21:30 Uhr
Ein wenig
verwirrt wanderte Susan Lockett den scheinbar endlosen Gang zum Squashplatz
hinab. Ein netter Mitreisender hatte ihr den Weg gezeigt, doch mittlerweile
zweifelte sie am Wahrheitsgehalt dieser Beschreibung. Als sie dann auch noch
weitere Treppen nach unten stieg, wurde ihr ein wenig mulmig ums Gemüt. Der
Maschinenlärm war hier lauter zu hören als auf den Decks. Keine weitere
Menschenseele hatte sich in diesen langen Gang verirrt, keine Gesprächsfetzen,
keine Musik war mehr von oben zu hören.
Dennoch
musste dies der richtige Flur sein, so lang er auch war. Wie alle anderen
Korridore der vornehmeren Klassen war er mit Teppich ausgelegt und die Wände
waren mit Bildern geschmückt, in den Ecken standen vereinzelt Grünpflanzen und
hellten den bedrohlich wirkenden Gang ein wenig auf. Endlich kam Ms Lockett an
eine eiserne Tür. Sie öffnete sie und betrat einen finsteren Raum. Zwar
erhellten Lampen das Szenario, doch gewann Beklemmung schnell die Überhand.
Ms Lockett
atmete auf, als sie den Fotografen sah.
„Mr
Stevens! Und ich dachte schon, ich hätte mich verlaufen! Dieses Schiff ist
wirklich ein Labyrinth aus Gängen.“
Stevens kam
näher und blickte bewundernd auf seine Uhr.
„Und
dennoch sind sie pünktlich auf die Minute. Ganz hervorragend, Ms Lockett. Sehen
sie, dies ist der Squashplatz.“
„Und noch
viel unheimlicher als der ganze Weg hier herunter! Meine Güte, das hätten die
Erbauer aber auch ein wenig praktischer und freundlicher gestalten können. Kein
Wunder ist hier kein Mensch.“
„Sie mögen
Recht haben, was das fehlende Ambiente betrifft“, gab Stevens zu und blickte
sich in der leeren Halle um, „aber dass hier um diese Zeit keiner mehr Squash
spielt, sollte ihnen nicht wunderlich erscheinen. Zum einen gibt es viele
Passagiere, insbesondere unsere weiblichen Mitreisenden, die sich abends
einfach nicht mehr hier hinunter wagen, auf keinen Fall alleine. Das kann ich
auch verstehen. Aber was noch viel wichtiger ist, und das haben sie wohl auch
selbst schon gemerkt: Es ist heute sehr kalt.“
Ms Lockett
nickte und rieb sich die Arme, um die imaginäre Gänsehaut zu vertreiben.
„Ja, da
haben sie recht, ich wollte auch gar nicht mehr hinaus auf das Deck. Dabei ist
die Promenade des A-Decks ein so schöner Ort, ich habe fast den ganzen ersten
Tag dort verbracht.“
„Sehen sie,
Ms Lockett, und viele Menschen gehen lieber einfach auf ihre Zimmer oder in die
Gemeinschaftsräume, in denen es warm ist und wo eine gesellige Stimmung
herrscht. Wer möchte in dieser eisigen Atmosphäre auf diesen kühlen
Squashplatz?“
„Keiner
außer ihnen. Wissen sie was, sie könnten mich jetzt ganz hervorragend
ausrauben. Es war fast ein wenig leichtsinnig von mir, ihnen einfach so zu
vertrauen und hier hinunter zu steigen.“
„Machen sie
sich keine Sorgen, ich hatte nie vor, sie zu betrügen. Nein, dieser Treffpunkt
hat zwei große Vorteile. Zum einen können wir uns hier ungestört unterhalten,
und zum anderen sehen sie noch etwas vom Schiff. Beim Empfang zeigten sie sich
doch recht interessiert von der Konstruktion und dem Drumherum, da dachte ich
mir, ich zeige ihnen auch einmal diesen Ort.“
„Ja, das
haben sie sich gut überlegt.“
Stevens zog
seinen Notizblock hervor und lächelte überlegen.
„Aber ich
habe natürlich mit Smith gesprochen und noch ein paar Details in Erfahrung
bringen können. Stellen sie sich das mal vor, auf der Titanic ist Platz für
2500 Passagiere! Und das Beste ist, dass gerade mal 1000 an Bord sind, weniger
als die Hälfte, ist das nicht unglaublich?“
„Aber wie
erklären sie sich das?“
„Ich weiß
es selbst nicht. Smith hält es für ein schlechtes Omen. Ich kann seine Sorge
nicht teilen, es läuft schließlich alles hervorragend. Dank der über 800 Crewmitglieder.“
„Wie
bitte?! Das bedeutet ja fast einen Mitarbeiter pro Passagier! Ist das nicht
zuviel des Guten?“
„Bedenken
sie nur all die Arbeiten, Techniker, Service, Stewards, Kapitän, Offiziere,
Funker, Köche und so weiter. Das hier ist nicht nur ein Schiff, es ist
gleichzeitig ein schwimmendes Hotel! Ein Hotel der Luxusklasse.“ Er warf einen
Blick auf seinen Block. „Die Titanic hat 1,5 Millionen Pfund gekostet.“
Susan
winkte ab.
„Nun, dafür
darf man aber auch einiges an Komfort, Service und Sicherheit erwarten.“
„Sicherheit…“,
murmelte Stevens und senkte seine Stimme. „Ich habe selbst mal nachgerechnet,
wie viele Passagiere in die Rettungsboote passen. Erinnern sie sich, es gehen
maximal 2500 Reisegäste an Bord, aber nur knapp 1200 in die Rettungsboote. Das
ist gerade mal ein Drittel der Gesamtbesatzung mit der Crew!“
„Mr
Stevens, nun machen sie mich hier nicht wahnsinnig. Die Titanic kann gar nicht
sinken, sie ist das sicherste Schiff der Welt.“
„Vielleicht
hat man deswegen an den Rettungsbooten gespart. Ich sage ihnen nur: Hochmut
kommt vor dem Fall.“
„Ist ja
schon gut. Genug von der Schwarzmalerei. Wir schreiben das Jahr 1912, die
Moderne schreitet immer weiter voran. Ich glaube nicht mehr an verheerende
Katastrophen.“
Der Schalk
blitzte in Stevens´ Augen. Er konnte es sich nicht nehmen lassen, ein wenig zu
tratschen.
„Katastrophen
werden dieses Schiff nicht zugrunde richten, da glaube ich auch nicht dran.
Aber ich bin überzeugt, dass bereits menschliche Niederträchtigkeit ausreicht,
um die unglaubliche Titanic in ihre Einzelteile zu zerlegen.“
„Wenn sie
damit Lady Dumonde meinen, Klatschbase und Rufmörderin ersten Ranges und leider
auch erster Reiseklasse, dann werden sie garantiert Recht behalten. Diese Frau
macht mich noch wahnsinnig. Sie war ja auch eben auf dem Empfang, hatten sie
sie kennen gelernt?“
„Nicht
persönlich, aber sie haben sie mir gezeigt. Eine schwierige Person.“
„Und das
ist noch höflich ausgedrückt!“
„Aber was
ich ganz interessant finde: Sie wissen doch, dass Bruce Ismay, Präsident von
White Star, hier an Bord ist?“
Ms Lockett
zögerte nur ganz kurz, so dass es dem Journalisten gar nicht auffiel.
„Ja, ist
mir zu Ohren gekommen.“
„Jetzt
stellen sie sich mal vor, jemand hat vor seiner Kabine spioniert, durch sein
Schlüsselloch geschaut oder ist vielleicht sogar eingebrochen!“
„Wie bitte?
Wie wollen sie das denn wissen?“
„Ich habe
ein Foto von einer Person gemacht, die vor der Kabine hockt und offensichtlich
durch das Schlüsselloch schaut. Eine ältere Dame, wie es mir scheint.“
„Haben sie
das Foto noch?“
„Nein, ich
habe es schon weggegeben. Es scheinen sich mehrere Leute für die Vorgänge hier
zu interessieren.“
Schweigen.
„Wann war
das?“ fragte Ms Lockett unvermittelt.
Stevens,
der mit einer solchen Frage nicht gerechnet hatte, antwortete verwirrt: „Das
müsste gegen zwanzig Minuten vor Acht gewesen sein. Warum nur interessieren
sich alle für diese Frau?“
„Ist egal,
war nur so ein Gedanke“, schloss Ms Lockett das Thema abrupt ab. „Mr Stevens,
ich muss ihnen wirklich danken, dass sie mir diese Details über das Schiff
erklärt haben und mir diesen“, sie räusperte sich, „gemütlichen Raum gezeigt
haben. Immerhin, denke ich, haben sie jetzt genügend Material für ihren
Artikel, oder?“
„Ich denke
schon. Ich werde noch heute Abend mit den ersten Formulierungen beginnen.“
„Tun sie
das besser, bevor es zu spät wird und sie noch müde werden! Ich werde jetzt
wohl auch auf meine Kabine gehen. Dieses seltsame Klima drückt wirklich auf die
Stimmung!“
Kaum hatte
sie diese Worte ausgesprochen, öffnete Ms Lockett die Eisentür und verließ den
Squashplatz. Sie ließ einen Journalisten zurück, der fieberhaft überlegte, ob
er etwas Falsches gesagt oder getan hatte, dass diese schöne junge Frau ihn so
plötzlich verließ. Am Ende seiner Überlegungen war er um keinen Deut schlauer
und entschied, dass die Anderen ihre Probleme auch gut allein lösen konnten. Er
steckte seinen Schreibblock ein und schaltete das Licht des Squashplatzes aus.
Die
folgende Nachricht hat nie die Brücke der Titanic erreicht. Harold Bride hatte
sich übermüdet zum Schlafen gelegt und Jack Phillips war damit beschäftigt, die
Marconigramme der reicheren Passagiere nach Cape Race zu übermitteln:
„Mesaba an
Titanic. 42 Grad bis 41 Grad 25 Minuten nördlicher Breite; 49 Grad bis 50 Grad
30 Minuten westlicher Länge. Viel massives Packeis gesichtet, viele große
Eisberge, auch Eisschollen, gutes Wetter, klare Sicht.“
Bis 23 Uhr
war es noch eine ganze Weile hin. Patrick Grearson suchte Zeitvertreib.
Sicherlich wollte Mrs Dobbins ihm etwas Wichtiges mitteilen, aber bis dahin
musste er sich gedulden. Somit ging er gemächlich in den Rauchsalon, in dem
sich noch immer viele Menschen aufhielten. Am Tisch zu seiner Linken erblickte
er einen Mann, der ein wenig fehl am Platze in der feinen Gesellschaft wirkte,
mit Cordhose und Lederweste. Ganz unpassend seine Gesprächspartnerin, eine Frau
scheinbar in seinem Alter, vielleicht ein wenig älter, sehr fein gekleidet und
mit äußerst exquisiter Zigarette. Ein sehr ungleiches Paar, dachte Grearson
sich und schritt voran, dem Kamin entgegen. Dort saß an einem Tisch ein Paar
und unterhielt sich angestrengt. Da hier der einzige freie Stuhl zu finden war,
fragte Grearson:
„Entschuldigen
sie, darf ich mich vielleicht dazusetzen, oder störe ich?“
„Aber nein,
sie stören ganz und gar nicht! Setzen sie sich! Mein Name ist Claris Hilton und
dies ist Harald Müller.“ Der jungen Frau fiel es sichtlich schwer, den Namen
auszusprechen, aber der zerstreut wirkende Mann tippte ihr ermutigend auf den
Arm.
„Richtig.
Und wie ist ihr Name?“
„Patrick
Grearson. Ich bin geschäftlich nach New York unterwegs.“
„Sieh mal
einer an“, meinte Müller und nickte fröhlich. „Alle auf Geschäftsreise, es ist
schon ein Zufall.“
„Vergessen
sie bitte nicht meine Situation, Mr Müller.“
„Ach, nun
lassen sie sich doch mal ablenken, Fräulein Hilton. Seit dem Empfang sehe ich
sie nur bedrückt, sie sollten wirklich ein wenig fröhlicher sein.“
„Was ist
denn ihr Problem“, fragte Grearson teilnahmsvoll.
„Meine
Mutter hat mich meinem Geliebten weggenommen und will mich nun in Amerika an
irgendeinen reichen Snob verheiraten. Aber das ist ja noch nicht einmal alles!
Ich habe es gerade schon Mr Müller erzählt. Hören sie zu: Ich bin jetzt 24
Jahre alt. Meine Mutter ist Diana Hilton, meinen Vater habe ich nie kennen
gelernt. Meine Mama erzählt mir zwar immer, dass er ums Leben gekommen ist,
aber in letzter Zeit höre ich zufällig immer kleine Anmerkungen, die mich daran
zweifeln lassen.“
Grearson
schaute ein wenig verwirrt, selbst Müller musste sich ob dieser vagen Andeutung
räuspern.
„Was für
Anmerkungen meinen sie?“ fragte Grearson.
„Nur so
Gesprächsfetzen.“
Müller
wurde ein wenig ungeduldig.
„Nun sagen
sie es doch schon. Fräulein Hilton ist direkt aus dem Café Parisian hierher
gekommen. Dort hat sie sich unterhalten mit einer Dame, wie hieß sie doch
gleich?“
„Mrs
Myers-Jones. Und sie hat mir ein paar Dinge erzählt, ich habe versprochen, sie
nicht weiterzusagen, aber es ging um eine Affäre. Eine Liebesaffäre, verstehen
sie?“
Grearson
dachte nach.
„Und nun
denken sie, dass ihre Mutter eine kleine Affäre hatte und sie dabei entstanden
sind? Das wäre geradezu eine Schande.“
Als Claris
Hilton den Kopf sinken ließ und zu Boden blickte und Müller ihm einen
strafenden Blick zuwarf, merkte Grearson, dass dieser Kommentar ein wenig
unpassend gewesen war.
„Es tut mir
Leid.“
„Ist schon
in Ordnung“, brachte Ms Hilton unter Schluchzen hervor.
Grearson
wurde es recht unangenehm in seinem Anzug, er nestelte an seinem Kragen herum
und die warme Luft im Rauchsalon schien ihn geradezu zu erdrücken. Um sich
selbst zu erlösen, wechselte er das Thema und wandte sich an Müller.
„Sagen sie,
weshalb sind sie nach New York unterwegs? Geschäftlich, sagten sie?“
„Beruflich,
um genauer zu sein. Ich bin kein Geschäftsmann, sondern Wissenschaftlicher.
Atomphysiker, um genau zu sein. Zuletzt habe ich in England mit verschiedenen
Labors zusammengearbeitet, an Projekten, die mit Atomphysik nicht allzu viel zu
tun hatten. Man hatte mich da einfach eingespannt, um eine Sache zu entwickeln,
die gegen meinen Willen sprach, aber man hat mich dazu gezwungen“, knurrte er.
„Wovon
sprechen sie?“
„Ich darf
es ihnen nicht sagen. Das könnte mich Kopf und Kragen kosten. Jedenfalls muss
ich nach New York, um dort vor den führenden Kräften meinen Rücktritt zu
rechtfertigen und mit neuen Projekten zu beginnen.“
„Das hört
sich sehr aufregend an“, gab Grearson zu.
„Nicht
wahr?“ Ms Hilton hatte sich wieder beruhigt und schaute die beiden Männer
mitleidheischend an.
„Alle
reisen sie mit den besten Aussichten in die Staaten, nur ich darf mich dort in
eine fürchterliche Zukunft begeben!“
Grearson
blickte die junge Frau eindringlich an.
„Wissen
sie, was ich denke? Ich sehe vor mir ein junges Mädchen, dass in seinem
Selbstmitleid versinkt. Wer sagt ihnen denn, dass die Zukunft in Amerika so
schlimm sein wird? Wenn sie diesen Mann heiraten, werden sie Geld haben, werden
sich Träume erfüllen können. Wer weiß, vielleicht ist dieser Mann sogar ganz
nett? Haben sie ihn denn überhaupt schon einmal kennen gelernt?“
„Nein“,
flüsterte Claris.
„Nun, dann
sollten sie sich keine Sorgen machen, bevor sie nicht wirklich wissen, was sie
erwartet.“ meinte Grearson bestimmt.
Müller war
nicht so überzeugt.
„Können sie
sich überhaupt in die Lage von Fräulein Hilton versetzen? Sie dachte, sie hätte
in England den Mann ihrer Träume gefunden und wird von ihm fortgerissen. Sie
dürfen mir glauben, dass es nicht so leicht ist, schnell den nächsten
Traumpartner zu finden.“
Ms Hilton
errötete leicht.
„Bitte,
hören sie schon auf, darüber zu diskutieren. Es ist mir ja direkt peinlich. Ich
meine, das ist die ganze Angelegenheit doch gar nicht wert, dass wir uns jetzt
damit den Abend verderben. Wir reisen auf dieser wundervollen Titanic und
genießen überhaupt nicht ihre Vorzüge!“
Doch ihr
Schlichtungsversuch war nicht allzu erfolgreich. Müller entgegnete ein wenig
ungehalten:
„Die
wundervolle Titanic… wir werden ja sehen!“
Und mit
diesen rätselhaften Worten verließ er den Tisch und trat zu Mr Cartier, der
noch immer nichtsahnende Mitreisende nach den Regeln der Kartenkunst ausnahm.
Ms Hilton
unterdessen war ganz aufgelöst.
„Sie müssen
schon wirklich entschuldigen. Das ist mir alles so unangenehm. Diese Angst, was
meine Mutter betrifft, und diese Angst, was die Zukunft angeht, das alles macht
mich wahnsinnig. Ich werde auf mein Zimmer gehen, um mich zu beruhigen.“
„Das ist
eine gute Idee. Erholen sie sich, das wird ihnen gut tun.“
„Ich
wünsche ihnen einen schönen Abend, Mr Grearson.“
„Ihnen
auch, Ms Hilton!“
Der
Schlüssel ließ Miller keine Ruhe. Ismay hatte also seinen Zimmerschlüssel bei
sich, als er ermordet wurde. Miller stoppte abrupt. Das war ein voreiliger
Schluss gewesen. Vielleicht ist Ismay in seinem Zimmer umgebracht worden,
vielleicht woanders, aber es könnte auch jemand nach dem Mord den Schlüssel in
seine Tasche gelegt haben. Vielleicht in dem Moment, als man ihn an die
Zimmertür gelehnt hatte.
Auf Mrs
Dobbins durfte man sich nicht verlassen. Vielleicht hat sie etwas gesehen,
vielleicht auch nicht. Die Frage blieb in jedem Fall, ob es nicht möglich war,
dass sich ein Fremder einen Zweitschlüssel für Ismays Kabine besorgt hatte. Gab
es überhaupt Zweitschlüssel für die Türen?
Mit dieser
Frage im Hinterkopf ging Miller die Haupttreppe hinunter und genoss die Wärme,
die in dem Schiff herrschte. Hier war es bedeutend angenehmer als auf dem
Schiffsdeck.
Der Steward
betrat das C-Deck und wandte sich von der Treppe aus direkt nach links zum Büro
des Zahlmeisters. Die Holzklappe am Schalter war geschlossen. Ungeduldig
klopfte Miller dagegen. Nach kurzem Warten öffnete der Zahlmeister.
„Guten
Abend, Mr Miller. Kann ich ihnen helfen?“
„Mr
McElroy, ich muss mit ihnen sprechen.“
„Doch nicht
etwa über Mr Ismay und den Mord? Bitte, ich habe unglaublich viel zu tun, die
Passagiere werden sehr ungehalten sein, wenn ich die Aufgaben nicht erledigen
kann.“
Miller
blickte McElroy prüfend an.
„Sie wissen
von dem Mord? Das sollte nicht nach außen dringen!“
„Machen sie
sich keine Sorgen, von mir wird es keiner erfahren. Mr Grearson hat es mir
erzählt, als er seine Edelsteine in den Tresor hat legen lassen. Das stimmt
schon, Wertgegenstände sollten besser hier aufbewahrt werden“, fügte er mit
altkluger Miene hinzu.
„Mr
Grearson hat richtig gehandelt. Er hatte Angst, dass jemand hinter den Juwelen
her sein könnte, sie ihm abnehmen wollte. Und diese Angst kam nicht von
ungefähr, da die Leiche an seine Tür gelehnt worden ist. Er versteht das als
Drohung. Offen gesagt, geht es mir genau so. Wenn ich nur wüsste, wer Mr
Grearson belästigt und warum!“
„Mr Miller,
so sehr ich sie auch als Steward respektiere. Sie erledigen ihre Arbeit mit
faszinierender Präzision, haben immer, wenn gefragt, ein Lächeln auf den
Lippen, sind höflich und zuvorkommend. Aber ich denke, als Detektiv sollten sie
sich zur Ruhe begeben. Warten sie, bis wir in New York sind, und lassen sie die
Polizei einen Blick auf die Angelegenheit werfen.“
Miller
kniff die Augen zusammen. Ein beleidigter Ton schwang in seiner Stimme mit.
„Zuerst mal
will ich ihnen sagen, dass ich in dieser Sache nicht den Detektiv spiele, wie
sie es mir unterstellen. Das lässt meine Aufgabe nicht zu. Wie sie es schon
sagten, habe ich mich, genau wie sie, Mr McElroy, um das Wohlbefinden der
Passagiere zu kümmern. Mr Grearson selbst hat sich auf die Suche nach
Anhaltspunkten gemacht. Und außerdem würde ich gerne wissen, weshalb sie meine
Untersuchungen, meine Überlegungen anzweifeln.“
„Nun, Mr
Miller, dann überlegen sie mal, was sie mir vorhin gesagt haben. Ich darf sie
daran erinnern, dass sie nicht die geringste Spur haben, wer der Mörder von
Bruce Ismay ist. Aber das scheint sie auch gar nicht zu interessieren. Vielmehr
interessiert sie, wer mit dieser Schandtat den armen Mr Grearson erschrecken
wollte.“ Der Hohn in des Zahlmeisters Stimme war nicht mehr zu überhören. „Ich
will sie nur daran erinnern, dass das Verbrechen nicht darin bestand, dass die
Leiche an Grearsons Tür gelehnt wurde, sondern dass Mr Ismay umgebracht worden
ist. Wenn sie schon nachdenken, sollten sie sich lieber darauf konzentrieren.
Der Rest ist sekundär.“
„Sekundär.
Da sprechen sie wohl ein wahres Wort, McElroy. Lassen wir das Ganze einfach.
Ich bin aus einem anderen Grund zu ihnen gekommen. Gibt es zu den Kabinen
Zweitschlüssel?“
„Das kann
ich ihnen nicht sagen. Im Zahlmeisterbüro befinden sich jedenfalls keine
Zweitschlüssel. Da müssen sie schon jemanden fragen, der sich damit auskennt.
Von Harland & Wolff, die haben die Titanic schließlich gebaut und werden
auch für die Schlüssel zuständig sein.“
„Ist jemand
von Harland & Wolff heute an Bord?“
„Selbstverständlich.
Sie glauben doch wohl nicht, dass die sich die Jungfernfahrt ihres Schiffes
entgehen lassen. Mr Andrews, der Ingenieur, ist zum Beispiel mit uns unterwegs.
Aber, wenn ich ihnen noch einen Tipp geben darf, dann sollten sie besser nicht
die führenden Personen fragen. Ich weiß nicht, ob die einem Steward Auskunft
erteilen werden; davon ganz abgesehen wird die Angelegenheit so nur weitere
Kreise ziehen. Sie sollten die Arbeiter befragen.“
„Die
Arbeiter? Meinen sie die Heizer?“
„Genau die.
Machen sie sich auf in die Maschinenräume und hören sie sich um, ob jemand in
den Fabriken von Harland & Wolff für Schlüssel und Kleinteile mitgearbeitet
hat.“
„Vielen
Dank für den Hinweis, Mr McElroy. Das könnte helfen. Ich werde in die
Kesselräume gehen.“
„Nehmen sie
sich in Acht. Da sind auch sinistere Gestalten dabei.“
„Natürlich.“
Miller
wandte sich zum Gehen. Im letzten Moment fiel ihm noch eine Frage ein.
„Sagen sie,
wie heißt eigentlich Bruce Ismays Gattin?“
„Margaret.
Margaret Ismay.“
„Hmm.“
Miller
dachte kurz nach.
„Und kennen
sie zufällig ihren Mädchennamen?“
„Da muss
ich nachsehen, Mr Miller. Sie hat hier eine Urkunde hinterlegen lassen, wenn
ich mich recht erinnere, steht er da drauf.“
McElroy
suchte eine Weile in den Dokumenten, die in den Fächern verteilt waren, zog
dann ein größeres Blatt hervor, betrachtete es kurz und wandte sich wieder dem
Steward zu.
„Hodgkins.
Ihr Mädchenname ist Margaret Hodgkins.“
„Danke!“
Miller
betrat die Korridore des C-Decks, um zu den hinteren Treppen zu gelangen. Auf
seinem Weg zu den Kesselräumen gingen ihm viele Fragen durch den Kopf. Ganz
besonders die Sache mit dem Taschentuch. Ein Monogramm L. Ismays Frau hieß
Margaret Hodgkins, ohne L. Von wem konnte dieses Taschentuch stammen? Das
passte in diesem Moment nicht ins Bild. Miller rief sich das Bild von Ismays Leiche
in Erinnerung. Alles hatte seine Ordnung. Der Anzug korrekt gesetzt, das Messer
in der Brust platziert. In seinen Taschen etwas Geld und sein Zimmerschlüssel.
Und dieses Taschentuch mit dem Monogramm.
Nein, das
Monogramm passte nicht. Aber wie sollte er herausfinden, wer sich hinter „L“
verbarg? Mittlerweile hatte Miller die Treppe der dritten Klasse erreicht und
steig hinab zu den Maschinenräumen. Die Luft wurde immer stickiger, die
düsteren, schweren Maschinen schluckten das bisschen Licht, dass von den
schwachen Lampen schien, fast völlig. Es war heiß und das Geländer des eisernen
Stegs, den er entlangging, war vom Schmierfett rutschig und konnte seinen Zweck
nicht erfüllen.
Endlich
betrat er den ersten Maschinenraum. Einer der Arbeiter blickte ihn verwundert
mit verschwitztem Gesicht an. Nicht allzu oft kam es vor, dass ein Steward mit
weißer Weste von den Decks seinen Weg in den Bauch der Titanic machte.
„Was wollen
sie denn hier?“ erklang seine schnarrende Stimme.
„Captain
Smith schickt mich. Ich muss in die Kesselräume“, log der unwirsch Empfangene.
„Dann mal
hindurch mit ihnen, aber erwarten sie keinen feierlichen Empfang für einen vom
Oberdeck“, sagte der Arbeiter und lachte grollend, während er die Tür zu den
Kesselräumen öffnete.
Trotz der
Hitze schauderte es Miller ein wenig. Die Welt unterhalb des F-Decks war völlig
anders als die Oberwelt. Es war dunkel, schmutzig, mit rauem Umgangston. Miller
hatte nicht die geringste Ahnung, wo er beginnen sollte. Es gab fünf
Kesselräume mit einer Unzahl von Arbeitern. Er stieg gleich im ersten Raum die
eiserne Treppe vom Steg rechts hinab und wandte sich an einen der Heizer, die
die unersättlichen Maschinen mit Kohle fütterten.
„Entschuldigen
sie?“
Miller
hatte laut reden, fast schreien müssen, um gegen den Lärm der gewaltigen
Maschinen anzukommen. Dennoch hatte der Angesprochene ihn nicht gehört. Miller
trat einen Schritt vor und tippte dem Heizer vorsichtig auf die Schulter. Ein
klebriger Film aus Schweiß, Öl und Kohlestaub blieb auf seinem Finger zurück, den
er unauffällig an seiner schwarzen Hose abwischte. Der Mann vor ihm arbeitete
mit freiem Oberkörper, in jedem anderen Fall wäre er wohl erstickt. Die harte
Arbeit forderte ihren Zoll, schweißgebadete Erschöpfung, und zahlte ihren Lohn,
einen drahtigen, widerstandsfähigen Körper, wie Miller erkannte, als der
Arbeiter sich umdrehte. Seine vom Kohlenschaufeln geschwollenen Nackenmuskeln
entspannten sich ein wenig.
„Was woll´n
sie denn hier? Feine Gesellschaft von oben, oder wie? Hey Jungs“, rief er zu
den anderen, „ein feiner Pinkel hat sich zu uns heruntergetraut!“
Das Lachen
der anderen Heizer hallte für einen Moment durch den riesigen Raum.
„Ich bin
Steward oben auf den Decks. Entschuldigen sie bitte die Störung, aber…“
Er wurde
prompt von dem Anderen unterbrochen.
„Hört euch
das an: Entschuldigen sie bitte die Störung! Als wenn wir hier auf einer
Teeparty wären!“ Grölend lachte er dazu. Miller versuchte, Haltung zu bewahren,
was ihm nicht nur aufgrund der erdrückenden Hitze ziemlich schwer fiel.
„Arbeiten
sie für Harland & Wolff?“
„Mann, du
hast ja überhaupt keine Ahnung!“ Er hatte instinktiv in das gewohnte, wenig
formelle „Du“ gewechselt und fuhr fort, in starkem Londoner Cockney zu
sprechen: „Die sitzen doch nur an ihren Tischen in Belfast und planen neue
Schiffe, planen über unsere Köpfe hinweg, ohne daran zu denken, dass wir der
Treibstoff für diese schwimmenden Prachtexemplare sind. Nein, verdammt, ich
arbeite nicht für Harland & Wolff, die machen Konstruktion und Entwicklung
dieser Schiffe. Die wollen sich doch nicht die Finger hier unten schmutzig
machen.“
Er legte
eine Pause ein und schaute sich kurz um. Dann deutete er auf einen Mann, der
drei Öfen weiter zur anderen Seite des Raumes stand.
„Aber ich
glaube, Danny dort drüben kann dir helfen. Ich glaube, der hat bei denen vor
dieser Fahrt in den Fabriken gearbeitet. Auch so eine Arbeit für einen
Dreckslohn, aber wir müssen schließlich auch ums Überleben kämpfen. Davon hat
so ein Schnösel wie du sicher keine Ahnung. Frag Danny, ich muss weiterarbeiten!“
Ohne sich
weiter um den Steward zu kümmern, drehte sich der Arbeiter wieder dem Ofen zu
und schaufelte Kohle hinein.
Miller ging
zu dem Mann, den der Heizer ihm angedeutet hatte. Er war ebenso grob und
muskulös, ebenso dreckig und verschwitzt, ebenso amüsiert, einen Steward in den
Kesselräumen zu sehen.
„Mann, das
ist ja ein Anblick für die Götter! Sie stehen da wie der Allheilige!“
„Sind sie
Danny?“
„Danny
O´Connor, zu ihren Diensten.“ Spöttisch verbeugte er sich und lachte gleich
darauf.
„Sie müssen
mir helfen, O´Connor.“ Miller bemühte sich, einen jovialen Ton in seine Stimme
zu bringen. „Ich habe gehört, sie haben in den Fabriken bei Harland & Wolff
gearbeitet?“
„Ja, bis
vor dieser Überfahrt. Als Schlosser. Mieses Gehalt, aber es war immerhin etwas“,
gab O´Connor bereitwillig Auskunft.
„Als
Schlosser? Haben sie vielleicht auch die Schlüssel für dieses Schiff
hergestellt?“
„Ich? Nee,
dafür gibt es mittlerweile Maschinen, wissen sie? Aber ich war mit der
Überwachung dieser Maschinen beauftragt, damals. Schon ein verantwortungsvoller
Job, trotzdem dieses miese Gehalt.“
„Gibt es
Zweitschlüssel für die Türen hier an Bord?“
„Natürlich,
damals wurde von jedem Schlüssel genau ein zweites Exemplar hergestellt. Die
Ersatzschlüssel wurden allerdings sofort in der Firma weggeschlossen.“
„Es gab
keine Möglichkeit, daran zu kommen?“
„Überhaupt
keine Möglichkeit. Die sind noch immer in Belfast, die Schlüssel. Ohne
Ausnahme.“
Miller
zögerte, bevor er zur nächsten Frage ansetzte.
„Gäbe es
vielleicht irgendeine andere Möglichkeit, an den Schlüssel für eine bestimmte
Kabine zu kommen?“
„Sagen sie
mal, was fragen sie mich hier eigentlich aus? Haben sie irgendwelche krummen
Dinge vor? Von mir aus gerne, aber lassen sie mich daraus!“
Miller
nickte verständnisvoll und suchte etwas in seiner Hosentasche. Als seine Hand
wieder hervorkam, hielt sie eine Fünf-Pfund-Note, die Miller O´Connor nun
geheimnisvoll zusteckte.
„Sagen sie
mir, was sie wissen“, sagte er verschwörerisch, laut genug, um die Maschinen zu
übertönen, leise genug, dass kein anderer mithören konnte.
„Mister, so
ist es gleich besser. Es gab keine Möglichkeit, an einen Zweitschlüssel zu
bekommen, es sei denn, man hatte Kontakte. Wie ich ihnen sagte, befinden sich
alle Zweitschlüssel in Belfast. Das ist nicht gelogen. Aber es hätte ja ein
dritter Schlüssel hergestellt werden können…“
„Nun reden
sie schon“, rief Miller ungeduldig.
„Also gut,
da hat irgendjemand mir einen Brief zugeschoben, mit einer Zehn-Pfund-Note und
einer Nachricht, ich sollte dafür sorgen, dass ein einziger Schlüssel ein
drittes Mal hergestellt werde und ihm den Schlüssel zukommen lassen. Mister,
wenn sie aus Irland stammen und kaum einen Penny besitzen, dann machen sie so
etwas. Ich habe diesen einen Schlüssel zusätzlich gemacht und damit war es für
mich erledigt.“
„Wer war
das? Wer hat ihnen den Auftrag gegeben? Sie müssen ihn doch bei der Übergabe
des Umschlages gesehen haben?“
„Nichts da.
Der Umschlag lag eines Tages in meinem Spind. Keine Ahnung, wer den da
hingelegt hat. Und ich habe ihn, wie befohlen, in einem Londoner Hotel
hinterlegt.“
„London?
Sagten sie nicht, sie stammen aus Irland?“
„Ich habe
in Belfast gearbeitet und bin nur zur Abgabe des Briefes nach London gereist.
Der Fremde hat mir das Geld für die Eisenbahn dazugelegt.“
„Dann hat
dieser Jemand keine Mühen gescheut, um an den dritten Schlüssel zu kommen.
Erinnern sie sich, für welche Kabine der bestimmt war?“
„Aber
natürlich! Diesen einen Schlüssel werde ich so schnell nicht vergessen.“
Einen
Moment später verabschiedete Miller sich von dem Arbeiter und ging wieder zur
kleinen Eisentreppe. Er stieg sie hinauf, bedacht, die Finger nicht am öligen
Geländer zu beschmieren. Dann machte er sich auf den langen Rückweg.
Es war eine
Suche auf gut Glück, aber es hatte funktioniert. Jemand hatte den Schlüssel für
Ismays Kabine ein zusätzliches Mal nachmachen lassen. Derselbe musste diesen
Schlüssel genutzt haben, um in Ismays Kabine einzubrechen. Aber was genau hatte
sich ereignet? Miller machte sich auf die Suche nach Grearson, um ihm das eben
Erfahrene zu berichten.
Patrick
Grearson, von Müller und Claris Hilton im Stich gelassen, saß noch immer im
Rauchsalon der ersten Klasse. Er hatte jedoch wenig Gelegenheit, seinen eigenen
Gedanken nachzugehen, weil sich ungefragt zwei Mitreisende dazusetzten.
„Entschuldigen
sie, aber hier sind die einzigen freien Plätze“, gab Letitia Dumonde barsch an
und legte ihre samtene Handtasche auf den Tisch.
„Das ist
mir etwas unangenehm, ich will sie nicht stören“, stammelte der Mann, der mit
ihr gekommen war. Er sah ein wenig unsicher aus, zwischen 35 und 40 Jahre alt,
nicht ungepflegt. Wie Grearson schien auch er auf sein Aussehen zu achten.
Vermutlich hätte Lady Dumonde sich auch nicht mit diesen beiden Herren an einen
Tisch gesetzt, wenn es anders wäre. Nun ergriff sie wieder das Wort.
„Seien sie
still, Mr Andrews. Das hier ist ein freies Land. Hier sind die einzigen freien
Stühle und ich muss sitzen. Ich bin heute Abend schon so viel hin und her
gelaufen, das können sie sich nicht vorstellen. Und in meinem Alter, da ist das
nicht mehr so einfach. Das verstehen sie doch sicher, Mister?“
Grearson
schaute sich das doch etwas ungleiche Paar an, das ihm gegenüber saß. Lady
Dumonde war um einen Kopf größer als Mr Andrews. Dazu ihr grotesk arrogantes
Auftreten, das ihre adlige Seite unterstützte. Mr Andrews dagegen schien
ziemlich unscheinbar. Er wirkte neben der Lady nicht nur körperlich klein.
Grearson versuchte, zu vermitteln.
„Mein Name
ist Patrick Grearson. Ich bin Geschäftsmann.“
Er reichte
den beiden die Hand. Äußerst vorsichtig akzeptierte Letitia Dumonde diese Geste
der Begrüßung. Die Hand zu schütteln war äußerst mondän, gar nicht ihre Art der
respektvollen Vorstellung. Die Hand der Dame hatte geküsst zu werden und nichts
anderes. Nur die Tatsache, dass Mr Grearson wirklich sehr gut gekleidet war und
einen vernünftigen Beruf gewählt hatte, brachte sie dazu, eine Konversation zu
beginnen.
„Geschäftsmann
also? Da haben sie sich etwas äußerst Vernünftiges ausgesucht, möchte ich
sagen. In unserer heutigen Zeit ist das doch sehr reell. Und wenn ich sie so
ansehe, darf ich sagen, dass sie recht erfolgreich sind, nein?“
„Die
Geschäfte laufen gut, ich kann nicht klagen“, stimmte Grearson zu.
„Ich bin
Lady Dumonde.“ Dann brach wieder ihre mütterliche Ader durch. Oder sollte man
es lieber Bevormundung nennen? Angeberei? Jedenfalls sah sie sich genötigt, den
Herrn an ihrer Seite vorzustellen, da er scheinbar dazu nicht in der Lage war.
„Sie sehen
hier Mr Thomas Andrews, einen höchst respektablen Mann.“
„Danke, Mrs
Dumonde“, schaltete dieser sich ein, „aber ich kann mich auch selbst
vorstellen.“
„Ich heiße
Lady Dumonde. Ich habe einen Titel, ich bitte sie, darauf zu achten!“ rief die
pompöse Dame beleidigt ein.
„Jedenfalls
hat Lady Dumonde mich ja nun vorgestellt. Ich arbeite als Ingenieur für Harland
& Wolff. Die Titanic ist mein Baby, kann man so sagen, da darf ich auf
ihrer Jungfernfahrt nicht fehlen.“
Grearson
war überrascht.
„Sie
arbeiten für Harland & Wolff?“ fragte er erfreut. Spontan war ihm
eingefallen, was dieses junge Mädchen auf dem F-Deck über Mrs Dobbins erzählt
hat.
„Ja, ist
das ein Problem für sie?“
„Nein, ganz
im Gegenteil! Ich bin froh, dass ich endlich jemanden fragen kann, der sich mit
der Titanic auskennt. Können sie mir sagen, ob es vor einem Jahr irgendwelche
wichtigen Ereignisse gab? Ereignisse, die die Titanic betreffen oder mit Bruce
Ismay zu tun haben?“
Grearson
musste den Grund für Mrs Dobbins´ Verbitterung herausbekommen. Wenn die
Hausfrau selbst nicht sprechen wollte, musste er es eben auf anderem Wege
erfahren.
Mr Andrews
schien perfekt dafür geeignet.
„Vor einem
Jahr hatte die Titanic ihren Stapellauf. Noch ohne das Interieur, wissen sie,
aber sie wurde damals das erste Mal zu Wasser gelassen.“
Grearson
blickte ernüchtert auf den Tisch. Diese Antwort rechtfertigte in keiner Weise
Mrs Dobbins´ Reaktion.
„Ist
etwas?“ fragte Andrews.
Grearson
seufzte.
„Ist schon
in Ordnung. Aber war denn da sonst nichts? Nur der Stapellauf? Ist denn nichts
passiert, was vielleicht nicht zur allgemeinen Freude beigetragen hat?“
Andrews
schwieg. Nur eine Sekunde zu lang, denn Grearson wurde misstrauisch.
„Reden sie
schon. Da war doch sicher noch mehr.“
„Na, Mr
Andrews, haben sie etwa Geheimnisse vor mir?“ scherzte Lady Dumonde.
Grearson
wurde klar, dass Andrews wegen ihr schwieg. Sie würde alles, was sie an diesem
Tisch hörte, noch vor Ende des Tages über das ganze Schiff getragen haben.
„Lady
Dumonde“, sagte er, „würden sie mir die Ehre erweisen und zu diesem Franzosen
dort gehen, der mit den anderen Karten spielt? Könnten sie vielleicht ausfindig
machen, um welchen Einsatz es geht?“
Lady
Dumonde stand auf und lächelte.
„Ich merke
schon, wenn ich im Weg bin“, meinte sie, was nicht ganz der Wahrheit entsprach.
„Keine Angst, ich gebe ihnen einen kleinen Moment, Geheimnisse auszutauschen.“
Damit ging
sie davon, den linken Arm des Salons hinunter zu dem Tisch, an dem Jacques
Cartier noch immer unermüdlich Karten verteilte.
Andrews
atmete auf und strich seinen Schnurrbart zurecht.
„Ich hatte
befürchtet, sie würde sehr wütend werden. Das hätte zu ihr gepasst. Aber ich
konnte ihnen das nicht erzählen, als sie dabei war.“
„Was
konnten sie mir nicht erzählen?“
„Dass beim
Stapellauf vor einem Jahr ein Mann ums Leben gekommen ist. Einer der Arbeiter,
ich habe den Namen vergessen. Hobster… Jobster… ich weiß es nicht mehr. Dieser
Unglücksfall ist damals in dem Jubel über den erfolgreichen Stapellauf total
untergegangen. Wir von Harland & Wolff haben dann versucht, die ganze
Angelegenheit unter dem Teppich zu halten. Wir haben die Witwe entschädigt und
den Vorfall dann zu den Akten gelegt. Und sie werden darüber bitte auch kein
Wort mehr verlieren.“
„Sie können
sich darauf verlassen“, versicherte Grearson.
In diesem
Moment trat Lady Dumonde wieder an den Tisch. Sie warf einen verächtlichen
Blick zu Cartier hinüber.
„Bei diesem
Franzosen, da treibt sich wirklich allerlei Volk herum. Keine gute Gesellschaft
für uns. Was sich heutzutage alles erste Klasse nennen darf, ist schon
verwunderlich.“ Sie rümpfte die Nase.
Grearson
lächelte. Andrews wandte sich direkt an die alternde Dame.
„Nun, Lady
Dumonde, wollen sie nicht fortfahren, mir zu erzählen, was sich damals zwischen
ihnen und Mr Ismay ergeben hat?“
Erschrocken
hielt die Dumonde ihre Hand vor den Mund.
„Also nein,
Mr Andrews, sie können ihren Mund wohl nicht halten. Es muss doch nicht alle
Welt wissen.“
Beiläufig
erwähnte Grearson: „Machen sie sich keine Sorgen, von mir wird keiner etwas
erfahren.“
„Das will
ich auch hoffen! Es könnte ernste Folgen für mich haben.“
„Und
natürlich für Mr Ismay“, ergänzte Andrews süffisant und kanzelte Lady Dumondes
Egotrip herunter.
„Gut. Soll
also auch unser Geschäftsmann hier die Wahrheit wissen. Obwohl ich glaube, dass
sie die gar nicht interessieren wird.“
„Sprechen
sie“, ermunterte Grearson die Lady.
„Vor zig
Jahren, ich bin mir fast sicher, es waren 25, da hatte ich eine Affäre mit
Bruce Ismay. Wir waren noch so jung und unschuldig. Damals war er noch nicht
der große Mann, der er heute ist, sie verstehen? Jedenfalls war es in einer
Sylvesternacht, da ich ihm meine große Zuneigung gestehen wollte. Meine große
Liebe, ich wollte ihn heiraten. Wir verbrachten eine wunderschöne Nacht
zusammen. Aber dann ließ dieser Schuft mich sitzen. Sagte mir, er hätte seine
wahre Liebe gefunden und ließ mich eiskalt zurück. Ich habe ihm das all die
Jahre nicht verziehen, doch nun will ich Gnade walten lassen. Seit unserer
Abreise versuche ich, ihn zu treffen, will sehen, ob er mich wiedererkennt,
aber er ist unauffindbar. Ich habe mich extra für den Empfang fein gekleidet, doch
nicht einmal da war er anwesend. Wo kann er nur sein?“
Grearson
schluckte das Bedürfnis, Lady Dumonde über das Schicksal des Präsidenten der
Gesellschaft aufzuklären, widerwillig herunter und zuckte nur mit den
Schultern. Dann bemühte er sich, das Interesse für Ismay wieder
zurückzuschrauben.
„Lady
Dumonde, machen sie sich bitte keine zu großen Hoffnungen. Er…“
„Seien sie
still!“ rief sie dazwischen und wischte wild mit den Händen durch die Luft.
„Ich weiß, dass er hier an Bord ist. Nur seinetwegen habe ich diese Reise auf
mich genommen. Ich muss ihn sehen! Ich will, dass er mich wiedererkennt und
seine Liebe zu mir aufs Neue entflammt!“
Die
hochangesehene Letitia Dumonde merkte, dass sie ein wenig zu laut geworden war,
und sank in ihrem Stuhl zusammen.
„Mr Ismay
ist verheiratet, ich bin mir sicher, dass ihnen das zu Ohren gekommen ist. Sie
können ihn doch nicht seiner Gattin entreißen wollen?“
„Und ob ich
das kann“, antwortete die Angesprochene bitter. „Genau so, wie sie ihn mir
damals entrissen hat. Haben sie sich mal dieses Ehepaar angeschaut? Er nannte
sie damals seine große Liebe, pah! Da kann ich nur lachen. Es haben wohl eher
das Geld und der Einfluss eine große Rolle gespielt.“
Plötzlich
durchfuhren Grearson die wildesten Gedanken. Ihm wurde ganz übel bei der
Einsicht, die er jetzt in die Dinge erhielt.
„Mr
Andrews, Lady Dumonde! Sie müssen mich bitte entschuldigen, mir ist etwas
unwohl. Das liegt vielleicht am Meer. Ich muss auf mein Zimmer.“
„Aber
bitte, ganz wie sie wünschen. Lassen sie mich nur mit meinem Übel allein. Ich
werde mir schon zu helfen wissen.“
Zeitgleich
standen Patrick Grearson und Letitia Dumonde vom Tisch auf und ließen einen
sehr verwirrten Thomas Andrews zurück. Lady Dumonde entschied sich für den
linken Flügel des Salons, Grearson für den rechten.
Er
entfernte sich einige Schritte vom Tisch und dachte nach. Unfassbar. Die Menge
der Menschen, die ein Motiv hatten, Ismay beseitigen zu wollen, war mit einem
Mal angestiegen.
Lady
Dumonde. Vielleicht hatte sie sich rächen wollen. Sie wollte Rache nehmen, weil
sie einst so schmählich im Stich gelassen wurde. Vielleicht hat sie deswegen
Bruce Ismay erstochen.
Miles
Hutchins. Bei der Erwähnung der Ehefrau Ismays war Grearson wieder die
Unterhaltung mit dem Liftboy eingefallen, der nach eigenen Angaben eine lockere
Affäre mit Mrs Ismay lebte. Grund genug, den nervigen Ehemann auszuschalten?
Das war möglich.
Mrs Ismay.
Die Ehefrau, die er auf dieser Reise noch nicht einmal zu Gesicht bekommen
hatte. Und sie hatte gleich zwei mögliche Motive. Eifersucht. Vielleicht hatte
sie bereits Lady Dumonde auf dem Schiff gesehen und als die Frau wiedererkannt,
in die ihr Mann vor diesen langen Jahren verliebt gewesen war. Vielleicht hatte
sie vermutet, dass diese Liebe wieder entflammt war. Aber wie hatte sie Lady
Dumonde wiedererkennen können? Wahrscheinlich hatte sie sie zuvor noch nie
gesehen. Möglicherweise hatte Ismay Fotos von ihr. Das war eine sehr vage
Vermutung, aber es war immerhin möglich, dass Mrs Ismay ihren Mann ermordet
hatte, um dieser Affäre ein Ende zu setzen. Allerdings hätte dann eher Lady
Dumonde dran glauben sollen.
Mrs Ismay
zum Zweiten. Sie hatte die Affäre mit Miles Hutchins, dem Liftjungen. Warum
sollte er es sein, der Bruce Ismay und somit die Barriere, die zwischen ihrer
Beziehung stand, beseitigte? Es war für die Ehefrau doch viel leichter. Das
klang sogar recht plausibel. Das konnte man verwenden.
Geraldine
Dobbins. Die Hausfrau. Langsam bahnte sich ein Bild davon an, was in dieser
ältlichen Frau im weißen Kittel vor sich ging. Grearson war überzeugt, dass es
ein gewisser Dobbins war. Dieser Arbeiter, der beim Stapellauf der Titanic ums
Leben gekommen ist. Möglicherweise hatte sich Mrs Dobbins für den Tod ihres
Mannes an Ismay rächen wollen, der diesem Unglück zu wenig Beachtung hatte
zukommen lassen. Vielleicht hatte sie deswegen Ismays Kabine ausspioniert. Sie
hatte geschaut, ob er dort ist und ob er allein war. Aber auch das war nur eine
Vermutung. Grearson würde warten müssen, bis Mrs Dobbins mit ihm gesprochen
hatte. Er schaute zu Mr Andrews, der allein und gedankenversunken an seinem
Tisch saß. Was wohl gerade im Kopf des Ingenieurs vor sich gehen mochte?
Der zweite
Offizier Charles Lightoller starrte angestrengt auf die See vor ihm. Nichts war
zu erkennen. Freie Fahrt. Hinter ihm ging William Murdoch auf und ab.
Schließlich wandte der erste Offizier sich an seinen Unterstellten.
„Lightoller,
es ist gleich zweiundzwanzig Uhr. Ich werde sie jetzt ablösen, sie können sich
zur Ruhe begeben.“
„Aber…“
„Ich
verstehe schon, sie haben sich mittlerweile an den Umgang mit der großen Dame
gewöhnt, aber ich will keine übermüdeten Offiziere am Steuer sehen. Legen sie
sich schlafen, ich übernehme.“
„Wie sie
meinen, Mr Murdoch.“
Lightoller
blickte sich kurz auf der Brücke um, versicherte sich vom ordnungsgemäßen
Zustand der Geräte. Dann verließ er die Brücke auf der Backbordseite, um einen
kurzen Blick in den Funkraum zu werfen. Harold Bride und Jack Phillips waren
hochbeschäftigt.
„Alles in
Ordnung hier?“ fragte Lightoller.
„Ja ja,
läuft alles“, antwortete Phillips genervt, während er die geschäftlichen
Marconigramme absendete.
„Mr
Phillips, ich erhalte eine Nachricht von der Californian!“ schaltete Bride sich
ein, doch Phillips winkte ab.
„Halts
Maul. Verdammt, ich bin beschäftigt, ich habe mit Cape Race zu tun. Die sollen
sich um ihren Kram kümmern!“
„Ich sehe,
bei ihnen gibt es keine Probleme“, sagte Lightoller schmunzelnd und verließ den
Funkraum. Weder er noch Bride hatten eine Ahnung, welche Folgen Phillips´
grober Kommentar nach sich ziehen sollte.
Thomas
Andrews saß noch immer allein an seinem Platz im Rauchsalon. Er war tief in
Gedanken versunken. Immer wieder wanderten seine Blicke zu dem Gemälde über dem
Kamin. Der Hafen von Plymouth. Dann kehrte sein Blick für einen Moment in die
Richtung, in die Grearson gegangen war. Er war verschwunden.
Plötzlich
wurde Andrews von einer lauten Stimme aus seinen Gedanken gerissen.
„Herr
Andrews!“
Der
Ingenieur blickte sich fieberhaft um, wer hatte da gerufen? Die Antwort ließ
nicht lange auf sich warten, denn ein kleiner Mann kam auf ihn zu. Er trug ein
kariertes Jackett und eine große Hornbrille.
„Herr
Andrews, dass ich sie hier treffe!“
Die Stimme
klang alles andere als erfreut. Erbost kam der kleine Mann immer näher und
setzte sich schwungvoll an den Tisch. Einige Passagiere blickten verwirrt zu
den beiden hin, ließen sich aber nicht lange ablenken.
„Wer sind
sie?“ fragte Andrews verwirrt.
„Wie bitte?
Sie erkennen mich nicht mehr? Das hätte ich mir schon damals denken können, als
sie mich wie eine Maschine anstarrten, der man Befehle eingibt, ohne sich
weiter darum zu kümmern. Mein Name ist Harald Müller. Ich war einer ihrer
Wissenschaftler. Erinnern sie sich denn gar nicht mehr?“
Andrews
stammelte vor sich hin.
„Müller…
Müller… ich kann mich wirklich nicht mehr erinnern. Nur hören sie doch bitte
auf, so laut zu sprechen. Was sollen die Leute von mir denken?“
„Glauben
sie, das interessiert mich?“ Müller sprach mit stark süddeutschem Akzent.
Andrews hatte beinahe Probleme, ihm zu folgen. „Die Leute sollen ruhig das
denken, was ich damals dachte. Sie haben mich missbraucht für ihre kleinen
Forschungen.“
„Sprechen
sie etwa von…“
„Ja, genau.
Von der Titanic. Von der Herstellung, den Fabriken. Vom Stahl, guter Mann. Ich
spreche vom Stahl, den sie mich für sie entwickeln ließen. Gegen meinen Willen,
oder besser gesagt: Ohne mein Wissen!“
„Lassen sie
mich das bitte erklären!“
„Was wollen
sie mir da erklären? Billiger Stahl! Herr Andrews, sie haben mich beauftragt,
billigen Stahl herzustellen. Ich hätte das nie gemacht, hätte ich gewusst, dass
es hier um die Titanic geht.“
„Es reicht,
Mr Müller. Seien sie jetzt still. Ich erkläre ihnen etwas.“ Mit Mühe konnte er
den aufkommenden Einspruch Müllers abwehren. „Ich muss sie wohl daran erinnern,
dass Mr Ismay als Präsident von White Star die Aufsicht über die Titanic und
ihre Produktion hat. Er hat mir aufgetragen, die Kosten möglichst gering zu
halten, um keine allzu großen Verluste zu machen. Sie verstehen sicher, dass
der Stahl von bester Qualität auch ein äußerst teurer Spaß ist.“
„Natürlich.
Deswegen wurde bei der Titanic minderwertiger Stahl verarbeitet.“
„Aber gegen
meinen Willen. Ich habe versucht, Mr Ismay davon zu überzeugen, dass es
Leichtsinn ist, die Angelegenheit so einfach abzufertigen. Doch er ließ keinen
Widerspruch zu. Glauben sie etwa, dass es mir einfach fällt, diese
Jungfernfahrt mitzumachen? In dem Wissen, dass ich keine sehr gute Arbeit
geleistet habe? Ich kann nichts weiter tun als mich zu entschuldigen, der
Verantwortliche aber ist Bruce Ismay. Sprechen sie mit ihm!“
„Oh, wie
sie sich da herauswinden, macht mich krank. Ich werde mit Ismay sprechen, da
können sie sich drauf verlassen. Und ich werde die Sache an die Öffentlichkeit
bringen. Missbrauch der Wissenschaft ist ein so niederes Verbrechen!“
Wutschnaubend,
aber gemäßigten Schrittes, um nicht zu viel Aufsehen zu erregen, ging Müller
davon. Andrews schloss die Augen. Was auch immer sich alles um die Titanic
rankte, es waren nur düstere Zeichen. Der Unfall beim Stapellauf… die Sache mit
dem Stahl… Harland & Wolffs Ingenieur Thomas Andrews spürte zum ersten Mal
in seinem Leben große Angst. Angst vor der Verantwortung, die ihm zukam. Angst
vor der Titanic.
Immerhin
hat sich die Neuigkeit von Ismays Tod
nicht verbreitet, dachte Grearson, während er das C-Deck betrat. Er hatte
beschlossen, in seiner Kabine zu warten. Vorher wollte er eben noch eine
Kleinigkeit zur Sicherheit beim Zahlmeister hinterlegen. Er betätigte die
kleine Klingel, die vor dem Schalter stand.
Der
Zahlmeister McElroy öffnete das Fenster.
„Mr
Grearson, sie sind es wieder! Wie kann ich ihnen helfen?“
„Ich habe
hier noch etwas zu hinterlegen, das habe ich vorhin leider vergessen.“
Mit diesen
Worten fischte er einen kleinen Samtbeutel aus seiner Jackettasche und
überreichte ihn McElroy.
„Das ist
doch überhaupt kein Problem. Ich lege es gleich in den Tresor zu den anderen
Wertgegenständen. Machen sie sich keine Sorgen.“
McElroy
wandte sich eben zum Gehen, als ihm noch etwas einfiel.
„Ach, wo
sie gerade hier sind: Sie hatten doch vorher diese Dame im weißen Kittel
gesucht?“
„Ja?“
fragte Grearson verwundert. „Was ist mit ihr?“
„Nun, sie
war eben hier bei mir. Sie war es, da bin ich ganz sicher, und sie wollte
wissen, ob es einen Weg auf das Bootsdeck ganz vorne an den Bug des Schiffes
gibt. Ich habe ihr davon abgeraten, dort hinzugehen, da es schon sehr kalt
draußen ist. Sie könnte sich eine Lungenentzündung holen. Sie winkte nur ab und
sagte, das mache ihr nichts aus. Dann habe ich ihr den Weg beschrieben und sie
ist davongegangen.“
„Wann war
das ungefähr?“
„Jetzt
gerade erst. Vielleicht vor fünf Minuten.“
„Danke. Ich
muss hinterher. Wie komme ich zum Bug?“
Etwa fünf
Minuten später stand Patrick Grearson auf der Promenade. Er fröstelte. Es war
seit seinem letzten Besuch an Deck erheblich kälter geworden. Er blickte auf
seine Taschenuhr. Zweiundzwanzig Uhr. Was suchte Mrs Dobbins um diese Zeit auf
dem Deck? Er stand an der Treppe, die hinunter auf das Vorderdeck führte, und
konnte an der Spitze des Schiffes den weißen Kittel der Hausfrau erkennen. Er
lief die Treppe hinunter, quer über das Vorderdeck und zu Mrs Dobbins.
Die
Hausfrau stand an der Reling, ganz an der Spitze der Titanic. Grearson trat an
sie heran. Er blickte hinter sich. Majestätisch ragte das Schiff hinter ihm in
die Höhe.
Mrs Dobbins
schien ihn nicht bemerkt zu haben.
„Was haben
sie vor, Mrs Dobbins?“
Die ältere
Dame drehte sich um.
„Ach, sie
sind es wieder. Sie sind zu früh. Wir waren für später verabredet.“
Sie machte
sich daran, einen Fuß auf die Reling zu setzen.
„Was machen
sie da?“ fragte Grearson verwirrt.
„Ich denke,
sie sind schlau genug, dass sie meine Geschichte bereits gehört haben“, sagte
Mrs Dobbins, ohne sich umzudrehen, und stieg auf die Reling.
Grearson
traf die Erkenntnis wie ein Blitz. Die Hausfrau wollte sich ins Meer stürzen.
Er umklammerte sie an der kräftigen Hüfte.
„Lassen sie
das, Mrs Dobbins. Warum wollen sie sich ins Unglück stürzen?“
„Reden sie
nicht vom Unglück! Sie haben kein Unglück gesehen!“
Sie stand
jetzt auf der vorletzten Stufe der Reling und schwankte bedenklich.
„Es ist
vollbracht“, fuhr sie fort, kaum hörbar, da der beißende Wind ihre Worte
hinfort trug. „Das Messer hat seine Arbeit getan, Ismay ist nicht mehr, mein
Mann ist nicht mehr, es gibt für mich nichts mehr zu tun!“
Das Messer!
Nur Grearson, Smith, Murdoch und Miller wussten davon. War sie es? Hatte sie
den Präsidenten also doch getötet, wie er es selbst schon lange vermutet hatte?
Er brauchte die Antwort; wenn die Frau sich in den Tod stürzte, würde er wohl
nie die Wahrheit erfahren.
„Mrs
Dobbins! Woher wissen sie, dass Mr Ismay mit einem Messer erstochen wurde?“
Scheinbar
hatte die Frau in weiß mit dieser Frage nicht gerechnet. Verwirrt verharrte sie
für einen Moment. Dann stieg sie langsam eine Stufe hinab und klammerte sich an
der eisernen Reling fest. Wie in Zeitlupe drehte sie sich um. Sie wollte gerade
zu einer Antwort ansetzen, als ihr Blick an Grearson vorbei auf die Promenade
des A-Decks wanderte. Ihr Gesicht verwandelte sich in eine Maske des
Schreckens, als plötzlich ein lauter Knall die eisige Stille des Nordatlantiks
zerriss. Geraldine Dobbins stürzte auf das Bootsdeck. Ihr weißer Kittel färbte
sich langsam rot, als das Blut durchsickerte. Grearson drehte sich blitzartig
um, doch er erkannte nichts außer der sternenklaren, mondlosen Nacht.
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