle Licht war schnell wieder verschwunden. Es hatte einer düsteren Schwere Platz gemacht. Sterne tanzten vor ihren Augen auf und ab, Alpträume quälten sie unaufhörlich. Und das Pochen, es ließ einfach nicht nach. Dann verstummten mit einem Male alle Stimmen in ihrem Kopf. Langsam, ganz langsam öffnete sie die Augen.
„Ich lebe.“
Diese zwei Worte kosteten Geraldine Dobbins unglaublich viel Kraft. Die Schmerz- und Beruhigungsmittel wirkten noch immer. Es dauerte lange, bis Mrs Dobbins ihren Blick scharf stellen konnte. Dann fügte sich der weiße Einheitsbrei zu einem langweiligen Muster aus Deckenverkleidung zusammen. Holz, frisch gestrichen. Sie blickte an die Decke des Krankenzimmers. Beim Versuch, ihre Gelenke zu bewegen, musste sie stark husten. Es tat schrecklich weh, ein Stechen durchfuhr ihren ganzen Körper. Trotz aller Anstrengung schaffte sie es nicht, auch nur den Arm zu heben. Sie blickte zum Fußende des Bettes, ihre Augen nur einen Spalt geöffnet. Ihr Bein war dick verbunden, der leuchtend weiße Verband blendete sie. Von dort kam der pochende Schmerz. Der Schuss war daneben gegangen, stellte Mrs Dobbins nüchtern fest. Sie war zu müde, um eine freudige Gefühlsregung zu zeigen.
Gerade wollte sie die Augen wieder schließen, als sich die Tür zur Kabine öffnete. Wer auch immer da eintrat, bemühte sich sehr, keinen Lärm zu machen. Behutsam schloss der Besucher die Tür hinter sich und trat an das Bett heran.
„Mrs Dobbins? Sind sie wach? Können sie mich hören?“
Sie öffnete ihre Augen wieder und versuchte, den Kopf zur Seite zu drehen. Es gelang ihr zumindest ein wenig und sie erkannte einen gepflegten Mann in weißem Jackett.
„Mrs Dobbins, mein Name ist Miller. Ich bin Steward. Mr Grearson hat mir erzählt, was vorgefallen ist.“
Geraldine Dobbins wollte antworten, doch sie konnte nur ein paar Laute von sich geben.
„Sagen sie nichts“, beruhigte der Steward sie. „Ich habe gehört, dass sie angeschossen worden sind. Mr Grearson hat leider niemanden sehen können. Ich glaube, sie haben aus der Entfernung auch nichts Deutliches erkennen können, oder?“
Mrs Dobbins schüttelte leicht den Kopf.
„Das habe ich befürchtet. Hören sie, ich weiß, dass sie heute am früheren Abend an Mr Ismays Kabine waren und dort durch das Schlüsselloch geschaut haben. Niemand will ihnen daraus einen Strick drehen. Sie trifft keine Schuld an dem, was vorgefallen ist. Sie wissen, dass Mr Ismay tot ist. Ich glaube nicht, dass sie die Täterin waren. Aber da sie um die betreffende Zeit herum in der Nähe waren, hoffe ich, dass sie etwas Wichtiges gesehen haben, vielleicht Leute, die das Zimmer betreten haben, oder vielleicht sogar den Mord beobachtet haben. Haben sie den Mord gesehen, Mrs Dobbins?“
Die Angesprochene schloss die Augen und versuchte nachzudenken. Sie schüttelte den Kopf. Miller blickte enttäuscht zu Boden.
„Sie… sie müssen…“
Mrs Dobbins musste wieder husten. Miller schaute auf und ging noch näher an das Bett heran, damit Mrs Dobbins nicht so laut sprechen musste.
„Finden sie… das Auge. Ich habe es versteckt… und dann denken sie nach, denken sie… Was ist schon ein Mann ohne Schultern?“
„Mrs Dobbins, ich verstehe nicht? Wovon sprechen sie? Welches Auge?“ Den Hinweis mit den Schultern hatte er taktvoll übergangen, da er dies auf eine Unzurechnungsfähigkeit zurückführte.
„Gehen sie, jetzt…“
Miller schüttelte den Kopf.
„Es tut mir leid, Mrs Dobbins. Sie müssen sich erholen. Ich habe sie schon viel zu sehr erschöpft. Bitte schlafen sie. Ich will sehen, was ich tun kann.“
Miller trat rückwärts Schritt für Schritt zur Tür und verließ das Krankenzimmer.
Geraldine Dobbins legte den Kopf zur Seite. Sie hatte gesagt, was sie wusste. Sie war müde. Aber sie war dem Steward sehr dankbar, weil er es zumindest für fünf Minuten geschafft hatte, sie von dem Schmerz in ihrem Bein abzulenken, der jetzt unaufhaltsam wiederkehrte. Sie schloss die Augen und war erstaunlich schnell wieder eingeschlafen.
Abrupt schreckte sie wieder aus den wirren Träumen auf. Jemand war in das Zimmer getreten und hatte die Tür hinter sich zugeworfen. Patrick Grearson beugte sich über das Bett.
„Mrs Dobbins? Können sie reden? Sagen sie mir, was sie gesehen haben!“
Die Patientin war ein wenig überrascht und erschrocken über den schroffen Tonfall, den der Mann angeschlagen hatte. Dennoch kümmerte sie sich nicht weiter darum.
„Eine Frau“, stammelte sie. „Eine Frau mit dunklen Beinen. Sie trug einen knielangen Rock, glaube ich.“ Jedes der Worte bereitete ihr Schmerzen, doch sie sah, wie Grearson aufatmete und war froh, helfen zu können. „Ich habe sie nur im Spiegel erkennen können. Ich glaube, es lag jemand auf dem Bett. Jedenfalls verhielt sie sich so. Und sie hatte einen Dolch dabei. So ein großes, verziertes Messer. Ich…“
„Still, Mrs Dobbins. Sie überanstrengen sich. Das ist schon sehr viel hilfreicher als alles, was ich bisher erfahren habe. Können sie sich an mich erinnern? Es scheint mir, als hätten sie eine Gehirnerschütterung erlitten. Erkennen sie mich wieder?“
Mrs Dobbins drehte den Kopf wieder auf die Seite und musterte Grearson. Nein, das Gedächtnis hatte sie nicht verlassen.
„Sie sind Mr Grearson. Ich erkenne sie wieder. Ich habe sie heute schon einmal gesehen.“
„Das ist richtig. Wir haben uns bei ihnen im Zimmer unterhalten. Gut. Ich wollte nur sichergehen, dass ihre Erinnerung an die Frau in Ismays Kabine auch wahr ist. Schlafen sie jetzt, ich komme später wieder.“

Wie ein Raubtier, das seine Beute umkreist, ging Offizier Murdoch immer wieder um den Stuhl herum, auf dem David Morrison saß. Die Hände hatte er hinter dem Rücken verschränkt. Morrison blickte ohne eine Gefühlsregung stur geradeaus. Schweißperlen auf seiner Stirn glänzten im Licht der Deckenlampen.
„Mr Morrison, ich verstehe die Lage nun so weit, dass wir sie hier wohl nicht länger werden festhalten können. Leider. Uns fehlen die Beweise.“ Murdoch überlegte einen kurzen Moment, dann korrigierte er sich. „Uns fehlt, um genau zu sein, sogar das kleinste Indiz. Dieser Mord macht mich ratlos. Nun nützt es nichts, zu schweigen. Tun sie uns doch bitte den Gefallen und sagen sie uns, was sie über Lucy Ratchett wissen!“
Morrison hatte keine Eile. Er zog seine Weste zurecht und schnippte eine imaginäre Staubflocke von seinem weißen Hemd.
„Ich habe Miss Ratchett früher einmal flüchtig kennen gelernt. Eine Affäre, nichts weiter. Ein nettes kleines Abenteuer, wenn sie so wollen.“ Morrison blickte weiter stur geradeaus. „Lucy dachte, es hätte irgendeine Bedeutung für mich gehabt. Sie dachte, es wäre mir ernst mit ihr gewesen. Sie hat die Sache völlig falsch eingeschätzt. Und wie Mrs Borebank das ja schon angedeutet hat, war da dieser Ring. Lucy hatte ihn von ihr geschenkt bekommen und ein Imitat anfertigen lassen. Und sie schenkte mir den nachgemachten Ring und meinte, dass diese Ringe uns für immer verbinden sollten. Sie verstehen sicher, so eine Art Heiratsantrag.“
Murdoch trat an das Bullauge und schüttelte den Kopf.
„Was hätte ich denn tun sollen? Hätte ich sagen sollen: Nein, ich will dich nicht, du warst nur so ein Flirt für mich? Das konnte ich nicht tun. Es hätte ihr wahrscheinlich das Herz gebrochen, und deshalb habe ich den Ring genommen und habe sie heimlich verlassen.“
„Mr Grearson, auch ich habe eine Freundin. Und wenn ich mich in Herzensdingen auch vielleicht nicht so gut auskennen mag, so ist mir wohl bewusst, dass sie der jungen Frau durch ihr geheimnisvolles Verschwinden noch mehr wehgetan haben als wenn sie gleich Schluss gemacht hätten. Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende, wie der Volksmund sagt.“
Nun musste David Morrison den Offizier doch bewundernd anschauen. Das war ein wahres Wort. Doch schnell genug verfiel er wieder in seine verschlossene Haltung und blickte geradeaus.
„Sie stellen sich das vielleicht einfach vor. Die Zeit der Trennung, das war auch die Zeit, in der ich Claris kennen gelernt habe. Meine wahre Liebe. Das beruhte auf Gegenseitigkeit. Wir mochten uns auf Anhieb. Was glauben sie denn, wie schnell Lucy da vergessen war. Nur der Ring erinnerte mich noch an sie, und der war noch nicht einmal echt. Ich habe ihn hier im Rauchsalon verspielt und Mrs Borebank wollte mir aus Mitleid das Original schenken lassen. Von Lucy. Ist ihnen das Erklärung genug?“
„Ich will es so formulieren: Es leuchtet mir alles ein. Aber es spricht eigentlich nichts in dieser Erklärung dagegen, dass sie Miss Ratchett ermordet haben und den Ring gestohlen haben.“
Entschlossen stand Morrison von seinem Stuhl auf und tippte Murdoch provozierend ans Abzeichen.
„Das sehen sie richtig. Aber genauso gut könnte es jeder andere der Mitreisenden auf diesem Schiff gewesen sein. Sie haben nichts in der Hand und lassen mich deswegen gehen. Stimmt doch, oder?“
Murdoch seufzte.
„Gehen sie, in Gottes Namen. Nur beachten sie bitte eines: dieser Mord ist bereits der zweite an Bord.“
Morrison blickte auf.
„Mr Ismay wurde umgebracht. Wir ermitteln bereits in dieser Sache. Sie wissen jetzt genug. Um eine Massenhysterie zu vermeiden, ersuche ich sie dringlichst, niemandem von den Morden zu erzählen! Sie können nun gehen.“
„Danke. Warum nicht gleich so? Ich habe schließlich noch etwas zu erledigen.“ Morrison trat zur Tür und fügte geheimnisvoll hinzu: „Das nächste Opfer wartet bereits!“
Ohne auf die Reaktion des Offiziers zu warten, trat Morrison auf das Bootsdeck und beeilte sich, in das Treppenhaus zu kommen. Dann machte er sich auf den Weg zu Kabine D-12. Es war beinahe zu schön, um wahr zu sein. Sie hier an Bord? Voller Vorfreude betrat Morrison den Empfang der ersten Klasse, um sich von dort zu einem der Korridore zu begeben. Aufgeregt stand er vor der Kabinentür und klopfte.
„Claris? Bist du da drin?“
„Wer ist denn da?“ antwortete eine verheulte Stimme von innen und putzte sich die Nase.
„Claris? Bist du es wirklich? Ich bin es, David!“
Von verheulter Stimme war mit einem Mal nichts mehr zu merken. Morrison hörte, wie jemand in der Kabine hastig aufsprang und zur Tür kam.
„David! Mein Schatz! Bitte hilf mir!“
„Was ist denn los?“ fragte der Schatz und wollte die Tür öffnen, doch sie war verschlossen.
„Meine Mutter hat mich hier eingesperrt. Du musst mich hier herausholen. Ich muss mit meinem Vater sprechen.“
„Dein Vater? Claris, was redest du da? Dein Vater ist weg!“
„Das ist eine Lüge. David, hilf mir hier heraus!“
Morrison rüttelte mehrmals vergeblich an der Türklinke.
„Claris, geh von der Tür weg!“
Er lauschte, wie die junge Frau wieder in die Kabine zurückging und holte dann aus. Mit aller Kraft trat er auf Höhe des Schlosses gegen die Tür. Es krachte, aber die Tür blieb verschlossen. Ein weiteres Mal sauste der Fuß gegen das Holz. Es tat sich nichts. Morrison ignorierte den Schmerz, der von seinem Fuß langsam nach oben kroch und trat ein drittes Mal gegen die Tür. Das Holz splitterte. Schnell ging er an die Tür und versuchte, sie zu öffnen. Es klappte noch immer nicht. David Morrison versuchte, sich zu konzentrieren und trat nochmals gegen die Tür. Ein lautes Krachen kam herumfliegenden Holzsplittern zuvor. Die Tür schwang nach innen auf.
Claris Hilton kam herausgestürmt und fiel dem Mann um den Hals.
„David! Ich habe schon gedacht, dass ich dich nie wiedersehen würde. Mein Retter!“
„Claris!“
Die beiden umarmten sich innig. Dann wurde Claris hektisch.
„Schatz, ich muss hier weg. Ich muss zu Bruce Ismay. Er ist mein wahrer Vater. Mutter hat mir all die Jahre eine große Lügengeschichte erzählt. Ich muss mit ihm sprechen.“
Morrison schluckte hart.
„Was ist los?“ fragte Claris verwirrt.
„Da gibt es eine Sache… Mr Ismay ist tot. Er wurde hier an Bord ermordet.“
Die junge Frau wurde leichenblass.
„Ermordet?“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein Atmen. Morrison nickte.
„Es gab noch einen weiteren Mord, in dem man mich verdächtigt hat. So habe ich davon gehört.“
„Verdächtigt? Dich? Was hast du getan, David?“
Beruhigend legte er ihr die Hand auf die Schulter.
„Nichts. Sei unbesorgt.“
„David! Ich muss mit jemandem sprechen. Über den Mord an Bruce Ismay.“
„Schatz, du darfst nicht mit der Crew reden. Die haben mir verboten, die Sache weiterzuerzählen.“
„Aber mit wem soll ich dann reden? Ich habe einen Verdacht, den muss ich loswerden.“
„Also… beim Tatort des zweiten Mordes, da war noch so ein anderer Typ. Ich wusste zuerst gar nicht, was der da sollte. Der muss irgendwie in den Nachforschungen mit drinstecken, sonst wäre er nicht da gewesen. Grearson hieß er, glaube ich.“
„Grearson? Patrick Grearson? Ich habe ihn heute Abend kennen gelernt, er hat sich mit mir und Mr Müller unterhalten. Er ist darin verwickelt? Ich habe gar nichts gemerkt.“
Offenbar war es Morrison gar nicht recht, dass die Aufmerksamkeit seiner Geliebten nun so sehr abgelenkt wurde.
„Schatz, kümmere dich nicht weiter darum. Die Hauptsache ist, dass wir wieder zusammen sind.“
Er wollte sich zu einem Kuss vorbeugen, doch Claris entschlüpfte ihm und wandte sich zum Gehen.
„Entschuldige, Liebling, aber ich muss das erst loswerden. Danach darfst du mich so lange sehen, wie du willst. Es geht hier um mein Leben, das ich retten will. Bitte hab Verständnis!“
Noch bevor David Morrison antworten konnte, war Ms Hilton um die Ecke verschwunden.

Patrick Grearson legte sich wieder auf sein Bett und dachte an alles, was geschehen war, seitdem er das letzte Mal aufgestanden war. Verschiedene Sätze, die er gehört hatte, gingen ihm durch den Kopf, verschiedene Bilder und dazwischen immer wieder das Gefühl, dass im Moment alles in Ordnung war. Vielleicht hatten Smith und Murdoch Recht. Vielleicht konnte man hier an Bord wirklich nichts tun. Diese Menge an Reisenden war einfach zu unübersichtlich und es gab zu wenig Hinweise. Immerhin hatte Mrs Dobbins in Ismays Kabine eine Frau beobachten können, mit einem großen verzierten Messer. Für ihn gab es nun keinen Zweifel mehr daran, dass Bruce Ismay mit dem Dolch ermordet wurde, der aus Ms Locketts Zimmer gestohlen worden war. Aber wer um alles in der Welt konnte von diesen Dolchen wissen außer Ms Lockett selbst? Irgendjemand wollte ihr den Mord anhängen, genauso wie jemand es für besonders wirkungsvoll gehalten hatte, die Leiche vor seiner eigenen Tür zu platzieren. Und dann hatte Mrs Dobbins auch noch diesen rätselhaften Hinweis am Schottlandweg hinterlassen. Was konnte das nur bedeuten? Sie hatte eine Spur, das war sicher. Sie wusste etwas sehr Wichtiges. Grearson musste es unbedingt finden, hatte aber nicht die geringste Ahnung, was mit dem „falschen Ruhm des Schiffes“ gemeint sein könnte.
Seine Gedanken wurden jäh unterbrochen. Jemand klopfte laut und hektisch an die Tür.
„Mr Grearson, sind sie da drin? Machen sie bitte schnell auf, ich muss mit ihnen reden!“
Träge erhob er sich vom Bett und ging zur Tür. Er drehte den Schlüssel im Schloss und öffnete.
Claris Hilton stand im Flur und blickte sich um.
„Bitte lassen sie mich herein. Es soll nicht jeder hören, was ich ihnen zu erzählen habe.“
„Sind sie nicht…?“
„Claris Hilton. Wir haben uns vorher im Salon unterhalten. Und jetzt lassen sie mich ein, ich bitte sie!“
Grearson öffnete die Tür und machte eine einladende Handbewegung. Ms Hilton zögerte nicht lange und ließ sich sogleich auf einem Stuhl in der Kabine nieder. Für die Einrichtung hatte sie kein Auge. Sie blickte Grearson an und wartete, dass auch er sich setzte. Dann begann sie zu sprechen.
„Mr Grearson. Ich habe Informationen, die sie interessieren werden. Ich habe ihnen doch heute von meiner Mutter erzählt.“ Grearson nickte zustimmend. „Und dabei habe ich ihnen erzählt, dass ich nie meinen Vater getroffen habe. Und nun habe ich herausgefunden, dass meine Mutter mir nur Lügen über ihn erzählt hat. Wollen sie wissen, wer mein Vater ist? Oder besser: Wer er war? Bruce Ismay, und nun ist er tot.“
Grearson schaute überrascht auf. Zu Claris´ Enttäuschung galt seine Überraschung aber nicht der Tatsache, dass Ismay ihr Vater war.
„Woher wissen sie, dass er tot ist, Ms Hilton?“
„Also stimmt es? Und ich hatte so gehofft, David würde sich irren. Mein Geliebter, David Morrison, ist hier an Bord. Er hat es mir erzählt.“
„Morrison… so ein Typ mit Cordhose und Weste?“
„Genau! Das ist er. Aber bitte nennen sie ihn nicht einfach so „Typ“. Das klingt schon wie meine Mutter. Sie fand ihn auch nie würdig genug, um mein Mann zu werden.“
„Entschuldigen sie bitte. Eigentlich hätte er ihnen das gar nicht erzählen sollen, aber unter diesen Umständen…“
„Eben. Unter diesen Umständen. Mein Vater ist hier an Bord und er ist ermordet worden. Und ich habe einen Verdacht, den ich kaum auszusprechen wage. Ich will ihnen was erzählen. Meine Mutter hat mit unserem Anwalt gesprochen und sie haben gemeinsam darüber diskutiert, dass das Problem mit meinem Vater am leichtesten aus der Welt zu schaffen sei, wenn er – unser Anwalt – ihn aus dem Weg räumen würde. Genau das haben sie gesagt.“
„Wollen sie damit sagen, sie glauben, es sei ihr Anwalt gewesen?“ Grearson war der festen Überzeugung nach Mrs Dobbins´ Aussage, dass eine Frau das Messer hat sprechen lassen.
„Nein. Der ist dazu viel zu ängstlich, er würde so etwas nie tun. Das hat meine Mutter ihm auch vorgeworfen. Er sei zu schwächlich für diese Welt. Ich glaube, sie hat es getan.“
„Miss Hilton, wie können sie nur so etwas über ihre eigene Mutter sagen?“
„Meine Mutter ist mir so egal, das können sie sich nicht vorstellen. Nachdem sie mir meinen Geliebten weggenommen hat. Ich bin so froh, dass ich ihn wiedergefunden habe. Und stellen sie sich vor, sie hat mich in unserer Kabine eingesperrt, damit ich keinen Unsinn anstelle! Das ist für mich keine Mutterliebe mehr. Ich glaube, dass sie es gewesen ist.“
Grearson dachte einen Moment nach. Ein Motiv hätten wir also, und scheinbar auch eine Person, die resolut genug ist, um es durchzuführen. Aber etwas störte ihn. Irgendwo war ein Fehler.
„Miss Hilton, das klingt durchaus überzeugend, aber es ist unmöglich. Da ist etwas falsch… aber ich bin mir nicht sicher, was es ist. Sagen sie mir bitte, wann haben ihre Mutter und der Anwalt dieses Gespräch geführt, bei dem es um Ismay ging?“
„Ich habe nicht auf die Uhr gesehen. Aber direkt danach hat sie mich eingeschlossen. Das war ungefähr viertel nach Zehn, ein wenig früher vielleicht.“
Grearson schaute auf seine Uhr.
„Da haben wir ja auch schon den Knackpunkt. Wissen sie, Mr Ismay wurde am frühen Abend ermordet, so um..:“
Grearson verstummte. Die Frage der Tatzeit hatten er und Miller noch nicht eindeutig geklärt. Da musste ein weiteres Gespräch geführt werden.
„So ungefähr gegen zwanzig Uhr ist es geschehen. Das heißt, als ihre Mutter sich mit ihrem Anwalt unterhalten hat, war Ismay bereits seit einiger Zeit tot, und offensichtlich scheinen die beiden nichts davon geahnt zu haben.“
Jetzt war es an Claris Hilton, zu schweigen. Es hatte alles so schön gepasst. Und nun ein Satz dieses Mannes, der ihr gegenübersaß, und alles fiel zusammen. Doch sie war nicht auf den Kopf gefallen.
„Sie mögen Recht haben, wenn sie von Mr Stansfield reden. So heißt unser Anwalt. Ich bin sicher, dass er nicht wusste, dass Ismay tot ist. Er sagte zu meiner Mutter, dass er ihn den ganzen Abend nicht habe finden können, was ja wohl kein Wunder ist. Aber es könnte doch gut sein, dass meine Mutter ihm etwas vorgespielt hat. Dass sie meinen Vater umgebracht hat und danach einfach vorgegeben hat, nichts davon zu wissen. Stansfield hat ihr jedenfalls geglaubt.“
„Nun ja, das mag vielleicht eine Möglichkeit sein. Aber dieser Faden ist mir zu dünn, ich komme daran nicht weiter. Mein Verdacht, dass es sich bei dem Mörder um eine Frau handelt, wird dadurch zwar verstärkt, aber ich traue dem nicht. Ich danke ihnen in jedem Fall für diese Informationen, Miss Hilton. Ich setze mich mit ihnen in Verbindung, wenn ich wieder etwas wissen muss.“
„Ich bin mir sicher, dass sie mich noch nicht wegschicken wollen“, sagte Claris eifrig. „Ich kann ihnen noch mehr erzählen!“
„Und was wäre das?“
„Ich habe heute Abend mit einer außerordentlich hochrangigen, etwas verrückten aber sehr netten Frau geredet. Ihr Name ist Letitia Dumonde.“
Bei Erwähnung des Namens Dumonde seufzte Grearson. Auch ihm war ihr Auftritt in guter Erinnerung geblieben.
„Sie hat es mir nicht persönlich erzählt, aber ich habe es durch eine gute Freundin von ihr zu hören bekommen, Mrs Myers-Jones. Sie sollten wissen, dass mein Vater offensichtlich kein unbeschriebenes Blatt war. Meine Mutter war damals nur eine von mehreren Affären, die er hatte. Mrs Dumonde war eine andere. Und ich kann mir vorstellen, dass jede Frau, die von ihm so schmählich im Stich gelassen wurde wie meine Mutter, einen guten Grund hat, ihn zu töten. Mrs Myers-Jones sagte auch, dass die Dumonde damals sehr traurig gewesen ist.“
„Damals?“ fragte Grearson zweifelnd.
„Na ja. Es ist schon einige Jahre her. Was sagte sie noch gleich? Zwanzig Jahre? Oder noch länger?“
Patrick Grearson seufzte erneut.
„Miss Hilton, es ist sehr nett und zuvorkommend von ihnen, dass sie mir das alles erzählen. Aber ich glaube nicht, dass uns das weiterhelfen kann. Wirklich nicht. Ich werde später gerne einmal mit dieser – wie hieß sie doch gleich – reden, aber…“
„Myers-Jones. Sie hieß Myers-Jones“, unterbrach Ms Hilton ihn genervt. Sie hatte sich wesentlich mehr Aufmerksamkeit erhofft.
„Nein, mit ihr will ich nicht reden. Ich möchte das Ganze aus erster Hand erfahren.“
„Ach so. Dann sprechen sie bitte persönlich mit Letitia Dumonde.“
„Genau. Letitia Du…“ Nur für eine Sekunde stockte Grearson der Atem. Letitia Dumonde. Grearson hatte den Bericht von Murdoch über den Mord an Ismay gelesen. Es wurde ein Taschentuch mit einer Stickerei gefunden. Ein Monogramm, L, mit blauem Faden eingenäht. L wie Letitia? Schweiß trat auf Grearsons Stirn.
„Mr Grearson? Was ist los?“
„Ich habe nur gerade überlegt. Mir ist da eine Vermutung gekommen, die mir nicht geheuer ist. Sagt ihnen ein Taschentuch mit einem Monogramm, einem mit blauem Faden eingenähten L etwas?“
„Meine Mutter benutzt diese Taschentücher immer, wieso kommen sie darauf? Woher wissen sie das?“
„Miss Hilton! Haben sie noch nie überlegt, was das L zu bedeuten hat?“
Claris schüttelte den Kopf.
„Natürlich habe ich Mutter danach gefragt. Das Monogramm war von meinem Vater, Lester Hilton.“
„Claris! Sie haben keinen Vater, der Lester heißt!“
„Sie haben ja Recht! Aber… was soll das bedeuten, ich verstehe das nicht!“
„Miss Hilton, wir beenden das Gespräch hier. Nachdenken wird uns nicht viel weiterbringen. Ich werde jetzt losgehen und mit Lady Dumonde sprechen. Ich habe mich heute schon einmal mit ihr unterhalten. Das könnte schwierig werden.“ Grearson schmunzelte. „Und sie gehen bitte zu ihrer Mutter. Fragen sie sie, woher sie diese Taschentücher hat.“
Als er sah, wie Claris ein wenig enttäuscht aufstand, fügte er hinzu: „Aber bitte beantworten sie mir noch eine Frage: Trug ihre Mutter heute Abend einen knielangen Rock?“
Die junge Frau antwortete sehr verwirrt: „Nein. Sie trägt grundsätzlich nur knöchellange Röcke. Sehr edle Stücke zum Teil. Noch von ihrer Mutter. Aber warum fragen sie?“
„Es ist nichts Wichtiges. Aber ich bezweifle doch sehr, dass ihre Mutter seit unserer Abreise jemals Ismays Kabine betreten hat.“
Ein paar Minuten, nachdem Claris das Zimmer verlassen hatte, kam ihm ein entscheidender Gedanke: Niemand hatte behauptet, dass Bruce Ismay in seinem Zimmer ermordet wurde!

„Was ist schon ein Mann ohne Schultern?“
Immer wieder sagte der Steward diesen Satz vor sich hin, ohne jedoch seine Bedeutung entschlüsseln zu können. Warum nur hatte Mrs Dobbins sich so kompliziert und rätselhaft ausgedrückt? Offensichtlich war sie der Meinung, dass Miller dieses Rätsel lüften könne, dass er irgendwie in der Lage sei, hinter das Geheimnis der Botschaft zu kommen. Aber wie?
Miller saß in einem Sessel im Foyer des C-Decks und hatte den Kopf in die Hand gestützt. Je mehr er sich in diesen Satz vertiefte, umso weniger konnte er sich konzentrieren. Deshalb beschloss er, seine eigene Spur weiterzuverfolgen. Dazu hatte er jedoch nicht viel Gelegenheit. Als er den Korridor zum C-Deck betreten wollte, kam ihm ganz energisch ein zerstreuter Mann entgegen. Ohne sich zu entschuldigen, polterte er los.
„Na endlich treffe ich jemanden. Sind sie hier zuständig? Ich brauch ihre Hilfe. Ich suche Herrn Ismay. Fräulein Whittle war so nett, mir seine Zimmernummer zu geben, aber es ist immer abgeschlossen. Können sie mir helfen? Sie sehen jedenfalls so aus.“
Miller räusperte sich.
„Vielen Dank, Sir. Ich bin Steward. Aber die Information, die Miss Whittle ihnen gegeben hat, ist nicht zutreffend. Die Kabine der Ismays befindet sich auf dem B-Deck. Aber sie werden Mr Ismay auch dort nicht antreffen. Vielleicht kann ich ihnen weiterhelfen?“
Der Andere blickte ihn kritisch an.
„Ich will es hoffen. Mein Name ist Harald Müller. Kommen sie mit, in eine Ecke. Noch muss es nicht jeder wissen.“
Müller zog den Steward in eine Ecke hinter den Fahrstühlen und atmete tief durch.
„Wovon sprechen sie? Und warum sagten sie ´noch`?“
„Ich habe für Harland & Wolff gearbeitet. In ein Forschungsteam hat man mich eingespannt, zur Entwicklung bestimmter Materialien. Und es hat da einen Skandal gegeben, der vertuscht wurde und noch immer vertuscht wird. Und ich muss mit Ismay reden. Ich muss ihn zur Rede stellen und fordern, dass er alles zugibt! Ich dachte immer, Herr Andrews, der Ingenieur sei verantwortlich für diesen Schwindel, aber er sagte mir, dass Ismay selbst hinter allem steckt. Wann kann ich ihn treffen?“
Kein Zweifel, ein Deutscher. Miller rückte sein Jackett zurecht und versuchte, Zeit zu gewinnen. Er konnte dem Wissenschaftler nicht erzählen, dass Ismay ermordet worden war; andererseits schien dieser Skandal von Bedeutung zu sein und lieferte vielleicht Hintergründe für den Mord an Ismay.
„Mr Müller, sie müssen sich bitte beruhigen.“
Nervös nestelte der an seiner Hornbrille und blickte immer wieder um sich.
„Natürlich, beruhigen! Genau wie damals. Still sein, Gras darüber wachsen lassen. Wissen sie, dass hier Menschen in Gefahr sind?“
„Sagen sie mir, worum es geht. Ich werde es weitergeben. Ismay ist nicht zu sprechen. Sie werden da keinen Erfolg haben, also sagen sie es mir!“
„Also gut. Sie wissen hoffentlich, was sie dann zu tun haben. Ismay hat Harland & Wolff beauftragt, billigen Stahl zu produzieren. Billig, um die Gesamtkosten für die Titanic nicht ins Unermessliche wachsen zu lassen. Er gab es als Forschungsprojekt mir gegenüber aus und erwähnte das Schiff mit keinem Wort. Sagte, er wollte günstige Methoden für die Zukunft entwickeln. Wissen sie, natürlich bedeutet ein hoher Preis nicht immer eine hohe Qualität, aber wenn es um Stahl geht, dürfen sie davon ausgehen, dass gutes Material einiges kostet. Und ich Idiot habe mich von ihm verwirren lassen, habe nur die Forschung und nicht die damit verbundene Verantwortung gesehen! Der Stahl, den wir entwickelt haben, ist schlecht. Deswegen ist er so günstig. Bereits bei den Tests hat sich ergeben, dass dieses Material nur für normalen, alltäglichen Gebrauch zu empfehlen ist, keinesfalls aber für die Belastung, die dieses Schiff mit sich bringt.“
Müllers Kopf wurde langsam rot. Er redete sich in Rage.
„Ich habe davon nichts gewusst. Und nun ist die Titanic mit diesem Stahl verkleidet! Stellen sie sich das nur vor – welchem Risiko Ismay seine Passagiere aussetzt, und das nur um der niedrigen Kosten Willen! Ich kann das nicht mehr verantworten. Teilen sie Ismay das mit, er soll es ruhig wissen. Er soll die Titanic zum Umbau bringen, und wenn es noch so lange dauert und noch so teuer wird. Ich verlange, dass er Maßnahmen ergreift. Ich werde sonst, sobald wir in New York ankommen, den Skandal mit minderwertigem Stahl publik machen, darauf dürfen sie sich verlassen, guter Mann!“
Jetzt kniff der Mann die Lippen zusammen und atmete tief durch. Miller war ganz benebelt von diesem Wortschwall. Fassungslos starrte er den kleinen Mann an und malte sich aus, welch Niedergang die White Star Linie erwarten würde, käme diese Geschichte an die Öffentlichkeit. Schade nur, dass Ismay seinen Betrug nicht mehr ausmerzen konnte. Oder hatte er vielleicht schon in schrecklichstem Maße dafür gebüßt? Nur einen Moment zog der Steward Müller in den Verdacht des Mordes, wies ihn aber gleich wieder von sich. Falls er Ismay ermordet haben sollte, würde er sein Motiv bestimmt nicht so offensichtlich zur Schau stellen. Außerdem war dieser Betrug keine persönliche Angelegenheit von Müller; es hatte vielleicht sein Gewissen verletzt, aber würde man deswegen jemanden ermorden? Vor allem, wenn man ihn so gut in der Hand hatte?
Miller erschrak. In der Hand…
„Sagen sie das Ismay. Sagen sie ihm, dass ich die Beweise für den Betrug habe.“
Wutschnaubend verließ Müller die seltsame Szene. Miller dagegen musste sich gegen die Wand lehnen. Erpressung? Hatte Müller Ismay schon im Vorfeld erpresst? Und hatte Ismay sich geweigert, seine Forderungen zu erfüllen? Machte Müller vielleicht nur deshalb so viel Theater, um den Eindruck zu erzeugen, als habe er auf dieser Fahrt noch nicht mit Ismay gesprochen? Obwohl er ihn vielleicht bereits ermordet hat? Aber was um alles in der Welt hatte ein Mann ohne Schultern mit dieser Sache zu tun?
Viel verwirrter als zuvor ging Miller zum Zahlmeister, um sich nach Walter Borebanks Zimmernummer zu erkundigen.

Was Ms Hilton ihm erzählt hatte, hatte Grearson schon einmal aus erster Hand erfahren. Er hatte die junge Frau aber nicht enttäuschen wollen. Allerdings war die Sache mit dem Taschentuch neu. Insgeheim ärgerte er sich, dass er nicht früher darauf gekommen war.
Der Geschäftsmann klopfte an Kabine A-14. Taktgefühl. Taktgefühl und Schmeichelei, alles Andere wäre sinnlos, wenn er tiefere Einblicke von Lady Dumonde erhalten wollte. Sie musste sich in ihrer Position bestätigt fühlen, musste spüren, dass man auf ihrer Seite stand. Sonst würde sie sofort wieder von ihrem hohen Ross herabblicken.
Es dauerte einen kleinen Moment, dann näherten sich schlurfende Schritte der Tür. Lady Dumonde öffnete. Grearson musste sich zusammennehmen, um nicht laut herauszulachen. Die alternde Lady hatte sich offensichtlich bereits zurückgezogen und sah mit einem Mal richtig menschlich aus. Den zahlreichen Schmuck hatte sie abgelegt und anstelle ihres altmodisch edlen Kleides trug sie nun einen Morgenmantel. Offensichtlich hatte sie geraucht. Der Geruch schlug Grearson aus ihrem Zimmer entgegen.
„Sie, Mr Grearson? Haben sie mal auf die Uhr geschaut? Es ist fast elf Uhr. Was wollen sie um diese ungastliche Zeit bei mir?“
„Ich wundere mich, Lady Dumonde, dass sie sich bereits zurückgezogen haben. Wollten sie sich nicht auf die Suche nach Mr Ismay machen? Und überhaupt, weshalb ziehen sie sich jetzt schon zurück? Sicher ist es spät, aber wir befinden uns hier auf der Titanic, wo die Aktivitäten und nette Unterhaltungen bis spät in die Nacht locken. Sie sind doch ein gern gesehener Gast, wieso wollen sie sich den anderen Reisenden vorenthalten?“
Lady Dumonde lächelte. Wäre sie auch nur ein wenig misstrauischer gewesen, hätte sie Grearsons Heuchelei sofort enttarnt, doch sie war bereits durch die korrekte Anrede mit ihrem Titel so besänftigt, dass sie alles Andere nur noch als Huldigung ihrer ehrwürdigen Gestalt, so verschlafen sie jetzt auch aussah, wahrnahm.
„Sie haben natürlich Recht, junger Mann, wenn sie sagen, dass meine lieben Freunde mich vermissen werden. Ich fühle mich nur heute Abend irgendwie müde, irgendwie schwach auf den Beinen. Vielleicht sollte ich einfach mal wieder vernünftig schlafen, damit ich morgen umso wacher sein werde. Bruce hat über zwanzig Jahre gewartet, da machen diese paar Stunden jetzt auch nichts mehr aus.“
Vor zwei Stunden hat das aber noch ganz anders geklungen, dachte Grearson bei sich und versuchte, einen Grund für diesen Sinneswandel auszumachen. War Lady Dumonde dahinter gekommen, dass Ismay ermordet wurde? Wie sollte sie es erfahren haben? Er beschloss, auf das Thema nicht weiter einzugehen und stattdessen mit ihr über Ismay zu reden.
„Lady Dumonde, wenn sie so nett wären, würden sie mir dann ein wenig über Bruce Ismay erzählen? Ich meine, über das, was vor zwanzig Jahren geschehen ist?“
Die Dumonde rückte ihren Morgenmantel zurecht und korrigierte den Faltenwurf. Zumindest ihre Kleidung sah nun wieder edel aus. Dann öffnete sie die Tür ganz.
„Kommen sie bitte herein, Mr Grearson. Ich will nicht, dass mich jeder so sieht. Das wäre mir doch ein wenig unangenehm.“
Grearson trat ein. Lady Dumonde hatte das meiste ihres Zimmers mit großen Stoffstücken verkleidet, die jeden Ton schluckten. Die Lampen an den Wänden gaben ein sanftes Licht ab, so dass die gesamte Atmosphäre unwirklich schien. Grearson setzte sich in Erwartung unglaublicher Enthüllungen. Die würden den Eindruck des geheimnisvollen Dumondschen Zimmers komplettieren.
„Mr Grearson, was ich ihnen erzähle, geschieht im Vertrauen. Ich möchte, dass sie sich dessen bewusst sind. Aber ich halte sie schon für fähig, wichtige von unwichtigen Informationen zu trennen und die wichtigen für sich zu behalten.“
Grearson nickte und sagte: „Sie können sich da ganz auf mich verlassen, Lady Dumonde. Bitte beantworten sie mir nur eine einzige Frage im Voraus, damit ich sie nicht vergesse. Sagt ihnen ein Taschentuch mit einem eingestickten blauen L etwas?“
Letitia Dumonde schwieg und sah zu Boden.
„Das sind meine Taschentücher“, sagte sie schließlich und holte aus der Schublade ihrer Kommode ein weiteres Taschentuch, das genauso aussah, wie Murdoch es in dem Bericht geschrieben hatte.
„Dann beantworten sie mir bitte folgende Frage: Wie kommt eine Frau namens Diana Hilton an eben diese Taschentücher?“
„Das ist eine längere Geschichte.“ Sie atmete tief durch. „Vor 25 Jahren waren Bruce Ismay und ich unsterblich ineinander verliebt. Er nannte es eine Affäre, aber für mich war es noch mehr. Ich dachte, er könnte der Mann an meiner Seite werden. Doch damals, in dieser verheerenden Sylvesternacht… es war so wunderschön, die Musik, der Tanz, der Champagner. Wir verbrachten diese letzte wunderschöne Nacht zusammen und er gestand mir, dass es an der Zeit sei, dass wir uns trennten. In dieser Nacht, als ich dachte, dass es nicht mehr besser werden könnte, da sagte Bruce mir, dass er sich in eine andere Frau verliebt hatte.
Ich war unendlich traurig. Bruce konnte das nicht verstehen. Er hatte in dieser Beziehung niemals mehr als einen Flirt gesehen. Nie etwas Ernstes. Und deswegen fühlte er auch nie meinen Schmerz in dieser Nacht. Doch es war endgültig. Bruce hatte mich verlassen. Er hatte es mir so lieb und so schonend wie nur möglich beigebracht, aber ich war einfach nur enttäuscht. Wochenlang habe ich mich im Selbstmitleid ertränkt. Und dann habe ich entdeckt, dass ich schwanger bin. Ich erwartete ein Kind. Ich war mir sicher, dass es von Bruce sein musste. Ich war mit niemandem sonst in jener Zeit zusammen.“
Grearson lauschte gespannt.
„Ich suchte Bruce auf, um ihm davon zu erzählen. Seine neue Liebe, wie er es nannte, habe ich nicht gesehen. Ich glaube, damals hätte ich ihr auch nicht unter die Augen blicken können. Ich erzählte ihm von dem Kind und sagte ihm, dass wir es niemals gemeinsam aufziehen könnten. Ich fing an zu weinen, weil ich nicht wusste, was mit dem Baby passieren sollte. Dann bat ich Bruce, das Kind zu nehmen. Bei ihm hätte es wenigstens Vater und Mutter, und schließlich war es ja von ihm. Ich wollte mein Kind aufgeben, damit Bruce eine Familie hätte.“
Lady Dumonde stand auf und ging zum Bullauge. Still schaute sie hinaus. Dann fuhr sie fort.
„Ich bekam das Kind. Ein Mädchen. Bruce war bei der Geburt dabei, seine Frau nicht. Ich weiß nicht, ob sie geheiratet haben. Jedenfalls war es nicht seine jetzige Frau. Er war so stolz, ein Kind in Händen zu halten. Und ich war glücklich, dass unsere Beziehung nicht ganz ohne Erinnerungen verwehen würde. Danach habe ich Bruce nicht mehr oft gesehen. Er hat mir geschrieben, wie es dem Kind geht, hat es zusammen mit dieser Frau umsorgt und sich gekümmert. Es schien ihr richtig gut zu gehen. Dann, eines Tages, hörten die Briefe auf. Ich hörte nichts mehr von Bruce. Ich versuchte, ihm auf die Spur zu kommen, aber es schien, als hätte er sich in Luft aufgelöst. Lange Zeit später erfuhr ich, dass er sich von seiner Freundin getrennt hatte. Das Kind war bei ihr geblieben. Mehr weiß ich nicht.“
„Und das Taschentuch?“ fragte Grearson unauffällig.
„Ach ja, das Taschentuch. Ich wollte, dass Bruce, wenn er das Kind sah, auch an mich dachte. Damals bei der Geburt habe ich ihm drei meiner Taschentücher gegeben. Er sollte sie seiner Tochter schenken, sobald sie erwachsen sei. Als Wiedererkennungszeichen. Ich weiß nicht, was aus alledem geworden ist.“
Aber Grearson wusste es. Taktvoll schwieg er und stand auf. Bei der Tür angekommen sagte er: „Lady Dumonde, ich danke ihnen sehr, dass sie mir diese Geschichte erzählt haben. Ich werde Schweigen darüber bewahren, seien sie versichert.“
Die Dumonde, die noch immer mit dem Gesicht zum Bullauge stand, nickte nur. Dann verließ Grearson das Zimmer.
Arme Claris Hilton. Ohne Vater und bei der falschen Mutter aufgewachsen, ohne dass sie je etwas wusste. Und nun ist der Vater tot und die Mutter, die sie für ihre eigene hielt, steht unter Mordverdacht. Lange überlegte Patrick Grearson, ob er Claris die Wahrheit über Letitia Dumonde erzählen sollte. Doch er entschied sich dagegen.

„Schatz, sag mir jetzt bitte, dass du nichts mit dieser Sache zu tun hast.“
Lucia Borebanks Stimme hatte einen drohenden Unterton.
„Wovon sprichst du, Liebling?“
„Von Lucy natürlich. Von wem sonst? Und jetzt tu bitte nicht so unschuldig. Ich weiß genau, dass du immer ganz besonders zuvorkommend zu ihr warst.“
Mr Borebank setzte sich auf das Sofa und zog seine Schuhe aus. Die Füße taten ihm weh.
„Immer mit der Ruhe. Glaubst du denn etwa, ich hätte Lucy auf dem Gewissen? Wie kannst du solche Gedanken mir gegenüber nur aussprechen.“
Seine Ehefrau setzte sich neben ihn und seufzte erschöpft.
„Es tut mir leid. Ich wollte keine Vorwürfe machen. Die Geschichte ist nur so unglaublich. Ich fühle mich, als ob ich hier ein Theaterstück aufführe. Es kommt mir alles so inszeniert vor. Erst Mr Morrison, der seinen Ring verspielt, und nun der Mord an Lucy. Ich kann das alles nicht verstehen. Aber bitte, gib mir die Sicherheit, dass du nichts damit zu tun hast, ja?“
„Ich habe Lucy nicht getötet. Sei beruhigt.“
Es klopfte an der Tür.
„Das wird wohl dieser Steward sein, Darling“, meinte Mrs Borebank und ging hinüber zur Tür. Sie bat Miller herein, der eben auf seine Uhr blickte.
„Guten Abend nochmals, Mrs Borebank“, sagte Miller.
„Und sie wollen also jetzt mich verhören, sehe ich das richtig?“ ließ Walter seine Stimme aus dem Inneren des Zimmers vernehmen. Miller kam herein und setzte sich auf einen Stuhl, den Mrs Borebank ihm hinrückte.
„Nein. Es geht mir nicht darum, sie zu verhören, wie sie das nennen. Es geht mir, verstehen sie es nicht falsch, überhaupt nicht um sie. Ich hatte gehofft, von ihnen etwas über Lucy Ratchett zu erfahren. Sie war ihr Kindermädchen?“
„Ja, für unseren kleinen Jonathan. Er schläft im Nebenzimmer, seien sie bitte nicht so laut!“
„Gut. Ich wüsste gerne, ob sie etwas über Miss Ratchetts Familie wissen. Eltern, Geschwister, Verwandte und so weiter.“
Mr Borebank überlegte einen Moment.
„Ich weiß nur, dass sie eine Schwester hat. Sie hat sie ein paar Male erwähnt, aber nur kurz über sie gesprochen. Das Thema schien ihr immer ein wenig unangenehm. Ich weiß nichts über ihre Eltern. Aber über ihre Familie zu reden schien Lucy auch nie wichtig zu sein. Sie kam zu uns, um sich etwas Geld zu verdienen, und sie machte ihre Arbeit immer sehr gut. Dafür zeigten wir uns natürlich auch gerne erkenntlich.“
„Mr Borebank, ich habe einen Verdacht, zu dem ich gerne ihre Meinung hören würde. Sie sagten selbst, dass Lucy Geld brauchte?“
„Sie hatte selbst nie viel. Sie lebte zwar ganz sparsam, so dass man meinen möchte, sie hätte sich etwas angespart, aber so war es nicht. Ich weiß nicht, was sie mit dem Geld machte.“
„Wohnte Miss Ratchett bei ihnen?“
„Zeitweise ja. Wenn wir mal länger unterwegs waren, nur wir beide, durfte sie bei uns wohnen, um auf den Jungen aufzupassen. Wir hatten ihr angeboten, bei uns eine feste Wohnung zu bekommen, aber ihr Zimmer in der Stadt war ihr aus irgendeinem Grund sehr wichtig.“
„Ein Zimmer in der Stadt?“
„Was ist daran so ungewöhnlich? Sie war von zu Hause weggegangen. In der Stadt hatte sie eine kleine Wohnung gemietet.“
„Dann wird sie mit dem Geld die Wohnung unterhalten haben?“
„Die Wohnung war nicht sehr teuer. Da musste schon ein Teil übrig geblieben sein. Aber wie ich schon sagte, ich habe keinen Idee, was sie damit gemacht hat.“
Miller legte die Stirn in Falten.
„Ich frage mich, weshalb Miss Ratchett ihre Wohnung behalten wollte. Bei ihnen hätte sie doch alles gehabt, was sie wollte. Es sei denn…“
„Es sei denn was?“ fragte Mrs Borebank dazwischen. „Klären sie uns bitte auf! Uns liegt die Wahrheit über Lucys Tod genauso am Herzen wie ihnen. Ich kann gar nicht verstehen, wie jemand unserer Lucy nur so etwas Böses antun konnte, wo sie doch so ein liebes, unschuldiges Mädchen war.“
„Hatte Lucy einen Freund? Einen Verlobten?“
„Nein“, antwortete Walter rasch. „Das hätte sie uns bestimmt erzählt. Sie brachte auch nie jemanden mit zu uns. Und ich bin sicher, dass sie vor uns keine Geheimnisse hatte. Nachdem sie sonst niemanden um sich herum hatte, waren wir zu ihren einzigen Ansprechpartnern geworden.“
„Es muss da noch jemand anderes gewesen sein. Abgesehen davon, dass Lucy neben ihnen auch noch ihr Tagebuch hatte, dem sie alles anvertrauen konnte.“ Mrs Borebank wollte etwas sagen, doch Miller wiegelte sie schnell ab. Er wollte jetzt keine unangenehmen Fragen beantworten müssen. „Mir schwebt da immer noch die Angelegenheit mit dem Ring durch den Kopf.“
„Was ist mit dem Ring?“ fragte Borebank.
„Nun, er wurde gestohlen. Soviel steht fest. Können sie mir etwas mehr über den Ring erzählen?“
„Ich weiß kaum etwas darüber. Schatz, das müsstest du dem Herrn doch erzählen können, oder?“ wandte er sich an seine Frau.
Mrs Borebank drehte sich zu ihnen um.
„Ja. Der Ring war ein Geschenk von mir für Lucy. Für ihre treuen Dienste. Dafür, dass sie uns mit Jonathan durch die schweren Zeiten geholfen hat. Wissen sie, Geld und Wohlstand sind gut und schön, aber das allein kann kein Kind erziehen. Der Ring war nicht allzu wertvoll, entgegen allem, was sie vielleicht hören mögen. Ich habe ihn auf einem Basar gekauft. Der Händler versicherte mir, dass ich ihn zu einem Spottpreis bekommen könnte. Billig war er trotzdem nicht. Aber das war es mir wert. Der Edelstein, der in den Ring eingefasst war, trug einen interessanten Namen.“ Sie überlegte kurz. „Ich vergesse ihn immer wieder, dabei klingt er so faszinierend. Ach ja“, sagte sie und schnippte mit den Fingern, „das war es. Der Name des Steines ist Bellatrix. Ich muss immer an eine Tänzerin denken, wenn ich ihn höre. Bellatrix“, sagte Mrs Borebank noch einmal verträumt.
„Bellatrix“, murmelte Miller vor sich hin. „Der Mann ohne Schultern…“
„Was sagten sie?“
„Ach, nichts weiter. Es ist schade, dass keiner mehr mit Miss Ratchett persönlich sprechen kann. Aber ich will möglichst viel über sie erfahren. Sie haben mir da schon weiterhelfen können. Ich muss jetzt aber gehen“, meinte Miller mit einem Blick auf die kleine Kaminuhr der Borebanks, die die Kommode zierte. „Ich habe noch eine Verabredung.“
„Machen sie sich einen schönen Abend, alter Knabe. Und wenn sie dann etwas Neues über Lucy herausgefunden haben, teilen sie es uns doch bitte mit. Es wird sie nicht mehr ins Leben zurückrufen, aber wenigstens können wir dann wieder beruhigt schlafen gehen.“
„Selbstverständlich.“
Miller wurde von Lucinda Borebank zur Tür begleitet. Nachdem sie sich hinter ihm geschlossen hatte, fiel der Steward in einen hastigen Laufschritt. Es war kurz vor elf Uhr. Wenn Miller dahinterkommen wollte, wer der mysteriöse John war, der Ms Ratchett die Nachricht geschrieben hatte, musste er sich beeilen, um zum elektrischen Pferd zu kommen.
Das elektrische Pferd war ein Sportgerät in der Turnhalle, die sich auf dem Bootsdeck befand. Miller war ein wenig außer Puste, als er dort ankam. Er strich seinen Kragen glatt und bemühte sich, seinen Atem unter Kontrolle zu bringen. Dann öffnete er die Tür. Die Turnhalle war leer. Er hatte nicht erwartet, dass sich um diese Zeit und bei dieser Kälte, die draußen herrschte, noch jemand an den Geräten ertüchtigen würde. Doch es war auch kein John da.
Miller ging hinüber zu den Fahrrädern. Er setzte sich auf eines und trat ein wenig in die Pedale. Quietschend setzten sie sich in Bewegung. Der Steward blickte immer wieder auf die Eingangstür. Schließlich öffnete sie sich. Ein Mann trat ein.
„Mr Phillips!“ rief Miller überrascht.

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