Sonntag, 6. November 2016

Cloud Atlas v2.0


Vor einiger Zeit habe ich hier bereits einmal über Cloud Atlas geschrieben. Ein sehr interessantes, vielschichtiges und anspruchsvolles Kunstwerk. Und dazu muss ich sagen, dass ich nach wie vor die Romanvorlage nicht gelesen habe. Bis gestern hatte ich nur die Filmversion gesehen, noch dazu auf deutsch. Das macht einen enormen Unterschied aus, und seit gestern Abend weiß ich auch, wieso.

Die grundlegenden Details über das Werk aus der Feder von David Mitchell und der Regie von Tom Tykwer und den Wachowskis sind im älteren Beitrag nachzulesen. Ich habe mich nach dem ersten Ansehen mit einem Freund darüber ausgetauscht - er ebenso begeistert wie ich, allerdings hatte er zuvor das Buch gelesen. Auf deutsch - denn das Thema und die küstlerische Umsetzung ringen dem Rezipienten genügend Respekt und Ehrfurcht ab, dass er sich nicht direkt an das englische Original setzt.

Schluss damit: Gestern habe ich mich in die richtige Stimmung versetzt, das Telefon rausgezogen, die Rollos runtergezogen, alles abgedunkelt, mein Soundsystem auf die nötige Lautstärke gebracht und die Scheibe mit dem Film (bitte unbedingt - wenn möglich - auf BluRay schauen!) eingelegt. Als Sprache Englisch gewählt. Die deutschen Untertitel ausgeschaltet. Nach zehn Minuten des Zögerns nochmal auf Deutsch gewechselt - und nach siebzehn Sekunden endgültig auf Englisch gewechselt.

Und nach siebzehn Minuten jegliches Gefühl für Zeit und Raum verloren, eingetaucht in den labyrinthartigen Plot um Freiheit, Individualität, Verbundenheit und Wahrheit auf drei Erzählebenen in sechs Zeitaltern mit unzähligen Dialekten. Three hours of pure bliss.

Was macht den Film im englischen Original nach Meinung dieses Rezensenten besser als die deutsche Variante? Zunächst sei festgehalten: Die deutsche Synchro ist brilliant. Mit nicht weniger war zu rechnen, wenn man bedenkt, dass der deutsche Regisseur Tom Tykwer, ein Meister seines Fachs (man möge bitte Lola Rennt gesehen haben), seine Hand darüber gehalten hat. Und was für eine Arbeit das gewesen sein muss, alle unterschiedlichen Sprachstile, die die Zeitalter abbilden, im Deutschen nachzuahmen; besonders die postapokalyptische Sprache auf der Big Isle erfordert eine eigene Studie in Pidgin- und Kreolsprachen.

Wer sich von dem Film derart vereinnahmen lässt wie ich, nimmt jede Kleinigkeit wahr. Jedes Geräusch, jedes Detail in der Ausgestaltung. Gerade das hochauflösende Bild der BluRay und der sorgfältig auf Surround abgemischte Sound erfordern Präzision in der Abstimmung. Man kommt einfach nicht drumherum, bei der deutschen Filmversion zu bemerken, dass die gesprochenen Texte so gar nicht zu den Lippenbewegungen passen. Absolut unmöglich ist es, den komplizierten Sprachstil des Originals im Deutschen an die englischen Lippenbewegungen anzupassen. Das fällt beim "deutschen Ansehen" zwar auf, aber nicht zwangsläufig negativ.

Beim Ansehen der englischen Version passt aber auf einmal alles. Jegliches noch so kleine Gemurmel der Inselbewohner passt in die Umgebung, jegliche Geräuschkulisse passt zur visuellen Darbietung. Wir sind in Neo Seoul, wir sind auf der großen Insel, wir liegen im Bett mit Sixsmith, wir überqueren das Meer zusammen mit dem afrikanischen Sklaven. Die Musik trägt uns von einer Bedeutsamkeit des Films zur nächsten, die englischen Wortwitze treffen endlich ins Mark, wenn zum Beispiel der alternde Komponist seinem jungen Gehilfen entgegen schreit: "I wanted a melody, not a malady!"

Zugegeben: Die intellektuelle Herausforderung steigt um einige Grade höher. Ich bin sehr froh, dass ich den Film bereits mehrere Male auf deutsch gesehen hatte und somit einige grundlegende Eckpunkte des Plots kannte. Die Gespräche der postapokalyptischen Ära sind mitunter sehr schwer zu verstehen. Aber das gehört so, das soll so, das muss so sein. Und Kunst sollte so, wie vom Künstler beabsichtigt, genossen werden, und nicht in irgendeiner Weise bearbeitet. Ziel bei Cloud Atlas sollte es also für jeden Freund des Werks sein, es irgedwann im englischen Original zu genießen.

Diese drei Stunden gestern waren für mich ein einziger Genuss. Ich weiß nicht, ob ich die Zeit irgendwie sinnvoller hätte verbringen können. Nach wie vor hat sich das Werk für mich nicht gänzlich erschlossen, und darüber bin ich sehr glücklich, weil sich noch zahlreiche weitere Abende mit Cloud Atlas anbieten werden. Der Film wirkt nach, der Film hält vor. Und ich muss überlegen, ob ich dieses doch recht epische Kunstwerk überhaupt noch einmal auf deutsch anschauen möchte.

Endlich hat Mulholland Drive einen Partner auf Platz eins meiner Lieblingsfilme gefunden.

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