23:40 Uhr
Fieberhaft
suchte Grearson nach Miller, doch der Steward schien wie vom Erdboden
verschluckt zu sein. Niemand konnte ihm weiterhelfen. Dennoch war Patrick
Grearson in Hochstimmung. Er hatte den Fall gelöst, und niemand anderes wusste
eine bessere Aufklärung. Die Leute um ihn herum interessierten ihn überhaupt
nicht mehr. Er bahnte sich seinen Weg durch einen Korridor nach dem anderen,
immer auf der Suche nach Miller. Dann kam ihm in den Sinn, dass das so keinen
Sinn hatte. Die Titanic war viel zu groß, er würde Miller nie rechtzeitig
finden. Sollte er sich zu Bett begeben und morgen mit ihm reden? Konnte die
Sache wirklich bis morgen warten? Grearson entschied sich dagegen und überlegte
sich einen Plan, wie er die wichtigen Plätze der Titanic systematisch absuchen
könnte.
Zunächst
kam ihm das Café Parisian in den Sinn. Vielleicht führte der Steward dort noch wichtige
Gespräche mit den jungen Gästen. Doch Grearson wurde enttäuscht, als er durch
die weiße Tür in den langgezogenen Raum trat.
Nur eine Frau saß an einem Tisch in der Mitte des Raumes und trank
langsam eine Tasse Tee. Dabei blickte sie apathisch gegen die Wand und schien
bis auf die Bewegung ihrer Hand wie eine Schaufensterpuppe stillzusitzen.
Grearson wollte schon wieder gehen, als ihm ein kleines Accessoire der Frau ins
Auge stach. Er beglückwünschte sich selbst zu seinen scharfen Augen und trat an
ihren Tisch heran.
Nein, er
hatte sich nicht geirrt. Auf dem Tisch lag ein Taschentuch mit einem
eingestickten L. Auf gut Glück begrüßte er die Frau.
„Guten
Abend! Gehe ich recht in der Annahme, dass sie Diana Hilton sind? Die Mutter
von Claris Hilton?“
Die Frau
setzte die Tasse ab und bewegte nun zum ersten Mal seit seiner Ankunft den
Oberkörper. Ihre Stimme war nicht sehr stark und sie wirkte erschöpft und müde.
„Das
stimmt. Woher wissen sie das? Wir haben uns zuvor noch nicht gesehen, wenn ich
nicht irre?“
„Mein Name
ist Patrick Grearson. Ich habe mich heute schon mit ihrer Tochter unterhalten.“
„Ach,
wollen sie sie auch heiraten? Nur zu, machen sie nur, was sie wollen. Ich kann
Claris sowieso nicht mehr in Schutz nehmen.“
„Sie
braucht jetzt keinen Schutz, Mrs Hilton, sie braucht jetzt ihre Unterstützung.
Unterstützung, die nur sie als Mutter ihr geben können.“
„Mutter“,
sagte sie verächtlich.
„Ich kenne
die Wahrheit“, erwähnte Grearson behutsam. „Aber ich bin nicht hier, um darüber
mit ihnen zu reden. Ich weiß nicht, was heute Abend alles bei ihnen passiert
ist, ich habe nur die zerstörte Tür an ihrer Kabine gesehen.“
„Ja, wir
haben ein neues Zimmer bekommen.“
„Mrs
Hilton, bitte beantworten sie mir eine Frage. Ich kann unmöglich glauben, dass
sie noch nichts von Bruce Ismays Tod wissen. Deshalb brauchen sie sich mir
gegenüber nicht zu verstellen. Waren sie heute Abend in Ismays Kabine? Wenn
auch nur, um ihn zu grüßen oder ihm von seiner Tochter zu erzählen.“
„Nein. Ich
wollte, aber ich habe mich dagegen entschieden. Welchen Sinn hätte es gehabt?“
Sie winkte
mit der Hand in der Luft und bekam kurze Zeit später eine Flasche Whisky. Sie
schenkte sich in die noch halbvolle Teetasse ein und trank sie in einem Zug
leer. Grearson beobachtete sie aufmerksam.
„Ich hätte
ihn töten können“, fuhr sie fort, „das wäre der einzige Grund gewesen, ihn
aufzusuchen. Dann wäre die ganze Geschichte unentdeckt geblieben. Dieser
dämliche Mensch, der sich Anwalt nennt, war ja zu weichlich dafür. Ich wäre
gleich zur Tat geschritten, aber ich wusste nicht, wie ich es anstellen
sollte.“
Grearson
schwieg. Wer diesen Mord geplant hatte, musste sich dafür viel Zeit genommen
haben, damit sich ihm solche Fragen nicht mehr stellen würden. Mrs Hilton war
unschuldig. Sie hatte keinen Mord geplant. Der Affekt hatte sie zu diesen
Gedanken getrieben, mehr aber auch nicht. Mrs Hilton schenkte sich die Tasse
wieder mit Whisky voll und blickte mit düsteren Augen auf die Lichter, die sich
auf der Oberfläche der Flüssigkeit spiegelten und tanzten.
„Aber sie
dürfen nun doch glücklich sein, Mrs Hilton. Ismay ist aus dem Weg und ihre
Tochter hat nun endlich, was sie will. Ist das nicht ein Grund, zufrieden zu
sein?“
„Zufrieden?
Meine Tochter verlässt mich, und dabei habe ich mir geschworen, sie zu behüten,
nicht wie dieser Schuft von Bruce und diese andere Kuh. Ich wollte Claris
niemals allein lassen.“
Wieder
trank sie die Tasse in einem Zug leer, schluckte bitter und schüttelte etwas
angewidert den Kopf.
„Ihre
Tochter ist jetzt erwachsen.“ Grearson versuchte, behutsam auf die Frau vor ihm
einzureden, solange sie noch zurechnungsfähig war. „Sie dürfen sie nicht ewig
in einen Käfig sperren. Claris verspürt den Drang, frei zu sein. Frei von ihrer
Mutter, frei von den Barrieren, die sie daran hindern, ihr eigenes Leben zu
führen.“
„Ihr
eigenes Leben? Sie sind witzig! Die Kleine wird sich ins Unglück stürzen und es
nicht einmal bemerken. Was für eine Mutter wäre ich, wenn ich nicht versuchte,
sie davor zu bewahren?“
„Aber
denken sie auch darüber nach, was für eine Mutter sie sind, wenn sie Claris
ewig festhalten.“
Offensichtlich
zeigte dieser Satz Wirkung. Diana Hilton stellte die Flasche zur Seite und
starrte auf den Tisch.
„Was für
eine Mutter wäre ich dann?“ sprach sie mehr zu sich selbst und ihre Stimme
lallte ein wenig.
Patrick
Grearson fand es taktvoll, jetzt aufzustehen und die Frau ein wenig selbst
nachdenken zu lassen. Sie hatte genug durchgemacht. Er verließ das Café und
machte sich auf den Weg zum Rauchsalon. Vielleicht hatte Miller dort einen
Gesprächspartner gefunden.
Quietschend
öffnete sich die schwere Tür und fiel mit einem Donnern wieder ins Schloss. Der
Metallsteg glänzte schmutzig im fahlen Licht der wenigen Lampen. Ein Fettfilm
auf dem Geländer reflektierte die scheuen Lichtstrahlen, die sich ihren Weg
durch die Dunkelheit bahnten. Dreck. Und der Lärm war unglaublich. Jeder
Schritt eine Gefahr, auf dem schmierigen Boden auszurutschen. Hitze. Wie eine
stählerne Schlange bahnte der Steg sich den Weg durch die monströsen Anlagen.
Eine Welt aus Eisen, ohne Verzierungen, ohne jeglichen Schmuck. Heiß und doch
kalt und abweisend. Dreckig, düster. Die Hand legte sich auf die nächste
Klinke.
Der
Rauchsalon war gut besucht wie eh und je, doch schien sich das Publikum
verjüngt zu haben. Grearson erkannte sofort Lady Dumonde an einem der Tische in
der Nähe des Kamins. Er ging zielstrebig zu ihr und setzte sich. Sie hatte den
Kopf gesenkt und sah auch nicht allzu fröhlich aus.
„Guten
Abend, Mrs Dumonde.“
Sie blickte
auf.
„Ach, sie
sind es. Es hat keinen Sinn, in seinem Zimmer zu versauern, deswegen versuche
ich hier noch die letzten Minuten des Tages zu genießen. Hier, wo ich noch
etwas bedeute.“
Grearson
fühlte sich an Mrs Hilton erinnert. Auch Lady Dumonde schien ziemlich
niedergeschlagen.
„Wissen
sie“, sagte sie, „heute zählt ein Adelstitel wohl nichts mehr. Sehen sie sich
nur all die jungen Leute hier an! Glauben sie, dass auch nur einer davon seinen
Respekt zeigt? Ich hatte immer gehofft, mit dem Titel käme auch der Ruhm. Aber
es kamen nur die Verpflichtungen. Und der Spott von guten Freunden. Die
Vorwürfe. Ich soll mir meinen Titel erkauft haben! Und die, die mich nicht
kannten, kennen mich auch heute nicht. Mein Titel ist nichts wert. Und dafür
habe ich nun also alles aufgegeben? Ich hätte eine glückliche Familie haben
können. Stattdessen habe ich einen Mann, der die ganze Zeit nur im Haus sitzt
und eine Freundin, mit der ich nicht ein einziges ernstes Gespräch führen kann.
Das macht mich nicht wirklich glücklich.“
Grearson
wusste nicht, was er sagen sollte. Er war noch nie ein guter Lebensberater
gewesen und konnte sich nicht vorstellen, das nun zu sein. Lady Dumonde
erzählte weiter.
„Diese
Fahrt nach Amerika… ich hatte gehofft, mit Bruce wieder zusammenzukommen. Was
kümmerte mich noch mein Mann, der in seinem Arbeitszimmer verstaubte? Bruce war
einst mein Leben gewesen, warum sollte er es nicht wieder sein? Und diese Frau,
die er sich in der Zwischenzeit geangelt hat, die konnte wohl kaum das Richtige
für ihr sein. Jeder wusste von seinem kleinen Affärenzimmer hier an Bord. Und
ich bin mir sicher, dass sie auch nicht viel von der Ehe hatte. Sie hat ihn nie
richtig schätzen gelernt.“
„Lady
Dumonde, das ist jetzt alles vorbei. Sie können die Vergangenheit nicht ändern.
Nur die Zukunft, die der Vergangenheit am nächsten ist, die können sie selbst
in die Hand nehmen. Die Gegenwart, machen sie etwas aus der Gegenwart! Sie
haben doch alle Möglichkeiten der Welt!“
Die Dumonde
bedachte ihn mit einem dankbaren Blick. Dann ließ sie den Kopf wieder hängen.
„Können sie
mir sagen, ob Mr Miller, der Steward, kürzlich hier war?“
„Den kenne
ich nicht. Aber ich habe hier keinen Steward gesehen. Da müssen sie woanders
suchen, Mr Grearson. Vielleicht schauen sie einmal in der Bibliothek nach.“
„Ich
wünsche ihnen noch einen schönen Abend.“
Grearson
stand von seinem Platz auf und ging bedächtig am Tisch des Kartenspielers
vorbei zum Ausgang. Diese Gesichter von Mrs Hilton und Lady Dumonde würde er so
schnell nicht vergessen können. Die Bibliothek. Ein Ort, den er bisher noch
nicht aufgesucht hatte. Was sollte er dort vorfinden? Einen sich
weiterbildenden Steward? Nichtsdestotrotz machte er sich auf den Weg.
Ein nicht
allzu großer Raum. Eine große Maschine, lauter als die anderen. Ein Mann mit
einer schwarzen Mütze und einem dunkelblauen Strickpullover, der über und über
mit Fettflecken beschmiert war. Schweiß. Die Stimmen kaum zu hören. Ein paar
verständigende Worte, ein kurzes Nicken. Fett auf dem Stahlsteg, der sich
seinen Weg immer weiter bahnte, zu gegenüberliegenden Tür. Helle Lichter. Der
Lärm war unerträglich. Dann fiel die nächste Tür ins Schloss und es wurde
still. Der Lärm schien wie ausgesperrt zu sein.
Die
Bibliothek war ein warmer, fast muffiger Raum. Viele Regale mit engen Gängen
dazwischen füllten ihn. Kaum ein Mensch war hier, nur wenige nutzten die
Gelegenheit, sich weiterzubilden und mit einem Buch ihrer Wahl sowie einer
Tasse heißer Schokolade auf einem der schönen Sofas zu sitzen und zu lesen.
Langsam ging Grearson durch den Mittelgang und blickte sich immer wieder nach
links und rechts um. Miller war nicht hier. An einem der letzten Regale stand
jedoch Harald Müller, der deutsche Wissenschaftler, und blätterte in einem
Buch. Grearson erkannte ihn wieder und trat zu ihm.
„Guten
Abend, Mr Müller. Erinnern sie sich?“
„Herr
Grearson, jaja, ich erinnere mich. Möchten sie mich sprechen?“
Er stellte
das Buch ins Regal zurück. Grearson machte eine entschuldigende Handbewegung.
„Oh, es tut
mir leid, ich wollte sie nicht bei ihren Forschungen stören.“
„Forschungen,
pah! Was ist das schon? Welchen Sinn hat das schon? Sie stören mich nicht. Mit
Forschung habe ich erst einmal alle Fragen geklärt. Leider. Kommen sie!“
Müller
führte ihn zu einem der schicken Sofas. Es stand ziemlich versteckt in einer
Ecke des Raumes, von zwei Regalen fast vollständig verdeckt. Hier würde
bestimmt niemand lauschen können.
„Wissen
sie, ich habe immer gedacht, die Forschung wäre eine positive und sinnvolle
Sache“, setzte Müller an. „Ich war überzeugt, dass ich der Menschheit mit
meinen Nachforschungen helfen könnte, ihnen das Leben erleichtern könnte. Der
Mensch strebt nach Wegen, seine Lebensumstände zu verbessern. Das ist der Sinn
der Forschung, sei es in der Medizin, sei es in der Wissenschaft – wie sie
wollen, es geht immer darum, bessere Wege zu finden. Diesem Ziel habe ich mich
verschrieben, in der Hoffnung, etwas zu schaffen. Mir waren keine Preise
wichtig, keine Auszeichnungen. Ein Händedruck war mir immer Belohnung genug,
und dazu die Zufriedenheit der Menschen, wenn sie den Nutzen meiner Entwicklungen
entdeckten. Das war mein Beruf, das war mein Traum, verstehen sie das?“
Beinahe
flehend blickte Müller Grearson an.
„Das
verstehe ich sehr gut, Mr Müller. Aber warum nur wollen sie diesem Ziel nicht
mehr weiter nachgehen?“
„Ich bin
ausgenutzt worden. Man hat meine Wissenschaft missbraucht, um sich zu
bereichern. Die Forschung wurde genutzt, um Profit herauszuschlagen. Nur zu
diesem einen Zweck! Ich dachte, ich könnte wieder neue Wege erschließen, neue
Maßstäbe auf dem Weg zu einer hohen Qualität setzen. Eine weitere Stufe setzen
an die Treppe, die die Forscher zu den Sternen führt. Aber ohne es selbst zu
wissen, habe ich von dieser Treppe ein Stück abgerissen zugunsten geldgieriger
Männer. Ich habe etwas getan, was ich zutiefst bereue und ich kann es nun nicht
mehr rückgängig machen. Ich kann mit dieser Bürde meinen Beruf, meine Berufung
als Forscher nicht mehr vertreten.“
„Ihr Ethos
ehrt sie, Mr Müller, aber was sie da reden, ist dennoch Unsinn! Wie können sie
nur denken, dass sie der Menschheit nun nicht mehr nützen werden? Ihre Arbeit
war hervorragend – sie konnten ja nicht wissen, dass es für den falschen Zweck
war! Sie haben die Forschung wieder weitergebracht, nur dürfen sie nicht
erwarten, dass all ihre Projekte immer nur zum Guten eingesetzt werden. Dazu
ist der Mensch zu gierig. Das ist eine Wesensart, die sie auch mit der
allerbesten Wissenschaft niemals tilgen werden. Sie müssen immer damit rechnen,
in den Diensten der falschen Seite zu stehen, ohne dass sie es überhaupt
bemerken. Deswegen dürfen sie aber doch nicht die Chance vernichten, Großes zu
schaffen!“
Müller
schwieg einen Moment.
„Vielleicht
haben sie Recht“, sagte er schließlich. „Aber es handelt sich hier um einen
Skandal, der an die Öffentlichkeit gelangen wird. Dafür sorge ich. Vielleicht
kann ich dann meine Ehre wiederherstellen.“
Es war ein
wenig unangenehm, aber Patrick Grearson hielt den abrupten Themenwechsel für
die sinnvollste Art, an Informationen zu kommen.
„Mr Müller,
haben sie heute Abend hier in der Bibliothek einen Steward gesehen? Vor
kurzem?“
„Ja. Er
stand direkt neben mir und hat sich ein Buch über Astrologie angeschaut.
Murmelte immer wieder etwas von Bellatrix und Beteigeuze und so weiter. Und
über Afrika, weiß der Himmel, warum! Aber warum fragen sie mich das so
plötzlich?“
„Ich kann
ihnen das jetzt nicht weiter erläutern. Ich danke ihnen jedenfalls für die
Auskunft und wünsche ihnen viel Erfolg in der Forschung weiterhin.“
„Ja ja, sie
stellen sich das alles so einfach vor. Sie haben halt keine Ahnung, was es heißt,
seine Seele der Forschung überschrieben zu haben. Aber gehen sie nur, sie
können mir ja doch nicht helfen.“
Patrick
Grearson bahnte sich seinen Weg durch die Regale. Die Überfahrt auf der Titanic
– ein unglaubliches Ereignis, ein Erlebnis, eine Hoffnung? So sollte es
zumindest gedacht sein. Die Titanic, eine Fassade auf dem Weg nach Amerika?
Diese Menschen waren nicht gerade von Hoffnung erfüllt. Eher im Gegenteil.
Stille.
Nicht ohne leise Geräusche der Maschinen, aber unerwartet. Und Dunkelheit.
Wenige Lampen spendeten das ihnen typische fahle Licht. Kein Fett. Kein
schmieriges Geländer. Der Eisensteg bot einen unheimlichen Weg in die Tiefe
dar. Endlich fester Halt an dem Geländer zur Linken und Rechten. Dann die
Abzweigung, geradeaus, zu den Kesselräumen oder der Weg nach links und die
wenigen Stufen nach oben. Nach links. Keine Menschenseele. Hier war es also.
Licht. Stille. Die Leitern führten hinauf.
Das nächste
Ziel war der Empfang der ersten Klasse auf dem D-Deck. Obwohl Grearson nicht
mehr allzu große Hoffnungen hatte, jemanden anzutreffen, versuchte er es. Es
wunderte ihn nicht, dass die Treppenhalle fast leer war. Der Empfang war hier
vor über drei Stunden abgehalten worden, danach hatte man sich zwar noch nett
unterhalten, aber viele Reisende zogen es vor, aus der etwas ungastlichen Halle
in die Gesellschaftsräume zu verschwinden, um dortigen Aktivitäten nachzugehen.
Genau gegenüber der Haupttreppe saßen auf zwei Korbsesseln zwei Männer. Einer
winkte Grearson heran.
„Mister
Grearson, da sind sie ja mal wieder. Gehören sie also auch zu den Nachteulen?“
„Mr
Stevens, wir sind doch noch jung und wollen die Nacht nicht ungenutzt
verstreichen lassen“, antwortete Grearson und zwinkerte.
„Haben sie
ihre Informationen über die Frau im Kittel bekommen können?“
„Ja. Ihr
Foto hat mir wirklich sehr weitergeholfen. Es ist mir gelungen, die Ereignisse
zu rekonstruieren. Sie verstehen sicher, dass ich ihnen darüber aber nicht mehr
sagen darf.“
„Das ist
schon in Ordnung. Ich bin froh, dass ich helfen konnte.“
Grearson
betrachtete den anderen Mann.
„Sie sind
Walter Borebank, nicht wahr? Ich habe sie zuvor in Miss Ratchetts Zimmer
gesehen. Bei der Untersuchung.“
„Das
stimmt“, antwortete der. „Wenn ich mir auch nicht ganz sicher bin, wer sie sind
und was sie mit dieser Angelegenheit zu tun haben. Das ist mir auch ziemlich
egal. Ich muss erst einmal verdauen,
dass wir unsere Lucy verloren haben, sie werden das sicherlich verstehen.“
„Aber
natürlich. Sagen sie, sie haben nicht zufällig den Steward, Miller, hier in der
Nähe gesehen?“
„Nein“,
antwortete Stevens. „Und dabei habe ich immer ein gutes Auge für Personen. Aber
der war hier nicht.“
„Ich habe
ihn zuvor auf dem Bootsdeck gesehen“, erwähnte Borebank. Grearson blickte ihn
neugierig an.
„Ja?“
„Ich war an
Deck, um etwas frische Luft zu bekommen. Es ist zwar unerhört kalt, aber ich
habe wenigstens einen klaren Kopf bekommen. Das sollte Lucia auch machen, sie
kommt über Lucys Ermordung nur schwer hinweg. Und wie ich da an der Reling
stehe, sehe ich in einiger Entfernung diesen Steward, der auch bei der
Untersuchung dabei war. Er hat einfach nur in den Himmel geschaut. Als ob er
nichts anderes zu tun hätte!“
„Er hat
nichts gemacht?“
„Nein. Nur
die Aussicht genossen. So schien es mir zumindest. Mir ist es dann jedenfalls
zu kalt geworden und ich bin wieder hineingegangen.“
Stevens
räusperte sich.
„Der
Ausblick heute Abend ist aber auch fantastisch. Wir haben einen sternenklaren
Himmel und da kein Mond scheint, kann man die Sterne ganz hervorragend
erkennen.“
„Na ja, Mr
Stevens, aber sie verstehen wohl, dass ich dafür nicht den Nerv habe.
Jedenfalls im Moment nicht“, sagte Borebank.
„Walter,
sie sollten ein wenig auftauen. Sie können an der Situation schließlich auch
nichts mehr ändern. Sie sind schon genauso deprimiert wie dieser Andrews.“
„Thomas
Andrews“, fragte Grearson nach.
„Richtig.
Der Ingenieur. Ich habe ihn kurz zuvor im Salon der ersten Klasse gesehen. Geht
immer nur auf und ab, den Blick meistens zu Boden, oder er steht an der Wand
und schaut ganz abwesend die Verzierungen im Holz an. Nicht sehr redselig, so
scheint es mir zumindest.“
„Ich werde
Mr Andrews suchen, ich wollte sowieso mit ihm sprechen. Jedenfalls danke ich
ihnen für diese Auskunft und wünsche noch eine angenehme Nacht.“
Grearson
tippte sich kurz an die Stirn und stieg wieder die Treppe hinauf.
Es war
bitterkalt. Hoch oben über der Titanic froren Reginald Lee und Frederick Fleet
in ihren Krähennestern. Der kalte Wind trieb ihnen die Tränen in die Augen,
doch sie hielten tapfer weiter Ausschau. Die Aussicht, dass in zwanzig Minuten
ihre Schicht vorüber sein würde und die warmen Betten auf sie warteten, trieb
sie voran. Es war eine Schicht wie jede andere, keine besonderen Vorkommnisse.
Zwar wurde ihre Sicht ein wenig beeinträchtigt durch die Tatsache, dass es an
Bord des Schiffes keine Ferngläser gab; dieser Fehler würde aber zweifelsohne
in New York korrigiert werden.
Die Augen
waren fixiert auf den Weg vor ihnen, um bei dem kleinsten Zeichen von Gefahr
Alarm zu geben. Dann, urplötzlich, entdeckte Fleet etwas in unmittelbarer Nähe.
Auf dem Wasser, direkt vor der Titanic. Seine Augen weiteten sich vor Schreck,
als er den Telefonhörer zur Schiffsbrücke in die Hand nahm.
„Mr
Andrews, gut, dass ich sie finde. Ich muss mit ihnen sprechen.“
Grearson
hatte den Salon betreten und war sofort zu Andrews gegangen, der am Kaminsims
stand und apathisch in den Salon schaute.
„Sie habe
ich doch schon einmal gesehen“, sagte der Ingenieur teilnahmslos.
„Grearson.
Wir haben uns heute Abend schon einmal unterhalten. Ich muss mit ihnen
sprechen. Geraldine Dobbins. Sagt ihnen der Name etwas? Ich muss mit ihnen über
etwas sprechen, was sie gesagt hat.“
„Dobbins?
Das kommt mir bekannt vor.“
„Mr
Andrews, bitte helfen sie mir. Mrs Dobbins sprach mit mir über den falschen
Ruhm dieses Schiffes. Können sie sich vorstellen, was damit gemeint war?“
„Mrs
Dobbins hat mit mir über ihren Mann gesprochen. Er ist ums Leben gekommen, als
die Titanic vor einem Jahr vom Stapel gelassen wurde. Sie hat mich dafür
verantwortlich gemacht. Alle machen mich verantwortlich. Für die Fehler, die
hier passiert sind. Ich bin schuld an allem“, sagte Andrews dumpf.
Grearson
wollte darauf nicht weiter eingehen.
„Mr
Andrews, worüber haben sie mit Mrs Dobbins noch geredet?“
„Ich habe
versucht, ihr klarzumachen, dass sie Titanic eine Fassade ist. Alles strahlt,
alles glänzt, aber innerlich steckt dieses Kind voller Fehler, die niemals
hätten gemacht werden dürfen. Der falsche Ruhm des Schiffes, so habe ich den
berühmten vierten Schornstein genannt. Wissen sie, nur drei der Schornsteine
sind echt, der vierte ist eine Attrappe. Er wurde sozusagen als Talisman
dazugesetzt, für eine erfolgreiche Überfahrt. Und“, fügte er etwas kleinlaut
hinzu, „natürlich wollte man damit prahlen. Sich rühmen mit einem falschen
Schornstein! Aber was verstehen sie schon von Ruhm und Verantwortung? Genießen
sie ihre Fahrt, es ist ihre Aufgabe, die Fassade zu bewundern und zu staunen,
so wie es alle Menschen tun.“
Andrews
drehte sich weg. Das war für Grearson das Zeichen, zu gehen. Die Maske der
Titanic existierte nicht mehr. Für Andrews hatte sie nie existiert und für ihn,
Patrick Grearson, war sie nun zusammengebrochen. Einen Anstrich von Eleganz,
Luxus und Majestät, den hatte dieses Schiff erhalten, doch dieser Anstrich war
nicht für die Ewigkeit.
Grearson
ging zum Zahlmeister, in der Hoffnung, einen Weg zu dem Schornstein zu finden.
„Mr
McElroy, gibt es einen Weg, in den vierten, den unechten Schornstein
hineinzugelangen?“
„Dazu
müssen sie durch die Maschinenräume gehen, Mr Grearson, danach ist es nicht
mehr zu verfehlen. Sprechen sie sonst auch die Arbeiter unten an. Aber seltsam,
dass sie jetzt auch nach unten wollen!“
„Wieso, was
ist daran seltsam?“
„Na ja,
eben war Steward Miller hier und hat auch nach den Kesselräumen gefragt.
Scheint ja mächtig was los zu sein, da unten“, scherzte er.
Ohne sich
zu verabschieden drehte Grearson sich um und lief zur Hintertreppe. Hastig lief
er die Stufen hinunter, seine Beine schmerzten ihm bereits. Entgegenkommende
blickten ihn überrascht an, doch er beachtete sie gar nicht. Schließlich lief
er an den weißen Wänden des Schottlandweges entlang und weiter hinab, bis er
vor einer schweren Tür stand. Mit Mühe öffnete er sie und betrat die
Maschinenräume. Krachend fiel die Tür hinter ihm zu. Der Geruch von Kohle und
Schmierfett stach ihn in der Nase, das fahle Licht der wenigen Lampen
erleuchtete den metallenen Pfad, der sich auf mittlerer Höhe zwischen den
Maschinen hindurch wand.
Grearson
ging ein wenig langsam, da der schmierige Dreck auf dem Weg kein Rennen
erlaubte. Schließlich trat er an eine weitere Tür und öffnete sie. Sie führte
in einen weiteren Maschinenraum, der hell ausgeleuchtet war. Der Weg führte
geradeaus auf die nächste Tür zu. Neben einer Maschine, die einen ungeheuren
Lärm von sich gab, stand einer der Arbeiter, fett, ungepflegt. Grearson deutete
fragend auf die Tür, der Arbeiter zuckte nur mit den Schultern. Konversation
war bei diesem Lärm unmöglich.
Ganz anders
dagegen die Stille, die ihn in der nächsten Halle erwartete. Mit dem Schließen
der Tür hatte er den Krach zurückgelassen. Hier war es jetzt wieder finster und
still. Ein paar Lampen beleuchteten den Weg, der jetzt nicht mehr vom
Schmierfett glänzte. Grearson blickte sich um und sah über seinem Kopf zu
seiner Linken eine Treppe. Er ging den Pfad entlang, bis er vor einem runden
Raum stand. Er blickte hinein. Gelbe Lampen leuchteten ihn aus, er schien keine
Decke zu haben. Nur einen Metallpfad, der am Rand des Raumes entlang führte und
zu dem eine Leiter den Weg öffnete. Grearson stand im vierten Schornstein.
Er trat die
Leiter hinauf und blickte über sich. Ein weiterer Steg, der einmal im Inneren
rund um den Raum führte. Eine weitere Leiter führte hinauf. So kletterte
Grearson immer weiter nach oben. Ab und an waren einzelne Kisten mit Waren auf
diesen Stegen abgestellt, ansonsten war es offensichtlich, dass der Schmuck der
einzige Zweck dieses Schornsteins gewesen ist. Dann wurde das Licht schwächer.
Je höher Grearson stieg, umso düsterer wurde es. Schließlich hatte er die
oberste Plattform erreicht. Kalte Luft schlug ihm ins Gesicht. Er war nicht
allein. Ihm gegenüber stand der Steward, Miller, und blickte mit einem Fernglas
gen Schiffsbug.
„Miller!“
Der Steward
erschrak und drehte sich um.
„Mr
Grearson! Wie sind sie hierher gekommen?“
„Genauso
wie sie, nehme ich an. Aber was machen sie hier?“
„Mrs
Dobbins hat mir gesagt, ich solle das Auge suchen. Nun, ich habe es gefunden.“
Er schwenkte das Fernglas.
„Ein
einfaches Fernglas? Und was soll daran so besonders sein?“
„Nun, es
gibt auf diesem Schiff offiziell kein einziges Fernglas. Es wird schon einen
Sinn gehabt haben, dass Mrs Dobbins es extra hier hat deponieren lassen, da bin
ich sicher. Ich habe mit dem Arbeiter unten an der Maschine gesprochen. Sie war
heute Abend da und hat ihn gebeten, das Fernglas hier oben zu deponieren. Er
scheint ein guter Freund von ihrem Mann gewesen zu sein, deswegen hat er es
gemacht.“
„Und wozu
soll das nun nützen?“ fragte Grearson verständnislos. Er hatte sich wesentlich
mehr von der Lösung dieses Rätsels erhofft.
„Tja, das
habe ich gerade versucht, herauszufinden. Ich glaube, ich habe…“
Miller
wollte weitersprechen, doch er kam nicht dazu. Ein Ruck ging durch die Titanic,
der das Schiff bis ins Innerste erschütterte. Beide Männer hielten sich am
Rande des Schornsteins fest, um nicht zu stürzen. Dann wandten sie ihre Blicke
zum Schiffsbug, der von unzähligen Eisbrocken bedeckt war. Grearson fand zuerst
seine Stimme wieder.
„Sie haben
einen Eisberg gerammt. Diese Idioten!“
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