23:15 Uhr
Jack
Phillips war eingetreten. Einer der Funker der Titanic. Als er von Miller
begrüßt wurde, prallte er zunächst ein Stück zurück.
„Was machen
sie denn hier?“ fragte er ungehalten.
„Ich könnte
sie wohl dasselbe fragen, Mr Phillips. Das heißt, eigentlich weiß ich ja, was
sie hier vorhatten. Nur leider wird daraus nichts. Miss Ratchett wird nicht
kommen.“
„Woher
wissen sie von ihr? Hat sie etwa geplaudert?“
Nervös ging
Phillips zum elektrischen Pferd und lehnte sich dagegen.
„Sie dürfen
beruhigt sein. Sie hat sie nicht verraten. Und das wird sie auch nicht mehr
tun. Sie ist tot. Ermordet in ihrem eigenen Zimmer.“ Nach einer Pause fragte
Miller ungewöhnlich stechend: „Ich hoffe, sie sind die ganze Zeit ihren
Aufgaben nachgegangen, Mr Phillips?“
Der Funker
blickte gegen die Wand. Leere, ausdruckslose Augen spiegelten Entsetzen wieder.
Doch trotz aller Verwirrung bemühte er sich, gelassen zu wirken.
„Wieso
fragen sie mich das? Natürlich habe ich das getan. Das ist mein Beruf, wissen
sie?“
„Es ehrt
sie, dass sie ihrer Arbeit so verbunden sind, aber ich sehe sie jetzt zum
Beispiel nicht im Funkraum. Wie kommt das? Sie sollten doch dort bereit sitzen
und Nachrichten empfangen, richtig?“
„Wozu habe
ich Mitarbeiter? Bride kümmert sich um den Laden. Warum wollen sie das
überhaupt wissen?“
„Sehr
einfach. Ich bezweifle, dass Mr Bride jetzt im Funkraum ist. Er ist bereits in
seinem Bett. Der gute Junge hatte den Schlaf dringend nötig, das wissen sie
genauso gut wie ich. Und genau in diesem Moment verletzen sie nun also ihre
Pflichten. Also haben sie das vielleicht auch schon vorher getan. Es geht mir
ganz einfach darum, herauszufinden, ob sie ein Alibi für die Tatzeit haben.“
Miller spürte geradewegs, wie das Glatteis unter ihm krachte und Risse bekam.
Er hatte nicht die geringste Idee, auf wann man die Tatzeit festlegen konnte.
Er hoffte nur, etwas mehr über Ms Ratchett mit Phillips´ Hilfe erfahren zu
können.
„Ich habe
nichts getan. Und ich sehe nicht ein, warum ich ihnen überhaupt etwas erzählen
sollte.“
„Das ist
ganz einfach. In Miss Ratchetts Zimmer wurde eine Notiz gefunden. Eine Notiz
von ihnen.“ Miller holte den Zettel hervor, entfaltete ihn und las ihn zur
Erinnerung noch einmal vor. Phillips´ Blick versteinerte.
„So, Mr
Phillips, und nun sehen sie vielleicht auch selbst ein, dass es besser wäre,
wenn sie mir schilderten, was es da für eine Beziehung zwischen ihnen und Miss
Ratchett gab.“
Der Funker
seufzte tief.
„Ich habe
Lucy vor zwei Tagen zum ersten Mal getroffen. Zwischen uns gab es keine
richtige Beziehung. Sie war ein leichtes Mädchen. So nennt man sie doch, oder? Ich
habe keine Freundin, aber vielleicht können sie sich vorstellen, dass mir ein
wenig Leidenschaft fehlt, wenn ich auf See bin. Und Lucy hat mir angeboten, ein
paar schöne Stunden mit mir zu verbringen.“
„Und das
Angebot haben sie angenommen?“
„Ich konnte
nicht Nein sagen. Es war dann auch wirklich schön. Ich wollte sie wieder
treffen und habe ihr den Brief geschrieben.“
„Also war
Miss Ratchett für sie nichts weiter als eine knisternde Affäre? Wissen sie denn
sonst nichts über das Mädchen? Ich meine, sie hätte krank sein können und sie
wissen nichts davon!“
„Bleiben
sie ruhig. Denken sie nicht, ich hätte an meine Sicherheit gedacht? Ich habe
mit ihr gesprochen. Warum sie an Bord ist und so weiter.“
„Mr
Phillips, ihnen mag nicht klar sein, warum, aber ich muss das alles wissen. Was
hat Ms Ratchett ihnen über sich erzählt?“
„Ihr Name
war Lucinda Maria Ratchett. Sie war Kindermädchen bei einer Familie, da hat sie
nicht mehr zu gesagt. Ihre Eltern seien verstorben, aber sie hat noch eine
Schwester. Deren Name ist Abigail Hopkins.“ Jetzt war Millers Interesse
geweckt. „Sie heißt nicht Ratchett, weil sie bereits geheiratet hat. Ihr Mann
ist aber bei einem Unfall ums Leben gekommen. Ich fragte Lucy, warum sie mir
das alles erzählte. Sie war ein wenig enttäuscht von ihrer Schwester, meinte
sie. Abigail hat immer Geld und schöne Kleider, sagte sie. Und dabei hätte sie
das gar nicht verdient, weil sie nichts dafür tut und immer ihren Onkel um
Taschengeld anbettelt. Um wen es sich da handelt, weiß ich nicht“, sagte Phillips.
Millers
Stirn zog sich in Falten. Bruce Ismay.
„Ich war
mir nicht sehr sicher, aber Lucy hat ihre Schwester ziemlich genau beschrieben.
Ich hätte schwören können, ich habe sie gestern Abend in der Nähe des Funkraums
gesehen. Aber das ist ja auch egal. Lucy hat erzählt, dass sie zusammen mit
dieser Familie, für die sie arbeitet, nach Amerika geht. Eine längere Zeit
wollte sie dort verbringen. Aber nun ist sie tot…“
Phillips
blickte wieder mit leeren Augen an die Wand. Miller sagte nichts. Abigail Hopkins
war ein Hinweis. Eine Spur, die man vielleicht verfolgen sollte. Wenn sie nicht
selbst in die Angelegenheit verstrickt war, dann konnte sie zumindest etwas
über ihre Schwester erzählen.
„Der
Funkraum ruft, Mr Phillips“, sagte Miller ernst. „Sie haben eine Aufgabe zu
erfüllen. Denken sie daran, dass auf ihren Schultern eine Verantwortung lastet.
Die Titanic kann nur funktionieren, wenn jeder seinen Teil dazu tut. Ich werde
mich wieder unter Deck begeben. Ich will nur für sie hoffen, dass ich keine
Hinweise finde, die ihre Aussage irgendwie in Frage stellen könnten.“
Phillips
besann sich wieder und sagte auf seine abweisende Art: „Lassen sie mich meine
Arbeit tun und kümmern sie sich um ihre. Vom Funken haben sie sowieso keine
Ahnung. Ich sage ihnen nur, dass ich nichts mit der ganzen Angelegenheit zu tun
haben sollte. Ich war froh, dass ein Mädchen wie Lucy hier an Bord war. Warum
hätte ich sie töten sollen?“
Der Funker
verließ, ohne sich noch einmal umzudrehen, die Turnhalle. Miller beschloss,
Patrick Grearson ausfindig zu machen. Das wichtige Detail der Tatzeit durfte
nicht ungeklärt bleiben.
„Das ist
eine ganz einfache Frage, Mutter. Warum?“
Diana
Hilton saß auf ihrem Bett und wischte sich mit einem Taschentuch Tränenspuren
aus dem Gesicht. Es war ein altmodisches Taschentuch mit einem eingestickten L.
Misstrauisch blickte Claris auf das Stück Stoff. Ihre eigenen Tränen waren
längst versiegt. Nun war sie auf der Seite des Rechts, nun hatte sie die
Oberhand über ihre Mutter.
„Claris, du
verstehst das doch sowieso nicht.“
„Das hast
du mir schon viel zu oft gesagt. Ich verstehe es aber ganz gut! Bruce Ismay war
mein Vater und nun ist er tot. Mama, bitte sag mir, dass du es nicht gewesen
bist! Wenigstens einmal musst du unschuldig sein!“
„Kind,
natürlich bin ich unschuldig. Warum sollte ich deinen Vater umbringen?“
„Vielleicht,
damit ich nicht hinter die Wahrheit komme? Vielleicht, damit Stansfield keine
Schwierigkeiten bekommt? Was weiß ich? Wobei, es dürfte sich wohl eher um
unseren ach so unbescholtenen Anwalt drehen, denn offensichtlich hast du dich
um mich stets einen Dreck gekümmert. Hast mir meinen Vater vorenthalten um
deines eigenen Vorteils Willen, hast mich meiner Heimat und meinem Geliebten
entrissen, damit du Nutzen daraus ziehen kannst.“
Wie ein trotziges
Kind verschränkte Claris die Arme und drehte ihrer Mutter den Rücken zu. Diese
legte eine Hand auf die Schulter ihrer Tochter.
„Das ist
nicht wahr, Claris. Ich bekenne mich schuldig, dass ich mehr an mich gedacht
habe, als ich diese Reise in Erwägung gezogen habe. Es tut mir so sehr Leid!
Wenn du willst, können wir sofort wieder zurückreisen. Du musst nicht jemanden
heiraten, den du nicht magst.“
„Und nun
also der plötzliche Sinneswandel, um mit der Tochter alles ins Reine zu
bekommen, wie? Nein. Ich bleibe in Amerika, wenn wir erst einmal dort sind.
Aber glaube nicht, dass ich diesen eingebildeten Schnösel zu Mann haben will.
David ist hier an Bord. Ich habe mit ihm gesprochen. Er ist hier, und wenn wir
erst in New York angekommen sind, dann werden wir heiraten. Und weder du noch
sonst irgendjemand wird uns daran hindern!“
Diana
Hilton schwieg. Einige Minuten herrschte Stille in Kabine D-12. Nur das
Vorbeihuschen einiger Schritte auf dem Flur war zu hören, da das Schloss der
Tür noch immer zerstört war.
„Es soll
dir gut gehen, Claris. Das ist mir das Wichtigste. Du darfst nicht weiter nach
deinem Vater fragen. Es würde mich zerbrechen, wenn du die ganze Wahrheit
wüsstest. Akzeptiere es, dass dein Vater Bruce Ismay war. Ich glaube nicht,
dass er dich erkannt hätte. Nein, dazu bist du zu groß und zu hübsch geworden.“
Wieder nahm
sie das Taschentuch zur Hand. Claris nahm es ihr weg und betrachtete es
genauer.
„Woher hast
du diese Taschentücher mit dem Monogramm, Mama?“
Für einige
Momente flimmerten rasante Erinnerungen vor dem Auge Dianas auf. Die Abschiedsszene
von Bruce, die vielen Tränen, das Verständnis, der Kuss, die Umarmung. Das
Kind, das er ihr übergab. Eingehüllt in die feinsten Windeln. In dem kleinen
Körbchen mit einem kleinen Stapel Taschentücher, altmodisch, mit einem
eingestickten blauen L. Ein Kennzeichen. Eine Erinnerung an die Vergangenheit.
An die Wahrheit.
„Bruce hat
sie mir geschenkt“, antwortete Diana kurz. Sie konnte ihrer Tochter nicht die
volle Wahrheit erklären.
„Ich werde
es herausfinden, wenn du mir nichts sagen willst, Mutter. Ich werde die
Wahrheit finden. Vielleicht werde ich dich dann auch verstehen können. In
diesem Moment kann ich es jedenfalls nicht. Geh ins Bett, Mutter. Ich werde
mich mit David treffen.“
„Ich will,
dass du es gut hast, Kind. Ihr beide sollt meinen Segen haben, wenn er denn
wirklich der richtige Mann in deinem Leben ist. Ich kann das zwar nicht
glauben, so sehr ich auch möchte, aber schließlich ist es nicht meine
Entscheidung. Deine Zukunft liegt in deinen eigenen Händen. Mache etwas
Sinnvolles daraus!“
„Ich werde
es schaffen. Selbst, wenn wir dann nicht das viele Geld haben werden, dass uns
dein Traum von Schwiegersohn versprochen hat. Wir werden unseren Weg ehrlich
erkämpfen. Was ist erkaufter Ruhm schon wert? Denk darüber mal nach, liebe
Mutter!“
Diana sah
ihrer Tochter hinterher, die die Kabine verließ. Gut, dachte sie, dass Bruce
tot ist. Wenigstens kann Claris jetzt die Vergangenheit ruhen lassen.
„Was wir
noch gar nicht erörtert haben, ist die genaue Tatzeit, Mr Grearson.“
„Miller,
sie haben Recht. Dieser Gedanke ist mir auch schon durch den Kopf gegangen.“
Die beiden
Herren setzten sich an einen ungestörten Tisch im Café Parisian. Nur zwei junge
Pärchen befanden sich in dem großen Raum, ansonsten zeigte auch er die
Anzeichen eines späten Abends.
„Wann genau
haben sie ihre Zimmertür geöffnet, so dass der Tote hineingefallen ist?“
„Ich bin
mir ganz sicher. Das war um zwanzig Minuten nach acht. Da wollte ich mein
Zimmer nämlich wieder verlassen, um zum Empfang durch Captain Smith zu gehen.“
„Richtig,
sie hatten ja diesen Anfall von Seekrankheit. Können sie sich erinnern, wann
sie sich zu Bett begeben hatten?“
„Es muss um
viertel nach sieben gewesen sein. Etwas früher ist auch möglich.“
„Damit
haben wir zumindest den Rahmen. Na ja, er wurde jedenfalls zwischen 19.15 Uhr
und 20.20 Uhr an ihre Tür gelehnt und mit Sicherheit war er um zwanzig nach
acht bereits tot. Aber es kann um einiges früher geschehen sein. Er kann auch
um sechs Uhr ermordet worden sein, oder noch früher.“
„Ich glaube
das nicht. Denken sie an Mrs Dobbins! Sie muss etwas Wichtiges beobachtet
haben, sie erzählte mir von einer Frau mit einem Dolch, die sich in seinem
Zimmer aufgehalten hätte.“
„Der Dolch
von Miss Lockett vermutlich. Was hatte dieser Fotograf noch gesagt? Wann hatte
er das Bild von Mrs Dobbins gemacht?“
„Gegen halb
acht, wenn ich nicht irre.“
„Ich denke,
um überhaupt einen Anhaltspunkt zu haben, sollten wir die Ereignisse zwischen
sieben und acht Uhr abends festlegen. Irgendwann in diesem Zeitraum wurde Ismay
ermordet und später an ihr Zimmer geschleppt.“ Miller machte sich eine
gedankliche Notiz und trank einen Schluck Tee. Dann fuhr er fort: „Was mich
aber viel mehr interessiert, Mr Grearson, ist Ismays Kabine. Ich habe mich dort
noch gar nicht umgesehen, womöglich ist sie der Tatort. Sind sie bereits auf
die Idee gekommen, einen Blick dort hinein zu werfen?“
„Allerdings!
Aber ich bezweifle doch stark, dass Ismay in seinem Zimmer umgebracht wurde. Es
sind überhaupt keine Spuren zu finden.“
„Bitte
beschreiben sie mir die Kabine ganz genau, ich muss jedes Detail wissen.“
Patrick
Grearson bemühte sich, das genaue Bild der Kabine zu beschreiben, mit dem
großen Bett, den beiden Spiegeln und dem Teppich. Hin und wieder hielt er inne
und trank seinerseits etwas Kaffee und korrigierte daraufhin seine Beschreibung
ein paar Male. Schließlich hatte er eine recht exakte Schilderung des Zimmers
abgegeben. Miller überlegte ein wenig länger.
„Diese
Abdrücke im Teppich finde ich interessant. Wenn sie tatsächlich vom Bett zur
Tür führen, dann wäre es möglich, dass jemand etwas Schweres vom Bett zur Tür
getragen hat. Und bei der Form der Abdrücke vermutlich…“
„Wollen sie
etwa sagen, dass eine Frau Ismay vom Bett zur Tür und dann zu meiner Kabine geschleppt
hat?“
„Geschleppt
ist der richtige Ausdruck, Mr Grearson. Es muss sehr anstrengend für die junge
Frau gewesen sein.“
„Wie kommen
sie denn darauf, dass es sich um eine junge Frau handelt? Ich meine, denken sie
nur an Mrs Dobbins! Die ist alt und kräftig genug, um Ismay ohne Probleme aus
dem Zimmer zu befördern.“
Miller
lächelte.
„Das ist
natürlich richtig, aber bedenken sie doch nur die Form der Schuhabdrücke. Wenn
die Vertiefungen, wie sie selbst sagten, so klein sind, konnte es sich um
sogenannte Pfennigabsätze an den Schuhen handeln. Damenschuhe mit erhöhter
Hacke, deren Absatz sehr schlank zuläuft. Dies ist eher eine Mode der jüngeren
Generation, die besonders bei attraktiven Männern Eindruck machen möchte. Und
nun stellen sie sich vor, wie schwer es sein muss, auf hochhackigen Schuhen
eine Leiche aus einem Zimmer zu tragen, ohne dabei umzuknicken. Ich bin ganz
sicher, dass die Abdrücke daher rühren.“
„Und es
passt sogar“, sagte Grearson nach kurzer Überlegung. „Mrs Dobbins hatte ja
gesagt, dass sie eine Frau mit einem knielangen Rock im Zimmer gesehen hätte.
Knielange Röcke werden auch eher von den jüngeren Damen getragen.“
„Sehen sie?
Das bringt uns doch schon einen großen Schritt weiter. Nun müssen sie mir
unbedingt eine Frage beantworten. Erinnern sie sich bitte genau. Sie sprachen
davon, dass das Bett sehr luxuriös gewesen sei. Lagen dort viele Kopfkissen
oder nur eines auf jeder Seite? Wenn es nur eines war, war es eher klein oder
groß?“
„Ich
verstehe nicht, wie diese Frage einen Sinn für sie ergeben kann, Miller!“
„Ich
versuche, herauszufinden, ob Ismay auf seinem Bett ermordet wurde oder nicht.
Zumindest steht fest, dass sich die Leiche, bevor sie hinausgeschleppt wurde,
auf dem Bett befand.“
„Aber er
wurde bestimmt nicht auf dem Bett umgebracht. Es gab keine Spuren, in seinem
ganzen Zimmer nicht!“
„Und sie
halten es demnach für wahrscheinlicher, dass Ismay außerhalb seiner Kabine
umgebracht wurde, die Leiche dann hineingetragen und anschließend wieder
herausgebracht wurde?“
„Wenn mir
wirklich jemand damit einen Schreck verpassen wollte, dass er die Leiche an
meine Zimmertür stellt, ist das schon möglich. Stellen sie sich nur vor, Ismay
wurde ermordet, bevor ich mich in mein Zimmer begeben hatte. In diesem Fall
durfte die Leiche nicht gleich an mein Zimmer gestellt werden. Der Täter musste
warten, bis ich mein Zimmer betreten hatte, um den Toten danach zu mir zu
bringen.“
„Ein sehr
guter Gedankengang, den sie da verfolgen, Mr Grearson, aber ich halte es für
unwahrscheinlich. Denken sie an die Schuhabdrücke! Sie sagte, es waren nicht
sehr viele und sie waren in einem regelmäßigen Abstand. Wenn der Täter die
Leiche zuerst in das Zimmer reingetragen hätte, um sie dort aufzubewahren, dann
hätten sich schließlich auch Abdrücke von dem Weg zum Bett hin im Teppich
befinden müssen. Ich würde das ausschließen und frage noch mal: Wie war die
Beschaffenheit der Kopfkissen?“
„Auch wenn
mir ihre Zusammenhänge völlig unklar sind, kann ich ihnen das gerne sagen. Es
lagen übertrieben viele Kopfkissen auf dem Bett. Der reinste Pomp, wenn sie
mich fragen. Da konnte man schon gar nicht mehr drin liegen, da hat man
bestimmt drin gesessen.“
Miller
lächelte.
„Ein
interessanter Gedanke.“
Der
Geschäftsmann an seiner Seite schaute wieder verwirrt, doch der Steward winkte
ab.
„Das war
schon viel wert, Mr Grearson. Danke für die Information. Und immerhin haben wir
uns auf die ungefähre Tatzeit einigen können, das ist schon ein Schritt in die
richtige Richtung. Ich werde jetzt mal mit Mr Morrison reden müssen. Ich hoffe,
er kann mir Weiteres über Miss Ratchett erzählen.“
„Wo ich sie
gerade hier habe: Können sie mir sagen, was mit dem falschen Ruhm der Titanic
gemeint ist? Mrs Dobbins hatte das erwähnt, aber ich verstehe es überhaupt
nicht.“
„Mrs
Dobbins – richtig, zu ihr muss ich auch noch einmal gehen. Mir hat sie ein
ähnlich seltsames Rätsel aufgegeben, ich komme einfach nicht dahinter. Nein,
ich weiß nicht, was der falsche Ruhm der Titanic ist. Das ist ein Ausdruck,
über den sie wohl von der Crew nicht viel werden erfahren können. Vielleicht
können ihnen die Arbeiter in den Kesselräumen etwas sagen. Oder sie probieren
es mal bei den Liftjungen. Sie hören den ganzen Abend lang so viel Klatsch und
Tratsch, vielleicht ist denen schon einmal jemand aufgefallen, der diesen
Ausdruck erwähnt hat.“
Grearson
schlug sich vors Gesicht.
„Der
Liftboy! Dass ich da nicht gleich drauf gekommen bin – der kann mir bestimmt
helfen. Für einen Dollar hat er immer die besten News parat. Ich werde ihn
gleich aufsuchen.“
„Dann ist
ja alles in Ordnung. Wir können uns wieder auf die Suche begeben. Wir treffen
uns bestimmt bald wieder. Bis dann!“ verabschiedete sich Miller und ließ
Grearson mit einigen Verwirrungen, einigen Vorahnungen und zwei Tassen, einer
mit Kaffee und einer mit Tee, zurück.
Er klopfte.
„Mr
Morrison? Mein Name ist Miller, ich bin Steward. Wir haben uns vor kurzem im
Zimmer von Lucy Ratchett gesehen. Ich muss mit ihnen reden!“
„Herein“,
antwortete die Stimme von innen. David Morrison hatte den Korridor des D-Decks
schnell verlassen, um nicht aufzufallen. Schließlich musste der Lärm der
berstenden Zimmertür doch irgendjemanden aufmerksam gemacht haben. Da Claris
offensichtlich eigene Pläne hatte, war er wieder in sein eigenes Zimmer
zurückgekehrt.
Miller
öffnete die Tür und trat ein.
„Guten
Abend, Mr Morrison.“
„Hallo.“
Morrison
saß im Schneidersitz auf dem Boden und hielt sich die Finger an die Schläfen.
Offensichtlich hatte er meditiert.
„Ich hoffe,
Murdoch hat sie nicht zu sehr ausgefragt und beschuldigt?“ fragte Miller
teilnahmsvoll.
Morrison
seufzte. „Wie man es nimmt. Natürlich war ich für ihn gleich ohne Zweifel der
Mörder, schließlich wurde ihr ja der Ring geklaut, und da ich ihn sowieso haben
wollte, warum sollte ich sie da nicht gleich auch töten? Aber was interessiert
mich das, er hat überhaupt keine Beweise gegen mich in der Hand.“
„Jetzt
bitte ganz langsam. Ich möchte mit ihnen über Miss Ratchett sprechen. Natürlich
auch über den Ring. Ich glaube, sie sind unschuldig, aber wer auch immer der
Täter ist, musste in irgendeiner Verbindung zu Miss Ratchett gestanden haben
und aus welchem Grund auch immer an dem Ring interessiert sein.“
Zum ersten
Mal blickte Morrison auf.
„Dann
setzen sie sich. Das wird nicht allzu einfach. Und der Zufall wird eine große
Rolle spielen.“
„Dann
erzählen sie bitte.“
„Vielleicht
haben sie schon erfahren, dass Lucy neben ihrer Arbeit als Kindermädchen auch
noch anderen Aktivitäten nachging. Sie hatte ein Zimmer in der Stadt, obwohl
sie bei ihren Arbeitgebern hätte unterkommen können. Dieses Zimmer diente als
Ort für ihre kleinen Geschäfte.“
„Geschäfte?“
„Sie war
als leichtes Mädchen tätig. Keine Hure im verkommenen Sinn, weiß Gott nicht!
Sie war anständig. Aber sie war auch sehr arm und tat viel für ein wenig mehr
Geld. In diesem Zimmer empfing sie ihre Kunden. So auch mich damals. Es war für
mich nichts Besonderes, aber Lucy schien den irren Gedanken zu formen, dass ich
mich in sie verliebt haben könnte. Sie verliebte sich in mich. Sie wollte mich
ein weiteres Mal sehen.“
„Und sind
sie wieder zu ihr gegangen?“
„Ja. Ich
hätte es besser nicht tun sollen. Sie gab mir einen Ring, er sah sehr wertvoll
aus, und sie sagte, dass sie mich von ganzem Herzen liebte. Ich konnte ihr
nicht die Wahrheit sagen, ich glaubte damals, dass ich sie zu sehr verletzen
würde.“
„Denken sie
nicht, dass sie sie noch mehr verletzt haben, indem sie sie in dem Glauben
zurückgelassen haben, dass sie eines Tages mit ihnen zusammenleben könnte?“
Morrison
schüttelte den Kopf.
„Ich weiß,
was sie jetzt sagen wollen, ich kenne den Spruch. Lieber ein Ende mit Schrecken
als ein Schrecken ohne Ende. Aber ich wollte ihr damals nicht wehtun, sie
schien mir so schüchtern und so zerbrechlich zu sein.“
„Schüchtern?
Als leichtes Mädchen?“
„Sie dürfen
nicht glauben, dass Lucy allzu viel Spaß an diesen Bettgeschichten hatte. Mir
sagte sie, dass es oft nur ums Geld ginge und sie froh wäre, wenn sie endlich
unabhängig leben könnte. Ich habe bis heute diesen Ring behalten, den Lucy mir
damals gab. Als Erinnerung zunächst, später nur noch als einfaches Schmuckstück.
Aber heute Abend habe ich ihn beim Glücksspiel verloren. Sie sollten wissen,
dass ich ein leidenschaftlicher Spieler bin. Es gibt nicht viele Leute, die das
gutheißen können. Deswegen wurde mir auch meine Geliebte weggenommen. Ihre
Mutter hielt mich damals für allzu locker in meiner Lebensweise. Aber was
erzähle ich ihnen das“, sagte Morrison und stand auf. Während er in einem
Schränkchen nach einer Flasche Whisky suchte, fuhr er fort: „Es geht ihnen
natürlich um Lucy und den Ring. Der Ring, den sie mir damals geschenkt hatte,
war ein nachgemachtes Stück. Das Original hatte sie selbst behalten. Sie hat es
einst von ihrer Arbeitgeberin, Mrs Borebank, geschenkt bekommen. Und dieser
Ring ist ihr nun gestohlen worden, kurz bevor ich ihn mir selbst abholen konnte.“
„Selbst
abholen? Wovon reden sie?“
„Tja, hier
kommt mal wieder der Zufall ins Spiel. Mrs Borebank hat mich peinlicherweise
beobachtet, als ich aufgrund einer dummen Unachtsamkeit meinen eigenen Ring im
Rauchsalon beim Kartenspiel verlor. Sie warf einen Blick auf das Stück und
meinte, dass es eine Fälschung sei, und sie sagte mir, dass ich gerne gegen
halb elf zu Lucy gehen dürfte, um mir das Original zu holen. Sie würde es dem
Mädchen schon ersetzen. Sie hielt es für Recht, weil sie selbst ihr den Ring ja
geschenkt hatte.“
„Und, waren
sie bei ihr?“
„Nein. Ich
wollte ein wenig später hingehen, um sie auch wirklich anzutreffen. Wer weiß,
wen sie heute wieder bezirzt hat? Da konnte es schon etwas später werden,
meinen sie nicht?“
„Leider
bringt sie gerade diese Umsichtigkeit in eine schwierige Lage. Haben sie ein
Alibi für die Zeit vor halb elf? Falls nicht, sieht es schlecht für sie aus.
Die Leiche wurde um 22.40 Uhr gefunden. Da könnte es doch sein, dass sie zehn
Minuten vorher hinabgestiegen sind und sie ermordet haben.“
Morrison
wollte widersprechen, aber Miller kam ihm zuvor.
„Ich weiß.
Das ist natürlich Unsinn. Wenn ihnen der Ring sowieso versprochen war, warum
hätten sie das Mädchen ermorden sollen? Und genau deswegen glaube ich nicht,
dass sie der Mörder sind.“
„Wenigstens
einer auf meiner Seite“, seufzte Morrison. „Ich kann ihnen wirklich nicht mehr
erzählen, nicht einmal zu meiner Verteidigung. Was sie vielleicht noch
interessieren könnte – na ja, es könnte ein wenig unangenehm für den Beteiligten
werden…“
„Sprechen
sie, Mann. Es geht hier um Mord, viel unangenehmer geht es doch wohl kaum.“
„Na gut. Mr
Borebank, Lucys Arbeitgeber, schien auch eine rege Affäre mit ihr zu haben. Er
hat sie sogar als Flittchen bezeichnet. Kompetent, aber menschlich ein Wrack.
Das will ich hier lieber nicht bestätigen, aber es könnte ja auch sein, dass
eine Person den Ring an sich genommen hat und eine andere das Mädchen
ausgeschaltet hat. Vielleicht sogar Borebank selbst, damit seine Frau davon
nichts erfährt?“
Miller
stand auf. Die Thematik wurde nun doch etwas zu heikel.
„Ich will
zugeben, dass es ein guter Gedanke ist, mit dem Dieb und dem Mörder. Was aber
Mr Borebank angeht – also, das sind Informationen, die muss ich erst einmal
unter Vorbehalt annehmen. Ich danke ihnen jedenfalls, Mr Morrison, für dieses
Gespräch.“
Abigail
Hopkins atmete tief durch. Das Ergebnis ihres ersten Ganges an Deck war
ernüchternd. Nun war sie endlich bereit, sich der Welt sorgenfrei zu
präsentieren, und was tat die Welt? Ging einfach ins Bett, und das, obwohl die
Nacht doch noch jung war! Niemanden hatte sie getroffen, der sie auch nur
halbwegs interessiert hätte. Oder hatte sie ihre Ansprüche nun etwa zu hoch
gesetzt? Nein. Wer keine Ansprüche hat, der landet noch bei irgendeinem Abschaum.
Das kann ja nicht gut sein. Schaudernd dachte sie an ihre eigene Vergangenheit.
Es war
schon gut so, wie es war. Wen brauchte sie denn? Sie kam doch gut allein
zurecht! Und jetzt, in dieser neuen Situation, würde sie erst recht auf
niemanden angewiesen sein. Selbstbewusst trank sie ihr Glas Champagner aus und
blickte in den Spiegel ihrer Kabine. Du hast es geschafft, sagte sie sich.
Eitel und voller Stolz blickte sie ihr Spiegelbild an. Dann klopfte es an der
Tür. Behutsam stellte sie ihr Glas ab und fragte, ohne zu öffnen:
„Wer ist
da?“
„Ich bin
der Steward. Mein Name ist Miller. Sind sie Mrs Hopkins?“
„Die bin
ich. Aber hören sie, sie sind nicht für mich zuständig. Mein Steward heißt
Barker. Was wollen sie also hier?“
„Ich komme
nicht als Steward zu ihnen. Ich muss mit ihnen über ihre Schwester sprechen.
Über Lucy Ratchett.“
Dieser Name
zeigte seine Wirkung. Für einen Moment sagte Abigail gar nichts. Dann öffnete
sie langsam die Tür. Ihre Miene hatte sich um keinen Deut verändert, sie war
undurchsichtig wie eh und je.
„Kommen sie
herein.“
Miller trat
ein und schenkte der jungen Frau ein aufmunterndes Lächeln.
„Was ist
mit meiner Schwester? Ist etwas passiert?“
„Mrs
Hopkins, haben sie gewusst, dass Lucy hier an Bord ist?“
„Ja,
natürlich. Ich meine, als Schwester sollte man über so etwas im Bilde sein,
meinen sie nicht?“ fragte sie leicht verwirrt.
„Dann will
ich ihnen die Wahrheit erzählen, und es ist besser, sie setzen sich dazu.“
Eher
verwirrt als überrascht nahm Mrs Hopkins auf eine Stuhl platz.
„Ihre Schwester
wurde ermordet. Es tut mir sehr leid, Mrs Hopkins, aber Lucy Ratchett ist tot.“
Auch in der
folgenden Stille veränderte Abigail ihre Miene nicht. Sie ließ den Gedanken
durch den Kopf gehen. Lucy ist tot. Kein Neid mehr. Keine Eifersucht mehr. Keine
Klagen mehr. Schon oft hatte sie darüber nachgedacht. Und sie war zufrieden,
dass endlich jemand die Leiche gefunden hatte. Ein Lächeln zeichnete sich um
ihre feinen Lippen ab.
„Haben sie
mich verstanden? Ihre Schwester wurde ermordet! Sind sie darüber gar nicht
erschrocken? Begreifen sie gar nicht das Ausmaß dessen, was ich ihnen hier
erzähle?“
„Ich
begreife alles“, antwortete sie ruhig. „Ich kann Lucy nun mal nicht allzu sehr
nachtrauern. Meine Tränen sind versiegt, wissen sie? Mit Lucy hatte ich nie viel
gemeinsam. Wir sahen uns kaum. Wir sprachen kaum miteinander. Und ihre
Lebensweise! So arm, so schlicht! Sie war so ein naives Dummchen. Und jetzt
soll ich ihr nachtrauern? Immerhin ein Gutes hatte sie ja. Ich habe mich nie um
sie kümmern müssen. Wahrscheinlich liegt es daran, dass sie mir nun nicht
fehlt. Oder habe ich mich an Verluste vielleicht schon zu sehr gewöhnt?“
Sie sagte
das auf eine seltsam melancholische Weise, blickte Miller nicht in die Augen,
sondern auf irgendeinen Punkt neben ihn, etwas, das nicht existierte. Es
wirkte, als würde die junge Frau träumen, während sie sprach. Miller bemühte
sich, vernünftig auf sie einzusprechen.
„Wovon
sprechen sie? Was für Verluste meinen sie?“
„Mein Mann
ist gestorben. Das ist noch gar nicht lange her. Und bereits damals habe ich
keine Tränen in mir gespürt. Nur eine dumpfe Leere. Und das Gefühl, dass ich es
alleine schaffen konnte. Ich werde es alleine schaffen. Ich brauche niemanden.
Wissen sie, was? Meine Schwester ist tot. Mein Onkel ist tot. Und das ist mir
alles egal. Ich bin unabhängig. Ich brauche niemanden, um weiterzukommen. Ich
habe gelernt, auf eigenen Beinen zu stehen, seit mir damals Unrecht angetan
wurde.“
„Mrs
Hopkins! Woher wissen sie, dass Bruce Ismay tot ist?“
Sie tat,
als hätte sie die Frage nicht gehört und ging zurück zum Spiegel. Dort nahm sie
wieder das Champagnerglas an sich.
„Ich habe
sie etwas gefragt!“
„Weiß das
nicht inzwischen jeder? Und was geht es mich an? Ich bin unschuldig. Genau so,
wie ich auch damals unschuldig war.“
„Was meinen
sie mit damals?“
Jetzt
blickte sie Miller zum ersten Mal scharf in die Augen.
„Ich bin
vergewaltigt worden. Verletzt. Geschändet. Nennen sie es, wie sie wollen. Ich
bin missbraucht worden, weil ich mich zu sehr auf jemanden verlassen habe. Von
jemandem, dem ich vertraut habe. Vielleicht verstehen sie nun, weshalb ich auf
eigenen Beinen zu stehen gelernt habe. Das musste ich. Und ich habe gelernt,
mich zu rächen. Ich habe mich gerächt. Auf meinen Peiniger wartet nun seine
bittere Strafe. Er wird dieselbe Qual erleiden wie ich. Unschuldig.“
Wieder
lächelte Mrs Hopkins derart intensiv, dass es Miller mehrere Schauer über den
Rücken jagte. Diese junge Frau war gefährlich.
„Wer war
es? Wer hat sie missbraucht? Und wie haben sie sich gerächt?“
„Was geht sie
das an? Es ist meine Angelegenheit, und die bleibt es auch. Lucy war dumm und
schwach. Und arm. Sie hätte es nie allein geschafft. Sie hätte sich einen Mann
gesucht, der sie nur ausgenutzt hätte. Und mein Onkel? Was kümmert es mich,
dass er tot ist? Er hat sich so selten um mich gekümmert. Aber das Geld ist
mein, da er keine Kinder hat! Nun bin ich endlich frei. Ungebunden.
Unabhängig.“
Damit trank
sie das Glas in einem Zug aus. Miller sah ein, dass es keinen Zweck hatte, noch
länger in diesem Zimmer zu bleiben. Bevor er aber den Rückweg antrat, blickte
er sich noch einmal gründlich um. Teure
Kleider. Schlichte Kleider, die ihren wahren Preis verbargen. Schmuck.
Verschiedene Flaschen teurer Weine. Und eine kleine Notiz auf dem Spiegel, mit
rotem Lippenstift daran geschrieben und im Halbdunkel des Zimmers kaum zu
erkennen. Der Name „Paddy“, zweimal durchgestrichen. Und zuletzt blickte er
noch einmal Abigail Hopkins selbst an. Eine labile Frau. So schien es
zumindest. Labil, aber entschlossen. Sehr gut gekleidet. Die Augen trüb vom
vielen Alkohol, der Teint sanft gepudert. Schlichte Handschuhe an den Händen,
elegante Schuhe an den Füßen, denen Miller eben noch einen zweiten Blick
schenkte, bevor er dieses Zimmer endgültig verließ.
Keiner
sprach an einem Abend auf der Titanic mit so vielen verschiedenen Menschen wie
die Liftboys. Patrick Grearson trat sich im Geiste nochmals selbst auf den Fuß.
Er selbst hatte schon mehrmals mit Miles Hutchins gesprochen. Vielleicht hatte
der Junge wieder eine interessante Information parat über den falschen Ruhm der
Titanic, wie Mrs Dobbins es genannt hatte.
Überrascht
stellte Grearson fest, dass der Junge, der die altbekannte Fahrstuhltür
öffnete, nun ganz und gar nicht Miles Hutchins entsprach. Miles war groß und
schlank, dieser hier war klein und plump. Sommersprossen zierten seine Nase.
„Entschuldige,
Junge, ist Miles nicht mehr hier? Das hier ist doch sonst sein Fahrstuhl, nicht
wahr?“
„Da stimmt,
mein Herr“, antwortete der Kleine mit leicht näselnder Stimme. „Eigentlich war
unser Wechsel erst für morgen Mittag vorgesehen, aber Miles hat mich gebeten,
bereits heute Abend für ihn einzuspringen, da er zu einem wichtigen Treffen
wollte.“
„Hat Miles
dir gesagt, worum es dabei geht? Mit wem er sich treffen wollte?“
„Nicht die
leiseste Ahnung. Miles erzählt mir sowieso nie etwas. Ich weiß aber, dass er
runter zum Squashplatz gegangen ist. So leicht kann man Billy Smithers nicht
abschütteln“, sagte er mit stolzgeschwellter Brust und grinste.
„Vielleicht
kannst du mir auch weiterhelfen. Sagt dir der Ausdruck ´Der falsche Ruhm der
Titanic` etwas? Hast du das heute schon einmal gehört?“
Billy
dachte nicht einmal nach, bevor er antwortete: „Woher soll ich das denn gehört
haben? Hört sich doch ziemlich unsinnig an. Die Titanic hat keinen falschen
Ruhm. Sie ist die Königin unter den Schiffen!“
„Ich dachte
ja nur, dass vielleicht ein paar Leute, die du heute Abend mitgenommen hast,
das schon einmal erwähnt haben. Die Menschen reden doch immer gerne, richtig?“
„Also, ich
weiß ja nicht, was sie von mir denken, mein Herr, aber ich bin nicht so einer,
der den privaten Unterhaltungen der Passagiere lauscht. Da kann ich ihnen nicht
weiterhelfen.“
Bieder. Was
für ein biederer Junge. Genau das Gegenteil von Miles, nicht nur vom Aussehen
her. Miles ist ein frecher, neugieriger Junge. Hier aber hatte Grearson es mit
einem Duckmäuser erster Güte zu tun. Er hob kurz die Hand zum Gruß und sagte:
„Danke,
Billy. Ich werde mal sehen, ob ich Miles finden kann.“
„Glauben
sie dem aber bloß nichts. Er erzählt immer alles Mögliche weiter, das kann
keinem Menschen gut tun!“
Immer noch
besser als deine Verschwiegenheit, dachte Grearson grimmig. Während er die
Treppen auf das D-Deck hinabstieg, kam ihm ein Gedanke. Womöglich war Miles
gerade mit Mrs Ismay verabredet? Er hatte da doch so etwas erwähnt…
Er freute
sich schon drauf, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, als er den langen
Korridor zum Squashplatz hinabging. Schwungvoll wandte er sich um eine Ecke und
prallte in zwei Männer, die in Umarmung gegen die Wand gelehnt standen. Sie
küssten sich. Grearson wollte sich angewidert abwenden, als er bemerkte, dass
einer der beiden Miles Hutchins war. Überrascht blieb er stehen.
Als Miles
den Störenfried erkannte, wich ihm die Farbe aus dem Gesicht. Der andere junge
Mann, der mit dem Rücken zu Grearson stand, drehte sich langsam um. Es war
einer der Offiziere.
„Was hat
das zu bedeuten?“ fragte Grearson scharf.
„Bitte,
Mister“, stotterte Miles ängstlich, „sagen sie niemandem ein Wort! Das könnte
schlimme Konsequenzen für James haben!“
James, der
andere, blickte mehrmals verwirrt zwischen den beiden hin und her. Dann nickte
er Miles kurz zu und verschwand Richtung Foyer. Grearson versuchte, den
Liftjungen zu beruhigen.
„Hör zu,
Miles, es ist mir egal, was ihr hier gemacht habt. Das interessiert mich gar
nicht. Ich habe dich aus einem anderen Grund gesucht. Aber – was ist mit Mrs
Ismay? Wolltest du nicht mit ihr…?“
„Mister,
zwingen sie mich doch nicht, mich ein für alle Mal festzulegen.“ Schon blitzte
der Schalk wieder in seinen Augen auf. „Mrs Ismay ist schließlich selbst untreu
und behandelt mich wie einen kleinen Flirt, also bin ich ihr ja wohl nicht
verpflichtet“, erklärte der Junge mit unschuldigem Blick.
Grearson
schlug die Augen gen Decke.
„Was
versuche ich überhaupt, all diese neumodischen Beziehungen zu verstehen? Wer
war denn der andere eben? Warum könnte das für ihn unangenehm werden?“
„Das war
der sechste Offizier, James Moody. Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine
solche Affäre seinem Ansehen gut täte.“
„Erstaunlich
einsichtig von dir, Miles. Macht von mir aus, was ihr wollt.“ Innerlich
schüttelte es Grearson bei diesem Gedanken. „Weshalb ich dich überhaupt suche –
Du bekommst doch immer viele Gespräche der Passagiere mit. Hat da vielleicht
jemand mal den Ausdruck ´Der falsche Ruhm der Titanic` erwähnt?“
„Mister,
sie sind immer wieder für Überraschungen gut. Sie haben mich doch vorher nach
dieser Mrs Dobbins gefragt, nicht wahr? Sie hat genau diesen Ausdruck in einem
Gespräch mal benutzt. Ich habe aber keine Ahnung, was damit gemeint sein
könnte, wenn sie das wissen wollen.“
Enttäuscht
seufzte Grearson.
„Nun seien
sie nicht gleich deprimiert“, meinte Miles. „Was kann daran schon so wichtig
sein? Wenn sie es unbedingt herausfinden wollen, warum fragen sie dann nicht
einfach den Mann, mit dem sie darüber gesprochen hat?“ Er zwinkerte frech.
„Wer? Sag
schon, mit wem hat sie gesprochen?“
„Sie hat
sich mit Mr Andrews unterhalten. Fragen sie mich nicht, was diese Frau mit
einem so hohen Tier zu tun hatte.“
Ganz einfach
– ihr Mann ist beim Bau der Titanic, beim Stapellauf, ums Leben gekommen und
sie suchte den Verantwortlichen, dachte der Geschäftsmann bei sich.
„Miles, du
bist hervorragend. Hier!“
Grearson
steckte ihm einen Dollar zu.
„Es ist
immer wieder gut, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, Mister!“
Er winkte
und begab sich wieder ins Foyer. Vielleicht würde er Moody suchen gehen, dachte
Grearson. Thomas Andrews lautete der nächste Hinweis. Wenn es stimmte, dass
dieser Mensch sich gern in guter Gesellschaft befand, würde man ihn bestimmt
noch im Rauchsalon oder im Salon der ersten Klasse antreffen. Er machte sich
auf den Weg, obwohl ihm die Beine von der vielen Lauferei schon wehtaten.
Selbstverständlich
wanderte der Ingenieur Thomas Andrews noch immer im Salon der ersten Klasse auf
und ab, immer auf der Suche nach netten Gesprächen. Diesen Gedanken hatte auch
Miller verfolgt und trat an Andrews heran.
„Entschuldigen
sie, Mr Andrews, ich muss sie kurz in einer wichtigen internen Angelegenheit
sprechen.“
„Sie sind
doch Steward, nicht? Was wollen sie von mir?“
„Kommen
sie, wir gehen in eine ungestörtere Ecke.“
Das war gar
nicht so leicht zu bewerkstelligen. Wenn auch sonst viele Flure des Schiffes
wie ausgestorben wirkten, so hatten sich doch alle Nachtschwärmer in den Salons
zusammengefunden. Miller führte Andrews in eine etwas ruhigere Ecke hinter
einem Paravent.
„Mr
Andrews, es ist nur eine kleine Frage, aber als Mitarbeiter an der Titanic
können sie mir vielleicht helfen. Es geht um die Kabinenschlüssel.“
„Ja? Was ist
mit den Schlüsseln?“
„Nun, ich
habe mir sagen lassen, dass es von jedem Schlüssel zwei Exemplare gibt, die
Zweitschlüssel sich aber nicht hier an Bord befinden.“
„Das ist
korrekt.“
„Was tun
sie aber, wenn jemand seinen Schlüssel verliert und sich somit aussperrt? Sie
können unmöglich verlangen, den ganzen Weg bis nach New York abzuwarten!“
„Auch das
ist richtig. Deswegen gibt es hier an Bord einen Generalschlüssel für alle
Kabinen.“
Aha – eine
weitere Möglichkeit.
„Ist es
möglich, dass sich jemand Unbefugtes Zugang zu diesem Generalschlüssel
verschafft hat?“
„Nein. Das
ist absolut ausgeschlossen. Er befindet sich in einem versteckten Safe, dessen
Kombination nur Kapitän Smith und ich kennen.“
Ausgeschlossen,
dass Smith oder Andrews der Mörder ist, dachte Miller resignierend.
„Ich muss
sie dann vielleicht anders fragen. Ganz direkt: Ist es möglich, dass sich
jemand Zutritt in Bruce Ismays Kabine verschafft hat?“
„Zutritt
kann sich nur verschaffen, wer den Schlüssel hat. Ich kann mir nicht
vorstellen, dass Mr Ismay seinen aus der Hand gegeben hätte.“
Außer
vielleicht einer reizenden jungen Frau.
„Ismay
hatte den Schlüssel aber bei sich“, murmelte der Steward beiläufig.
„Dann war
niemand in seiner Kabine“, sagte Andrews. „Und nun entschuldigen sie mich, ich
muss mit Mrs Whitehall sprechen.“
Dann war
niemand in seiner Kabine. Das ist unmöglich! Es gab nur eine Erklärung, und die
bedurfte noch einiger Ausarbeitung. In jedem Fall war an diesem Abend einiger
Betrieb in Ismays Kabine gewesen. Zumindest zwei verschiedene Personen waren
außer Ismay darin, eine weitere hat durch das Schlüsselloch spioniert.
Vermutlich war der Mörder, der sich einen dritten Schlüssel hatte anfertigen
lassen, unachtsam gewesen und hat Ismays Kabine nicht abgeschlossen, sondern
den Schlüssel sogar stecken lassen. Wer auch immer Ismay dann aus dem Zimmer
geschleppt hat, hat abgeschlossen und den Schlüssel in Ismays Tasche gelegt, um
die Verwirrung nur noch zu vergrößern. Das heißt, dass der Schlüssel in Ismays
Tasche nicht sein eigener war, sondern der des Mörders. Aber wer war so
raffiniert, sich einen eigenen Schlüssel nachzumachen – wer hatte diesen Abend
so haargenau vorbereitet, sozusagen jedes Detail vorausgesehen?
Stille. Das
ganze Krankenzimmer war von Stille erfüllt. Kein Windhauch, kein Atmen. Es war
alles weiß und ruhig. Mrs Dobbins hatte die Augen geschlossen. Miller trat
neben sie. Ruhe. Die weiße Bettdecke. Kein Atmen. Still und weiß, bis auf zwei
kleine, ovalförmige rote Flecken unter den Nasenlöchern. Das Blut war
verkrustet, Mrs Dobbins mittlerweile schon tot. Sie lag friedlich in dem Bett,
keine Anzeichen eines gewaltsamen Todes. Der Mörder hatte ihr vermutlich eine
tödliche Injektion verabreicht und sie weiterschlafen lassen. Ihre Geheimnisse
hatte sie jetzt für immer mit ins Grab genommen.
Es handelte
sich mit Sicherheit um den gleichen Täter, der auch Ismay getötet hatte. Er
hatte auf seltsame Weise Zugang zu allen Räumen dieses Schiffes. Er hatte auf
Mrs Dobbins geschossen – und als er merkte, dass die Kugel ihre Wirkung verfehlt
hatte – vielmehr, dass er daneben geschossen hatte, musste er ein
wirkungsvolleres Mittel finden, die alte Dame, die ihn beobachtet hatte, zum
Schweigen zu bringen.
Bei
weiterem Nachdenken entschied Miller, dass die Person, die den Schuss abgegeben
hat und der tatsächliche Mörder nicht ein und dieselbe Person waren. Das war
physikalisch unmöglich. Zumindest, wenn Millers Theorie stimmte. Leider hatte
er dafür noch keine Beweise.
„Was ist
schon ein Mann ohne Schultern?“
Die Frage
hatte der Steward an Mrs Dobbins gerichtet, in der irren Hoffnung, sie würde
ihm eine letzte Antwort geben. Doch es blieb still im Zimmer. Still und weiß.
Wer war der Mann ohne Schultern? Handelte es sich bei ihm um den Mörder, hat
sie deshalb keinen Namen nennen wollen? Er würde niemals auf die Lösung kommen,
wenn er sich an diesem Satz festkrallte. Stattdessen erinnerte Miller sich an
die andere Aussage der Hausfrau.
„Finden sie
das Auge!“
Um welches
Auge ging es? Ein Glasauge? Oder ein Bullauge? Nein, ein Bullauge hätte die
Frau nur schwerlich verstecken können. Es müsste sich um einen beweglichen
Gegenstand handeln. Vielleicht hatte jemand Mrs Dobbins beobachtet – vielleicht
hatte sie ein auffälliges Verhalten an den Tag gelegt. Miller schaltete das
Licht im Zimmer aus und schloss die Tür. Gedankenverloren ging er ins Foyer des
C-Decks.
„Mr Miller!
Kommen sie doch mal eben zu mir, mir ist da noch etwas eingefallen!“
McElroy,
der Zahlmeister, winkte den Steward zu sich.
„Was gibt
es denn?“
„Sie haben
doch heute nach dieser Frau im weißen Kittel gefragt. Ich erinnere mich, warum
sie hier war. Normalerweise fragt man sich ja, was die Menschen vom F-Deck hier
so treiben. Sie hatte mich gefragt, welches Bruce Ismays Kabine ist.“
„Richtig.
Aber das haben sie mir schon einmal erzählt, McElroy.“
„Nun warten
sie es doch erst einmal ab. Ich habe mich da mit den Zeiten ein wenig vertan.
Das muss so gegen kurz vor sieben Uhr gewesen sein. Aber danach war sie noch
einmal bei mir. Gegen zwanzig Minuten nach sieben kam sie hier an, hatte irgendetwas
in einem Beutel und wollte wissen, wie sie zu den Kesselräumen kommt.“
„Die
Kesselräume!“
„Genau das
habe ich mir auch gedacht. Was um alles in der Welt will diese Frau bei den
Kesselräumen? Sie sagte nur, sie sei befugt, weil ihr Mann Arbeiter ist. Ich
wusste ja nicht, ob das die Wahrheit war, also habe ich ihr einfach den Weg
beschrieben. Mir war es ziemlich egal, was diese Frau so alles treibt.“
„Und Mrs
Dobbins ist dann hinunter gegangen?“
„Ich
vermute es. Jedenfalls konnte ich deutliche Flecken auf ihrem Kittel erkennen,
als sie zwanzig Minuten später wieder hier vorbeikam und erneut in Richtung von
Ismays Kabine ging.“
„Meine
Güte, da hatte die Frau scheinbar ganz schön zu tun.“
„Na ja. Sei
es, wie es will – ich habe ihnen gesagt, was ich weiß. Bis bald!“
Miller ging
zu den Hintertreppen. Mrs Dobbins hat etwas beobachtet. Und etwas aus Ismays
Zimmer versteckt. Das Auge vermutlich. Sie ist in die Kesselräume hinunter und
war zwanzig Minuten später wieder bei Ismays Kabine, so dass Stevens das Foto
von ihr machen konnte. Das Foto war so unscharf – natürlich konnte man da keine
Flecken auf der Kleidung erkennen. Und dann musste Mrs Dobbins noch mehr
Interessantes beobachtet haben. Vielleicht konnte Mr Grearson dazu Genaueres in
Erfahrung bringen. Aber wie hatte Mrs Dobbins es so schnell geschafft, zu den
Kesselräumen zu gelangen, dort etwas zu verstecken und wieder zurückzukommen?
Sie war auch nicht mehr die Jüngste und allein der Weg runter und wieder hinauf
auf das C-Deck dauerte eine gute Viertelstunde.
Immer
wieder hatte er überlegt, ob er Claris die Wahrheit erzählen sollte. Patrick
Grearson war wie ein Besessener den Korridor des D-Decks auf und ab gegangen.
Schließlich trat er an ihre Kabine. Überrascht bemerkte er, dass das Schloss
aufgebrochen war. Er drückte die Tür nach innen auf. Das Zimmer war
leergeräumt. Offensichtlich bewohnten die Hiltons diese Kabine nicht mehr. Nur
die schiffseigenen Möbel füllten den ansonsten kahlen Raum. Grearson nahm sich
vor, beim Zahlmeister die aktuelle Lage und den Grund für den Umzug zu
erfragen. Scheinbar war hier nichts mehr zu erreichen. Er wollte gerade gehen,
als sein Blick nochmals auf das gesplitterte Holz fiel. Dann tippte er sich
gegen die Stirn.
„Natürlich!
Die Tür! Ich weiß, wer Mr Ismay ermordet hat!“ rief er mit weitaufgerissenen
Augen in das Zimmer, so dass seine Stimme von den kahlen Wänden widerhallte.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen