Sonntag, 20. November 2016

Beteigeuze (Kapitel 6)




23:15 Uhr

Jack Phillips war eingetreten. Einer der Funker der Titanic. Als er von Miller begrüßt wurde, prallte er zunächst ein Stück zurück.
„Was machen sie denn hier?“ fragte er ungehalten.
„Ich könnte sie wohl dasselbe fragen, Mr Phillips. Das heißt, eigentlich weiß ich ja, was sie hier vorhatten. Nur leider wird daraus nichts. Miss Ratchett wird nicht kommen.“
„Woher wissen sie von ihr? Hat sie etwa geplaudert?“
Nervös ging Phillips zum elektrischen Pferd und lehnte sich dagegen.
„Sie dürfen beruhigt sein. Sie hat sie nicht verraten. Und das wird sie auch nicht mehr tun. Sie ist tot. Ermordet in ihrem eigenen Zimmer.“ Nach einer Pause fragte Miller ungewöhnlich stechend: „Ich hoffe, sie sind die ganze Zeit ihren Aufgaben nachgegangen, Mr Phillips?“
Der Funker blickte gegen die Wand. Leere, ausdruckslose Augen spiegelten Entsetzen wieder. Doch trotz aller Verwirrung bemühte er sich, gelassen zu wirken.
„Wieso fragen sie mich das? Natürlich habe ich das getan. Das ist mein Beruf, wissen sie?“
„Es ehrt sie, dass sie ihrer Arbeit so verbunden sind, aber ich sehe sie jetzt zum Beispiel nicht im Funkraum. Wie kommt das? Sie sollten doch dort bereit sitzen und Nachrichten empfangen, richtig?“
„Wozu habe ich Mitarbeiter? Bride kümmert sich um den Laden. Warum wollen sie das überhaupt wissen?“
„Sehr einfach. Ich bezweifle, dass Mr Bride jetzt im Funkraum ist. Er ist bereits in seinem Bett. Der gute Junge hatte den Schlaf dringend nötig, das wissen sie genauso gut wie ich. Und genau in diesem Moment verletzen sie nun also ihre Pflichten. Also haben sie das vielleicht auch schon vorher getan. Es geht mir ganz einfach darum, herauszufinden, ob sie ein Alibi für die Tatzeit haben.“ Miller spürte geradewegs, wie das Glatteis unter ihm krachte und Risse bekam. Er hatte nicht die geringste Idee, auf wann man die Tatzeit festlegen konnte. Er hoffte nur, etwas mehr über Ms Ratchett mit Phillips´ Hilfe erfahren zu können.
„Ich habe nichts getan. Und ich sehe nicht ein, warum ich ihnen überhaupt etwas erzählen sollte.“
„Das ist ganz einfach. In Miss Ratchetts Zimmer wurde eine Notiz gefunden. Eine Notiz von ihnen.“ Miller holte den Zettel hervor, entfaltete ihn und las ihn zur Erinnerung noch einmal vor. Phillips´ Blick versteinerte.
„So, Mr Phillips, und nun sehen sie vielleicht auch selbst ein, dass es besser wäre, wenn sie mir schilderten, was es da für eine Beziehung zwischen ihnen und Miss Ratchett gab.“
Der Funker seufzte tief.
„Ich habe Lucy vor zwei Tagen zum ersten Mal getroffen. Zwischen uns gab es keine richtige Beziehung. Sie war ein leichtes Mädchen. So nennt man sie doch, oder? Ich habe keine Freundin, aber vielleicht können sie sich vorstellen, dass mir ein wenig Leidenschaft fehlt, wenn ich auf See bin. Und Lucy hat mir angeboten, ein paar schöne Stunden mit mir zu verbringen.“
„Und das Angebot haben sie angenommen?“
„Ich konnte nicht Nein sagen. Es war dann auch wirklich schön. Ich wollte sie wieder treffen und habe ihr den Brief geschrieben.“
„Also war Miss Ratchett für sie nichts weiter als eine knisternde Affäre? Wissen sie denn sonst nichts über das Mädchen? Ich meine, sie hätte krank sein können und sie wissen nichts davon!“
„Bleiben sie ruhig. Denken sie nicht, ich hätte an meine Sicherheit gedacht? Ich habe mit ihr gesprochen. Warum sie an Bord ist und so weiter.“
„Mr Phillips, ihnen mag nicht klar sein, warum, aber ich muss das alles wissen. Was hat Ms Ratchett ihnen über sich erzählt?“
„Ihr Name war Lucinda Maria Ratchett. Sie war Kindermädchen bei einer Familie, da hat sie nicht mehr zu gesagt. Ihre Eltern seien verstorben, aber sie hat noch eine Schwester. Deren Name ist Abigail Hopkins.“ Jetzt war Millers Interesse geweckt. „Sie heißt nicht Ratchett, weil sie bereits geheiratet hat. Ihr Mann ist aber bei einem Unfall ums Leben gekommen. Ich fragte Lucy, warum sie mir das alles erzählte. Sie war ein wenig enttäuscht von ihrer Schwester, meinte sie. Abigail hat immer Geld und schöne Kleider, sagte sie. Und dabei hätte sie das gar nicht verdient, weil sie nichts dafür tut und immer ihren Onkel um Taschengeld anbettelt. Um wen es sich da handelt, weiß ich nicht“, sagte Phillips.
Millers Stirn zog sich in Falten. Bruce Ismay.
„Ich war mir nicht sehr sicher, aber Lucy hat ihre Schwester ziemlich genau beschrieben. Ich hätte schwören können, ich habe sie gestern Abend in der Nähe des Funkraums gesehen. Aber das ist ja auch egal. Lucy hat erzählt, dass sie zusammen mit dieser Familie, für die sie arbeitet, nach Amerika geht. Eine längere Zeit wollte sie dort verbringen. Aber nun ist sie tot…“
Phillips blickte wieder mit leeren Augen an die Wand. Miller sagte nichts. Abigail Hopkins war ein Hinweis. Eine Spur, die man vielleicht verfolgen sollte. Wenn sie nicht selbst in die Angelegenheit verstrickt war, dann konnte sie zumindest etwas über ihre Schwester erzählen.
„Der Funkraum ruft, Mr Phillips“, sagte Miller ernst. „Sie haben eine Aufgabe zu erfüllen. Denken sie daran, dass auf ihren Schultern eine Verantwortung lastet. Die Titanic kann nur funktionieren, wenn jeder seinen Teil dazu tut. Ich werde mich wieder unter Deck begeben. Ich will nur für sie hoffen, dass ich keine Hinweise finde, die ihre Aussage irgendwie in Frage stellen könnten.“
Phillips besann sich wieder und sagte auf seine abweisende Art: „Lassen sie mich meine Arbeit tun und kümmern sie sich um ihre. Vom Funken haben sie sowieso keine Ahnung. Ich sage ihnen nur, dass ich nichts mit der ganzen Angelegenheit zu tun haben sollte. Ich war froh, dass ein Mädchen wie Lucy hier an Bord war. Warum hätte ich sie töten sollen?“
Der Funker verließ, ohne sich noch einmal umzudrehen, die Turnhalle. Miller beschloss, Patrick Grearson ausfindig zu machen. Das wichtige Detail der Tatzeit durfte nicht ungeklärt bleiben.

„Das ist eine ganz einfache Frage, Mutter. Warum?“
Diana Hilton saß auf ihrem Bett und wischte sich mit einem Taschentuch Tränenspuren aus dem Gesicht. Es war ein altmodisches Taschentuch mit einem eingestickten L. Misstrauisch blickte Claris auf das Stück Stoff. Ihre eigenen Tränen waren längst versiegt. Nun war sie auf der Seite des Rechts, nun hatte sie die Oberhand über ihre Mutter.
„Claris, du verstehst das doch sowieso nicht.“
„Das hast du mir schon viel zu oft gesagt. Ich verstehe es aber ganz gut! Bruce Ismay war mein Vater und nun ist er tot. Mama, bitte sag mir, dass du es nicht gewesen bist! Wenigstens einmal musst du unschuldig sein!“
„Kind, natürlich bin ich unschuldig. Warum sollte ich deinen Vater umbringen?“
„Vielleicht, damit ich nicht hinter die Wahrheit komme? Vielleicht, damit Stansfield keine Schwierigkeiten bekommt? Was weiß ich? Wobei, es dürfte sich wohl eher um unseren ach so unbescholtenen Anwalt drehen, denn offensichtlich hast du dich um mich stets einen Dreck gekümmert. Hast mir meinen Vater vorenthalten um deines eigenen Vorteils Willen, hast mich meiner Heimat und meinem Geliebten entrissen, damit du Nutzen daraus ziehen kannst.“
Wie ein trotziges Kind verschränkte Claris die Arme und drehte ihrer Mutter den Rücken zu. Diese legte eine Hand auf die Schulter ihrer Tochter.
„Das ist nicht wahr, Claris. Ich bekenne mich schuldig, dass ich mehr an mich gedacht habe, als ich diese Reise in Erwägung gezogen habe. Es tut mir so sehr Leid! Wenn du willst, können wir sofort wieder zurückreisen. Du musst nicht jemanden heiraten, den du nicht magst.“
„Und nun also der plötzliche Sinneswandel, um mit der Tochter alles ins Reine zu bekommen, wie? Nein. Ich bleibe in Amerika, wenn wir erst einmal dort sind. Aber glaube nicht, dass ich diesen eingebildeten Schnösel zu Mann haben will. David ist hier an Bord. Ich habe mit ihm gesprochen. Er ist hier, und wenn wir erst in New York angekommen sind, dann werden wir heiraten. Und weder du noch sonst irgendjemand wird uns daran hindern!“
Diana Hilton schwieg. Einige Minuten herrschte Stille in Kabine D-12. Nur das Vorbeihuschen einiger Schritte auf dem Flur war zu hören, da das Schloss der Tür noch immer zerstört war.
„Es soll dir gut gehen, Claris. Das ist mir das Wichtigste. Du darfst nicht weiter nach deinem Vater fragen. Es würde mich zerbrechen, wenn du die ganze Wahrheit wüsstest. Akzeptiere es, dass dein Vater Bruce Ismay war. Ich glaube nicht, dass er dich erkannt hätte. Nein, dazu bist du zu groß und zu hübsch geworden.“
Wieder nahm sie das Taschentuch zur Hand. Claris nahm es ihr weg und betrachtete es genauer.
„Woher hast du diese Taschentücher mit dem Monogramm, Mama?“
Für einige Momente flimmerten rasante Erinnerungen vor dem Auge Dianas auf. Die Abschiedsszene von Bruce, die vielen Tränen, das Verständnis, der Kuss, die Umarmung. Das Kind, das er ihr übergab. Eingehüllt in die feinsten Windeln. In dem kleinen Körbchen mit einem kleinen Stapel Taschentücher, altmodisch, mit einem eingestickten blauen L. Ein Kennzeichen. Eine Erinnerung an die Vergangenheit. An die Wahrheit.
„Bruce hat sie mir geschenkt“, antwortete Diana kurz. Sie konnte ihrer Tochter nicht die volle Wahrheit erklären.
„Ich werde es herausfinden, wenn du mir nichts sagen willst, Mutter. Ich werde die Wahrheit finden. Vielleicht werde ich dich dann auch verstehen können. In diesem Moment kann ich es jedenfalls nicht. Geh ins Bett, Mutter. Ich werde mich mit David treffen.“
„Ich will, dass du es gut hast, Kind. Ihr beide sollt meinen Segen haben, wenn er denn wirklich der richtige Mann in deinem Leben ist. Ich kann das zwar nicht glauben, so sehr ich auch möchte, aber schließlich ist es nicht meine Entscheidung. Deine Zukunft liegt in deinen eigenen Händen. Mache etwas Sinnvolles daraus!“
„Ich werde es schaffen. Selbst, wenn wir dann nicht das viele Geld haben werden, dass uns dein Traum von Schwiegersohn versprochen hat. Wir werden unseren Weg ehrlich erkämpfen. Was ist erkaufter Ruhm schon wert? Denk darüber mal nach, liebe Mutter!“
Diana sah ihrer Tochter hinterher, die die Kabine verließ. Gut, dachte sie, dass Bruce tot ist. Wenigstens kann Claris jetzt die Vergangenheit ruhen lassen.

„Was wir noch gar nicht erörtert haben, ist die genaue Tatzeit, Mr Grearson.“
„Miller, sie haben Recht. Dieser Gedanke ist mir auch schon durch den Kopf gegangen.“
Die beiden Herren setzten sich an einen ungestörten Tisch im Café Parisian. Nur zwei junge Pärchen befanden sich in dem großen Raum, ansonsten zeigte auch er die Anzeichen eines späten Abends.
„Wann genau haben sie ihre Zimmertür geöffnet, so dass der Tote hineingefallen ist?“
„Ich bin mir ganz sicher. Das war um zwanzig Minuten nach acht. Da wollte ich mein Zimmer nämlich wieder verlassen, um zum Empfang durch Captain Smith zu gehen.“
„Richtig, sie hatten ja diesen Anfall von Seekrankheit. Können sie sich erinnern, wann sie sich zu Bett begeben hatten?“
„Es muss um viertel nach sieben gewesen sein. Etwas früher ist auch möglich.“
„Damit haben wir zumindest den Rahmen. Na ja, er wurde jedenfalls zwischen 19.15 Uhr und 20.20 Uhr an ihre Tür gelehnt und mit Sicherheit war er um zwanzig nach acht bereits tot. Aber es kann um einiges früher geschehen sein. Er kann auch um sechs Uhr ermordet worden sein, oder noch früher.“
„Ich glaube das nicht. Denken sie an Mrs Dobbins! Sie muss etwas Wichtiges beobachtet haben, sie erzählte mir von einer Frau mit einem Dolch, die sich in seinem Zimmer aufgehalten hätte.“
„Der Dolch von Miss Lockett vermutlich. Was hatte dieser Fotograf noch gesagt? Wann hatte er  das Bild von Mrs Dobbins gemacht?“
„Gegen halb acht, wenn ich nicht irre.“
„Ich denke, um überhaupt einen Anhaltspunkt zu haben, sollten wir die Ereignisse zwischen sieben und acht Uhr abends festlegen. Irgendwann in diesem Zeitraum wurde Ismay ermordet und später an ihr Zimmer geschleppt.“ Miller machte sich eine gedankliche Notiz und trank einen Schluck Tee. Dann fuhr er fort: „Was mich aber viel mehr interessiert, Mr Grearson, ist Ismays Kabine. Ich habe mich dort noch gar nicht umgesehen, womöglich ist sie der Tatort. Sind sie bereits auf die Idee gekommen, einen Blick dort hinein zu werfen?“
„Allerdings! Aber ich bezweifle doch stark, dass Ismay in seinem Zimmer umgebracht wurde. Es sind überhaupt keine Spuren zu finden.“
„Bitte beschreiben sie mir die Kabine ganz genau, ich muss jedes Detail wissen.“
Patrick Grearson bemühte sich, das genaue Bild der Kabine zu beschreiben, mit dem großen Bett, den beiden Spiegeln und dem Teppich. Hin und wieder hielt er inne und trank seinerseits etwas Kaffee und korrigierte daraufhin seine Beschreibung ein paar Male. Schließlich hatte er eine recht exakte Schilderung des Zimmers abgegeben. Miller überlegte ein wenig länger.
„Diese Abdrücke im Teppich finde ich interessant. Wenn sie tatsächlich vom Bett zur Tür führen, dann wäre es möglich, dass jemand etwas Schweres vom Bett zur Tür getragen hat. Und bei der Form der Abdrücke vermutlich…“
„Wollen sie etwa sagen, dass eine Frau Ismay vom Bett zur Tür und dann zu meiner Kabine geschleppt hat?“
„Geschleppt ist der richtige Ausdruck, Mr Grearson. Es muss sehr anstrengend für die junge Frau gewesen sein.“
„Wie kommen sie denn darauf, dass es sich um eine junge Frau handelt? Ich meine, denken sie nur an Mrs Dobbins! Die ist alt und kräftig genug, um Ismay ohne Probleme aus dem Zimmer zu befördern.“
Miller lächelte.
„Das ist natürlich richtig, aber bedenken sie doch nur die Form der Schuhabdrücke. Wenn die Vertiefungen, wie sie selbst sagten, so klein sind, konnte es sich um sogenannte Pfennigabsätze an den Schuhen handeln. Damenschuhe mit erhöhter Hacke, deren Absatz sehr schlank zuläuft. Dies ist eher eine Mode der jüngeren Generation, die besonders bei attraktiven Männern Eindruck machen möchte. Und nun stellen sie sich vor, wie schwer es sein muss, auf hochhackigen Schuhen eine Leiche aus einem Zimmer zu tragen, ohne dabei umzuknicken. Ich bin ganz sicher, dass die Abdrücke daher rühren.“
„Und es passt sogar“, sagte Grearson nach kurzer Überlegung. „Mrs Dobbins hatte ja gesagt, dass sie eine Frau mit einem knielangen Rock im Zimmer gesehen hätte. Knielange Röcke werden auch eher von den jüngeren Damen getragen.“
„Sehen sie? Das bringt uns doch schon einen großen Schritt weiter. Nun müssen sie mir unbedingt eine Frage beantworten. Erinnern sie sich bitte genau. Sie sprachen davon, dass das Bett sehr luxuriös gewesen sei. Lagen dort viele Kopfkissen oder nur eines auf jeder Seite? Wenn es nur eines war, war es eher klein oder groß?“
„Ich verstehe nicht, wie diese Frage einen Sinn für sie ergeben kann, Miller!“
„Ich versuche, herauszufinden, ob Ismay auf seinem Bett ermordet wurde oder nicht. Zumindest steht fest, dass sich die Leiche, bevor sie hinausgeschleppt wurde, auf dem Bett befand.“
„Aber er wurde bestimmt nicht auf dem Bett umgebracht. Es gab keine Spuren, in seinem ganzen Zimmer nicht!“
„Und sie halten es demnach für wahrscheinlicher, dass Ismay außerhalb seiner Kabine umgebracht wurde, die Leiche dann hineingetragen und anschließend wieder herausgebracht wurde?“
„Wenn mir wirklich jemand damit einen Schreck verpassen wollte, dass er die Leiche an meine Zimmertür stellt, ist das schon möglich. Stellen sie sich nur vor, Ismay wurde ermordet, bevor ich mich in mein Zimmer begeben hatte. In diesem Fall durfte die Leiche nicht gleich an mein Zimmer gestellt werden. Der Täter musste warten, bis ich mein Zimmer betreten hatte, um den Toten danach zu mir zu bringen.“
„Ein sehr guter Gedankengang, den sie da verfolgen, Mr Grearson, aber ich halte es für unwahrscheinlich. Denken sie an die Schuhabdrücke! Sie sagte, es waren nicht sehr viele und sie waren in einem regelmäßigen Abstand. Wenn der Täter die Leiche zuerst in das Zimmer reingetragen hätte, um sie dort aufzubewahren, dann hätten sich schließlich auch Abdrücke von dem Weg zum Bett hin im Teppich befinden müssen. Ich würde das ausschließen und frage noch mal: Wie war die Beschaffenheit der Kopfkissen?“
„Auch wenn mir ihre Zusammenhänge völlig unklar sind, kann ich ihnen das gerne sagen. Es lagen übertrieben viele Kopfkissen auf dem Bett. Der reinste Pomp, wenn sie mich fragen. Da konnte man schon gar nicht mehr drin liegen, da hat man bestimmt drin gesessen.“
Miller lächelte.
„Ein interessanter Gedanke.“
Der Geschäftsmann an seiner Seite schaute wieder verwirrt, doch der Steward winkte ab.
„Das war schon viel wert, Mr Grearson. Danke für die Information. Und immerhin haben wir uns auf die ungefähre Tatzeit einigen können, das ist schon ein Schritt in die richtige Richtung. Ich werde jetzt mal mit Mr Morrison reden müssen. Ich hoffe, er kann mir Weiteres über Miss Ratchett erzählen.“
„Wo ich sie gerade hier habe: Können sie mir sagen, was mit dem falschen Ruhm der Titanic gemeint ist? Mrs Dobbins hatte das erwähnt, aber ich verstehe es überhaupt nicht.“
„Mrs Dobbins – richtig, zu ihr muss ich auch noch einmal gehen. Mir hat sie ein ähnlich seltsames Rätsel aufgegeben, ich komme einfach nicht dahinter. Nein, ich weiß nicht, was der falsche Ruhm der Titanic ist. Das ist ein Ausdruck, über den sie wohl von der Crew nicht viel werden erfahren können. Vielleicht können ihnen die Arbeiter in den Kesselräumen etwas sagen. Oder sie probieren es mal bei den Liftjungen. Sie hören den ganzen Abend lang so viel Klatsch und Tratsch, vielleicht ist denen schon einmal jemand aufgefallen, der diesen Ausdruck erwähnt hat.“
Grearson schlug sich vors Gesicht.
„Der Liftboy! Dass ich da nicht gleich drauf gekommen bin – der kann mir bestimmt helfen. Für einen Dollar hat er immer die besten News parat. Ich werde ihn gleich aufsuchen.“
„Dann ist ja alles in Ordnung. Wir können uns wieder auf die Suche begeben. Wir treffen uns bestimmt bald wieder. Bis dann!“ verabschiedete sich Miller und ließ Grearson mit einigen Verwirrungen, einigen Vorahnungen und zwei Tassen, einer mit Kaffee und einer mit Tee, zurück.

Er klopfte.
„Mr Morrison? Mein Name ist Miller, ich bin Steward. Wir haben uns vor kurzem im Zimmer von Lucy Ratchett gesehen. Ich muss mit ihnen reden!“
„Herein“, antwortete die Stimme von innen. David Morrison hatte den Korridor des D-Decks schnell verlassen, um nicht aufzufallen. Schließlich musste der Lärm der berstenden Zimmertür doch irgendjemanden aufmerksam gemacht haben. Da Claris offensichtlich eigene Pläne hatte, war er wieder in sein eigenes Zimmer zurückgekehrt.
Miller öffnete die Tür und trat ein.
„Guten Abend, Mr Morrison.“
„Hallo.“
Morrison saß im Schneidersitz auf dem Boden und hielt sich die Finger an die Schläfen. Offensichtlich hatte er meditiert.
„Ich hoffe, Murdoch hat sie nicht zu sehr ausgefragt und beschuldigt?“ fragte Miller teilnahmsvoll.
Morrison seufzte. „Wie man es nimmt. Natürlich war ich für ihn gleich ohne Zweifel der Mörder, schließlich wurde ihr ja der Ring geklaut, und da ich ihn sowieso haben wollte, warum sollte ich sie da nicht gleich auch töten? Aber was interessiert mich das, er hat überhaupt keine Beweise gegen mich in der Hand.“
„Jetzt bitte ganz langsam. Ich möchte mit ihnen über Miss Ratchett sprechen. Natürlich auch über den Ring. Ich glaube, sie sind unschuldig, aber wer auch immer der Täter ist, musste in irgendeiner Verbindung zu Miss Ratchett gestanden haben und aus welchem Grund auch immer an dem Ring interessiert sein.“
Zum ersten Mal blickte Morrison auf.
„Dann setzen sie sich. Das wird nicht allzu einfach. Und der Zufall wird eine große Rolle spielen.“
„Dann erzählen sie bitte.“
„Vielleicht haben sie schon erfahren, dass Lucy neben ihrer Arbeit als Kindermädchen auch noch anderen Aktivitäten nachging. Sie hatte ein Zimmer in der Stadt, obwohl sie bei ihren Arbeitgebern hätte unterkommen können. Dieses Zimmer diente als Ort für ihre kleinen Geschäfte.“
„Geschäfte?“
„Sie war als leichtes Mädchen tätig. Keine Hure im verkommenen Sinn, weiß Gott nicht! Sie war anständig. Aber sie war auch sehr arm und tat viel für ein wenig mehr Geld. In diesem Zimmer empfing sie ihre Kunden. So auch mich damals. Es war für mich nichts Besonderes, aber Lucy schien den irren Gedanken zu formen, dass ich mich in sie verliebt haben könnte. Sie verliebte sich in mich. Sie wollte mich ein weiteres Mal sehen.“
„Und sind sie wieder zu ihr gegangen?“
„Ja. Ich hätte es besser nicht tun sollen. Sie gab mir einen Ring, er sah sehr wertvoll aus, und sie sagte, dass sie mich von ganzem Herzen liebte. Ich konnte ihr nicht die Wahrheit sagen, ich glaubte damals, dass ich sie zu sehr verletzen würde.“
„Denken sie nicht, dass sie sie noch mehr verletzt haben, indem sie sie in dem Glauben zurückgelassen haben, dass sie eines Tages mit ihnen zusammenleben könnte?“
Morrison schüttelte den Kopf.
„Ich weiß, was sie jetzt sagen wollen, ich kenne den Spruch. Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Aber ich wollte ihr damals nicht wehtun, sie schien mir so schüchtern und so zerbrechlich zu sein.“
„Schüchtern? Als leichtes Mädchen?“
„Sie dürfen nicht glauben, dass Lucy allzu viel Spaß an diesen Bettgeschichten hatte. Mir sagte sie, dass es oft nur ums Geld ginge und sie froh wäre, wenn sie endlich unabhängig leben könnte. Ich habe bis heute diesen Ring behalten, den Lucy mir damals gab. Als Erinnerung zunächst, später nur noch als einfaches Schmuckstück. Aber heute Abend habe ich ihn beim Glücksspiel verloren. Sie sollten wissen, dass ich ein leidenschaftlicher Spieler bin. Es gibt nicht viele Leute, die das gutheißen können. Deswegen wurde mir auch meine Geliebte weggenommen. Ihre Mutter hielt mich damals für allzu locker in meiner Lebensweise. Aber was erzähle ich ihnen das“, sagte Morrison und stand auf. Während er in einem Schränkchen nach einer Flasche Whisky suchte, fuhr er fort: „Es geht ihnen natürlich um Lucy und den Ring. Der Ring, den sie mir damals geschenkt hatte, war ein nachgemachtes Stück. Das Original hatte sie selbst behalten. Sie hat es einst von ihrer Arbeitgeberin, Mrs Borebank, geschenkt bekommen. Und dieser Ring ist ihr nun gestohlen worden, kurz bevor ich ihn mir selbst abholen konnte.“
„Selbst abholen? Wovon reden sie?“
„Tja, hier kommt mal wieder der Zufall ins Spiel. Mrs Borebank hat mich peinlicherweise beobachtet, als ich aufgrund einer dummen Unachtsamkeit meinen eigenen Ring im Rauchsalon beim Kartenspiel verlor. Sie warf einen Blick auf das Stück und meinte, dass es eine Fälschung sei, und sie sagte mir, dass ich gerne gegen halb elf zu Lucy gehen dürfte, um mir das Original zu holen. Sie würde es dem Mädchen schon ersetzen. Sie hielt es für Recht, weil sie selbst ihr den Ring ja geschenkt hatte.“
„Und, waren sie bei ihr?“
„Nein. Ich wollte ein wenig später hingehen, um sie auch wirklich anzutreffen. Wer weiß, wen sie heute wieder bezirzt hat? Da konnte es schon etwas später werden, meinen sie nicht?“
„Leider bringt sie gerade diese Umsichtigkeit in eine schwierige Lage. Haben sie ein Alibi für die Zeit vor halb elf? Falls nicht, sieht es schlecht für sie aus. Die Leiche wurde um 22.40 Uhr gefunden. Da könnte es doch sein, dass sie zehn Minuten vorher hinabgestiegen sind und sie ermordet haben.“
Morrison wollte widersprechen, aber Miller kam ihm zuvor.
„Ich weiß. Das ist natürlich Unsinn. Wenn ihnen der Ring sowieso versprochen war, warum hätten sie das Mädchen ermorden sollen? Und genau deswegen glaube ich nicht, dass sie der Mörder sind.“
„Wenigstens einer auf meiner Seite“, seufzte Morrison. „Ich kann ihnen wirklich nicht mehr erzählen, nicht einmal zu meiner Verteidigung. Was sie vielleicht noch interessieren könnte – na ja, es könnte ein wenig unangenehm für den Beteiligten werden…“
„Sprechen sie, Mann. Es geht hier um Mord, viel unangenehmer geht es doch wohl kaum.“
„Na gut. Mr Borebank, Lucys Arbeitgeber, schien auch eine rege Affäre mit ihr zu haben. Er hat sie sogar als Flittchen bezeichnet. Kompetent, aber menschlich ein Wrack. Das will ich hier lieber nicht bestätigen, aber es könnte ja auch sein, dass eine Person den Ring an sich genommen hat und eine andere das Mädchen ausgeschaltet hat. Vielleicht sogar Borebank selbst, damit seine Frau davon nichts erfährt?“
Miller stand auf. Die Thematik wurde nun doch etwas zu heikel.
„Ich will zugeben, dass es ein guter Gedanke ist, mit dem Dieb und dem Mörder. Was aber Mr Borebank angeht – also, das sind Informationen, die muss ich erst einmal unter Vorbehalt annehmen. Ich danke ihnen jedenfalls, Mr Morrison, für dieses Gespräch.“

Abigail Hopkins atmete tief durch. Das Ergebnis ihres ersten Ganges an Deck war ernüchternd. Nun war sie endlich bereit, sich der Welt sorgenfrei zu präsentieren, und was tat die Welt? Ging einfach ins Bett, und das, obwohl die Nacht doch noch jung war! Niemanden hatte sie getroffen, der sie auch nur halbwegs interessiert hätte. Oder hatte sie ihre Ansprüche nun etwa zu hoch gesetzt? Nein. Wer keine Ansprüche hat, der landet noch bei irgendeinem Abschaum. Das kann ja nicht gut sein. Schaudernd dachte sie an ihre eigene Vergangenheit.
Es war schon gut so, wie es war. Wen brauchte sie denn? Sie kam doch gut allein zurecht! Und jetzt, in dieser neuen Situation, würde sie erst recht auf niemanden angewiesen sein. Selbstbewusst trank sie ihr Glas Champagner aus und blickte in den Spiegel ihrer Kabine. Du hast es geschafft, sagte sie sich. Eitel und voller Stolz blickte sie ihr Spiegelbild an. Dann klopfte es an der Tür. Behutsam stellte sie ihr Glas ab und fragte, ohne zu öffnen:
„Wer ist da?“
„Ich bin der Steward. Mein Name ist Miller. Sind sie Mrs Hopkins?“
„Die bin ich. Aber hören sie, sie sind nicht für mich zuständig. Mein Steward heißt Barker. Was wollen sie also hier?“
„Ich komme nicht als Steward zu ihnen. Ich muss mit ihnen über ihre Schwester sprechen. Über Lucy Ratchett.“
Dieser Name zeigte seine Wirkung. Für einen Moment sagte Abigail gar nichts. Dann öffnete sie langsam die Tür. Ihre Miene hatte sich um keinen Deut verändert, sie war undurchsichtig wie eh und je.
„Kommen sie herein.“
Miller trat ein und schenkte der jungen Frau ein aufmunterndes Lächeln.
„Was ist mit meiner Schwester? Ist etwas passiert?“
„Mrs Hopkins, haben sie gewusst, dass Lucy hier an Bord ist?“
„Ja, natürlich. Ich meine, als Schwester sollte man über so etwas im Bilde sein, meinen sie nicht?“ fragte sie leicht verwirrt.
„Dann will ich ihnen die Wahrheit erzählen, und es ist besser, sie setzen sich dazu.“
Eher verwirrt als überrascht nahm Mrs Hopkins auf eine Stuhl platz.
„Ihre Schwester wurde ermordet. Es tut mir sehr leid, Mrs Hopkins, aber Lucy Ratchett ist tot.“
Auch in der folgenden Stille veränderte Abigail ihre Miene nicht. Sie ließ den Gedanken durch den Kopf gehen. Lucy ist tot. Kein Neid mehr. Keine Eifersucht mehr. Keine Klagen mehr. Schon oft hatte sie darüber nachgedacht. Und sie war zufrieden, dass endlich jemand die Leiche gefunden hatte. Ein Lächeln zeichnete sich um ihre feinen Lippen ab.
„Haben sie mich verstanden? Ihre Schwester wurde ermordet! Sind sie darüber gar nicht erschrocken? Begreifen sie gar nicht das Ausmaß dessen, was ich ihnen hier erzähle?“
„Ich begreife alles“, antwortete sie ruhig. „Ich kann Lucy nun mal nicht allzu sehr nachtrauern. Meine Tränen sind versiegt, wissen sie? Mit Lucy hatte ich nie viel gemeinsam. Wir sahen uns kaum. Wir sprachen kaum miteinander. Und ihre Lebensweise! So arm, so schlicht! Sie war so ein naives Dummchen. Und jetzt soll ich ihr nachtrauern? Immerhin ein Gutes hatte sie ja. Ich habe mich nie um sie kümmern müssen. Wahrscheinlich liegt es daran, dass sie mir nun nicht fehlt. Oder habe ich mich an Verluste vielleicht schon zu sehr gewöhnt?“
Sie sagte das auf eine seltsam melancholische Weise, blickte Miller nicht in die Augen, sondern auf irgendeinen Punkt neben ihn, etwas, das nicht existierte. Es wirkte, als würde die junge Frau träumen, während sie sprach. Miller bemühte sich, vernünftig auf sie einzusprechen.
„Wovon sprechen sie? Was für Verluste meinen sie?“
„Mein Mann ist gestorben. Das ist noch gar nicht lange her. Und bereits damals habe ich keine Tränen in mir gespürt. Nur eine dumpfe Leere. Und das Gefühl, dass ich es alleine schaffen konnte. Ich werde es alleine schaffen. Ich brauche niemanden. Wissen sie, was? Meine Schwester ist tot. Mein Onkel ist tot. Und das ist mir alles egal. Ich bin unabhängig. Ich brauche niemanden, um weiterzukommen. Ich habe gelernt, auf eigenen Beinen zu stehen, seit mir damals Unrecht angetan wurde.“
„Mrs Hopkins! Woher wissen sie, dass Bruce Ismay tot ist?“
Sie tat, als hätte sie die Frage nicht gehört und ging zurück zum Spiegel. Dort nahm sie wieder das Champagnerglas an sich.
„Ich habe sie etwas gefragt!“
„Weiß das nicht inzwischen jeder? Und was geht es mich an? Ich bin unschuldig. Genau so, wie ich auch damals unschuldig war.“
„Was meinen sie mit damals?“
Jetzt blickte sie Miller zum ersten Mal scharf in die Augen.
„Ich bin vergewaltigt worden. Verletzt. Geschändet. Nennen sie es, wie sie wollen. Ich bin missbraucht worden, weil ich mich zu sehr auf jemanden verlassen habe. Von jemandem, dem ich vertraut habe. Vielleicht verstehen sie nun, weshalb ich auf eigenen Beinen zu stehen gelernt habe. Das musste ich. Und ich habe gelernt, mich zu rächen. Ich habe mich gerächt. Auf meinen Peiniger wartet nun seine bittere Strafe. Er wird dieselbe Qual erleiden wie ich. Unschuldig.“
Wieder lächelte Mrs Hopkins derart intensiv, dass es Miller mehrere Schauer über den Rücken jagte. Diese junge Frau war gefährlich.
„Wer war es? Wer hat sie missbraucht? Und wie haben sie sich gerächt?“
„Was geht sie das an? Es ist meine Angelegenheit, und die bleibt es auch. Lucy war dumm und schwach. Und arm. Sie hätte es nie allein geschafft. Sie hätte sich einen Mann gesucht, der sie nur ausgenutzt hätte. Und mein Onkel? Was kümmert es mich, dass er tot ist? Er hat sich so selten um mich gekümmert. Aber das Geld ist mein, da er keine Kinder hat! Nun bin ich endlich frei. Ungebunden. Unabhängig.“
Damit trank sie das Glas in einem Zug aus. Miller sah ein, dass es keinen Zweck hatte, noch länger in diesem Zimmer zu bleiben. Bevor er aber den Rückweg antrat, blickte er sich noch einmal gründlich um.  Teure Kleider. Schlichte Kleider, die ihren wahren Preis verbargen. Schmuck. Verschiedene Flaschen teurer Weine. Und eine kleine Notiz auf dem Spiegel, mit rotem Lippenstift daran geschrieben und im Halbdunkel des Zimmers kaum zu erkennen. Der Name „Paddy“, zweimal durchgestrichen. Und zuletzt blickte er noch einmal Abigail Hopkins selbst an. Eine labile Frau. So schien es zumindest. Labil, aber entschlossen. Sehr gut gekleidet. Die Augen trüb vom vielen Alkohol, der Teint sanft gepudert. Schlichte Handschuhe an den Händen, elegante Schuhe an den Füßen, denen Miller eben noch einen zweiten Blick schenkte, bevor er dieses Zimmer endgültig verließ.

Keiner sprach an einem Abend auf der Titanic mit so vielen verschiedenen Menschen wie die Liftboys. Patrick Grearson trat sich im Geiste nochmals selbst auf den Fuß. Er selbst hatte schon mehrmals mit Miles Hutchins gesprochen. Vielleicht hatte der Junge wieder eine interessante Information parat über den falschen Ruhm der Titanic, wie Mrs Dobbins es genannt hatte.
Überrascht stellte Grearson fest, dass der Junge, der die altbekannte Fahrstuhltür öffnete, nun ganz und gar nicht Miles Hutchins entsprach. Miles war groß und schlank, dieser hier war klein und plump. Sommersprossen zierten seine Nase.
„Entschuldige, Junge, ist Miles nicht mehr hier? Das hier ist doch sonst sein Fahrstuhl, nicht wahr?“
„Da stimmt, mein Herr“, antwortete der Kleine mit leicht näselnder Stimme. „Eigentlich war unser Wechsel erst für morgen Mittag vorgesehen, aber Miles hat mich gebeten, bereits heute Abend für ihn einzuspringen, da er zu einem wichtigen Treffen wollte.“
„Hat Miles dir gesagt, worum es dabei geht? Mit wem er sich treffen wollte?“
„Nicht die leiseste Ahnung. Miles erzählt mir sowieso nie etwas. Ich weiß aber, dass er runter zum Squashplatz gegangen ist. So leicht kann man Billy Smithers nicht abschütteln“, sagte er mit stolzgeschwellter Brust und grinste.
„Vielleicht kannst du mir auch weiterhelfen. Sagt dir der Ausdruck ´Der falsche Ruhm der Titanic` etwas? Hast du das heute schon einmal gehört?“
Billy dachte nicht einmal nach, bevor er antwortete: „Woher soll ich das denn gehört haben? Hört sich doch ziemlich unsinnig an. Die Titanic hat keinen falschen Ruhm. Sie ist die Königin unter den Schiffen!“
„Ich dachte ja nur, dass vielleicht ein paar Leute, die du heute Abend mitgenommen hast, das schon einmal erwähnt haben. Die Menschen reden doch immer gerne, richtig?“
„Also, ich weiß ja nicht, was sie von mir denken, mein Herr, aber ich bin nicht so einer, der den privaten Unterhaltungen der Passagiere lauscht. Da kann ich ihnen nicht weiterhelfen.“
Bieder. Was für ein biederer Junge. Genau das Gegenteil von Miles, nicht nur vom Aussehen her. Miles ist ein frecher, neugieriger Junge. Hier aber hatte Grearson es mit einem Duckmäuser erster Güte zu tun. Er hob kurz die Hand zum Gruß und sagte:
„Danke, Billy. Ich werde mal sehen, ob ich Miles finden kann.“
„Glauben sie dem aber bloß nichts. Er erzählt immer alles Mögliche weiter, das kann keinem Menschen gut tun!“
Immer noch besser als deine Verschwiegenheit, dachte Grearson grimmig. Während er die Treppen auf das D-Deck hinabstieg, kam ihm ein Gedanke. Womöglich war Miles gerade mit Mrs Ismay verabredet? Er hatte da doch so etwas erwähnt…
Er freute sich schon drauf, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, als er den langen Korridor zum Squashplatz hinabging. Schwungvoll wandte er sich um eine Ecke und prallte in zwei Männer, die in Umarmung gegen die Wand gelehnt standen. Sie küssten sich. Grearson wollte sich angewidert abwenden, als er bemerkte, dass einer der beiden Miles Hutchins war. Überrascht blieb er stehen.
Als Miles den Störenfried erkannte, wich ihm die Farbe aus dem Gesicht. Der andere junge Mann, der mit dem Rücken zu Grearson stand, drehte sich langsam um. Es war einer der Offiziere.
„Was hat das zu bedeuten?“ fragte Grearson scharf.
„Bitte, Mister“, stotterte Miles ängstlich, „sagen sie niemandem ein Wort! Das könnte schlimme Konsequenzen für James haben!“
James, der andere, blickte mehrmals verwirrt zwischen den beiden hin und her. Dann nickte er Miles kurz zu und verschwand Richtung Foyer. Grearson versuchte, den Liftjungen zu beruhigen.
„Hör zu, Miles, es ist mir egal, was ihr hier gemacht habt. Das interessiert mich gar nicht. Ich habe dich aus einem anderen Grund gesucht. Aber – was ist mit Mrs Ismay? Wolltest du nicht mit ihr…?“
„Mister, zwingen sie mich doch nicht, mich ein für alle Mal festzulegen.“ Schon blitzte der Schalk wieder in seinen Augen auf. „Mrs Ismay ist schließlich selbst untreu und behandelt mich wie einen kleinen Flirt, also bin ich ihr ja wohl nicht verpflichtet“, erklärte der Junge mit unschuldigem Blick.
Grearson schlug die Augen gen Decke.
„Was versuche ich überhaupt, all diese neumodischen Beziehungen zu verstehen? Wer war denn der andere eben? Warum könnte das für ihn unangenehm werden?“
„Das war der sechste Offizier, James Moody. Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine solche Affäre seinem Ansehen gut täte.“
„Erstaunlich einsichtig von dir, Miles. Macht von mir aus, was ihr wollt.“ Innerlich schüttelte es Grearson bei diesem Gedanken. „Weshalb ich dich überhaupt suche – Du bekommst doch immer viele Gespräche der Passagiere mit. Hat da vielleicht jemand mal den Ausdruck ´Der falsche Ruhm der Titanic` erwähnt?“
„Mister, sie sind immer wieder für Überraschungen gut. Sie haben mich doch vorher nach dieser Mrs Dobbins gefragt, nicht wahr? Sie hat genau diesen Ausdruck in einem Gespräch mal benutzt. Ich habe aber keine Ahnung, was damit gemeint sein könnte, wenn sie das wissen wollen.“
Enttäuscht seufzte Grearson.
„Nun seien sie nicht gleich deprimiert“, meinte Miles. „Was kann daran schon so wichtig sein? Wenn sie es unbedingt herausfinden wollen, warum fragen sie dann nicht einfach den Mann, mit dem sie darüber gesprochen hat?“ Er zwinkerte frech.
„Wer? Sag schon, mit wem hat sie gesprochen?“
„Sie hat sich mit Mr Andrews unterhalten. Fragen sie mich nicht, was diese Frau mit einem so hohen Tier zu tun hatte.“
Ganz einfach – ihr Mann ist beim Bau der Titanic, beim Stapellauf, ums Leben gekommen und sie suchte den Verantwortlichen, dachte der Geschäftsmann bei sich.
„Miles, du bist hervorragend. Hier!“
Grearson steckte ihm einen Dollar zu.
„Es ist immer wieder gut, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, Mister!“
Er winkte und begab sich wieder ins Foyer. Vielleicht würde er Moody suchen gehen, dachte Grearson. Thomas Andrews lautete der nächste Hinweis. Wenn es stimmte, dass dieser Mensch sich gern in guter Gesellschaft befand, würde man ihn bestimmt noch im Rauchsalon oder im Salon der ersten Klasse antreffen. Er machte sich auf den Weg, obwohl ihm die Beine von der vielen Lauferei schon wehtaten.

Selbstverständlich wanderte der Ingenieur Thomas Andrews noch immer im Salon der ersten Klasse auf und ab, immer auf der Suche nach netten Gesprächen. Diesen Gedanken hatte auch Miller verfolgt und trat an Andrews heran.
„Entschuldigen sie, Mr Andrews, ich muss sie kurz in einer wichtigen internen Angelegenheit sprechen.“
„Sie sind doch Steward, nicht? Was wollen sie von mir?“
„Kommen sie, wir gehen in eine ungestörtere Ecke.“
Das war gar nicht so leicht zu bewerkstelligen. Wenn auch sonst viele Flure des Schiffes wie ausgestorben wirkten, so hatten sich doch alle Nachtschwärmer in den Salons zusammengefunden. Miller führte Andrews in eine etwas ruhigere Ecke hinter einem Paravent.
„Mr Andrews, es ist nur eine kleine Frage, aber als Mitarbeiter an der Titanic können sie mir vielleicht helfen. Es geht um die Kabinenschlüssel.“
„Ja? Was ist mit den Schlüsseln?“
„Nun, ich habe mir sagen lassen, dass es von jedem Schlüssel zwei Exemplare gibt, die Zweitschlüssel sich aber nicht hier an Bord befinden.“
„Das ist korrekt.“
„Was tun sie aber, wenn jemand seinen Schlüssel verliert und sich somit aussperrt? Sie können unmöglich verlangen, den ganzen Weg bis nach New York abzuwarten!“
„Auch das ist richtig. Deswegen gibt es hier an Bord einen Generalschlüssel für alle Kabinen.“
Aha – eine weitere Möglichkeit.
„Ist es möglich, dass sich jemand Unbefugtes Zugang zu diesem Generalschlüssel verschafft hat?“
„Nein. Das ist absolut ausgeschlossen. Er befindet sich in einem versteckten Safe, dessen Kombination nur Kapitän Smith und ich kennen.“
Ausgeschlossen, dass Smith oder Andrews der Mörder ist, dachte Miller resignierend.
„Ich muss sie dann vielleicht anders fragen. Ganz direkt: Ist es möglich, dass sich jemand Zutritt in Bruce Ismays Kabine verschafft hat?“
„Zutritt kann sich nur verschaffen, wer den Schlüssel hat. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Mr Ismay seinen aus der Hand gegeben hätte.“
Außer vielleicht einer reizenden jungen Frau.
„Ismay hatte den Schlüssel aber bei sich“, murmelte der Steward beiläufig.
„Dann war niemand in seiner Kabine“, sagte Andrews. „Und nun entschuldigen sie mich, ich muss mit Mrs Whitehall sprechen.“
Dann war niemand in seiner Kabine. Das ist unmöglich! Es gab nur eine Erklärung, und die bedurfte noch einiger Ausarbeitung. In jedem Fall war an diesem Abend einiger Betrieb in Ismays Kabine gewesen. Zumindest zwei verschiedene Personen waren außer Ismay darin, eine weitere hat durch das Schlüsselloch spioniert. Vermutlich war der Mörder, der sich einen dritten Schlüssel hatte anfertigen lassen, unachtsam gewesen und hat Ismays Kabine nicht abgeschlossen, sondern den Schlüssel sogar stecken lassen. Wer auch immer Ismay dann aus dem Zimmer geschleppt hat, hat abgeschlossen und den Schlüssel in Ismays Tasche gelegt, um die Verwirrung nur noch zu vergrößern. Das heißt, dass der Schlüssel in Ismays Tasche nicht sein eigener war, sondern der des Mörders. Aber wer war so raffiniert, sich einen eigenen Schlüssel nachzumachen – wer hatte diesen Abend so haargenau vorbereitet, sozusagen jedes Detail vorausgesehen?

Stille. Das ganze Krankenzimmer war von Stille erfüllt. Kein Windhauch, kein Atmen. Es war alles weiß und ruhig. Mrs Dobbins hatte die Augen geschlossen. Miller trat neben sie. Ruhe. Die weiße Bettdecke. Kein Atmen. Still und weiß, bis auf zwei kleine, ovalförmige rote Flecken unter den Nasenlöchern. Das Blut war verkrustet, Mrs Dobbins mittlerweile schon tot. Sie lag friedlich in dem Bett, keine Anzeichen eines gewaltsamen Todes. Der Mörder hatte ihr vermutlich eine tödliche Injektion verabreicht und sie weiterschlafen lassen. Ihre Geheimnisse hatte sie jetzt für immer mit ins Grab genommen.
Es handelte sich mit Sicherheit um den gleichen Täter, der auch Ismay getötet hatte. Er hatte auf seltsame Weise Zugang zu allen Räumen dieses Schiffes. Er hatte auf Mrs Dobbins geschossen – und als er merkte, dass die Kugel ihre Wirkung verfehlt hatte – vielmehr, dass er daneben geschossen hatte, musste er ein wirkungsvolleres Mittel finden, die alte Dame, die ihn beobachtet hatte, zum Schweigen zu bringen.
Bei weiterem Nachdenken entschied Miller, dass die Person, die den Schuss abgegeben hat und der tatsächliche Mörder nicht ein und dieselbe Person waren. Das war physikalisch unmöglich. Zumindest, wenn Millers Theorie stimmte. Leider hatte er dafür noch keine Beweise.
„Was ist schon ein Mann ohne Schultern?“
Die Frage hatte der Steward an Mrs Dobbins gerichtet, in der irren Hoffnung, sie würde ihm eine letzte Antwort geben. Doch es blieb still im Zimmer. Still und weiß. Wer war der Mann ohne Schultern? Handelte es sich bei ihm um den Mörder, hat sie deshalb keinen Namen nennen wollen? Er würde niemals auf die Lösung kommen, wenn er sich an diesem Satz festkrallte. Stattdessen erinnerte Miller sich an die andere Aussage der Hausfrau.
„Finden sie das Auge!“
Um welches Auge ging es? Ein Glasauge? Oder ein Bullauge? Nein, ein Bullauge hätte die Frau nur schwerlich verstecken können. Es müsste sich um einen beweglichen Gegenstand handeln. Vielleicht hatte jemand Mrs Dobbins beobachtet – vielleicht hatte sie ein auffälliges Verhalten an den Tag gelegt. Miller schaltete das Licht im Zimmer aus und schloss die Tür. Gedankenverloren ging er ins Foyer des C-Decks.
„Mr Miller! Kommen sie doch mal eben zu mir, mir ist da noch etwas eingefallen!“
McElroy, der Zahlmeister, winkte den Steward zu sich.
„Was gibt es denn?“
„Sie haben doch heute nach dieser Frau im weißen Kittel gefragt. Ich erinnere mich, warum sie hier war. Normalerweise fragt man sich ja, was die Menschen vom F-Deck hier so treiben. Sie hatte mich gefragt, welches Bruce Ismays Kabine ist.“
„Richtig. Aber das haben sie mir schon einmal erzählt, McElroy.“
„Nun warten sie es doch erst einmal ab. Ich habe mich da mit den Zeiten ein wenig vertan. Das muss so gegen kurz vor sieben Uhr gewesen sein. Aber danach war sie noch einmal bei mir. Gegen zwanzig Minuten nach sieben kam sie hier an, hatte irgendetwas in einem Beutel und wollte wissen, wie sie zu den Kesselräumen kommt.“
„Die Kesselräume!“
„Genau das habe ich mir auch gedacht. Was um alles in der Welt will diese Frau bei den Kesselräumen? Sie sagte nur, sie sei befugt, weil ihr Mann Arbeiter ist. Ich wusste ja nicht, ob das die Wahrheit war, also habe ich ihr einfach den Weg beschrieben. Mir war es ziemlich egal, was diese Frau so alles treibt.“
„Und Mrs Dobbins ist dann hinunter gegangen?“
„Ich vermute es. Jedenfalls konnte ich deutliche Flecken auf ihrem Kittel erkennen, als sie zwanzig Minuten später wieder hier vorbeikam und erneut in Richtung von Ismays Kabine ging.“
„Meine Güte, da hatte die Frau scheinbar ganz schön zu tun.“
„Na ja. Sei es, wie es will – ich habe ihnen gesagt, was ich weiß. Bis bald!“
Miller ging zu den Hintertreppen. Mrs Dobbins hat etwas beobachtet. Und etwas aus Ismays Zimmer versteckt. Das Auge vermutlich. Sie ist in die Kesselräume hinunter und war zwanzig Minuten später wieder bei Ismays Kabine, so dass Stevens das Foto von ihr machen konnte. Das Foto war so unscharf – natürlich konnte man da keine Flecken auf der Kleidung erkennen. Und dann musste Mrs Dobbins noch mehr Interessantes beobachtet haben. Vielleicht konnte Mr Grearson dazu Genaueres in Erfahrung bringen. Aber wie hatte Mrs Dobbins es so schnell geschafft, zu den Kesselräumen zu gelangen, dort etwas zu verstecken und wieder zurückzukommen? Sie war auch nicht mehr die Jüngste und allein der Weg runter und wieder hinauf auf das C-Deck dauerte eine gute Viertelstunde.

Immer wieder hatte er überlegt, ob er Claris die Wahrheit erzählen sollte. Patrick Grearson war wie ein Besessener den Korridor des D-Decks auf und ab gegangen. Schließlich trat er an ihre Kabine. Überrascht bemerkte er, dass das Schloss aufgebrochen war. Er drückte die Tür nach innen auf. Das Zimmer war leergeräumt. Offensichtlich bewohnten die Hiltons diese Kabine nicht mehr. Nur die schiffseigenen Möbel füllten den ansonsten kahlen Raum. Grearson nahm sich vor, beim Zahlmeister die aktuelle Lage und den Grund für den Umzug zu erfragen. Scheinbar war hier nichts mehr zu erreichen. Er wollte gerade gehen, als sein Blick nochmals auf das gesplitterte Holz fiel. Dann tippte er sich gegen die Stirn.
„Natürlich! Die Tür! Ich weiß, wer Mr Ismay ermordet hat!“ rief er mit weitaufgerissenen Augen in das Zimmer, so dass seine Stimme von den kahlen Wänden widerhallte.

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