Samstag, 12. November 2016

Beteigeuze (Kapitel 2)




21:00 Uhr

Carl Stansfield, 46 Jahre, Anwalt, strich sich noch eben die von Pomade glänzende Frisur zurecht und klopfte dann an der Tür von Kabine D-12. In der linken Hand hielt er eine Aktentasche. Es dauerte nur einen kleinen Moment, bis die Bewohnerin der Kabine öffnete. Diana Hilton. Man sah ihr das Kleinbürgertum an, war sie doch vornehm gekleidet und bemühte sich, all die Eleganz aus ihren 50 Lebensjahren nach außen zu kehren. Allerdings verlor die Gute beim Anblick des ungebetenen Gastes recht schnell die Fassung.
„Mr Stansfield! Wie können sie es wagen, hier aufzukreuzen! Wenn uns hier an Bord jemand zusammen sieht, bricht die Hölle los. Das ist ihnen doch hoffentlich bewusst?“ bellte ihm die Dame mit mühsam unterdrückter Stimme entgegen. Stansfield verstand all die Aufregung nicht.
„Vielleicht können sie mir mal erklären, warum sie während der ganzen Fahrt so ein Theater machen? Ich bin ihr Anwalt, es ist doch normal, wenn ich mit ihnen nach New York reise.“
Die Hilton blickte sich verstohlen nach dem Flur um.
„Sie sind nicht nur mein Anwalt. Und sie müssen ja nicht alles wissen.“
„Was das betrifft – ich bin mir durchaus im Klaren, dass auch Mr Ismay hier an Bord einer meiner Klienten ist. Meinen sie etwa das?“
„Genau das. Ach, sie ahnen es ja nicht. Aber ich warne sie: Wagen sie es nicht, auch nur einem Menschen das zu verraten, was ich ihnen jetzt erzählen werde“, sagte sie geheimnisvoll.
Stansfield beruhigte sie: „Ich kann schweigen wie ein Grab, Mrs Hilton. Das wissen sie ja. Oder vertrauen sie mir jetzt nicht mehr?“
„Kommen sie herein. Es muss uns ja nicht jeder hören.“
Damit zerrte die energische Frau ihren Anwalt in die Kabine. Sie ging zu einer kleinen Minibar in der Garderobe und holte zwei Gläser sowie eine Flasche Whisky heraus, die sie auf den Couchtisch stellte.
„Bedienen sie sich. Da sie auch der Anwalt meiner Tochter sind und eventuell in der Verlobungsangelegenheit ein Wort mitreden werden, sollten sie ein kleines Detail aus der reichhaltigen Geschichte unserer Familie erfahren. Ist ihnen noch nicht aufgefallen, dass ich mit meiner Tochter allein nach Amerika reise?“
Stansfield schenkte sich ein Glas Whisky ein und nahm einen kurzen Zug.
„Nun, bisher habe ich nicht darauf geachtet. Ich werde schließlich nicht fürs Spionieren bezahlt. Aber sie haben ja recht, wo ist denn ihr Ehemann? Er ist nicht hier an Bord.“
„Stansfield, als ich sie als Anwalt ausgewählt hatte, gab es schon einen bestimmten Grund dafür, nämlich dass sie recht ungenau arbeiten und es nicht immer so streng mit den Vorschriften sehen. Es hätte ihnen doch damals schon längst auffallen müssen, dass ich nie einen Ehemann hatte. Meine Tochter ist ein uneheliches Kind. 22 Jahre sind seither vergangen, aber so etwas vergisst man nicht. Und wir waren damals noch so unschuldig.“
Beinahe hätte der Anwalt sich an seinem Drink verschluckt. Zu ungeheuer schien ihm die Nachricht.
„Das Kind ist unehelich? Das ist ja unglaublich, das grenzt an einen Skandal! Wer ist der Vater, sagen sie es mir auf der Stelle!“
„Sie mögen es nicht glauben, aber der Vater ist hier an Bord der Titanic. Es ist Bruce Ismay.“
War Stansfield eben noch entsetzt, so fehlten ihm jetzt völlig die Worte. Sein eigener Klient in so einer vertrackten Beziehung mit einer anderen Klientin. Und dann noch so ein hoch angesehener Mann! Er schnappte nach Luft.
„Jetzt schauen sie nicht so komisch. Damals kannten wir uns nur flüchtig“, versuchte Ms Hilton zu erklären, „aber daraus ist Claris geworden. Er kennt sie nicht. Er weiß nicht, dass er eine Tochter hat, zu früh ist er damals von mir weggegangen, um seine Karriere anzugehen. Auch mich wird er wahrscheinlich nicht mehr wiedererkennen.“
„Ich muss ihnen das alles einfach glauben. Ich hoffe, sie wollen mich nicht austricksen. Nun, wenn das wirklich alles wahr ist, dann muss ich als sein Anwalt mit Mr Ismay sprechen. Ich muss ihm erzählen, dass er eine Tochter hat, und dass sie beide hier an Bord sind. Es ist meine Pflicht.“
Diana Hilton, die an das Bullauge getreten war, um einen verträumten Blick auf das Meer zu werfen, drehte sich auf der Stelle um. Ihre Augen fixierten den Anwalt erbarmungslos und ihre Stimme war eiskalt.
„Nein. Sie werden schweigen. Sollte Bruce jemals erfahren, dass die Affäre von damals nicht ohne Folgen geblieben ist, geht es ihnen an den Kragen. Das wollen sie doch bestimmt nicht, oder?“
Ein um Mitleid flehender Ton schwang in der Stimme des Anwaltes mit, als er erwiderte: „Aber ich darf einem Klienten eine so ungeheuerliche Nachricht nicht verschweigen, das müssen sie doch verstehen!“
„Na, dann zeigen sie doch mal, wem sie ihre Loyalität entgegenbringen.“
„Wissen sie, Mrs Hilton, da muss ich wirklich überlegen. Mr Ismay zahlt mir schließlich mehr. Und von der menschlichen Seite betrachtet…“ Er legte eine Pause ein und strich mit dem Ringfinger über den Rand seines Whiskyglases. „Sie sind ziemlich ungerecht zu ihrer Tochter. Ihr Vater wäre sicher eine Stütze für die arme Claris in dieser harten Zeit. Dass sie ihr einen Verlobten aufzwingen, finde ich sehr herzlos von ihnen.“
Diana Hilton wandte sich wieder dem Bullauge zu und blickte auf die weite See und auf den Sternenhimmel. Ihre Stimme schien ganz weit weg, als sie zu erklären versuchte:
„Mein Leben lang habe ich mich um meine Tochter gesorgt. Eine Tochter, die keinen Vater hatte. Ich habe mich aufgeopfert, damit sie ein besseres Leben führen konnte als ich es tue. Ich will doch nur das Beste für sie. Es liegt mir sehr am Herzen, für meine Familie einen besseren Platz in der Gesellschaft zu erlangen. Das geht nur durch Heirat, das werden wohl selbst sie verstehen. Schauen sie sich doch nur all die Snobs an, die hier vor kurzer Zeit noch am Empfang standen. Solche Leute haben immer auf uns herabgeschaut, uns als unwichtig abgehandelt. Menschen wie ich werden als kleine, dumme Püppchen gesehen, die zwar nett aussehen, solange sie nur herumstehen, die aber keinen kulturellen Nutzen für die feine Gesellschaft haben und nur behindern, wenn sie sich einmischen. So war es schon immer und ich will verhindern, dass es ewig so weitergeht.“
Sie drehte sich um und blickte den Anwalt erneut eindringlich an.
„Das verstehen sie doch, oder?“
„Aber ihre Tochter war verliebt! Und sie zerstören diese Liebe für einen billigen Gesellschaftsbonus!“
„Glauben sie nicht, dieser Bonus, wie sie es nennen, sei mir billig. Aber sie sehen das ganz richtig. Er war sowieso nichts wert, dieser… dieser Morrison. Bah, er hätte sie nur ausgenutzt und ruiniert. Eine Mutter sieht das sofort.“
„Und nun haben sie ihn in England zurückgelassen und ihre Tochter ist todunglücklich.“
„Sie hat nicht unglücklich zu sein. Ich bin ihre Mutter und weiß, was das Beste für sie ist. Das hat sie gefälligst einzusehen!“ Mittlerweile wurde sie immer lauter.
„Mrs Hilton, beruhigen sie…“
„Mann, verstehen sie denn gar nichts“, wurde Stansfield von ihr unterbrochen. „Ich bin eine Ms Hilton. Unverheiratet!“
Stansfield hob beschwichtigend die Arme.
„Wie sie wollen, Ms Hilton, aber bitte beruhigen sie sich. Ich würde ihnen ja gerne helfen, aber wenn irgendwann herauskommt, dass ich diese Information unterschlagen habe, dann wandere ich ins Gefängnis.“
„Tja, Stansfield, scheint, als wären sie in einer Zwickmühle. Ich rate ihnen an, das Problem zu beseitigen, indem sie Ismay beseitigen. Gut“, räumte die eiskalte Lady ein, „wenn man sie ertappt, werden sie wahrscheinlich gehängt, aber die Freiheit erfordert ein gewisses Risiko, nicht wahr?“
Der Anwalt schluckte und fragte ganz ruhig: „Sie wollen allen Ernstes, dass ich Bruce Ismay ermorde?“
„Genau. Töten sie ihn. Dann haben wir alle etwas davon. Claris braucht nie etwas von ihrem Vater zu erfahren, ich brauche mich nicht mit ihm herumschlagen und sie sind aus ihrer Zwickmühle befreit. Sie würden dafür sogar eine kleine Zulage von mir erhalten, denn es wird nicht einfach werden. Er umgibt sich immer mit Menschen, aber sie schaffen das schon. Ich wünsche ihnen viel Spaß!“
Mit diesen Worten nahm Ms Hilton ihren Anwalt bei der Hand und führte ihn langsam, aber bestimmt zur Tür.
„Sie sollten sich aber nicht zuviel Zeit lassen. Irgendwann sind wir in New York und dann ist es zu spät. Am besten, sie erledigen das sofort. Und jetzt hinaus!“
Mit einem kräftigen Schubs befreite sie sich von Stansfield und schlug die Tür lautstark hinter ihm zu. Der Anwalt wandte sich zum Gehen und stieß dabei fast mit Steward Miller zusammen, der ihm entgegenkam.
„Guten Abend! Kann ich ihnen helfen?“ fragte er wie immer zuvorkommend mit näselnder Stimme. „Ich habe laute Geräusche gehört und dachte mir, vielleicht braucht jemand Hilfe?“
„Nein danke. Sie können mir nicht helfen“, antwortete sein Gegenüber undurchsichtig und ging weg. Miller zog zweifelnd eine Augenbraue hoch und setzte seinen Weg durch die Korridore fort.


 Das Atrium - "Wo Ruhm und Ehre die Zeit krönen"
Beinahe hätte Patrick Grearson sich auf dem Schiff verlaufen, während er den Weg zu Kabine F-16 suchte. Schließlich aber hatte er in den Tiefen der Titanic dieses Zimmer ausfindig gemacht und klopfte an der geweißten Holztür.
„Mrs Dobbins, sind sie da? Mein Name ist Patrick Grearson. Sie werden mich wohl kaum kennen, aber ich muss mit ihnen sprechen.“
Es dauerte einen kleinen Moment, bis sich die Tür einen Spalt öffnete. Ein Augenpaar blickte misstrauisch aus dem Zimmer.
„Guten Abend, Mrs Dobbins. Captain Smith schickt mich. Ich muss mit ihnen reden.“
Die Erwähnung des Namens des Kapitäns schien Eindruck auf das Augenpaar gemacht zu haben. Die Tür öffnete sich ganz und Geraldine Dobbins kam zum Vorschein. Sie sah genau so aus, wie Grearson sie vom Foto erwartet hatte. Eine kräftige Frau in den frühen Sechzigern mit ergrautem Haar, das von einem Haarnetz umhüllt war. Auch jetzt trug sie denselben weißen Kittel, den Grearson auf dem Foto gesehen hatte.
„Na dann kommen sie doch herein. Aber glauben sie nicht, dass ich extra für sie alles hergerichtet habe.“
Er fühlte die Feindseligkeit in ihrer Stimme. Scheinbar wollte sie mit niemandem etwas zu tun haben. Unsicher betrat er ihre Kabine. Die Luft war überraschend warm, um nicht zu sagen muffig. Ein Hauch von Mottenkugeln lag über allem. Schlichte Hausfrauenkleider und Schürzen waren über das ganze Sofa verteilt. Mrs Dobbins wischte sie zur Seite, wobei die Hälfte auf den Boden fiel. Das schien sie aber überhaupt nicht zu stören. Die Hausfrau deutete Grearson, sich auf den freigemachten Platz zu setzen, sie selbst nahm auf einem Stuhl Platz.
„Vielen Dank, dass sie mich hereingelassen haben. Mrs Dobbins, etwas Unglaubliches ist hier an Bord geschehen. Mr Ismay ist ermordet worden.“
„Ja und?“
„Sie scheinen nicht zu verstehen. Bruce Ismay war der Vorsitzende der White Star Linie. Man hat ihn umgebracht.“
Geraldine Dobbins ließ keinen Zweifel daran, dass ihr die Wäsche wichtiger war als diese Angelegenheit.
„Und warum kommen sie wegen so einer Lappalie zu mir?“
„Weil ich vermute, dass sie etwas damit zu tun haben.“
„Ach, ist das so? Ich verstehe. Sie denken, dass ich den alten Knacker erstochen hätte, wie?“
Grearson war überrascht.
„Mrs Dobbins, was reden sie denn da? Woher wissen sie, dass man ihn erstochen hat? Das sollte bis jetzt geheim bleiben.“
Die Hausfrau holte aus ihrem Kittel ein Taschentuch und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
„Man hört hier viel an Bord“, konterte sie ruhig.
„Das glaubt ihnen doch keiner. Nur Offizier Murdoch, Captain Smith, Steward Miller und ich wussten davon. Damit machen sie sich ja selbst verdächtig. Also geben sie nicht mir die Schuld, wenn ich eine kleine Vermutung äußere.“
„Jetzt hören sie mir mal zu, junger Mann. Ich habe niemanden ermordet. Warum sollte ich auch, und warum gerade den Präsidenten der Gesellschaft? Schauen sie sich doch einmal in meiner Kabine um. Ich bin nur eine arme Hausfrau, die alles in England aufgegeben hat, um in Amerika eine neue Existenz aufzubauen. Wollen sie mir das mit ihren infamen Behauptungen ruinieren?“
„Nein. Ich halte mich an die Tatsachen. Ich meine, gerade die Armut kann doch ein reizendes Motiv bilden. Vielleicht war Erpressung im Spiel?“
„Mit scheint es, dass sie zu viele Geschichten lesen, Mr Grearson. Da werden auch immer so weit hergeholte Vermutungen angestellt. Sie wollen sich an die Tatsachen halten? Bitte, dann tun sie das.“
„Verlassen sie sich darauf. Doch bevor ich sie frage, warum sie überhaupt alles aufgegeben haben, möchte ich ihnen etwas zeigen.“
Grearson holte den Bogen Papier mit dem Lichtbild heraus und legte ihn auf den Tisch, auf einen Haufen von Taschentüchern und Schlüpfern. Mrs Dobbins beugte sich weit über den Tisch, um die Fotografie erkennen zu können. Sie versuchte, ihre Überraschung durch genervten Tonfall zu überspielen.
„Soll das etwa ich sein, die da herumkriecht?“
Volltreffer.
„Kein Zweifel, Mrs Dobbins, das sind sie. Der Liftboy hat sie erkannt.“
„Dieser Bengel, das setzt noch eine Ohrfeige“, sagte Mrs Dobbins eher zu sich selbst.
„Sie schleichen da vor Bruce Ismays Kabine herum. Das hat mir der Fotograf bestätigen können. Sie schauen doch ganz offensichtlich durch das Schlüsselloch. Mir drängt sich ohne Alternative der Verdacht auf, dass sie nachgeschaut haben, ob die Luft rein ist, dass sie dann die Kabine betreten haben, Ismay ermordet haben und dann die Leiche vor meine Kabine geschleppt haben.“
Die Hausfrau erhob sich von ihrem Stuhl und stemmte die Hände in die Hüften.
„Soll ich ihnen mal was sagen, Mr Grearson? Das ist ausgemachter Müll, was sie mir da erzählen. Zunächst einmal erklären sie mir doch bitte, weshalb ich nachschauen sollte, ob die Luft rein ist. Was sollte denn da unrein sein? Und wie sollte ich so einfach in seine Kabine gekommen sein? Er wird abgeschlossen haben und nicht für irgendwelche Unbekannten seine Tür öffnen. Und wenn die Leiche, wie sie sagen, an ihre eigene Tür gelehnt wurde, dann könnte es doch durchaus sein, dass ich sie dort gesehen habe und daher weiß, dass er erstochen wurde. Und warum hätte ich Ismay töten sollen? Jetzt kommen sie mir nicht wieder mit Erpressung. Ich habe mit ihm doch überhaupt nichts am Hut! Ich muss mir das nicht länger gefallen lassen, ich habe schon genug Sorgen. Belästigen sie gefälligst jemand anderen!“
Wieder glänzten Schweißperlen auf ihrer Stirn. Grearson gab sich geschlagen, sie hatte gute Argumente. Schweigend verließ er die Kabine. Warum hätte sie Ismay töten sollen?
Draußen auf dem Flur kam ihm ein junges Mädchen entgegen, vielleicht 23 Jahre alt. Sie hatte rotes, lockiges Haar, das von einem kleinen Spitzenhäubchen verdeckt wurde. Dazu trug sie eine passende weiße Schürze mit Spitzen. Grearson war sofort angetan von ihrer zierlichen Gestalt.
„Guten Abend, Miss!“
„Oh, guten Abend“, sagte das Mädchen außer Atem. „Entschuldigen sie bitte, aber ich bin in Eile. Ich bin Kindermädchen und nur kurz auf dem Weg zu meiner Kabine, um ein paar Sachen zu holen.“
Grearson war bezaubert von der hellen, glasklaren Stimme des Mädchens. Sie schien ihm engelsgleich in ihrer weißen Kleidung. An ihrer rechten Hand trug sie einen wunderschönen Ring mit einem Edelstein, der ebenso klar funkelte wie ihre Augen.
„Sind sie auch hier in der Nähe?“
„Ja, in Kabine F-18.“
„Dann haben sie ja das Zimmer direkt neben Mrs Dobbins!“
„Ach, die Hausfrau. Ja, sie klagt sehr oft über die Fahrt nach Amerika.“
„Das habe ich auch schon gehört. Sie hat in England alles aufgeben müssen, meinte sie. Hat sie ihnen vielleicht erzählt, warum?“
„Da sollten sie nicht mich fragen. Sie sollten zu Mr Ismay gehen und mit ihm darüber sprechen, was vor fast einem Jahr in Belfast passiert ist. Hach, ich sollte nicht so viel tratschen, ich muss jetzt wirklich los.“
Da war sie, die Verbindung zwischen Dobbins und Ismay. Zu dumm, dass er nie von Bruce Ismay erfahren würde, was damals passiert ist. Aber es gibt auch noch andere Wege, dachte Grearson. Er schenkte dem jungen Mädchen ein Lächeln.
„Sie haben einen schönen Ring an ihrer rechten Hand.“
„Nicht wahr?“ antwortete sie und hielt ihre Hand gegen das Licht, das sich in allen Facetten brach. „Den hat meine Chefin mir geschenkt. Sie ist ja so großzügig.“
„Ich bedanke mich bei ihnen für die Auskunft. Sie haben mir schon sehr geholfen“, sagte Grearson höflich und blickte ihr noch kurz hinterher, bis sie in ihrer Kabine verschwunden war.


 Ein Blick ins Café Parisian
Der saftige, grüne Efeu rankte sich an dem weißen Holzgitter im Café Parisian empor. Der längliche Saal war erstaunlich leer für diese Zeit. Susan Lockett saß an einem der Tische, hatte die Beine übereinandergeschlagen und trank nachdenklich einen Schluck Tee aus einer der exquisiten, extra für die Titanic angefertigten Tassen.
Miller, der Steward, betrat das Café und ließ seinen Blick schwenken. Er suchte nichts Bestimmtes, aber es war schließlich seine Aufgabe, für das Wohlbefinden aller zu sorgen. Als er Mrs Lockett in nachdenklicher Haltung an ihrem Tisch sitzen sah, trat er unauffällig dazu.
„Entschuldigen sie, kann ich ihnen vielleicht helfen? Sie sehen sehr unentschieden aus. Gibt es ein Problem oder darf ich ihnen einfach eine weitere Tasse Tee bringen?“
Ms Lockett lächelte für einen kurzen Moment.
„Vielen Dank, ich brauche nichts. Ich denke nur nach.“
„Hoffentlich verzeihen sie meine Neugier, aber es gibt hier nicht allzu viele…“ Miller zögerte aus Höflichkeit, es auszusprechen, empfand es schließlich aber doch eher als unhöflich, so zögernd mit dem Thema umzugehen. „Es gibt hier nicht allzu viele farbige Gäste an Bord. Sie sind nicht aus Europa, darf ich annehmen?“
„Das dürfen sie annehmen. Und es steht ihnen offen, mich zu fragen, was sie wollen. Das machen viele und ich habe mich daran gewöhnt. Ich stamme aus Afrika. Westafrika, um es etwas genauer zu beschreiben.“
Miller wagte einen Schritt in die Unverfrorenheit und setzte sich ungefragt zu der jungen Frau. Die aber schien zu sehr mit ich beschäftigt zu sein, um Einspruch zu erheben.
„Das fasziniert mich sehr“, gab der Steward zu. „Sie machen auf mich den Eindruck einer Geschäftsfrau. Ist das zutreffend?“
„Nicht ganz. Ich leite eine Partneragentur mit einer Zweigstelle in New York. Ich nutze die Gelegenheit für eine Art journalistische Weltreise, da ich nebenher kleinere Kolumnen schreibe.“
„Sie müssen meine Unwissenheit entschuldigen, aber ich kann mir unter einer Partneragentur nichts vorstellen. Geht es dabei um Firmenpartner?“
„Nein, es ist rein romantischer Natur. Eine Agentur für Verliebte, haben sie noch nie von so etwas gehört? Menschen, die einen Partner suchen, die sich verlieben wollen, annoncieren bei mir. Und mit etwas Glück finden sie dann den idealen Lebensgefährten. Das ist immer ganz süß, wenn die frisch verliebten Pärchen vorbeikommen, um sich nochmals zu bedanken. Manchmal wünschte ich, ich gehörte auch dazu“, schob Ms Lockett mit etwas wehmütiger Stimme hinterher.
„Dann sind sie noch nicht verheiratet?“
„Nein. Ich warte auf den Mann für mein Leben. Bisher habe ich ihn noch nicht getroffen.“
„Ist das nicht eine Ironie? Sie, die so viel Gutes für die Liebe tun, die Amors Pfeil zwischen den Menschen hin- und hertragen, sollen selbst allein bleiben? Machen sie sich keine Sorgen, so wird es nicht ewig sein.“
Ms Lockett musste lachen.
„Sie haben Recht, es ist eine Ironie. Aber ich werde weiter suchen.“
In diesem Moment unterbrach kreischendes Gelächter aus dem hinteren Teil des Cafés die Atmosphäre. Miller und Ms Lockett wandten den Blick nach hinten. Susan schlug die Hände über dem Kopf zusammen.
„Meine Güte. Bitte beachten sie die gar nicht, das ist Letitia Dumonde. Eine verrückte, reiche Dame, die neben mir ein Zimmer hat. Sie ist fürchterlich aufgeblasen und sucht immer nach Gelegenheiten, mich zu demütigen. Sie kann es wohl nicht leiden, dass ich eine Schwarze bin.“
„Seien sie aber vorsichtig, wie sie mit ihr umspringen“, gab der Steward zu bedenken. „Reiche Leute haben oft guten Einfluss, also sollten sie es sich mit ihr nicht verderben.“
„Ich glaube, das habe ich schon“, meinte Ms Lockett lächelnd und dachte an die Szene auf dem Empfang. „Aber das ist mir egal. Wenn ich erst einmal auf solche Leute wie die Dumonde angewiesen bin, dann ist alles verloren.“ Sie musste lachen. Um nicht unhöflich zu sein, lachte Miller kurz mit und wechselte dann das Thema.
„Wissen sie, ich habe so ein altes Klischee von Afrika… noch aus meiner eigenen Schulzeit. Und nun treffe ich endlich jemanden, den ich wirklich mal darüber fragen kann. Sie sagen ja, dass sie dort aufgewachsen sind. Haben sie einem Volksstamm angehört oder tun sie das immer noch? Ich meine, das mag ja eine ungeschickte Frage sein, aber ich kenne mich da wie gesagt nicht aus. Und ich habe immer noch das Bild der vielen verschiedenen Kulturen vor meinem Auge.“
Verschämt blickte Ms Lockett zu Boden und sagte mit belegter Stimme:
„Das ist ein Thema, mit dem ich mich nur ungern auseinandersetze.“
Beschwichtigend fuhr Miller dazwischen.
„Entschuldigen sie bitte, ich war penetrant. Sie müssen mir nichts erzählen.“
„Doch. Ich bin von Geburt an Mitglied im Stamme der Taschk´Unapei. Das ist ein kleiner Stamm an der Elfenbeinküste, in der Nähe von Abidjan.“
„Taschk´Unapei – bedeutet das irgendwas in ihrer Sprache?“
Ms Lockett lächelte.
„Ausnahmsweise ist das mal nicht so. Oder wenn es so ist, dann wissen wir nichts davon. Unsere Vorfahren haben diese Buchstabenfolge als ungelenke Inschrift an der Mauer eines Heiligtums gesehen. Diese Worte waren ihnen nie begegnet, aber sie symbolisierten Macht und Stärke, vor allem aber Gottesfürchtigkeit für sie. So sind wir zu diesem Namen gekommen.“
„Dann haben sie also auch einen oder mehrere Götter, die sie verehren?“
„Richtig.“ Ms Lockett schaute auf ihre Armbanduhr und blickte in Richtung der Fenster. „Er steht jetzt gerade am Himmel. Weit im Westen. Es ist das Sternbild des Orion, aber bei uns heißt der Gott Nun´Xite. Auch dieser Name eine weitere Inschrift.“
„Sie mal einer an, der Orion! Das ist sehr interessant, ich habe mich schon immer für die Astronomie interessiert.“
Susan Lockett blickte Miller überrascht an.
„Ach ja? Aber warum sind sie dann nicht in die Forschung gegangen, sondern als Steward auf der Titanic gelandet?“
„Wissen sie, ich denke, dass ich in meiner Aufgabe hier mehreren Menschen helfen kann, als es in der Astronomie der Fall gewesen wäre. Ich bin froh, hier Steward sein zu dürfen.“
„Nun ja, ich kann jedenfalls ihre Begeisterung für die Sterne nicht unbedingt teilen. Ich fand es bisher immer sehr langweilig.“
Miller dachte an die Ereignisse des Abends und schmunzelte.
„Nun, daran sollte sich etwas ändern. Und das schon bald, keine Angst.“
„Muss ich das jetzt verstehen?“ fragte Ms Lockett verwirrt.
„Nein. Es wäre nett, wenn wir uns später nochmals treffen könnten, Miss…“
„Jetzt habe ich schon wieder vergessen, mich vorzustellen! Mein Name ist Susan Lockett, entschuldigen sie bitte.“
„Nennen sie mich einfach Miller. Ich muss jetzt wieder los, schließlich gibt es auf dem ganzen Schiff immer viel zu tun. Wir sehen uns!“
Miller nickte und ging schnellen Schrittes Richtung Tür. Ms Lockett blieb sitzen und dachte nach. Sie gab vor, sich nicht dafür zu interessieren, doch Miller musste sie irgendwie durchschaut haben. Sie dachte über den Orion nach…


Das türkische Bad
Ein wenig zögernd betrat David Morrison das türkische Bad, das sich im vorderen Teil des F-Decks befand. Er wurde überwältigt von der schwülen Luft, die ihm entgegenschlug. Mehrere Männer, zumeist mit Handtüchern um den Hüften bekleidet, gingen in der feuchtheißen Luft auf und ab oder hatten sich in einen der Korbstühle gesetzt, die über den Raum verteilt waren. Mitunter verließ auch mal einer den Raum in Richtung des angrenzenden elektrischen Bades oder des Abkühlraumes. Morrison begab sich zur Umkleide und trat wenig später selbst nur leicht bekleidet in den Raum, in dem er in voller Kleidung wohl zugrunde gegangen wäre.
Bewundernd blickte er sich im türkischen Bad um. Alle Wände waren gekachelt, die gekachelten Flächen wiederum von edlem Teakholz umrahmt. An den Wänden standen Tische mit osmanischen Intarsien. Ein Waschbecken mit Spiegel befand sich an der Wand, die der Eingangstür gegenüberlag. Links davon ein Brunnen mit Trinkwasser, an dem gerade jemand zugange war, um sich zu erfrischen, was in der Hitze des Bades unbedingt nötig war.
Wo sollte nun Mr Borebank zu finden sein? Morrison versuchte es auf gut Glück und rief in den Raum:
„Mr Borebank? Ich suche einen Mr Borebank!“
Der Mann am Trinkwasserbrunnen drehte sich zu ihm um.
„Das bin ich. Walter Borebank. Und mit wem habe ich die Ehre?“
Morrison schaute den Mann an. Das war also der Ehemann von Lucia Borebank. Vielleicht war er 35 Jahre alt; älter auf keinen Fall. Er sah jünger aus als seine Gattin, seine Jugend wurde durch die hochgewachsene und sportlich durchtrainierte Figur unterstrichen.
„Mein Name ist David Morrison. Ihre Frau schickt mich zu ihnen, ich habe eine wichtige Frage.“
„Nun, dann setzen wir uns doch!“
Beide gingen zu einem Tisch in einer Ecke des Bades.
„Die gute Lucia hat ihnen also nicht weiterhelfen können, wie? Dabei weiß sie doch sonst immer alles“, fügte er mit einem Augenzwinkern hinzu.
„Tja, aber in dieser Angelegenheit hat sie verzweifelt dreingeschaut. Mein Mann kümmert sich immer um so etwas“, äffte Morrison die Frau seines Gegenübers erbarmungslos nach.
Borebank schien das nicht zu stören. Im Gegenteil, er lachte laut auf und schlug Morrison auf die Schulter.
„Na, alter Junge, wie kann ich ihnen denn zu Diensten sein?“
„Es geht um ihr Kindermädchen. Ich suche sie wegen eines Ringes, der mir heimtückisch abgenommen wurde.“ Morrison dachte grimmig an Jacques Cartier. „Ihre Frau meinte, mein Ring sei eine Fälschung gewesen und ihr Kindermädchen besitze das Original. Deshalb muss ich unbedingt mit ihr sprechen. Wie ist ihr Name und in welcher Kabine ist sie untergebracht?“
„Sie heißt Lucy Ratchett. Ihre Kabine ist F-18.“
Lucy Ratchett… der Name erinnerte David Morrison. Erinnerte ihn an eine Zeit, die er hinter sich lassen wollte. Ratchett…
„Ist Lucy ihr richtiger Name oder nennen sie sie nur so?“ wollte er wissen.
„Sie heißt mit vollem Namen Lucinda Maria Ratchett“, antwortete Borebank, „aber sie dürfen nicht ernsthaft glauben, dass wir sie immer so gerufen haben. Lucy ist da viel einfacher!“
Es gab keinen Zweifel. Lucinda Ratchett, eine von vielen Affären, die er gehabt hatte. Ein Name und ein Gesicht, mehr aber nicht. Doch sie wollte mehr. Sie dachte, Morrison wäre wirklich in sie verliebt. Sie wollte ihn ganz für sich haben. Lucy hatte ihm den Ring geschenkt. Die Fälschung. Und das Original hatte sie selbst behalten. Sie hatte eine Kopie angefertigt für ihn als ewigen Liebesbeweis, wie romantisch! Morrison schüttelte es bei dem Gedanken.
„Ist was?“ fragte Borebank, der sich über die Schweigsamkeit seines Gesprächspartners wunderte.
„Ich kann es ihnen ruhig erzählen. Ich war eine Zeit lang mit ihrem Kindermädchen zusammen. Eine Affäre, mehr war es nicht. Doch sie wollte mehr. Daher hat sie mir eine Kopie des Ringes geschenkt, den ihre Frau ihr gegeben hat. Nun bin ich auf dem Weg zu ihr, um mir den echten Ring zu holen. Das ist eine abartige Situation.“
„Wird sie in ihnen wohl den Mann wiedererkennen, den sie einst liebte?“
„Eine interessante Frage. Ich glaube schon, dass sie mich wiedererkennen wird. Vielleicht liebt sie mich noch immer.“
„Das kann ich mir nicht vorstellen. Sie schien mir recht leicht zu haben.“
Sofort verstummte Borebank, als ihm bewusst wurde, was er gerade gesagt hatte.
„Wie bitte?“
„Sie werden meiner Frau nichts sagen, ist das klar!“
Morrison nickte. Was hatte er davon, zu tratschen?
„Auch ich hatte eine Affäre mit dem jungen Ding.“ Morrison schluckte, als er das hörte, doch Borebank fuhr unbeirrt fort: „Scheint ja sehr aktiv zu sein, die Kleine. Glauben sie im Ernst, dass sie etwas von ihnen wollte?“
„Keine Ahnung. Mein Herz gehörte jedenfalls einer Anderen, doch ihre Mutter war gegen die Bindung. Deswegen will ich jetzt meinen Traum in Amerika verwirklichen.“
Borebank lehnte sich zurück und seufzte.
„Ja ja, immer diese Probleme mit den Weibern. Gehen sie zu ihr, schnappen sie sich den Ring und dann streichen sie sie aus ihrem Gedächtnis, das scheint dieses kleine Flittchen gar nicht wert zu sein. Wissen sie, als Kindermädchen ist sie ganz gut, aber menschlich ist das ja unerhört.“
Dass er selbst seine Frau auf diese Weise hintergangen hatte, überging er geflissentlich und auch Morrison hielt es nicht für nötig, weiter zu bohren.
„F-18, ja?“
„Genau. Sie sollten es aber erst später versuchen, denn…“
„…sie ist eine kleine Herumtreiberin. Ich weiß. Das hat ihre Frau auch schon erwähnt. Wer weiß, vielleicht ist sie ja auf Männerfang? Ich werde es später mal versuchen. Aber vielen Dank für die Info!“
Borebank blickte ihn ernst an.
„Ich verlasse mich darauf, dass sie schweigen können. Ich liebe meine Frau und könnte es mir nicht leisten, sie zu verlieren. Auf Wiedersehen!“
Damit erhob er sich und betrat den Seitenkorridor. Morrison hingegen atmete noch ein wenig die schwere Luft des türkischen Bades ein und versuchte, Lucys Lebenswandel zu ignorieren und sich auf das Wesentliche, nämlich den Ring zu konzentrieren.


Auf dem Oberdeck der Titanic
„Mr Grearson! Sie hätte ich hier draußen nun überhaupt nicht erwartet.“
„Das Gleiche gilt für sie, Miller. Sollten sie nicht unter Deck sein und sich um die Passagiere kümmern?“
Der Steward ging das Bootsdeck zum Bug hinunter und trat zu Patrick Grearson an die Reling. Das Bootsdeck war verlassen. Nur Offizier Morrow trat vor dem Funkraum auf und ab.
„Ich wollte mich nur ein wenig umschauen. Den Sternenhimmel betrachten. Mal sehen, ob ich den Orion finden kann.“
„Ach, interessieren sie sich für Sterne?“
Grearson blickte Miller überrascht an und zeigte auf das Sternbild des Orion, das sich am Firmament vor dem Bug der Titanic, noch knapp über dem Horizont erkennbar zeigte.
„Dort haben sie ihn, Orion, den Jäger.“
„Richtig, Mr Grearson. Die Astronomie hat mich schon immer ein wenig interessiert, wissen sie, gerade seit meiner eigenen Schulzeit. Wie gerne habe ich mich mit den Lehren des Kopernikus wie auch denen des Galilei beschäftigt! Und heute ist eine so wunderbare Nacht, keine Wolken, die Sterne funkeln geradezu!“
Offizier Morrow hatte diese letzten Gesprächsfetzen überhört und trat an die beiden Personen heran. Ein wenig mürrisch meinte er:
„Und wir haben keinen Mond. Das kann kein gutes Zeichen sein. Die Nacht ein einziger finsterer Schlund, und wir sind ihr hilflos ausgeliefert. Mondlose Nächte haben mir schon immer Unbehagen beschert.“
„Dann sollten sie mal die positiven Seiten betrachten, Mr Morrow“, gab Miller zu bedenken. „Im Mondlicht ist es oft so hell, dass man die umliegenden Sterne überhaupt nicht erkennen kann. Aber heute, da sehen sie selbst die kleineren Sterne, es ist wirklich ein ganz toller Anblick.“
Grearson schwieg unterdessen und hatte den Blick nach oben gerichtet. Morrow konnte die Begeisterung nicht teilen.
„Das ist ihre Angelegenheit. Mir haben mondlose Nächte bisher nie Gutes gebracht. Ich werde zu Murdoch auf die Brücke gehen. Und sie sollten sich als Steward besser um die Passagiere kümmern!“
Mit dieser Mahnung verschwand Morrow.
„Mr Grearson, wo ich sie schon einmal treffe, darf ich doch sicher fragen, ob sie weitergekommen sind in der Angelegenheit Ismay?“
Grearson drehte sich zu um und suchte aus seiner Tasche das Foto von Mrs Dobbins, das der Fotograph gemacht hatte. Er zeigte es Miller.
„Mr Stevens, ein Journalist aus C-was weiß ich? Jedenfalls auf meinem Deck, der hat dieses Foto gemacht. Es zeigt eine Hausfrau, die durch das Schlüsselloch von Mr Ismays Kabine schaut. Ich habe sie ausfindig machen können. Sie heißt Geraldine Dobbins auf dem F-Deck. Ich habe auch bereits mit ihr gesprochen, aber sie hat sehr verschlossen reagiert. Hat mir keine Auskunft geben wollen.“
„Vielleicht haben sie ein wenig zu direkt gefragt?“
„Ich habe sie nur gebeten, mir zu erklären, warum sie vor Ismays Kabine herumgekrochen ist.“
„Verständlich, dass sie ihnen keine Auskunft geben wollte, wenn sie etwas Unrechtmäßiges im Sinn hatte. Doch genau das gilt es zu lösen. Wenn sie durch das Schlüsselloch geschaut hätte, wäre es sicher interessant zu wissen, was sie gesehen hat. Und wenn sie selbst in der Kabine gewesen wäre, stellt sich uns die Frage, woher sie einen Schlüssel hat!“
Miller zögerte. Das war wirklich eine wichtige Frage.
„Andererseits“, warf Grearson ein, „müssen wir bedenken, dass die Leiche an meiner Tür lehnte. Niemand sagt, dass Ismay in seinem Zimmer ermordet wurde.“
„Richtig, und genau deshalb müssen wir nochmals mit der Hausfrau Kontakt aufnehmen. Wir müssen wissen, was sie dort gesehen hat. Aber das müssen sie erledigen. Ich muss unter Deck meiner Arbeit nachgehen. Machen sie ein wenig höflichen Druck auf Mrs Dobbins, wenn sie nicht sprechen will. Sagen sie, sie wären im Namen der Regierung unterwegs oder so etwas. Wenn sie aber bereit ist, zu sprechen, dann seien sie höflich, vorsichtig und auf keinen Fall zu direkt, das verschreckt sie nur.“
„Miller, es ist erstaunlich, wie kühl sie die Situation kalkulieren. Aber sie haben recht, so muss es gehen.“
„Wir sollten wirklich wieder unter Deck gehen. Es ist jetzt nach einundzwanzig Uhr und die Temperatur liegt nur noch bei knapp 33 Grad Fahrenheit. Kein Wunder, dass die Passagiere nicht mehr auf dem Bootsdeck spazieren.“
„Wir befinden uns halt im Nordatlantik, da ist es schon mal kälter als erwartet. Ich frage mich nur, ob wir auch auf Eis stoßen werden.“
Der Steward lachte.
„Nun übertreiben sie aber. Vielleicht werden wir Eis sehen, aber wir werden gewiss nicht darauf stoßen, wie sie sagen. Oben, in den beiden Krähennestern, sitzen zwei äußerst fähige Menschen, Fleet und Lee, die Ausblick halten und die Brücke rechtzeitig warnen werden, falls Eis in Sicht ist.“
Grearson blickte nach oben. Dabei fiel sein Blick auf die riesigen Schornsteine der Titanic. Vier Stück an der Zahl. Majestätisch ragten sie in den Nachthimmel hinauf. Aus irgendeinem Grund schien der vierte Schornstein nicht im Betrieb zu sein.
„Miller, was ist mit diesen Schornsteinen?“
„Ich bin sehr erfreut, dass es ihnen aufgefallen ist. Sehen sie, die meisten Passagiere flanieren hier auf dem Deck des größten und luxuriösesten Schiffes, das die Welt je gesehen hat, und haben überhaupt kein Auge für solche Details. Der vierte Schornstein ist nur eine Attrappe. Es wurden nur drei Schornsteine benötigt, aber der Aberglaube, dass die Zahl Vier Glück bringt, veranlasste Harland & Wolff, einen vierten Schornstein anzubringen. Aber was erzähle ich ihnen, sie wollten jetzt auch ihren Ermittlungen nachgehen. Und vergessen sie nicht, Smith Bericht zu erstatten, falls sie etwas entdecken sollten!“
„Das versteht sich von selbst, Miller.“
Die beiden trennten sich. Grearson ging noch eine Runde über das Deck. Er war in unerwartet guter Laune, atmete tief die kalte Luft ein und warf einen weiteren Blick auf den Orion. Dann verließ er das Deck und machte sich auf den Weg zurück in seine Kabine. Er beschloss, sich den Luxus des Fahrstuhls zu gönnen und traf auf dem A-Deck wieder auf den Fahrstuhlführer Miles Hutchins.
„Guten Abend, Mr Grearson.“
„Hallo, Miles. Ich möchte auf das C-Deck.“
„Selbstverständlich. Treten sie ein!“
Im Fahrstuhl fragte Grearson: „Na, etwas Neues?“
„Glauben sie das besser nicht. Und dabei warte ich so darauf, dass sich mal wieder etwas ereignet, es wird ja beinah langweilig.“
„Du hörst dich an, als wartetest du auf etwas Bestimmtes?“
„Sie durchschauen mich. Ist es denn so offensichtlich? Ja, ich bin eigentlich verabredet.“ Der Fahrstuhl war angekommen, doch Hutchins ließ sich nicht beirren. „Heute Nachmittag zu Kaffeezeit hatte ich Mrs Ismay als Fahrgast, sie steckte mir ein ordentliches Trinkgeld zu, eine Geldnote, und darin war eine kleine Notiz eingewickelt, dass sie mich heute Abend wiedersehen wollte. Ich sollte hier auf sie warten, aber sie kommt einfach nicht.“
„Mach dir keine Sorgen, Miles, der Abend ist noch jung.“ Grearson versuchte geschickt, seine Aufregung zu verbergen. „Und wenn es das erste Treffen mit dieser Frau ist, ist sie vielleicht noch ein wenig unsicher. Das kommt schon noch“, meinte er beruhigend.
Hutchins widersprach: „Aber wir kennen uns doch schon länger! Ich bin doch kein Fremder mehr, sie sollte mich eigentlich nicht warten lassen.“
„Ihr kennt euch?“
„Ja, seit ein paar Wochen schon. Sie wollte doch, dass ich diese Stelle hier annehme. Mr Grearson, ich muss wieder nach oben, jemand ruft den Fahrstuhl. Wir können später weiterreden.“
„In Ordnung. Bis später!“
Grearson verließ den Fahrstuhl, während der Liftboy sich wieder nach oben begab. Das war ja äußerst interessant. Wie Hutchins selbst gesagt hatte: Lassen sie die Leute reden und sie erzählen von selbst. Ganz offensichtlich hatte die gute Ehefrau des White Star-Präsidenten eine Affäre mit diesem Liftboy. Grund genug, den lästigen Ehemann auszuschalten?
Grearson ging den Flur zu seiner Kabine hinab, schloss auf und trat ein. Als er spürte, wie er auf Papier trat, blickte er nach unten. Jemand hatte in seiner Abwesenheit eine Nachricht unter der Tür hindurchgeschoben. Grearson hob sie auf und las sie:
„Der Zahlmeister war so freundlich, mir ihre Zimmernummer zu sagen. Ich muss mit ihnen sprechen, ich habe ihnen etwas zu sagen. Etwas, das sie vielleicht interessieren könnte. Ich will mich mit ihnen treffen, aber nicht sofort. Kommen sie um 23 Uhr auf den Schottlandweg, zu Seil und Beil. Geraldine Dobbins.“

Nachdem der Steward das Café Parisian verlassen hatte, war Susan Lockett noch sitzen geblieben. Sie betrachtete den Teesatz in ihrer Tasse und dachte über ihr Leben nach und über ihre Aufgabe. Die Aufgabe, die ihr von ihrer Familie übertragen wurde. Die Aufgabe, die zu erfüllen ihr sehnlichster Wunsch seit Beginn der Reise gewesen war. Doch sie war gescheitert. Ms Lockett dachte an Orion, an ihren Gott Nun´Xite, dachte an den Zorn ihres Volkes bei ihrer Heimkehr. Sie dachte an Bruce Ismay und empfand in jenem Augenblick nur Hass für diesen Menschen. Und dann Verwirrung, als immer wieder das laute Kichern, man darf es schon Kreischen nennen, seitens der edlen Letitia Dumonde ihre Gedankengänge unterbrach.
Lady Dumonde schien sich mal wieder prächtig mit Mrs Myers-Jones zu unterhalten. Susan warf ihnen einen giftigen Blick zu und blickte auf ihre Uhr. Es ging gegen zwanzig Minuten nach Neun. Ms Lockett erinnerte sich an ihre Verabredung mit Mr Stevens auf dem Squashplatz. Himmel, jetzt galt es erst mal, diesen Squashplatz zu finden! Die junge Frau stand auf, um das Café zu verlassen. An der Eingangstür traf sie auf ein junges Mädchen, das ihr entgegenkam. Susan sagte nur eben im Vorbeigehen einen „Guten Abend!“ und ging zur Treppe.
Das junge Mädchen, Claris Hilton, betrat das Café und setzte sich an einen Tisch. Sie blickte traurig die Einrichtung an und trocknete mehrmals mit einem seidenen Taschentuch unsichtbare Tränen von ihrer Wange. Dann sah sie einen Schatten, der sich hinter ihr auftürmte. Verwundert drehte sie sich um, um Letitia Dumonde nebst Freundin zu sehen.
„Mein armes Mädchen“, ließ die Dumonde ihre schrille Stimme vernehmen. „Mein armes Mädchen, was ist denn mit ihnen? Sie sehen so traurig aus, das will mir gar nicht gefallen!“
Und die beiden setzten sich ungefragt an den Tisch.
„Was könnten sie schon meine Probleme interessieren?“ schluchzte Ms Hilton und blickte Lady Dumonde trüb an.
„Ich habe sie schon vorher auf dem Empfang gesehen, mit diesem Deutschen, und ich habe mir gedacht, dass sie ganz reizend ausschauen, recht kultiviert, wissen sie? Sind sie von Adel?“
„Nein. Aber ich werde es vielleicht bald sein“, erwiderte sie trotzig.
Mrs Myers-Jones schaute dümmlich aus der Wäsche.
„Meine Liebe, wie meinen sie denn das?“
„Meine Mutter will mich mit einem Adligen verheiraten, damit unsere Familie in die höheren Kreise aufsteigt.“
Hocherfreut schlug Lady Dumonde die Hände zusammen.
„Aber das ist ja ganz wunderbar! Ich habe mir gleich gedacht, dass sie etwas Besonderes sind. Deswegen finde ich es auch so schade, wenn ein junges Ding wie sie sich grämt.“
Ms Hilton blickte die ältere Dame trotzig an.
„Ach, meinen sie? Sie wissen ja gar nicht weshalb ich weine! Es ist doch gerade deswegen, dass meine Mutter mich verheiraten will.“
Wieder war es an Mrs Myers-Jones, ein fragendes Gesicht zu machen.
„Also, das verstehe ich schon wieder nicht.“
„Sie sind aber auch gar nicht neugierig, wie?“
„Eudora, meine Liebe, es scheint, als wärst du zu taktlos gewesen“, kreischte Lady Dumonde noch viel taktloser und kicherte dabei. Dann setzte sie eine ernste Miene auf und fuhr fort: „Junges Mädchen, erzählen sie uns doch bitte, weshalb sie so traurig sind.“
„Meine Mutter nimmt mich mit nach Amerika, um mich dort in den Adel zu verheiraten. Meine wahre Liebe aber sitzt in England. Meine Mutter hat mich von ihm getrennt, um ihre eigenen Ziele zu verwirklichen. Sie sagt, es sei das Beste für mich.“
„Nun, das ist eine Zwickmühle“, meinte Lady Dumonde nachdenklich. „Wirklich eine schwierige Situation. Denn ihre Mutter hat nicht ganz Unrecht. Sehen sie uns an! Der Aufstieg in die feine Gesellschaft öffnet ihnen Türen und Tore. Aber ob der Preis der wahren Liebe dafür nicht ein wenig hoch ist?“
„Letty, das ist eindeutig zu viel verlangt. Die junge Liebe ist etwas Wunderbares, das darf man nicht so einfach zerstören“, meinte Mrs Myers-Jones.
„Das stimmt. Das ist wirklich ein hartes Los für sie. Soll ich vielleicht mal mit ihrer Mutter reden? Als Vertreterin des Adels kann ich ihr diese Idee vielleicht vernunftvoll ausreden. Auch wenn das eigentlich gegen meine Art ist, ich hätte an ihrer Stelle wohl genauso gehandelt. Aber ich kann sie hier nicht trauern sehen. Sagen sie uns doch ihren Namen, junge Dame!“
„Ich heiße Claris Hilton. Meine Mutter ist Diana Hilton.“
„Hilton… Hilton… Nein, noch nicht gehört. Aber ich werde mit ihrer Mutter sprechen müssen. In welcher Kabine residieren sie?“
„D-12.“
Mrs Myers-Jones rümpfte die Nase.
„D-Deck! Welch Umstand! Und so niedrig“, kommentierte sie missbilligend.
Lady Dumonde schlug ihr spielerisch auf die Hand.
„Du sollst nicht so unhöflich sein! Jedenfalls nicht zu Leuten, die es nicht verdienen. Bei Ms Lockett eben, da hättest du schimpfen dürfen. Na, zum Glück ist die jetzt weg. Junges Mädchen, ich werde ihnen helfen. Ich weiß, wie es mit der Liebe ist, auch ich hatte einst eine unglückliche Liebe, es war mir nicht vergönnt, ewig anzudauern.“
„Möchten sie ein wenig mehr erzählen?“ fragte Ms Hilton, froh über die Ablenkung.
„Das kann ich nicht, meine Liebe. Nicht diese Geschichte!“
Abrupt stand Lady Dumonde auf und verließ das Café. Mrs Myers-Jones und Ms Hilton blieben sitzen. Verwirrt fragte Ms Hilton:
„Wieso war denn das jetzt? Ist es so eine schlimme Angelegenheit gewesen?“
„Versprechen sie mir, nicht zu sagen, dass ich es ihnen erzählt habe“, sagte die Myers-Jones verschwörerisch und begann, nachdem Ms Hilton zustimmend genickt hatte: „Das ist schon ganz lange her, aber Letty hatte einmal eine Affäre mit Bruce Ismay. Das ist der Präsident der ganzen Gesellschaft hier. Affäre ist wohl der falsche Ausdruck, die beiden waren wirklich verliebt. Aber es lief genau wie bei ihnen. Lettys Mutter war gegen die Verbindung. Damals war Letty noch keine „Lady“. Sie war ein einfaches Mädchen aus dem Volk. Sie hatte Ismay lange Zeit nicht mehr gesehen. Dann, vor ungefähr 25 Jahren, kann auch ein bisschen weniger gewesen sein, traf sie ihn zufällig auf einer Sylvesterfeier wieder. Ihre Liebe ist aufs Neue entflammt, aber es konnte natürlich nichts werden. Ob es bei einer kleinen Affäre geblieben ist oder gar nichts war, hat Letty mir nie erzählt. Tja, wissen sie, der einzige Grund, weshalb wir auf dieser Schiffsreise sind, ist es tatsächlich, um Bruce Ismay wiederzusehen. Letty hat schon ein paar Male mit ihm gesprochen. Sie sagte zu mir, sie fühle immer noch die Leidenschaft wie damals, als wäre es gestern gewesen. Gestern noch erzählte Letty mir von einer Verabredung, einem geheimen Treffen mit Ismay, das wohl morgen stattfinden sollte. Aber seit heute Mittag ist sie seltsam mürrisch, wenn es um das Thema geht. Ich kann mir auch nicht vorstellen, woran das liegt. Deswegen ist sie so abweisend, wenn man sie auf das Thema anspricht. Sie können ja versuchen, dahinter zu kommen. Aber das dürfte schwierig werden. So, ich habe schon zuviel getratscht“, sagte Mrs Myers-Jones plötzlich und nahm ihre Handtasche.
„Vielen Dank für das Gespräch“, murmelte Ms Hilton verblüfft und blieb ein wenig benebelt sitzen. Sie versuchte, das eben Gehörte zu verdauen und bestellte sich einen Tee zur Beruhigung. An ihre eigenen Liebesprobleme verschwendete sie keinen Gedanken mehr.


 Rekreation des Atriums zwischen A- und B-Deck
Der Schlüssel. Genau das war die Frage, die ihm Kopfzerbrechen bereitete. Grearson hatte da einen interessanten, wenn auch kleinen Haken entdeckt. Wer immer in Ismays Kabine gewesen ist, musste einen Schlüssel dafür haben.
Der Steward Miller setzte sich auf einen der Korbsessel im Foyer des A-Decks und strich sich die Augenbrauen glatt. Eine seiner üblichen Gesten, wenn er nachzudenken pflegte. Der Schlüssel. Nur Ismay hatte einen Schlüssel für die Kabine. Damit ergaben sich sofort mehrere Möglichkeiten. Wer immer in der Kabine gewesen ist – vielleicht kannte Ismay ihn und hat ihm den Schlüssel im Vertrauen gegeben. Das bedeutete vielleicht eine Person aus dem engeren Kreis um den ehemaligen Präsidenten. Wer weiß, was Mrs Dobbins gesehen hat. Es war gut möglich, dass sie etwas gesehen hat, was Mr Ismay hätte belasten können. Aber warum war in diesem Fall Ismay ermordet worden?
Vielleicht hatte aber auch jemand den Schlüssel von Ismay gestohlen und sich illegal Zutritt zu der Kabine verschafft, um dort etwas zu stehlen. In diesem Fall wäre der Kreis der Verdächtigen wieder beinahe unendlich groß. Es war ja nicht einmal sicher, ob Mrs Dobbins überhaupt jemanden gesehen hatte. Möglicherweise hat sie gelogen. Das heißt, sie hatte ja gar nichts gesagt! Vielleicht lag Mr Grearson falsch und Mrs Dobbins hat gar nicht durch das Schlüsselloch geschaut, sondern versucht, es aufzubrechen. Denn was hatte sie sonst als Passagierin der dritten Klasse, deren Kabine ganz woanders ist, bei Ismays Kabine zu suchen?
Der Schlüssel. Wenn nun niemand in Mr Ismays Kabine gewesen ist außer ihm selbst, dann kann es kein Rätsel darum geben, wie jemand hineingelangt sein könnte. Mrs Dobbins musste endlich reden. Dann kam ihm eine weitere Idee, mit der er auf die Schiffsbrücke ging. Er musste mit Captain Smith sprechen.
Auf der Brücke befand sich aber nur Offizier Murdoch und behielt die See im Auge.
„Entschuldigen sie, Mr Murdoch. Ich suche Captain Smith. Sollte er nicht hier auf der Brücke sein?“
Murdoch drehte sich um und zog zweifelnd eine Augenbraue hoch.
„Sie sollten es jedenfalls nicht sein. Aber zu ihrer Information: Captain Smith hat sich in sein Zimmer zurückgezogen, mit der Bitte, nur im äußersten Notfall gestört zu werden. Er schien heute Abend etwas müde zu sein.“
„Das ist sehr ungünstig, ich müsste ihn unbedingt etwas fragen. Aber vielleicht können sie mir auch weiterhelfen, sie waren ja ebenfalls anwesend, als Mr Ismay aufgefunden wurde. Sie haben sich doch darum gekümmert, dass die Leiche in Sicherheit gebracht wird, nicht wahr?“
„Das ist richtig.“
„Dann haben sie die Leiche vorher hoffentlich durchsucht, ob etwas abhanden gekommen ist oder ähnliches?“
„Auch da haben sie Recht, das ist schließlich meine Aufgabe.“
„Was haben sie in seinen Taschen gefunden? In den Taschen seines Jacketts, seiner Hose, in den Innentaschen? Da muss doch etwas gewesen sein?“
„Nur das Übliche, Miller. Ich muss sie da leider enttäuschen. Ein Taschentuch mit Monogramm, eine Schachtel Zigaretten, ein Schlüssel, etwas Geld.“
Bei dem Wort „Schlüssel“ horchte Miller auf.
„Können sie mir das bitte ein wenig genauer sagen?“ bat er den Offizier. Dieser gab bereitwillig, wenn auch ein wenig genervt, Auskunft.
„Das Taschentuch schien recht alt zu sein. Es war weiß. Das Monogramm, lassen sie mich nachdenken. Es war ein L, mit blauem Faden eingenäht, wenn ich nicht irre. Die Zigaretten von der Marke „Old Reds“. Ganz offensichtlich handelte es sich bei dem Schlüssel um seinen Zimmerschlüssel. Daran war der Anhänger mit dem Aufdruck seiner Zimmernummer. Bargeld von ungefähr fünfzig Pfund.“
„Nicht schlecht. Vielen Dank für die Auflistung. Ich lasse sie jetzt in Ruhe.“
„Ich bitte darum.“
Miller verließ die Brücke und trat wieder auf das Bootsdeck, wo noch immer Offizier Morrow wie ein Tiger vor dem Funkraum Wache hielt. Als er den Steward erblickte, tippte er sich kurz an die Mütze. Miller nickte zurück und setzte sich auf eine der Bänke.
Der Zimmerschlüssel war also noch in Ismays Besitz. Das ließ vermuten, dass vermutlich nie jemand in Ismays Kabine gewesen ist. Wie sollte man schließlich an den Schlüssel gekommen sein? Mrs Dobbins musste reden, sonst würden Grearson und er sich ewig im Kreis drehen.
Ein Taschentuch mit dem Monogramm L. Sicher von seiner Ehefrau. Bei Gelegenheit musste er nach ihrem Namen fragen.
Miller spürte den stechenden Blick Morrows auf seinen Schultern lasten und drehte sich um. Morrow trat näher.
„Sie sollten nicht so viel an Bord umherwandern, es sei denn, sie kümmern sich um ihre Gäste“, schalt der Offizier den Steward.
Der blickte verlegen zur Seite, denn Morrow hatte Recht. Miller musste die Nachforschungen Grearson überlassen.
„Machen sie sich keine Sorgen, Offizier Morrow.“
„Um sie sowieso nicht. Vielmehr um dieses Schiff. Ich will nur hoffen, dass diese Nacht ruhig verläuft.“
„Immer noch der Mond, wie?“
„Genau. Und sehen sie, eben hat Captain Smith sich zur Ruhe begeben. Absoluter Leichtsinn. Und dann habe ich kurz in den Funkraum geschaut. Phillips hat mich beinahe zur Minna gemacht, ich sollte ihn nicht bei seinen Kontakten stören, er habe zuviel zu tun. Ich weiß gar nicht, was er so viel zu tun haben könnte. Wahrscheinlich die reichen Passagiere mit ihren kleinen Telegrammen in die Heimat und so weiter. Ich mische mich da nicht ein. Hoffentlich bleiben Lee und Fleet in ihren Krähennestern da oben wach“, sagte er und zeigte gen Himmel.
„Sie glauben doch nicht, dass ernsthafte Komplikationen auftreten könnten, oder? Die See ist so ruhig.“
„Und so kalt. Es wundert mich, dass wir noch keine Eiswarnungen erhalten haben.“
„Nicht? Woher wissen sie das, ich denke, Phillips lässt sie gar nicht in den Funkraum.“
Morrow blickte über die Reling hinauf auf die See.
„Das stimmt. Aber wenn wir Warnungen erhalten hätten, hätte Smith die Maschinen ein wenig gedrosselt oder den Kurs ein wenig abgeändert. Nichts dergleichen, wir fliegen weiter über das kalte Meer.“
Miller erhob sich von seinem Platz und stellte sich neben Morrow an die Reling. Wir fliegen über das Meer. Der kalte Wind trieb ihnen Tränen in die Augen und der Blick in den unendlichen Nachthimmel wurde verschleiert. Nur eines konnte Miller noch deutlich erkennen: Orion, den Jäger, der tief im Westen über das Sternenfirmament herrschte.

Fortsetzung folgt...

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