Montag, 14. November 2016

Beteigeuze (Kapitel 3)




21:30 Uhr

Ein wenig verwirrt wanderte Susan Lockett den scheinbar endlosen Gang zum Squashplatz hinab. Ein netter Mitreisender hatte ihr den Weg gezeigt, doch mittlerweile zweifelte sie am Wahrheitsgehalt dieser Beschreibung. Als sie dann auch noch weitere Treppen nach unten stieg, wurde ihr ein wenig mulmig ums Gemüt. Der Maschinenlärm war hier lauter zu hören als auf den Decks. Keine weitere Menschenseele hatte sich in diesen langen Gang verirrt, keine Gesprächsfetzen, keine Musik war mehr von oben zu hören.
Dennoch musste dies der richtige Flur sein, so lang er auch war. Wie alle anderen Korridore der vornehmeren Klassen war er mit Teppich ausgelegt und die Wände waren mit Bildern geschmückt, in den Ecken standen vereinzelt Grünpflanzen und hellten den bedrohlich wirkenden Gang ein wenig auf. Endlich kam Ms Lockett an eine eiserne Tür. Sie öffnete sie und betrat einen finsteren Raum. Zwar erhellten Lampen das Szenario, doch gewann Beklemmung schnell die Überhand.
Ms Lockett atmete auf, als sie den Fotografen sah.
„Mr Stevens! Und ich dachte schon, ich hätte mich verlaufen! Dieses Schiff ist wirklich ein Labyrinth aus Gängen.“
Stevens kam näher und blickte bewundernd auf seine Uhr.
„Und dennoch sind sie pünktlich auf die Minute. Ganz hervorragend, Ms Lockett. Sehen sie, dies ist der Squashplatz.“
„Und noch viel unheimlicher als der ganze Weg hier herunter! Meine Güte, das hätten die Erbauer aber auch ein wenig praktischer und freundlicher gestalten können. Kein Wunder ist hier kein Mensch.“
„Sie mögen Recht haben, was das fehlende Ambiente betrifft“, gab Stevens zu und blickte sich in der leeren Halle um, „aber dass hier um diese Zeit keiner mehr Squash spielt, sollte ihnen nicht wunderlich erscheinen. Zum einen gibt es viele Passagiere, insbesondere unsere weiblichen Mitreisenden, die sich abends einfach nicht mehr hier hinunter wagen, auf keinen Fall alleine. Das kann ich auch verstehen. Aber was noch viel wichtiger ist, und das haben sie wohl auch selbst schon gemerkt: Es ist heute sehr kalt.“
Ms Lockett nickte und rieb sich die Arme, um die imaginäre Gänsehaut zu vertreiben.
„Ja, da haben sie recht, ich wollte auch gar nicht mehr hinaus auf das Deck. Dabei ist die Promenade des A-Decks ein so schöner Ort, ich habe fast den ganzen ersten Tag dort verbracht.“
„Sehen sie, Ms Lockett, und viele Menschen gehen lieber einfach auf ihre Zimmer oder in die Gemeinschaftsräume, in denen es warm ist und wo eine gesellige Stimmung herrscht. Wer möchte in dieser eisigen Atmosphäre auf diesen kühlen Squashplatz?“
„Keiner außer ihnen. Wissen sie was, sie könnten mich jetzt ganz hervorragend ausrauben. Es war fast ein wenig leichtsinnig von mir, ihnen einfach so zu vertrauen und hier hinunter zu steigen.“
„Machen sie sich keine Sorgen, ich hatte nie vor, sie zu betrügen. Nein, dieser Treffpunkt hat zwei große Vorteile. Zum einen können wir uns hier ungestört unterhalten, und zum anderen sehen sie noch etwas vom Schiff. Beim Empfang zeigten sie sich doch recht interessiert von der Konstruktion und dem Drumherum, da dachte ich mir, ich zeige ihnen auch einmal diesen Ort.“
„Ja, das haben sie sich gut überlegt.“
Stevens zog seinen Notizblock hervor und lächelte überlegen.
„Aber ich habe natürlich mit Smith gesprochen und noch ein paar Details in Erfahrung bringen können. Stellen sie sich das mal vor, auf der Titanic ist Platz für 2500 Passagiere! Und das Beste ist, dass gerade mal 1000 an Bord sind, weniger als die Hälfte, ist das nicht unglaublich?“
„Aber wie erklären sie sich das?“
„Ich weiß es selbst nicht. Smith hält es für ein schlechtes Omen. Ich kann seine Sorge nicht teilen, es läuft schließlich alles hervorragend. Dank der über 800 Crewmitglieder.“
„Wie bitte?! Das bedeutet ja fast einen Mitarbeiter pro Passagier! Ist das nicht zuviel des Guten?“
„Bedenken sie nur all die Arbeiten, Techniker, Service, Stewards, Kapitän, Offiziere, Funker, Köche und so weiter. Das hier ist nicht nur ein Schiff, es ist gleichzeitig ein schwimmendes Hotel! Ein Hotel der Luxusklasse.“ Er warf einen Blick auf seinen Block. „Die Titanic hat 1,5 Millionen Pfund gekostet.“
Susan winkte ab.
„Nun, dafür darf man aber auch einiges an Komfort, Service und Sicherheit erwarten.“
„Sicherheit…“, murmelte Stevens und senkte seine Stimme. „Ich habe selbst mal nachgerechnet, wie viele Passagiere in die Rettungsboote passen. Erinnern sie sich, es gehen maximal 2500 Reisegäste an Bord, aber nur knapp 1200 in die Rettungsboote. Das ist gerade mal ein Drittel der Gesamtbesatzung mit der Crew!“
„Mr Stevens, nun machen sie mich hier nicht wahnsinnig. Die Titanic kann gar nicht sinken, sie ist das sicherste Schiff der Welt.“
„Vielleicht hat man deswegen an den Rettungsbooten gespart. Ich sage ihnen nur: Hochmut kommt vor dem Fall.“
„Ist ja schon gut. Genug von der Schwarzmalerei. Wir schreiben das Jahr 1912, die Moderne schreitet immer weiter voran. Ich glaube nicht mehr an verheerende Katastrophen.“
Der Schalk blitzte in Stevens´ Augen. Er konnte es sich nicht nehmen lassen, ein wenig zu tratschen.
„Katastrophen werden dieses Schiff nicht zugrunde richten, da glaube ich auch nicht dran. Aber ich bin überzeugt, dass bereits menschliche Niederträchtigkeit ausreicht, um die unglaubliche Titanic in ihre Einzelteile zu zerlegen.“
„Wenn sie damit Lady Dumonde meinen, Klatschbase und Rufmörderin ersten Ranges und leider auch erster Reiseklasse, dann werden sie garantiert Recht behalten. Diese Frau macht mich noch wahnsinnig. Sie war ja auch eben auf dem Empfang, hatten sie sie kennen gelernt?“
„Nicht persönlich, aber sie haben sie mir gezeigt. Eine schwierige Person.“
„Und das ist noch höflich ausgedrückt!“
„Aber was ich ganz interessant finde: Sie wissen doch, dass Bruce Ismay, Präsident von White Star, hier an Bord ist?“
Ms Lockett zögerte nur ganz kurz, so dass es dem Journalisten gar nicht auffiel.
„Ja, ist mir zu Ohren gekommen.“
„Jetzt stellen sie sich mal vor, jemand hat vor seiner Kabine spioniert, durch sein Schlüsselloch geschaut oder ist vielleicht sogar eingebrochen!“
„Wie bitte? Wie wollen sie das denn wissen?“
„Ich habe ein Foto von einer Person gemacht, die vor der Kabine hockt und offensichtlich durch das Schlüsselloch schaut. Eine ältere Dame, wie es mir scheint.“
„Haben sie das Foto noch?“
„Nein, ich habe es schon weggegeben. Es scheinen sich mehrere Leute für die Vorgänge hier zu interessieren.“
Schweigen.
„Wann war das?“ fragte Ms Lockett unvermittelt.
Stevens, der mit einer solchen Frage nicht gerechnet hatte, antwortete verwirrt: „Das müsste gegen zwanzig Minuten vor Acht gewesen sein. Warum nur interessieren sich alle für diese Frau?“
„Ist egal, war nur so ein Gedanke“, schloss Ms Lockett das Thema abrupt ab. „Mr Stevens, ich muss ihnen wirklich danken, dass sie mir diese Details über das Schiff erklärt haben und mir diesen“, sie räusperte sich, „gemütlichen Raum gezeigt haben. Immerhin, denke ich, haben sie jetzt genügend Material für ihren Artikel, oder?“
„Ich denke schon. Ich werde noch heute Abend mit den ersten Formulierungen beginnen.“
„Tun sie das besser, bevor es zu spät wird und sie noch müde werden! Ich werde jetzt wohl auch auf meine Kabine gehen. Dieses seltsame Klima drückt wirklich auf die Stimmung!“
Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, öffnete Ms Lockett die Eisentür und verließ den Squashplatz. Sie ließ einen Journalisten zurück, der fieberhaft überlegte, ob er etwas Falsches gesagt oder getan hatte, dass diese schöne junge Frau ihn so plötzlich verließ. Am Ende seiner Überlegungen war er um keinen Deut schlauer und entschied, dass die Anderen ihre Probleme auch gut allein lösen konnten. Er steckte seinen Schreibblock ein und schaltete das Licht des Squashplatzes aus.

Die folgende Nachricht hat nie die Brücke der Titanic erreicht. Harold Bride hatte sich übermüdet zum Schlafen gelegt und Jack Phillips war damit beschäftigt, die Marconigramme der reicheren Passagiere nach Cape Race zu übermitteln:
„Mesaba an Titanic. 42 Grad bis 41 Grad 25 Minuten nördlicher Breite; 49 Grad bis 50 Grad 30 Minuten westlicher Länge. Viel massives Packeis gesichtet, viele große Eisberge, auch Eisschollen, gutes Wetter, klare Sicht.“

Bis 23 Uhr war es noch eine ganze Weile hin. Patrick Grearson suchte Zeitvertreib. Sicherlich wollte Mrs Dobbins ihm etwas Wichtiges mitteilen, aber bis dahin musste er sich gedulden. Somit ging er gemächlich in den Rauchsalon, in dem sich noch immer viele Menschen aufhielten. Am Tisch zu seiner Linken erblickte er einen Mann, der ein wenig fehl am Platze in der feinen Gesellschaft wirkte, mit Cordhose und Lederweste. Ganz unpassend seine Gesprächspartnerin, eine Frau scheinbar in seinem Alter, vielleicht ein wenig älter, sehr fein gekleidet und mit äußerst exquisiter Zigarette. Ein sehr ungleiches Paar, dachte Grearson sich und schritt voran, dem Kamin entgegen. Dort saß an einem Tisch ein Paar und unterhielt sich angestrengt. Da hier der einzige freie Stuhl zu finden war, fragte Grearson:
„Entschuldigen sie, darf ich mich vielleicht dazusetzen, oder störe ich?“
„Aber nein, sie stören ganz und gar nicht! Setzen sie sich! Mein Name ist Claris Hilton und dies ist Harald Müller.“ Der jungen Frau fiel es sichtlich schwer, den Namen auszusprechen, aber der zerstreut wirkende Mann tippte ihr ermutigend auf den Arm.
„Richtig. Und wie ist ihr Name?“
„Patrick Grearson. Ich bin geschäftlich nach New York unterwegs.“
„Sieh mal einer an“, meinte Müller und nickte fröhlich. „Alle auf Geschäftsreise, es ist schon ein Zufall.“
„Vergessen sie bitte nicht meine Situation, Mr Müller.“
„Ach, nun lassen sie sich doch mal ablenken, Fräulein Hilton. Seit dem Empfang sehe ich sie nur bedrückt, sie sollten wirklich ein wenig fröhlicher sein.“
„Was ist denn ihr Problem“, fragte Grearson teilnahmsvoll.
„Meine Mutter hat mich meinem Geliebten weggenommen und will mich nun in Amerika an irgendeinen reichen Snob verheiraten. Aber das ist ja noch nicht einmal alles! Ich habe es gerade schon Mr Müller erzählt. Hören sie zu: Ich bin jetzt 24 Jahre alt. Meine Mutter ist Diana Hilton, meinen Vater habe ich nie kennen gelernt. Meine Mama erzählt mir zwar immer, dass er ums Leben gekommen ist, aber in letzter Zeit höre ich zufällig immer kleine Anmerkungen, die mich daran zweifeln lassen.“
Grearson schaute ein wenig verwirrt, selbst Müller musste sich ob dieser vagen Andeutung räuspern.
„Was für Anmerkungen meinen sie?“ fragte Grearson.
„Nur so Gesprächsfetzen.“
Müller wurde ein wenig ungeduldig.
„Nun sagen sie es doch schon. Fräulein Hilton ist direkt aus dem Café Parisian hierher gekommen. Dort hat sie sich unterhalten mit einer Dame, wie hieß sie doch gleich?“
„Mrs Myers-Jones. Und sie hat mir ein paar Dinge erzählt, ich habe versprochen, sie nicht weiterzusagen, aber es ging um eine Affäre. Eine Liebesaffäre, verstehen sie?“
Grearson dachte nach.
„Und nun denken sie, dass ihre Mutter eine kleine Affäre hatte und sie dabei entstanden sind? Das wäre geradezu eine Schande.“
Als Claris Hilton den Kopf sinken ließ und zu Boden blickte und Müller ihm einen strafenden Blick zuwarf, merkte Grearson, dass dieser Kommentar ein wenig unpassend gewesen war.
„Es tut mir Leid.“
„Ist schon in Ordnung“, brachte Ms Hilton unter Schluchzen hervor.
Grearson wurde es recht unangenehm in seinem Anzug, er nestelte an seinem Kragen herum und die warme Luft im Rauchsalon schien ihn geradezu zu erdrücken. Um sich selbst zu erlösen, wechselte er das Thema und wandte sich an Müller.
„Sagen sie, weshalb sind sie nach New York unterwegs? Geschäftlich, sagten sie?“
„Beruflich, um genauer zu sein. Ich bin kein Geschäftsmann, sondern Wissenschaftlicher. Atomphysiker, um genau zu sein. Zuletzt habe ich in England mit verschiedenen Labors zusammengearbeitet, an Projekten, die mit Atomphysik nicht allzu viel zu tun hatten. Man hatte mich da einfach eingespannt, um eine Sache zu entwickeln, die gegen meinen Willen sprach, aber man hat mich dazu gezwungen“, knurrte er.
„Wovon sprechen sie?“
„Ich darf es ihnen nicht sagen. Das könnte mich Kopf und Kragen kosten. Jedenfalls muss ich nach New York, um dort vor den führenden Kräften meinen Rücktritt zu rechtfertigen und mit neuen Projekten zu beginnen.“
„Das hört sich sehr aufregend an“, gab Grearson zu.
„Nicht wahr?“ Ms Hilton hatte sich wieder beruhigt und schaute die beiden Männer mitleidheischend an.
„Alle reisen sie mit den besten Aussichten in die Staaten, nur ich darf mich dort in eine fürchterliche Zukunft begeben!“
Grearson blickte die junge Frau eindringlich an.
„Wissen sie, was ich denke? Ich sehe vor mir ein junges Mädchen, dass in seinem Selbstmitleid versinkt. Wer sagt ihnen denn, dass die Zukunft in Amerika so schlimm sein wird? Wenn sie diesen Mann heiraten, werden sie Geld haben, werden sich Träume erfüllen können. Wer weiß, vielleicht ist dieser Mann sogar ganz nett? Haben sie ihn denn überhaupt schon einmal kennen gelernt?“
„Nein“, flüsterte Claris.
„Nun, dann sollten sie sich keine Sorgen machen, bevor sie nicht wirklich wissen, was sie erwartet.“ meinte Grearson bestimmt.
Müller war nicht so überzeugt.
„Können sie sich überhaupt in die Lage von Fräulein Hilton versetzen? Sie dachte, sie hätte in England den Mann ihrer Träume gefunden und wird von ihm fortgerissen. Sie dürfen mir glauben, dass es nicht so leicht ist, schnell den nächsten Traumpartner zu finden.“
Ms Hilton errötete leicht.
„Bitte, hören sie schon auf, darüber zu diskutieren. Es ist mir ja direkt peinlich. Ich meine, das ist die ganze Angelegenheit doch gar nicht wert, dass wir uns jetzt damit den Abend verderben. Wir reisen auf dieser wundervollen Titanic und genießen überhaupt nicht ihre Vorzüge!“
Doch ihr Schlichtungsversuch war nicht allzu erfolgreich. Müller entgegnete ein wenig ungehalten:
„Die wundervolle Titanic… wir werden ja sehen!“
Und mit diesen rätselhaften Worten verließ er den Tisch und trat zu Mr Cartier, der noch immer nichtsahnende Mitreisende nach den Regeln der Kartenkunst ausnahm.
Ms Hilton unterdessen war ganz aufgelöst.
„Sie müssen schon wirklich entschuldigen. Das ist mir alles so unangenehm. Diese Angst, was meine Mutter betrifft, und diese Angst, was die Zukunft angeht, das alles macht mich wahnsinnig. Ich werde auf mein Zimmer gehen, um mich zu beruhigen.“
„Das ist eine gute Idee. Erholen sie sich, das wird ihnen gut tun.“
„Ich wünsche ihnen einen schönen Abend, Mr Grearson.“
„Ihnen auch, Ms Hilton!“

Der Schlüssel ließ Miller keine Ruhe. Ismay hatte also seinen Zimmerschlüssel bei sich, als er ermordet wurde. Miller stoppte abrupt. Das war ein voreiliger Schluss gewesen. Vielleicht ist Ismay in seinem Zimmer umgebracht worden, vielleicht woanders, aber es könnte auch jemand nach dem Mord den Schlüssel in seine Tasche gelegt haben. Vielleicht in dem Moment, als man ihn an die Zimmertür gelehnt hatte.
Auf Mrs Dobbins durfte man sich nicht verlassen. Vielleicht hat sie etwas gesehen, vielleicht auch nicht. Die Frage blieb in jedem Fall, ob es nicht möglich war, dass sich ein Fremder einen Zweitschlüssel für Ismays Kabine besorgt hatte. Gab es überhaupt Zweitschlüssel für die Türen?
Mit dieser Frage im Hinterkopf ging Miller die Haupttreppe hinunter und genoss die Wärme, die in dem Schiff herrschte. Hier war es bedeutend angenehmer als auf dem Schiffsdeck.
Der Steward betrat das C-Deck und wandte sich von der Treppe aus direkt nach links zum Büro des Zahlmeisters. Die Holzklappe am Schalter war geschlossen. Ungeduldig klopfte Miller dagegen. Nach kurzem Warten öffnete der Zahlmeister.
„Guten Abend, Mr Miller. Kann ich ihnen helfen?“
„Mr McElroy, ich muss mit ihnen sprechen.“
„Doch nicht etwa über Mr Ismay und den Mord? Bitte, ich habe unglaublich viel zu tun, die Passagiere werden sehr ungehalten sein, wenn ich die Aufgaben nicht erledigen kann.“
Miller blickte McElroy prüfend an.
„Sie wissen von dem Mord? Das sollte nicht nach außen dringen!“
„Machen sie sich keine Sorgen, von mir wird es keiner erfahren. Mr Grearson hat es mir erzählt, als er seine Edelsteine in den Tresor hat legen lassen. Das stimmt schon, Wertgegenstände sollten besser hier aufbewahrt werden“, fügte er mit altkluger Miene hinzu.
„Mr Grearson hat richtig gehandelt. Er hatte Angst, dass jemand hinter den Juwelen her sein könnte, sie ihm abnehmen wollte. Und diese Angst kam nicht von ungefähr, da die Leiche an seine Tür gelehnt worden ist. Er versteht das als Drohung. Offen gesagt, geht es mir genau so. Wenn ich nur wüsste, wer Mr Grearson belästigt und warum!“
„Mr Miller, so sehr ich sie auch als Steward respektiere. Sie erledigen ihre Arbeit mit faszinierender Präzision, haben immer, wenn gefragt, ein Lächeln auf den Lippen, sind höflich und zuvorkommend. Aber ich denke, als Detektiv sollten sie sich zur Ruhe begeben. Warten sie, bis wir in New York sind, und lassen sie die Polizei einen Blick auf die Angelegenheit werfen.“
Miller kniff die Augen zusammen. Ein beleidigter Ton schwang in seiner Stimme mit.
„Zuerst mal will ich ihnen sagen, dass ich in dieser Sache nicht den Detektiv spiele, wie sie es mir unterstellen. Das lässt meine Aufgabe nicht zu. Wie sie es schon sagten, habe ich mich, genau wie sie, Mr McElroy, um das Wohlbefinden der Passagiere zu kümmern. Mr Grearson selbst hat sich auf die Suche nach Anhaltspunkten gemacht. Und außerdem würde ich gerne wissen, weshalb sie meine Untersuchungen, meine Überlegungen anzweifeln.“
„Nun, Mr Miller, dann überlegen sie mal, was sie mir vorhin gesagt haben. Ich darf sie daran erinnern, dass sie nicht die geringste Spur haben, wer der Mörder von Bruce Ismay ist. Aber das scheint sie auch gar nicht zu interessieren. Vielmehr interessiert sie, wer mit dieser Schandtat den armen Mr Grearson erschrecken wollte.“ Der Hohn in des Zahlmeisters Stimme war nicht mehr zu überhören. „Ich will sie nur daran erinnern, dass das Verbrechen nicht darin bestand, dass die Leiche an Grearsons Tür gelehnt wurde, sondern dass Mr Ismay umgebracht worden ist. Wenn sie schon nachdenken, sollten sie sich lieber darauf konzentrieren. Der Rest ist sekundär.“
„Sekundär. Da sprechen sie wohl ein wahres Wort, McElroy. Lassen wir das Ganze einfach. Ich bin aus einem anderen Grund zu ihnen gekommen. Gibt es zu den Kabinen Zweitschlüssel?“
„Das kann ich ihnen nicht sagen. Im Zahlmeisterbüro befinden sich jedenfalls keine Zweitschlüssel. Da müssen sie schon jemanden fragen, der sich damit auskennt. Von Harland & Wolff, die haben die Titanic schließlich gebaut und werden auch für die Schlüssel zuständig sein.“
„Ist jemand von Harland & Wolff heute an Bord?“
„Selbstverständlich. Sie glauben doch wohl nicht, dass die sich die Jungfernfahrt ihres Schiffes entgehen lassen. Mr Andrews, der Ingenieur, ist zum Beispiel mit uns unterwegs. Aber, wenn ich ihnen noch einen Tipp geben darf, dann sollten sie besser nicht die führenden Personen fragen. Ich weiß nicht, ob die einem Steward Auskunft erteilen werden; davon ganz abgesehen wird die Angelegenheit so nur weitere Kreise ziehen. Sie sollten die Arbeiter befragen.“
„Die Arbeiter? Meinen sie die Heizer?“
„Genau die. Machen sie sich auf in die Maschinenräume und hören sie sich um, ob jemand in den Fabriken von Harland & Wolff für Schlüssel und Kleinteile mitgearbeitet hat.“
„Vielen Dank für den Hinweis, Mr McElroy. Das könnte helfen. Ich werde in die Kesselräume gehen.“
„Nehmen sie sich in Acht. Da sind auch sinistere Gestalten dabei.“
„Natürlich.“
Miller wandte sich zum Gehen. Im letzten Moment fiel ihm noch eine Frage ein.
„Sagen sie, wie heißt eigentlich Bruce Ismays Gattin?“
„Margaret. Margaret Ismay.“
„Hmm.“
Miller dachte kurz nach.
„Und kennen sie zufällig ihren Mädchennamen?“
„Da muss ich nachsehen, Mr Miller. Sie hat hier eine Urkunde hinterlegen lassen, wenn ich mich recht erinnere, steht er da drauf.“
McElroy suchte eine Weile in den Dokumenten, die in den Fächern verteilt waren, zog dann ein größeres Blatt hervor, betrachtete es kurz und wandte sich wieder dem Steward zu.
„Hodgkins. Ihr Mädchenname ist Margaret Hodgkins.“
„Danke!“
Miller betrat die Korridore des C-Decks, um zu den hinteren Treppen zu gelangen. Auf seinem Weg zu den Kesselräumen gingen ihm viele Fragen durch den Kopf. Ganz besonders die Sache mit dem Taschentuch. Ein Monogramm L. Ismays Frau hieß Margaret Hodgkins, ohne L. Von wem konnte dieses Taschentuch stammen? Das passte in diesem Moment nicht ins Bild. Miller rief sich das Bild von Ismays Leiche in Erinnerung. Alles hatte seine Ordnung. Der Anzug korrekt gesetzt, das Messer in der Brust platziert. In seinen Taschen etwas Geld und sein Zimmerschlüssel. Und dieses Taschentuch mit dem Monogramm.
Nein, das Monogramm passte nicht. Aber wie sollte er herausfinden, wer sich hinter „L“ verbarg? Mittlerweile hatte Miller die Treppe der dritten Klasse erreicht und steig hinab zu den Maschinenräumen. Die Luft wurde immer stickiger, die düsteren, schweren Maschinen schluckten das bisschen Licht, dass von den schwachen Lampen schien, fast völlig. Es war heiß und das Geländer des eisernen Stegs, den er entlangging, war vom Schmierfett rutschig und konnte seinen Zweck nicht erfüllen.
Endlich betrat er den ersten Maschinenraum. Einer der Arbeiter blickte ihn verwundert mit verschwitztem Gesicht an. Nicht allzu oft kam es vor, dass ein Steward mit weißer Weste von den Decks seinen Weg in den Bauch der Titanic machte.
„Was wollen sie denn hier?“ erklang seine schnarrende Stimme.
„Captain Smith schickt mich. Ich muss in die Kesselräume“, log der unwirsch Empfangene.
„Dann mal hindurch mit ihnen, aber erwarten sie keinen feierlichen Empfang für einen vom Oberdeck“, sagte der Arbeiter und lachte grollend, während er die Tür zu den Kesselräumen öffnete.
Trotz der Hitze schauderte es Miller ein wenig. Die Welt unterhalb des F-Decks war völlig anders als die Oberwelt. Es war dunkel, schmutzig, mit rauem Umgangston. Miller hatte nicht die geringste Ahnung, wo er beginnen sollte. Es gab fünf Kesselräume mit einer Unzahl von Arbeitern. Er stieg gleich im ersten Raum die eiserne Treppe vom Steg rechts hinab und wandte sich an einen der Heizer, die die unersättlichen Maschinen mit Kohle fütterten.
„Entschuldigen sie?“
Miller hatte laut reden, fast schreien müssen, um gegen den Lärm der gewaltigen Maschinen anzukommen. Dennoch hatte der Angesprochene ihn nicht gehört. Miller trat einen Schritt vor und tippte dem Heizer vorsichtig auf die Schulter. Ein klebriger Film aus Schweiß, Öl und Kohlestaub blieb auf seinem Finger zurück, den er unauffällig an seiner schwarzen Hose abwischte. Der Mann vor ihm arbeitete mit freiem Oberkörper, in jedem anderen Fall wäre er wohl erstickt. Die harte Arbeit forderte ihren Zoll, schweißgebadete Erschöpfung, und zahlte ihren Lohn, einen drahtigen, widerstandsfähigen Körper, wie Miller erkannte, als der Arbeiter sich umdrehte. Seine vom Kohlenschaufeln geschwollenen Nackenmuskeln entspannten sich ein wenig.
„Was woll´n sie denn hier? Feine Gesellschaft von oben, oder wie? Hey Jungs“, rief er zu den anderen, „ein feiner Pinkel hat sich zu uns heruntergetraut!“
Das Lachen der anderen Heizer hallte für einen Moment durch den riesigen Raum.
„Ich bin Steward oben auf den Decks. Entschuldigen sie bitte die Störung, aber…“
Er wurde prompt von dem Anderen unterbrochen.
„Hört euch das an: Entschuldigen sie bitte die Störung! Als wenn wir hier auf einer Teeparty wären!“ Grölend lachte er dazu. Miller versuchte, Haltung zu bewahren, was ihm nicht nur aufgrund der erdrückenden Hitze ziemlich schwer fiel.
„Arbeiten sie für Harland & Wolff?“
„Mann, du hast ja überhaupt keine Ahnung!“ Er hatte instinktiv in das gewohnte, wenig formelle „Du“ gewechselt und fuhr fort, in starkem Londoner Cockney zu sprechen: „Die sitzen doch nur an ihren Tischen in Belfast und planen neue Schiffe, planen über unsere Köpfe hinweg, ohne daran zu denken, dass wir der Treibstoff für diese schwimmenden Prachtexemplare sind. Nein, verdammt, ich arbeite nicht für Harland & Wolff, die machen Konstruktion und Entwicklung dieser Schiffe. Die wollen sich doch nicht die Finger hier unten schmutzig machen.“
Er legte eine Pause ein und schaute sich kurz um. Dann deutete er auf einen Mann, der drei Öfen weiter zur anderen Seite des Raumes stand.
„Aber ich glaube, Danny dort drüben kann dir helfen. Ich glaube, der hat bei denen vor dieser Fahrt in den Fabriken gearbeitet. Auch so eine Arbeit für einen Dreckslohn, aber wir müssen schließlich auch ums Überleben kämpfen. Davon hat so ein Schnösel wie du sicher keine Ahnung. Frag Danny, ich muss weiterarbeiten!“
Ohne sich weiter um den Steward zu kümmern, drehte sich der Arbeiter wieder dem Ofen zu und schaufelte Kohle hinein.
Miller ging zu dem Mann, den der Heizer ihm angedeutet hatte. Er war ebenso grob und muskulös, ebenso dreckig und verschwitzt, ebenso amüsiert, einen Steward in den Kesselräumen zu sehen.
„Mann, das ist ja ein Anblick für die Götter! Sie stehen da wie der Allheilige!“
„Sind sie Danny?“
„Danny O´Connor, zu ihren Diensten.“ Spöttisch verbeugte er sich und lachte gleich darauf.
„Sie müssen mir helfen, O´Connor.“ Miller bemühte sich, einen jovialen Ton in seine Stimme zu bringen. „Ich habe gehört, sie haben in den Fabriken bei Harland & Wolff gearbeitet?“
„Ja, bis vor dieser Überfahrt. Als Schlosser. Mieses Gehalt, aber es war immerhin etwas“, gab O´Connor bereitwillig Auskunft.
„Als Schlosser? Haben sie vielleicht auch die Schlüssel für dieses Schiff hergestellt?“
„Ich? Nee, dafür gibt es mittlerweile Maschinen, wissen sie? Aber ich war mit der Überwachung dieser Maschinen beauftragt, damals. Schon ein verantwortungsvoller Job, trotzdem dieses miese Gehalt.“
„Gibt es Zweitschlüssel für die Türen hier an Bord?“
„Natürlich, damals wurde von jedem Schlüssel genau ein zweites Exemplar hergestellt. Die Ersatzschlüssel wurden allerdings sofort in der Firma weggeschlossen.“
„Es gab keine Möglichkeit, daran zu kommen?“
„Überhaupt keine Möglichkeit. Die sind noch immer in Belfast, die Schlüssel. Ohne Ausnahme.“
Miller zögerte, bevor er zur nächsten Frage ansetzte.
„Gäbe es vielleicht irgendeine andere Möglichkeit, an den Schlüssel für eine bestimmte Kabine zu kommen?“
„Sagen sie mal, was fragen sie mich hier eigentlich aus? Haben sie irgendwelche krummen Dinge vor? Von mir aus gerne, aber lassen sie mich daraus!“
Miller nickte verständnisvoll und suchte etwas in seiner Hosentasche. Als seine Hand wieder hervorkam, hielt sie eine Fünf-Pfund-Note, die Miller O´Connor nun geheimnisvoll zusteckte.
„Sagen sie mir, was sie wissen“, sagte er verschwörerisch, laut genug, um die Maschinen zu übertönen, leise genug, dass kein anderer mithören konnte.
„Mister, so ist es gleich besser. Es gab keine Möglichkeit, an einen Zweitschlüssel zu bekommen, es sei denn, man hatte Kontakte. Wie ich ihnen sagte, befinden sich alle Zweitschlüssel in Belfast. Das ist nicht gelogen. Aber es hätte ja ein dritter Schlüssel hergestellt werden können…“
„Nun reden sie schon“, rief Miller ungeduldig.
„Also gut, da hat irgendjemand mir einen Brief zugeschoben, mit einer Zehn-Pfund-Note und einer Nachricht, ich sollte dafür sorgen, dass ein einziger Schlüssel ein drittes Mal hergestellt werde und ihm den Schlüssel zukommen lassen. Mister, wenn sie aus Irland stammen und kaum einen Penny besitzen, dann machen sie so etwas. Ich habe diesen einen Schlüssel zusätzlich gemacht und damit war es für mich erledigt.“
„Wer war das? Wer hat ihnen den Auftrag gegeben? Sie müssen ihn doch bei der Übergabe des Umschlages gesehen haben?“
„Nichts da. Der Umschlag lag eines Tages in meinem Spind. Keine Ahnung, wer den da hingelegt hat. Und ich habe ihn, wie befohlen, in einem Londoner Hotel hinterlegt.“
„London? Sagten sie nicht, sie stammen aus Irland?“
„Ich habe in Belfast gearbeitet und bin nur zur Abgabe des Briefes nach London gereist. Der Fremde hat mir das Geld für die Eisenbahn dazugelegt.“
„Dann hat dieser Jemand keine Mühen gescheut, um an den dritten Schlüssel zu kommen. Erinnern sie sich, für welche Kabine der bestimmt war?“
„Aber natürlich! Diesen einen Schlüssel werde ich so schnell nicht vergessen.“
Einen Moment später verabschiedete Miller sich von dem Arbeiter und ging wieder zur kleinen Eisentreppe. Er stieg sie hinauf, bedacht, die Finger nicht am öligen Geländer zu beschmieren. Dann machte er sich auf den langen Rückweg.
Es war eine Suche auf gut Glück, aber es hatte funktioniert. Jemand hatte den Schlüssel für Ismays Kabine ein zusätzliches Mal nachmachen lassen. Derselbe musste diesen Schlüssel genutzt haben, um in Ismays Kabine einzubrechen. Aber was genau hatte sich ereignet? Miller machte sich auf die Suche nach Grearson, um ihm das eben Erfahrene zu berichten.

Patrick Grearson, von Müller und Claris Hilton im Stich gelassen, saß noch immer im Rauchsalon der ersten Klasse. Er hatte jedoch wenig Gelegenheit, seinen eigenen Gedanken nachzugehen, weil sich ungefragt zwei Mitreisende dazusetzten.
„Entschuldigen sie, aber hier sind die einzigen freien Plätze“, gab Letitia Dumonde barsch an und legte ihre samtene Handtasche auf den Tisch.
„Das ist mir etwas unangenehm, ich will sie nicht stören“, stammelte der Mann, der mit ihr gekommen war. Er sah ein wenig unsicher aus, zwischen 35 und 40 Jahre alt, nicht ungepflegt. Wie Grearson schien auch er auf sein Aussehen zu achten. Vermutlich hätte Lady Dumonde sich auch nicht mit diesen beiden Herren an einen Tisch gesetzt, wenn es anders wäre. Nun ergriff sie wieder das Wort.
„Seien sie still, Mr Andrews. Das hier ist ein freies Land. Hier sind die einzigen freien Stühle und ich muss sitzen. Ich bin heute Abend schon so viel hin und her gelaufen, das können sie sich nicht vorstellen. Und in meinem Alter, da ist das nicht mehr so einfach. Das verstehen sie doch sicher, Mister?“
Grearson schaute sich das doch etwas ungleiche Paar an, das ihm gegenüber saß. Lady Dumonde war um einen Kopf größer als Mr Andrews. Dazu ihr grotesk arrogantes Auftreten, das ihre adlige Seite unterstützte. Mr Andrews dagegen schien ziemlich unscheinbar. Er wirkte neben der Lady nicht nur körperlich klein. Grearson versuchte, zu vermitteln.
„Mein Name ist Patrick Grearson. Ich bin Geschäftsmann.“
Er reichte den beiden die Hand. Äußerst vorsichtig akzeptierte Letitia Dumonde diese Geste der Begrüßung. Die Hand zu schütteln war äußerst mondän, gar nicht ihre Art der respektvollen Vorstellung. Die Hand der Dame hatte geküsst zu werden und nichts anderes. Nur die Tatsache, dass Mr Grearson wirklich sehr gut gekleidet war und einen vernünftigen Beruf gewählt hatte, brachte sie dazu, eine Konversation zu beginnen.
„Geschäftsmann also? Da haben sie sich etwas äußerst Vernünftiges ausgesucht, möchte ich sagen. In unserer heutigen Zeit ist das doch sehr reell. Und wenn ich sie so ansehe, darf ich sagen, dass sie recht erfolgreich sind, nein?“
„Die Geschäfte laufen gut, ich kann nicht klagen“, stimmte Grearson zu.
„Ich bin Lady Dumonde.“ Dann brach wieder ihre mütterliche Ader durch. Oder sollte man es lieber Bevormundung nennen? Angeberei? Jedenfalls sah sie sich genötigt, den Herrn an ihrer Seite vorzustellen, da er scheinbar dazu nicht in der Lage war.
„Sie sehen hier Mr Thomas Andrews, einen höchst respektablen Mann.“
„Danke, Mrs Dumonde“, schaltete dieser sich ein, „aber ich kann mich auch selbst vorstellen.“
„Ich heiße Lady Dumonde. Ich habe einen Titel, ich bitte sie, darauf zu achten!“ rief die pompöse Dame beleidigt ein.
„Jedenfalls hat Lady Dumonde mich ja nun vorgestellt. Ich arbeite als Ingenieur für Harland & Wolff. Die Titanic ist mein Baby, kann man so sagen, da darf ich auf ihrer Jungfernfahrt nicht fehlen.“
Grearson war überrascht.
„Sie arbeiten für Harland & Wolff?“ fragte er erfreut. Spontan war ihm eingefallen, was dieses junge Mädchen auf dem F-Deck über Mrs Dobbins erzählt hat.
„Ja, ist das ein Problem für sie?“
„Nein, ganz im Gegenteil! Ich bin froh, dass ich endlich jemanden fragen kann, der sich mit der Titanic auskennt. Können sie mir sagen, ob es vor einem Jahr irgendwelche wichtigen Ereignisse gab? Ereignisse, die die Titanic betreffen oder mit Bruce Ismay zu tun haben?“
Grearson musste den Grund für Mrs Dobbins´ Verbitterung herausbekommen. Wenn die Hausfrau selbst nicht sprechen wollte, musste er es eben auf anderem Wege erfahren.
Mr Andrews schien perfekt dafür geeignet.
„Vor einem Jahr hatte die Titanic ihren Stapellauf. Noch ohne das Interieur, wissen sie, aber sie wurde damals das erste Mal zu Wasser gelassen.“
Grearson blickte ernüchtert auf den Tisch. Diese Antwort rechtfertigte in keiner Weise Mrs Dobbins´ Reaktion.
„Ist etwas?“ fragte Andrews.
Grearson seufzte.
„Ist schon in Ordnung. Aber war denn da sonst nichts? Nur der Stapellauf? Ist denn nichts passiert, was vielleicht nicht zur allgemeinen Freude beigetragen hat?“
Andrews schwieg. Nur eine Sekunde zu lang, denn Grearson wurde misstrauisch.
„Reden sie schon. Da war doch sicher noch mehr.“
„Na, Mr Andrews, haben sie etwa Geheimnisse vor mir?“ scherzte Lady Dumonde.
Grearson wurde klar, dass Andrews wegen ihr schwieg. Sie würde alles, was sie an diesem Tisch hörte, noch vor Ende des Tages über das ganze Schiff getragen haben.
„Lady Dumonde“, sagte er, „würden sie mir die Ehre erweisen und zu diesem Franzosen dort gehen, der mit den anderen Karten spielt? Könnten sie vielleicht ausfindig machen, um welchen Einsatz es geht?“
Lady Dumonde stand auf und lächelte.
„Ich merke schon, wenn ich im Weg bin“, meinte sie, was nicht ganz der Wahrheit entsprach. „Keine Angst, ich gebe ihnen einen kleinen Moment, Geheimnisse auszutauschen.“
Damit ging sie davon, den linken Arm des Salons hinunter zu dem Tisch, an dem Jacques Cartier noch immer unermüdlich Karten verteilte.
Andrews atmete auf und strich seinen Schnurrbart zurecht.
„Ich hatte befürchtet, sie würde sehr wütend werden. Das hätte zu ihr gepasst. Aber ich konnte ihnen das nicht erzählen, als sie dabei war.“
„Was konnten sie mir nicht erzählen?“
„Dass beim Stapellauf vor einem Jahr ein Mann ums Leben gekommen ist. Einer der Arbeiter, ich habe den Namen vergessen. Hobster… Jobster… ich weiß es nicht mehr. Dieser Unglücksfall ist damals in dem Jubel über den erfolgreichen Stapellauf total untergegangen. Wir von Harland & Wolff haben dann versucht, die ganze Angelegenheit unter dem Teppich zu halten. Wir haben die Witwe entschädigt und den Vorfall dann zu den Akten gelegt. Und sie werden darüber bitte auch kein Wort mehr verlieren.“
„Sie können sich darauf verlassen“, versicherte Grearson.
In diesem Moment trat Lady Dumonde wieder an den Tisch. Sie warf einen verächtlichen Blick zu Cartier hinüber.
„Bei diesem Franzosen, da treibt sich wirklich allerlei Volk herum. Keine gute Gesellschaft für uns. Was sich heutzutage alles erste Klasse nennen darf, ist schon verwunderlich.“ Sie rümpfte die Nase.
Grearson lächelte. Andrews wandte sich direkt an die alternde Dame.
„Nun, Lady Dumonde, wollen sie nicht fortfahren, mir zu erzählen, was sich damals zwischen ihnen und Mr Ismay ergeben hat?“
Erschrocken hielt die Dumonde ihre Hand vor den Mund.
„Also nein, Mr Andrews, sie können ihren Mund wohl nicht halten. Es muss doch nicht alle Welt wissen.“
Beiläufig erwähnte Grearson: „Machen sie sich keine Sorgen, von mir wird keiner etwas erfahren.“
„Das will ich auch hoffen! Es könnte ernste Folgen für mich haben.“
„Und natürlich für Mr Ismay“, ergänzte Andrews süffisant und kanzelte Lady Dumondes Egotrip herunter.
„Gut. Soll also auch unser Geschäftsmann hier die Wahrheit wissen. Obwohl ich glaube, dass sie die gar nicht interessieren wird.“
„Sprechen sie“, ermunterte Grearson die Lady.
„Vor zig Jahren, ich bin mir fast sicher, es waren 25, da hatte ich eine Affäre mit Bruce Ismay. Wir waren noch so jung und unschuldig. Damals war er noch nicht der große Mann, der er heute ist, sie verstehen? Jedenfalls war es in einer Sylvesternacht, da ich ihm meine große Zuneigung gestehen wollte. Meine große Liebe, ich wollte ihn heiraten. Wir verbrachten eine wunderschöne Nacht zusammen. Aber dann ließ dieser Schuft mich sitzen. Sagte mir, er hätte seine wahre Liebe gefunden und ließ mich eiskalt zurück. Ich habe ihm das all die Jahre nicht verziehen, doch nun will ich Gnade walten lassen. Seit unserer Abreise versuche ich, ihn zu treffen, will sehen, ob er mich wiedererkennt, aber er ist unauffindbar. Ich habe mich extra für den Empfang fein gekleidet, doch nicht einmal da war er anwesend. Wo kann er nur sein?“
Grearson schluckte das Bedürfnis, Lady Dumonde über das Schicksal des Präsidenten der Gesellschaft aufzuklären, widerwillig herunter und zuckte nur mit den Schultern. Dann bemühte er sich, das Interesse für Ismay wieder zurückzuschrauben.
„Lady Dumonde, machen sie sich bitte keine zu großen Hoffnungen. Er…“
„Seien sie still!“ rief sie dazwischen und wischte wild mit den Händen durch die Luft. „Ich weiß, dass er hier an Bord ist. Nur seinetwegen habe ich diese Reise auf mich genommen. Ich muss ihn sehen! Ich will, dass er mich wiedererkennt und seine Liebe zu mir aufs Neue entflammt!“
Die hochangesehene Letitia Dumonde merkte, dass sie ein wenig zu laut geworden war, und sank in ihrem Stuhl zusammen.
„Mr Ismay ist verheiratet, ich bin mir sicher, dass ihnen das zu Ohren gekommen ist. Sie können ihn doch nicht seiner Gattin entreißen wollen?“
„Und ob ich das kann“, antwortete die Angesprochene bitter. „Genau so, wie sie ihn mir damals entrissen hat. Haben sie sich mal dieses Ehepaar angeschaut? Er nannte sie damals seine große Liebe, pah! Da kann ich nur lachen. Es haben wohl eher das Geld und der Einfluss eine große Rolle gespielt.“
Plötzlich durchfuhren Grearson die wildesten Gedanken. Ihm wurde ganz übel bei der Einsicht, die er jetzt in die Dinge erhielt.
„Mr Andrews, Lady Dumonde! Sie müssen mich bitte entschuldigen, mir ist etwas unwohl. Das liegt vielleicht am Meer. Ich muss auf mein Zimmer.“
„Aber bitte, ganz wie sie wünschen. Lassen sie mich nur mit meinem Übel allein. Ich werde mir schon zu helfen wissen.“
Zeitgleich standen Patrick Grearson und Letitia Dumonde vom Tisch auf und ließen einen sehr verwirrten Thomas Andrews zurück. Lady Dumonde entschied sich für den linken Flügel des Salons, Grearson für den rechten.
Er entfernte sich einige Schritte vom Tisch und dachte nach. Unfassbar. Die Menge der Menschen, die ein Motiv hatten, Ismay beseitigen zu wollen, war mit einem Mal angestiegen.
Lady Dumonde. Vielleicht hatte sie sich rächen wollen. Sie wollte Rache nehmen, weil sie einst so schmählich im Stich gelassen wurde. Vielleicht hat sie deswegen Bruce Ismay erstochen.
Miles Hutchins. Bei der Erwähnung der Ehefrau Ismays war Grearson wieder die Unterhaltung mit dem Liftboy eingefallen, der nach eigenen Angaben eine lockere Affäre mit Mrs Ismay lebte. Grund genug, den nervigen Ehemann auszuschalten? Das war möglich.
Mrs Ismay. Die Ehefrau, die er auf dieser Reise noch nicht einmal zu Gesicht bekommen hatte. Und sie hatte gleich zwei mögliche Motive. Eifersucht. Vielleicht hatte sie bereits Lady Dumonde auf dem Schiff gesehen und als die Frau wiedererkannt, in die ihr Mann vor diesen langen Jahren verliebt gewesen war. Vielleicht hatte sie vermutet, dass diese Liebe wieder entflammt war. Aber wie hatte sie Lady Dumonde wiedererkennen können? Wahrscheinlich hatte sie sie zuvor noch nie gesehen. Möglicherweise hatte Ismay Fotos von ihr. Das war eine sehr vage Vermutung, aber es war immerhin möglich, dass Mrs Ismay ihren Mann ermordet hatte, um dieser Affäre ein Ende zu setzen. Allerdings hätte dann eher Lady Dumonde dran glauben sollen.
Mrs Ismay zum Zweiten. Sie hatte die Affäre mit Miles Hutchins, dem Liftjungen. Warum sollte er es sein, der Bruce Ismay und somit die Barriere, die zwischen ihrer Beziehung stand, beseitigte? Es war für die Ehefrau doch viel leichter. Das klang sogar recht plausibel. Das konnte man verwenden.
Geraldine Dobbins. Die Hausfrau. Langsam bahnte sich ein Bild davon an, was in dieser ältlichen Frau im weißen Kittel vor sich ging. Grearson war überzeugt, dass es ein gewisser Dobbins war. Dieser Arbeiter, der beim Stapellauf der Titanic ums Leben gekommen ist. Möglicherweise hatte sich Mrs Dobbins für den Tod ihres Mannes an Ismay rächen wollen, der diesem Unglück zu wenig Beachtung hatte zukommen lassen. Vielleicht hatte sie deswegen Ismays Kabine ausspioniert. Sie hatte geschaut, ob er dort ist und ob er allein war. Aber auch das war nur eine Vermutung. Grearson würde warten müssen, bis Mrs Dobbins mit ihm gesprochen hatte. Er schaute zu Mr Andrews, der allein und gedankenversunken an seinem Tisch saß. Was wohl gerade im Kopf des Ingenieurs vor sich gehen mochte?

Der zweite Offizier Charles Lightoller starrte angestrengt auf die See vor ihm. Nichts war zu erkennen. Freie Fahrt. Hinter ihm ging William Murdoch auf und ab. Schließlich wandte der erste Offizier sich an seinen Unterstellten.
„Lightoller, es ist gleich zweiundzwanzig Uhr. Ich werde sie jetzt ablösen, sie können sich zur Ruhe begeben.“
„Aber…“
„Ich verstehe schon, sie haben sich mittlerweile an den Umgang mit der großen Dame gewöhnt, aber ich will keine übermüdeten Offiziere am Steuer sehen. Legen sie sich schlafen, ich übernehme.“
„Wie sie meinen, Mr Murdoch.“
Lightoller blickte sich kurz auf der Brücke um, versicherte sich vom ordnungsgemäßen Zustand der Geräte. Dann verließ er die Brücke auf der Backbordseite, um einen kurzen Blick in den Funkraum zu werfen. Harold Bride und Jack Phillips waren hochbeschäftigt.
„Alles in Ordnung hier?“ fragte Lightoller.
„Ja ja, läuft alles“, antwortete Phillips genervt, während er die geschäftlichen Marconigramme absendete.
„Mr Phillips, ich erhalte eine Nachricht von der Californian!“ schaltete Bride sich ein, doch Phillips winkte ab.
„Halts Maul. Verdammt, ich bin beschäftigt, ich habe mit Cape Race zu tun. Die sollen sich um ihren Kram kümmern!“
„Ich sehe, bei ihnen gibt es keine Probleme“, sagte Lightoller schmunzelnd und verließ den Funkraum. Weder er noch Bride hatten eine Ahnung, welche Folgen Phillips´ grober Kommentar nach sich ziehen sollte.

Thomas Andrews saß noch immer allein an seinem Platz im Rauchsalon. Er war tief in Gedanken versunken. Immer wieder wanderten seine Blicke zu dem Gemälde über dem Kamin. Der Hafen von Plymouth. Dann kehrte sein Blick für einen Moment in die Richtung, in die Grearson gegangen war. Er war verschwunden.
Plötzlich wurde Andrews von einer lauten Stimme aus seinen Gedanken gerissen.
„Herr Andrews!“
Der Ingenieur blickte sich fieberhaft um, wer hatte da gerufen? Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten, denn ein kleiner Mann kam auf ihn zu. Er trug ein kariertes Jackett und eine große Hornbrille.
„Herr Andrews, dass ich sie hier treffe!“
Die Stimme klang alles andere als erfreut. Erbost kam der kleine Mann immer näher und setzte sich schwungvoll an den Tisch. Einige Passagiere blickten verwirrt zu den beiden hin, ließen sich aber nicht lange ablenken.
„Wer sind sie?“ fragte Andrews verwirrt.
„Wie bitte? Sie erkennen mich nicht mehr? Das hätte ich mir schon damals denken können, als sie mich wie eine Maschine anstarrten, der man Befehle eingibt, ohne sich weiter darum zu kümmern. Mein Name ist Harald Müller. Ich war einer ihrer Wissenschaftler. Erinnern sie sich denn gar nicht mehr?“
Andrews stammelte vor sich hin.
„Müller… Müller… ich kann mich wirklich nicht mehr erinnern. Nur hören sie doch bitte auf, so laut zu sprechen. Was sollen die Leute von mir denken?“
„Glauben sie, das interessiert mich?“ Müller sprach mit stark süddeutschem Akzent. Andrews hatte beinahe Probleme, ihm zu folgen. „Die Leute sollen ruhig das denken, was ich damals dachte. Sie haben mich missbraucht für ihre kleinen Forschungen.“
„Sprechen sie etwa von…“
„Ja, genau. Von der Titanic. Von der Herstellung, den Fabriken. Vom Stahl, guter Mann. Ich spreche vom Stahl, den sie mich für sie entwickeln ließen. Gegen meinen Willen, oder besser gesagt: Ohne mein Wissen!“
„Lassen sie mich das bitte erklären!“
„Was wollen sie mir da erklären? Billiger Stahl! Herr Andrews, sie haben mich beauftragt, billigen Stahl herzustellen. Ich hätte das nie gemacht, hätte ich gewusst, dass es hier um die Titanic geht.“
„Es reicht, Mr Müller. Seien sie jetzt still. Ich erkläre ihnen etwas.“ Mit Mühe konnte er den aufkommenden Einspruch Müllers abwehren. „Ich muss sie wohl daran erinnern, dass Mr Ismay als Präsident von White Star die Aufsicht über die Titanic und ihre Produktion hat. Er hat mir aufgetragen, die Kosten möglichst gering zu halten, um keine allzu großen Verluste zu machen. Sie verstehen sicher, dass der Stahl von bester Qualität auch ein äußerst teurer Spaß ist.“
„Natürlich. Deswegen wurde bei der Titanic minderwertiger Stahl verarbeitet.“
„Aber gegen meinen Willen. Ich habe versucht, Mr Ismay davon zu überzeugen, dass es Leichtsinn ist, die Angelegenheit so einfach abzufertigen. Doch er ließ keinen Widerspruch zu. Glauben sie etwa, dass es mir einfach fällt, diese Jungfernfahrt mitzumachen? In dem Wissen, dass ich keine sehr gute Arbeit geleistet habe? Ich kann nichts weiter tun als mich zu entschuldigen, der Verantwortliche aber ist Bruce Ismay. Sprechen sie mit ihm!“
„Oh, wie sie sich da herauswinden, macht mich krank. Ich werde mit Ismay sprechen, da können sie sich drauf verlassen. Und ich werde die Sache an die Öffentlichkeit bringen. Missbrauch der Wissenschaft ist ein so niederes Verbrechen!“
Wutschnaubend, aber gemäßigten Schrittes, um nicht zu viel Aufsehen zu erregen, ging Müller davon. Andrews schloss die Augen. Was auch immer sich alles um die Titanic rankte, es waren nur düstere Zeichen. Der Unfall beim Stapellauf… die Sache mit dem Stahl… Harland & Wolffs Ingenieur Thomas Andrews spürte zum ersten Mal in seinem Leben große Angst. Angst vor der Verantwortung, die ihm zukam. Angst vor der Titanic.

Immerhin hat sich die Neuigkeit von  Ismays Tod nicht verbreitet, dachte Grearson, während er das C-Deck betrat. Er hatte beschlossen, in seiner Kabine zu warten. Vorher wollte er eben noch eine Kleinigkeit zur Sicherheit beim Zahlmeister hinterlegen. Er betätigte die kleine Klingel, die vor dem Schalter stand.
Der Zahlmeister McElroy öffnete das Fenster.
„Mr Grearson, sie sind es wieder! Wie kann ich ihnen helfen?“
„Ich habe hier noch etwas zu hinterlegen, das habe ich vorhin leider vergessen.“
Mit diesen Worten fischte er einen kleinen Samtbeutel aus seiner Jackettasche und überreichte ihn McElroy.
„Das ist doch überhaupt kein Problem. Ich lege es gleich in den Tresor zu den anderen Wertgegenständen. Machen sie sich keine Sorgen.“
McElroy wandte sich eben zum Gehen, als ihm noch etwas einfiel.
„Ach, wo sie gerade hier sind: Sie hatten doch vorher diese Dame im weißen Kittel gesucht?“
„Ja?“ fragte Grearson verwundert. „Was ist mit ihr?“
„Nun, sie war eben hier bei mir. Sie war es, da bin ich ganz sicher, und sie wollte wissen, ob es einen Weg auf das Bootsdeck ganz vorne an den Bug des Schiffes gibt. Ich habe ihr davon abgeraten, dort hinzugehen, da es schon sehr kalt draußen ist. Sie könnte sich eine Lungenentzündung holen. Sie winkte nur ab und sagte, das mache ihr nichts aus. Dann habe ich ihr den Weg beschrieben und sie ist davongegangen.“
„Wann war das ungefähr?“
„Jetzt gerade erst. Vielleicht vor fünf Minuten.“
„Danke. Ich muss hinterher. Wie komme ich zum Bug?“
Etwa fünf Minuten später stand Patrick Grearson auf der Promenade. Er fröstelte. Es war seit seinem letzten Besuch an Deck erheblich kälter geworden. Er blickte auf seine Taschenuhr. Zweiundzwanzig Uhr. Was suchte Mrs Dobbins um diese Zeit auf dem Deck? Er stand an der Treppe, die hinunter auf das Vorderdeck führte, und konnte an der Spitze des Schiffes den weißen Kittel der Hausfrau erkennen. Er lief die Treppe hinunter, quer über das Vorderdeck und zu Mrs Dobbins.
Die Hausfrau stand an der Reling, ganz an der Spitze der Titanic. Grearson trat an sie heran. Er blickte hinter sich. Majestätisch ragte das Schiff hinter ihm in die Höhe.
Mrs Dobbins schien ihn nicht bemerkt zu haben.
„Was haben sie vor, Mrs Dobbins?“
Die ältere Dame drehte sich um.
„Ach, sie sind es wieder. Sie sind zu früh. Wir waren für später verabredet.“
Sie machte sich daran, einen Fuß auf die Reling zu setzen.
„Was machen sie da?“ fragte Grearson verwirrt.
„Ich denke, sie sind schlau genug, dass sie meine Geschichte bereits gehört haben“, sagte Mrs Dobbins, ohne sich umzudrehen, und stieg auf die Reling.
Grearson traf die Erkenntnis wie ein Blitz. Die Hausfrau wollte sich ins Meer stürzen. Er umklammerte sie an der kräftigen Hüfte.
„Lassen sie das, Mrs Dobbins. Warum wollen sie sich ins Unglück stürzen?“
„Reden sie nicht vom Unglück! Sie haben kein Unglück gesehen!“
Sie stand jetzt auf der vorletzten Stufe der Reling und schwankte bedenklich.
„Es ist vollbracht“, fuhr sie fort, kaum hörbar, da der beißende Wind ihre Worte hinfort trug. „Das Messer hat seine Arbeit getan, Ismay ist nicht mehr, mein Mann ist nicht mehr, es gibt für mich nichts mehr zu tun!“
Das Messer! Nur Grearson, Smith, Murdoch und Miller wussten davon. War sie es? Hatte sie den Präsidenten also doch getötet, wie er es selbst schon lange vermutet hatte? Er brauchte die Antwort; wenn die Frau sich in den Tod stürzte, würde er wohl nie die Wahrheit erfahren.
„Mrs Dobbins! Woher wissen sie, dass Mr Ismay mit einem Messer erstochen wurde?“
Scheinbar hatte die Frau in weiß mit dieser Frage nicht gerechnet. Verwirrt verharrte sie für einen Moment. Dann stieg sie langsam eine Stufe hinab und klammerte sich an der eisernen Reling fest. Wie in Zeitlupe drehte sie sich um. Sie wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als ihr Blick an Grearson vorbei auf die Promenade des A-Decks wanderte. Ihr Gesicht verwandelte sich in eine Maske des Schreckens, als plötzlich ein lauter Knall die eisige Stille des Nordatlantiks zerriss. Geraldine Dobbins stürzte auf das Bootsdeck. Ihr weißer Kittel färbte sich langsam rot, als das Blut durchsickerte. Grearson drehte sich blitzartig um, doch er erkannte nichts außer der sternenklaren, mondlosen Nacht.

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