Dienstag, 22. November 2016

Beteigeuze (Kapitel 7)




23:40 Uhr

Fieberhaft suchte Grearson nach Miller, doch der Steward schien wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Niemand konnte ihm weiterhelfen. Dennoch war Patrick Grearson in Hochstimmung. Er hatte den Fall gelöst, und niemand anderes wusste eine bessere Aufklärung. Die Leute um ihn herum interessierten ihn überhaupt nicht mehr. Er bahnte sich seinen Weg durch einen Korridor nach dem anderen, immer auf der Suche nach Miller. Dann kam ihm in den Sinn, dass das so keinen Sinn hatte. Die Titanic war viel zu groß, er würde Miller nie rechtzeitig finden. Sollte er sich zu Bett begeben und morgen mit ihm reden? Konnte die Sache wirklich bis morgen warten? Grearson entschied sich dagegen und überlegte sich einen Plan, wie er die wichtigen Plätze der Titanic systematisch absuchen könnte.
Zunächst kam ihm das Café Parisian in den Sinn. Vielleicht führte der Steward dort noch wichtige Gespräche mit den jungen Gästen. Doch Grearson wurde enttäuscht, als er durch die weiße Tür in den langgezogenen Raum trat.  Nur eine Frau saß an einem Tisch in der Mitte des Raumes und trank langsam eine Tasse Tee. Dabei blickte sie apathisch gegen die Wand und schien bis auf die Bewegung ihrer Hand wie eine Schaufensterpuppe stillzusitzen. Grearson wollte schon wieder gehen, als ihm ein kleines Accessoire der Frau ins Auge stach. Er beglückwünschte sich selbst zu seinen scharfen Augen und trat an ihren Tisch heran.
Nein, er hatte sich nicht geirrt. Auf dem Tisch lag ein Taschentuch mit einem eingestickten L. Auf gut Glück begrüßte er die Frau.
„Guten Abend! Gehe ich recht in der Annahme, dass sie Diana Hilton sind? Die Mutter von Claris Hilton?“
Die Frau setzte die Tasse ab und bewegte nun zum ersten Mal seit seiner Ankunft den Oberkörper. Ihre Stimme war nicht sehr stark und sie wirkte erschöpft und müde.
„Das stimmt. Woher wissen sie das? Wir haben uns zuvor noch nicht gesehen, wenn ich nicht irre?“
„Mein Name ist Patrick Grearson. Ich habe mich heute schon mit ihrer Tochter unterhalten.“
„Ach, wollen sie sie auch heiraten? Nur zu, machen sie nur, was sie wollen. Ich kann Claris sowieso nicht mehr in Schutz nehmen.“
„Sie braucht jetzt keinen Schutz, Mrs Hilton, sie braucht jetzt ihre Unterstützung. Unterstützung, die nur sie als Mutter ihr geben können.“
„Mutter“, sagte sie verächtlich.
„Ich kenne die Wahrheit“, erwähnte Grearson behutsam. „Aber ich bin nicht hier, um darüber mit ihnen zu reden. Ich weiß nicht, was heute Abend alles bei ihnen passiert ist, ich habe nur die zerstörte Tür an ihrer Kabine gesehen.“
„Ja, wir haben ein neues Zimmer bekommen.“
„Mrs Hilton, bitte beantworten sie mir eine Frage. Ich kann unmöglich glauben, dass sie noch nichts von Bruce Ismays Tod wissen. Deshalb brauchen sie sich mir gegenüber nicht zu verstellen. Waren sie heute Abend in Ismays Kabine? Wenn auch nur, um ihn zu grüßen oder ihm von seiner Tochter zu erzählen.“
„Nein. Ich wollte, aber ich habe mich dagegen entschieden. Welchen Sinn hätte es gehabt?“
Sie winkte mit der Hand in der Luft und bekam kurze Zeit später eine Flasche Whisky. Sie schenkte sich in die noch halbvolle Teetasse ein und trank sie in einem Zug leer. Grearson beobachtete sie aufmerksam.
„Ich hätte ihn töten können“, fuhr sie fort, „das wäre der einzige Grund gewesen, ihn aufzusuchen. Dann wäre die ganze Geschichte unentdeckt geblieben. Dieser dämliche Mensch, der sich Anwalt nennt, war ja zu weichlich dafür. Ich wäre gleich zur Tat geschritten, aber ich wusste nicht, wie ich es anstellen sollte.“
Grearson schwieg. Wer diesen Mord geplant hatte, musste sich dafür viel Zeit genommen haben, damit sich ihm solche Fragen nicht mehr stellen würden. Mrs Hilton war unschuldig. Sie hatte keinen Mord geplant. Der Affekt hatte sie zu diesen Gedanken getrieben, mehr aber auch nicht. Mrs Hilton schenkte sich die Tasse wieder mit Whisky voll und blickte mit düsteren Augen auf die Lichter, die sich auf der Oberfläche der Flüssigkeit spiegelten und tanzten.
„Aber sie dürfen nun doch glücklich sein, Mrs Hilton. Ismay ist aus dem Weg und ihre Tochter hat nun endlich, was sie will. Ist das nicht ein Grund, zufrieden zu sein?“
„Zufrieden? Meine Tochter verlässt mich, und dabei habe ich mir geschworen, sie zu behüten, nicht wie dieser Schuft von Bruce und diese andere Kuh. Ich wollte Claris niemals allein lassen.“
Wieder trank sie die Tasse in einem Zug leer, schluckte bitter und schüttelte etwas angewidert den Kopf.
„Ihre Tochter ist jetzt erwachsen.“ Grearson versuchte, behutsam auf die Frau vor ihm einzureden, solange sie noch zurechnungsfähig war. „Sie dürfen sie nicht ewig in einen Käfig sperren. Claris verspürt den Drang, frei zu sein. Frei von ihrer Mutter, frei von den Barrieren, die sie daran hindern, ihr eigenes Leben zu führen.“
„Ihr eigenes Leben? Sie sind witzig! Die Kleine wird sich ins Unglück stürzen und es nicht einmal bemerken. Was für eine Mutter wäre ich, wenn ich nicht versuchte, sie davor zu bewahren?“
„Aber denken sie auch darüber nach, was für eine Mutter sie sind, wenn sie Claris ewig festhalten.“
Offensichtlich zeigte dieser Satz Wirkung. Diana Hilton stellte die Flasche zur Seite und starrte auf den Tisch.
„Was für eine Mutter wäre ich dann?“ sprach sie mehr zu sich selbst und ihre Stimme lallte ein wenig.
Patrick Grearson fand es taktvoll, jetzt aufzustehen und die Frau ein wenig selbst nachdenken zu lassen. Sie hatte genug durchgemacht. Er verließ das Café und machte sich auf den Weg zum Rauchsalon. Vielleicht hatte Miller dort einen Gesprächspartner gefunden.

Quietschend öffnete sich die schwere Tür und fiel mit einem Donnern wieder ins Schloss. Der Metallsteg glänzte schmutzig im fahlen Licht der wenigen Lampen. Ein Fettfilm auf dem Geländer reflektierte die scheuen Lichtstrahlen, die sich ihren Weg durch die Dunkelheit bahnten. Dreck. Und der Lärm war unglaublich. Jeder Schritt eine Gefahr, auf dem schmierigen Boden auszurutschen. Hitze. Wie eine stählerne Schlange bahnte der Steg sich den Weg durch die monströsen Anlagen. Eine Welt aus Eisen, ohne Verzierungen, ohne jeglichen Schmuck. Heiß und doch kalt und abweisend. Dreckig, düster. Die Hand legte sich auf die nächste Klinke.

Der Rauchsalon war gut besucht wie eh und je, doch schien sich das Publikum verjüngt zu haben. Grearson erkannte sofort Lady Dumonde an einem der Tische in der Nähe des Kamins. Er ging zielstrebig zu ihr und setzte sich. Sie hatte den Kopf gesenkt und sah auch nicht allzu fröhlich aus.
„Guten Abend, Mrs Dumonde.“
Sie blickte auf.
„Ach, sie sind es. Es hat keinen Sinn, in seinem Zimmer zu versauern, deswegen versuche ich hier noch die letzten Minuten des Tages zu genießen. Hier, wo ich noch etwas bedeute.“
Grearson fühlte sich an Mrs Hilton erinnert. Auch Lady Dumonde schien ziemlich niedergeschlagen.
„Wissen sie“, sagte sie, „heute zählt ein Adelstitel wohl nichts mehr. Sehen sie sich nur all die jungen Leute hier an! Glauben sie, dass auch nur einer davon seinen Respekt zeigt? Ich hatte immer gehofft, mit dem Titel käme auch der Ruhm. Aber es kamen nur die Verpflichtungen. Und der Spott von guten Freunden. Die Vorwürfe. Ich soll mir meinen Titel erkauft haben! Und die, die mich nicht kannten, kennen mich auch heute nicht. Mein Titel ist nichts wert. Und dafür habe ich nun also alles aufgegeben? Ich hätte eine glückliche Familie haben können. Stattdessen habe ich einen Mann, der die ganze Zeit nur im Haus sitzt und eine Freundin, mit der ich nicht ein einziges ernstes Gespräch führen kann. Das macht mich nicht wirklich glücklich.“
Grearson wusste nicht, was er sagen sollte. Er war noch nie ein guter Lebensberater gewesen und konnte sich nicht vorstellen, das nun zu sein. Lady Dumonde erzählte weiter.
„Diese Fahrt nach Amerika… ich hatte gehofft, mit Bruce wieder zusammenzukommen. Was kümmerte mich noch mein Mann, der in seinem Arbeitszimmer verstaubte? Bruce war einst mein Leben gewesen, warum sollte er es nicht wieder sein? Und diese Frau, die er sich in der Zwischenzeit geangelt hat, die konnte wohl kaum das Richtige für ihr sein. Jeder wusste von seinem kleinen Affärenzimmer hier an Bord. Und ich bin mir sicher, dass sie auch nicht viel von der Ehe hatte. Sie hat ihn nie richtig schätzen gelernt.“
„Lady Dumonde, das ist jetzt alles vorbei. Sie können die Vergangenheit nicht ändern. Nur die Zukunft, die der Vergangenheit am nächsten ist, die können sie selbst in die Hand nehmen. Die Gegenwart, machen sie etwas aus der Gegenwart! Sie haben doch alle Möglichkeiten der Welt!“
Die Dumonde bedachte ihn mit einem dankbaren Blick. Dann ließ sie den Kopf wieder hängen.
„Können sie mir sagen, ob Mr Miller, der Steward, kürzlich hier war?“
„Den kenne ich nicht. Aber ich habe hier keinen Steward gesehen. Da müssen sie woanders suchen, Mr Grearson. Vielleicht schauen sie einmal in der Bibliothek nach.“
„Ich wünsche ihnen noch einen schönen Abend.“
Grearson stand von seinem Platz auf und ging bedächtig am Tisch des Kartenspielers vorbei zum Ausgang. Diese Gesichter von Mrs Hilton und Lady Dumonde würde er so schnell nicht vergessen können. Die Bibliothek. Ein Ort, den er bisher noch nicht aufgesucht hatte. Was sollte er dort vorfinden? Einen sich weiterbildenden Steward? Nichtsdestotrotz machte er sich auf den Weg.

Ein nicht allzu großer Raum. Eine große Maschine, lauter als die anderen. Ein Mann mit einer schwarzen Mütze und einem dunkelblauen Strickpullover, der über und über mit Fettflecken beschmiert war. Schweiß. Die Stimmen kaum zu hören. Ein paar verständigende Worte, ein kurzes Nicken. Fett auf dem Stahlsteg, der sich seinen Weg immer weiter bahnte, zu gegenüberliegenden Tür. Helle Lichter. Der Lärm war unerträglich. Dann fiel die nächste Tür ins Schloss und es wurde still. Der Lärm schien wie ausgesperrt zu sein.

Die Bibliothek war ein warmer, fast muffiger Raum. Viele Regale mit engen Gängen dazwischen füllten ihn. Kaum ein Mensch war hier, nur wenige nutzten die Gelegenheit, sich weiterzubilden und mit einem Buch ihrer Wahl sowie einer Tasse heißer Schokolade auf einem der schönen Sofas zu sitzen und zu lesen. Langsam ging Grearson durch den Mittelgang und blickte sich immer wieder nach links und rechts um. Miller war nicht hier. An einem der letzten Regale stand jedoch Harald Müller, der deutsche Wissenschaftler, und blätterte in einem Buch. Grearson erkannte ihn wieder und trat zu ihm.
„Guten Abend, Mr Müller. Erinnern sie sich?“
„Herr Grearson, jaja, ich erinnere mich. Möchten sie mich sprechen?“
Er stellte das Buch ins Regal zurück. Grearson machte eine entschuldigende Handbewegung.
„Oh, es tut mir leid, ich wollte sie nicht bei ihren Forschungen stören.“
„Forschungen, pah! Was ist das schon? Welchen Sinn hat das schon? Sie stören mich nicht. Mit Forschung habe ich erst einmal alle Fragen geklärt. Leider. Kommen sie!“
Müller führte ihn zu einem der schicken Sofas. Es stand ziemlich versteckt in einer Ecke des Raumes, von zwei Regalen fast vollständig verdeckt. Hier würde bestimmt niemand lauschen können.
„Wissen sie, ich habe immer gedacht, die Forschung wäre eine positive und sinnvolle Sache“, setzte Müller an. „Ich war überzeugt, dass ich der Menschheit mit meinen Nachforschungen helfen könnte, ihnen das Leben erleichtern könnte. Der Mensch strebt nach Wegen, seine Lebensumstände zu verbessern. Das ist der Sinn der Forschung, sei es in der Medizin, sei es in der Wissenschaft – wie sie wollen, es geht immer darum, bessere Wege zu finden. Diesem Ziel habe ich mich verschrieben, in der Hoffnung, etwas zu schaffen. Mir waren keine Preise wichtig, keine Auszeichnungen. Ein Händedruck war mir immer Belohnung genug, und dazu die Zufriedenheit der Menschen, wenn sie den Nutzen meiner Entwicklungen entdeckten. Das war mein Beruf, das war mein Traum, verstehen sie das?“
Beinahe flehend blickte Müller Grearson an.
„Das verstehe ich sehr gut, Mr Müller. Aber warum nur wollen sie diesem Ziel nicht mehr weiter nachgehen?“
„Ich bin ausgenutzt worden. Man hat meine Wissenschaft missbraucht, um sich zu bereichern. Die Forschung wurde genutzt, um Profit herauszuschlagen. Nur zu diesem einen Zweck! Ich dachte, ich könnte wieder neue Wege erschließen, neue Maßstäbe auf dem Weg zu einer hohen Qualität setzen. Eine weitere Stufe setzen an die Treppe, die die Forscher zu den Sternen führt. Aber ohne es selbst zu wissen, habe ich von dieser Treppe ein Stück abgerissen zugunsten geldgieriger Männer. Ich habe etwas getan, was ich zutiefst bereue und ich kann es nun nicht mehr rückgängig machen. Ich kann mit dieser Bürde meinen Beruf, meine Berufung als Forscher nicht mehr vertreten.“
„Ihr Ethos ehrt sie, Mr Müller, aber was sie da reden, ist dennoch Unsinn! Wie können sie nur denken, dass sie der Menschheit nun nicht mehr nützen werden? Ihre Arbeit war hervorragend – sie konnten ja nicht wissen, dass es für den falschen Zweck war! Sie haben die Forschung wieder weitergebracht, nur dürfen sie nicht erwarten, dass all ihre Projekte immer nur zum Guten eingesetzt werden. Dazu ist der Mensch zu gierig. Das ist eine Wesensart, die sie auch mit der allerbesten Wissenschaft niemals tilgen werden. Sie müssen immer damit rechnen, in den Diensten der falschen Seite zu stehen, ohne dass sie es überhaupt bemerken. Deswegen dürfen sie aber doch nicht die Chance vernichten, Großes zu schaffen!“
Müller schwieg einen Moment.
„Vielleicht haben sie Recht“, sagte er schließlich. „Aber es handelt sich hier um einen Skandal, der an die Öffentlichkeit gelangen wird. Dafür sorge ich. Vielleicht kann ich dann meine Ehre wiederherstellen.“
Es war ein wenig unangenehm, aber Patrick Grearson hielt den abrupten Themenwechsel für die sinnvollste Art, an Informationen zu kommen.
„Mr Müller, haben sie heute Abend hier in der Bibliothek einen Steward gesehen? Vor kurzem?“
„Ja. Er stand direkt neben mir und hat sich ein Buch über Astrologie angeschaut. Murmelte immer wieder etwas von Bellatrix und Beteigeuze und so weiter. Und über Afrika, weiß der Himmel, warum! Aber warum fragen sie mich das so plötzlich?“
„Ich kann ihnen das jetzt nicht weiter erläutern. Ich danke ihnen jedenfalls für die Auskunft und wünsche ihnen viel Erfolg in der Forschung weiterhin.“
„Ja ja, sie stellen sich das alles so einfach vor. Sie haben halt keine Ahnung, was es heißt, seine Seele der Forschung überschrieben zu haben. Aber gehen sie nur, sie können mir ja doch nicht helfen.“
Patrick Grearson bahnte sich seinen Weg durch die Regale. Die Überfahrt auf der Titanic – ein unglaubliches Ereignis, ein Erlebnis, eine Hoffnung? So sollte es zumindest gedacht sein. Die Titanic, eine Fassade auf dem Weg nach Amerika? Diese Menschen waren nicht gerade von Hoffnung erfüllt. Eher im Gegenteil.

Stille. Nicht ohne leise Geräusche der Maschinen, aber unerwartet. Und Dunkelheit. Wenige Lampen spendeten das ihnen typische fahle Licht. Kein Fett. Kein schmieriges Geländer. Der Eisensteg bot einen unheimlichen Weg in die Tiefe dar. Endlich fester Halt an dem Geländer zur Linken und Rechten. Dann die Abzweigung, geradeaus, zu den Kesselräumen oder der Weg nach links und die wenigen Stufen nach oben. Nach links. Keine Menschenseele. Hier war es also. Licht. Stille. Die Leitern führten hinauf.

Das nächste Ziel war der Empfang der ersten Klasse auf dem D-Deck. Obwohl Grearson nicht mehr allzu große Hoffnungen hatte, jemanden anzutreffen, versuchte er es. Es wunderte ihn nicht, dass die Treppenhalle fast leer war. Der Empfang war hier vor über drei Stunden abgehalten worden, danach hatte man sich zwar noch nett unterhalten, aber viele Reisende zogen es vor, aus der etwas ungastlichen Halle in die Gesellschaftsräume zu verschwinden, um dortigen Aktivitäten nachzugehen. Genau gegenüber der Haupttreppe saßen auf zwei Korbsesseln zwei Männer. Einer winkte Grearson heran.
„Mister Grearson, da sind sie ja mal wieder. Gehören sie also auch zu den Nachteulen?“
„Mr Stevens, wir sind doch noch jung und wollen die Nacht nicht ungenutzt verstreichen lassen“, antwortete Grearson und zwinkerte.
„Haben sie ihre Informationen über die Frau im Kittel bekommen können?“
„Ja. Ihr Foto hat mir wirklich sehr weitergeholfen. Es ist mir gelungen, die Ereignisse zu rekonstruieren. Sie verstehen sicher, dass ich ihnen darüber aber nicht mehr sagen darf.“
„Das ist schon in Ordnung. Ich bin froh, dass ich helfen konnte.“
Grearson betrachtete den anderen Mann.
„Sie sind Walter Borebank, nicht wahr? Ich habe sie zuvor in Miss Ratchetts Zimmer gesehen. Bei der Untersuchung.“
„Das stimmt“, antwortete der. „Wenn ich mir auch nicht ganz sicher bin, wer sie sind und was sie mit dieser Angelegenheit zu tun haben. Das ist mir auch ziemlich egal. Ich muss erst einmal  verdauen, dass wir unsere Lucy verloren haben, sie werden das sicherlich verstehen.“
„Aber natürlich. Sagen sie, sie haben nicht zufällig den Steward, Miller, hier in der Nähe gesehen?“
„Nein“, antwortete Stevens. „Und dabei habe ich immer ein gutes Auge für Personen. Aber der war hier nicht.“
„Ich habe ihn zuvor auf dem Bootsdeck gesehen“, erwähnte Borebank. Grearson blickte ihn neugierig an.
„Ja?“
„Ich war an Deck, um etwas frische Luft zu bekommen. Es ist zwar unerhört kalt, aber ich habe wenigstens einen klaren Kopf bekommen. Das sollte Lucia auch machen, sie kommt über Lucys Ermordung nur schwer hinweg. Und wie ich da an der Reling stehe, sehe ich in einiger Entfernung diesen Steward, der auch bei der Untersuchung dabei war. Er hat einfach nur in den Himmel geschaut. Als ob er nichts anderes zu tun hätte!“
„Er hat nichts gemacht?“
„Nein. Nur die Aussicht genossen. So schien es mir zumindest. Mir ist es dann jedenfalls zu kalt geworden und ich bin wieder hineingegangen.“
Stevens räusperte sich.
„Der Ausblick heute Abend ist aber auch fantastisch. Wir haben einen sternenklaren Himmel und da kein Mond scheint, kann man die Sterne ganz hervorragend erkennen.“
„Na ja, Mr Stevens, aber sie verstehen wohl, dass ich dafür nicht den Nerv habe. Jedenfalls im Moment nicht“, sagte Borebank.
„Walter, sie sollten ein wenig auftauen. Sie können an der Situation schließlich auch nichts mehr ändern. Sie sind schon genauso deprimiert wie dieser Andrews.“
„Thomas Andrews“, fragte Grearson nach.
„Richtig. Der Ingenieur. Ich habe ihn kurz zuvor im Salon der ersten Klasse gesehen. Geht immer nur auf und ab, den Blick meistens zu Boden, oder er steht an der Wand und schaut ganz abwesend die Verzierungen im Holz an. Nicht sehr redselig, so scheint es mir zumindest.“
„Ich werde Mr Andrews suchen, ich wollte sowieso mit ihm sprechen. Jedenfalls danke ich ihnen für diese Auskunft und wünsche noch eine angenehme Nacht.“
Grearson tippte sich kurz an die Stirn und stieg wieder die Treppe hinauf.

Es war bitterkalt. Hoch oben über der Titanic froren Reginald Lee und Frederick Fleet in ihren Krähennestern. Der kalte Wind trieb ihnen die Tränen in die Augen, doch sie hielten tapfer weiter Ausschau. Die Aussicht, dass in zwanzig Minuten ihre Schicht vorüber sein würde und die warmen Betten auf sie warteten, trieb sie voran. Es war eine Schicht wie jede andere, keine besonderen Vorkommnisse. Zwar wurde ihre Sicht ein wenig beeinträchtigt durch die Tatsache, dass es an Bord des Schiffes keine Ferngläser gab; dieser Fehler würde aber zweifelsohne in New York korrigiert werden.
Die Augen waren fixiert auf den Weg vor ihnen, um bei dem kleinsten Zeichen von Gefahr Alarm zu geben. Dann, urplötzlich, entdeckte Fleet etwas in unmittelbarer Nähe. Auf dem Wasser, direkt vor der Titanic. Seine Augen weiteten sich vor Schreck, als er den Telefonhörer zur Schiffsbrücke in die Hand nahm.

„Mr Andrews, gut, dass ich sie finde. Ich muss mit ihnen sprechen.“
Grearson hatte den Salon betreten und war sofort zu Andrews gegangen, der am Kaminsims stand und apathisch in den Salon schaute.
„Sie habe ich doch schon einmal gesehen“, sagte der Ingenieur teilnahmslos.
„Grearson. Wir haben uns heute Abend schon einmal unterhalten. Ich muss mit ihnen sprechen. Geraldine Dobbins. Sagt ihnen der Name etwas? Ich muss mit ihnen über etwas sprechen, was sie gesagt hat.“
„Dobbins? Das kommt mir bekannt vor.“
„Mr Andrews, bitte helfen sie mir. Mrs Dobbins sprach mit mir über den falschen Ruhm dieses Schiffes. Können sie sich vorstellen, was damit gemeint war?“
„Mrs Dobbins hat mit mir über ihren Mann gesprochen. Er ist ums Leben gekommen, als die Titanic vor einem Jahr vom Stapel gelassen wurde. Sie hat mich dafür verantwortlich gemacht. Alle machen mich verantwortlich. Für die Fehler, die hier passiert sind. Ich bin schuld an allem“, sagte Andrews dumpf.
Grearson wollte darauf nicht weiter eingehen.
„Mr Andrews, worüber haben sie mit Mrs Dobbins noch geredet?“
„Ich habe versucht, ihr klarzumachen, dass sie Titanic eine Fassade ist. Alles strahlt, alles glänzt, aber innerlich steckt dieses Kind voller Fehler, die niemals hätten gemacht werden dürfen. Der falsche Ruhm des Schiffes, so habe ich den berühmten vierten Schornstein genannt. Wissen sie, nur drei der Schornsteine sind echt, der vierte ist eine Attrappe. Er wurde sozusagen als Talisman dazugesetzt, für eine erfolgreiche Überfahrt. Und“, fügte er etwas kleinlaut hinzu, „natürlich wollte man damit prahlen. Sich rühmen mit einem falschen Schornstein! Aber was verstehen sie schon von Ruhm und Verantwortung? Genießen sie ihre Fahrt, es ist ihre Aufgabe, die Fassade zu bewundern und zu staunen, so wie es alle Menschen tun.“
Andrews drehte sich weg. Das war für Grearson das Zeichen, zu gehen. Die Maske der Titanic existierte nicht mehr. Für Andrews hatte sie nie existiert und für ihn, Patrick Grearson, war sie nun zusammengebrochen. Einen Anstrich von Eleganz, Luxus und Majestät, den hatte dieses Schiff erhalten, doch dieser Anstrich war nicht für die Ewigkeit.
Grearson ging zum Zahlmeister, in der Hoffnung, einen Weg zu dem Schornstein zu finden.
„Mr McElroy, gibt es einen Weg, in den vierten, den unechten Schornstein hineinzugelangen?“
„Dazu müssen sie durch die Maschinenräume gehen, Mr Grearson, danach ist es nicht mehr zu verfehlen. Sprechen sie sonst auch die Arbeiter unten an. Aber seltsam, dass sie jetzt auch nach unten wollen!“
„Wieso, was ist daran seltsam?“
„Na ja, eben war Steward Miller hier und hat auch nach den Kesselräumen gefragt. Scheint ja mächtig was los zu sein, da unten“, scherzte er.
Ohne sich zu verabschieden drehte Grearson sich um und lief zur Hintertreppe. Hastig lief er die Stufen hinunter, seine Beine schmerzten ihm bereits. Entgegenkommende blickten ihn überrascht an, doch er beachtete sie gar nicht. Schließlich lief er an den weißen Wänden des Schottlandweges entlang und weiter hinab, bis er vor einer schweren Tür stand. Mit Mühe öffnete er sie und betrat die Maschinenräume. Krachend fiel die Tür hinter ihm zu. Der Geruch von Kohle und Schmierfett stach ihn in der Nase, das fahle Licht der wenigen Lampen erleuchtete den metallenen Pfad, der sich auf mittlerer Höhe zwischen den Maschinen hindurch wand.
Grearson ging ein wenig langsam, da der schmierige Dreck auf dem Weg kein Rennen erlaubte. Schließlich trat er an eine weitere Tür und öffnete sie. Sie führte in einen weiteren Maschinenraum, der hell ausgeleuchtet war. Der Weg führte geradeaus auf die nächste Tür zu. Neben einer Maschine, die einen ungeheuren Lärm von sich gab, stand einer der Arbeiter, fett, ungepflegt. Grearson deutete fragend auf die Tür, der Arbeiter zuckte nur mit den Schultern. Konversation war bei diesem Lärm unmöglich.
Ganz anders dagegen die Stille, die ihn in der nächsten Halle erwartete. Mit dem Schließen der Tür hatte er den Krach zurückgelassen. Hier war es jetzt wieder finster und still. Ein paar Lampen beleuchteten den Weg, der jetzt nicht mehr vom Schmierfett glänzte. Grearson blickte sich um und sah über seinem Kopf zu seiner Linken eine Treppe. Er ging den Pfad entlang, bis er vor einem runden Raum stand. Er blickte hinein. Gelbe Lampen leuchteten ihn aus, er schien keine Decke zu haben. Nur einen Metallpfad, der am Rand des Raumes entlang führte und zu dem eine Leiter den Weg öffnete. Grearson stand im vierten Schornstein.
Er trat die Leiter hinauf und blickte über sich. Ein weiterer Steg, der einmal im Inneren rund um den Raum führte. Eine weitere Leiter führte hinauf. So kletterte Grearson immer weiter nach oben. Ab und an waren einzelne Kisten mit Waren auf diesen Stegen abgestellt, ansonsten war es offensichtlich, dass der Schmuck der einzige Zweck dieses Schornsteins gewesen ist. Dann wurde das Licht schwächer. Je höher Grearson stieg, umso düsterer wurde es. Schließlich hatte er die oberste Plattform erreicht. Kalte Luft schlug ihm ins Gesicht. Er war nicht allein. Ihm gegenüber stand der Steward, Miller, und blickte mit einem Fernglas gen Schiffsbug.
„Miller!“
Der Steward erschrak und drehte sich um.
„Mr Grearson! Wie sind sie hierher gekommen?“
„Genauso wie sie, nehme ich an. Aber was machen sie hier?“
„Mrs Dobbins hat mir gesagt, ich solle das Auge suchen. Nun, ich habe es gefunden.“ Er schwenkte das Fernglas.
„Ein einfaches Fernglas? Und was soll daran so besonders sein?“
„Nun, es gibt auf diesem Schiff offiziell kein einziges Fernglas. Es wird schon einen Sinn gehabt haben, dass Mrs Dobbins es extra hier hat deponieren lassen, da bin ich sicher. Ich habe mit dem Arbeiter unten an der Maschine gesprochen. Sie war heute Abend da und hat ihn gebeten, das Fernglas hier oben zu deponieren. Er scheint ein guter Freund von ihrem Mann gewesen zu sein, deswegen hat er es gemacht.“
„Und wozu soll das nun nützen?“ fragte Grearson verständnislos. Er hatte sich wesentlich mehr von der Lösung dieses Rätsels erhofft.
„Tja, das habe ich gerade versucht, herauszufinden. Ich glaube, ich habe…“
Miller wollte weitersprechen, doch er kam nicht dazu. Ein Ruck ging durch die Titanic, der das Schiff bis ins Innerste erschütterte. Beide Männer hielten sich am Rande des Schornsteins fest, um nicht zu stürzen. Dann wandten sie ihre Blicke zum Schiffsbug, der von unzähligen Eisbrocken bedeckt war. Grearson fand zuerst seine Stimme wieder.
„Sie haben einen Eisberg gerammt. Diese Idioten!“

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