21:00 Uhr
Carl
Stansfield, 46 Jahre, Anwalt, strich sich noch eben die von Pomade glänzende
Frisur zurecht und klopfte dann an der Tür von Kabine D-12. In der linken Hand
hielt er eine Aktentasche. Es dauerte nur einen kleinen Moment, bis die
Bewohnerin der Kabine öffnete. Diana Hilton. Man sah ihr das Kleinbürgertum an,
war sie doch vornehm gekleidet und bemühte sich, all die Eleganz aus ihren 50
Lebensjahren nach außen zu kehren. Allerdings verlor die Gute beim Anblick des
ungebetenen Gastes recht schnell die Fassung.
„Mr
Stansfield! Wie können sie es wagen, hier aufzukreuzen! Wenn uns hier an Bord
jemand zusammen sieht, bricht die Hölle los. Das ist ihnen doch hoffentlich
bewusst?“ bellte ihm die Dame mit mühsam unterdrückter Stimme entgegen.
Stansfield verstand all die Aufregung nicht.
„Vielleicht
können sie mir mal erklären, warum sie während der ganzen Fahrt so ein Theater
machen? Ich bin ihr Anwalt, es ist doch normal, wenn ich mit ihnen nach New
York reise.“
Die Hilton
blickte sich verstohlen nach dem Flur um.
„Sie sind
nicht nur mein Anwalt. Und sie müssen ja nicht alles wissen.“
„Was das
betrifft – ich bin mir durchaus im Klaren, dass auch Mr Ismay hier an Bord
einer meiner Klienten ist. Meinen sie etwa das?“
„Genau das.
Ach, sie ahnen es ja nicht. Aber ich warne sie: Wagen sie es nicht, auch nur
einem Menschen das zu verraten, was ich ihnen jetzt erzählen werde“, sagte sie
geheimnisvoll.
Stansfield
beruhigte sie: „Ich kann schweigen wie ein Grab, Mrs Hilton. Das wissen sie ja.
Oder vertrauen sie mir jetzt nicht mehr?“
„Kommen sie
herein. Es muss uns ja nicht jeder hören.“
Damit
zerrte die energische Frau ihren Anwalt in die Kabine. Sie ging zu einer
kleinen Minibar in der Garderobe und holte zwei Gläser sowie eine Flasche
Whisky heraus, die sie auf den Couchtisch stellte.
„Bedienen
sie sich. Da sie auch der Anwalt meiner Tochter sind und eventuell in der
Verlobungsangelegenheit ein Wort mitreden werden, sollten sie ein kleines
Detail aus der reichhaltigen Geschichte unserer Familie erfahren. Ist ihnen
noch nicht aufgefallen, dass ich mit meiner Tochter allein nach Amerika reise?“
Stansfield
schenkte sich ein Glas Whisky ein und nahm einen kurzen Zug.
„Nun,
bisher habe ich nicht darauf geachtet. Ich werde schließlich nicht fürs Spionieren
bezahlt. Aber sie haben ja recht, wo ist denn ihr Ehemann? Er ist nicht hier an
Bord.“
„Stansfield,
als ich sie als Anwalt ausgewählt hatte, gab es schon einen bestimmten Grund
dafür, nämlich dass sie recht ungenau arbeiten und es nicht immer so streng mit
den Vorschriften sehen. Es hätte ihnen doch damals schon längst auffallen
müssen, dass ich nie einen Ehemann hatte. Meine Tochter ist ein uneheliches
Kind. 22 Jahre sind seither vergangen, aber so etwas vergisst man nicht. Und
wir waren damals noch so unschuldig.“
Beinahe
hätte der Anwalt sich an seinem Drink verschluckt. Zu ungeheuer schien ihm die
Nachricht.
„Das Kind
ist unehelich? Das ist ja unglaublich, das grenzt an einen Skandal! Wer ist der
Vater, sagen sie es mir auf der Stelle!“
„Sie mögen
es nicht glauben, aber der Vater ist hier an Bord der Titanic. Es ist Bruce
Ismay.“
War
Stansfield eben noch entsetzt, so fehlten ihm jetzt völlig die Worte. Sein
eigener Klient in so einer vertrackten Beziehung mit einer anderen Klientin.
Und dann noch so ein hoch angesehener Mann! Er schnappte nach Luft.
„Jetzt
schauen sie nicht so komisch. Damals kannten wir uns nur flüchtig“, versuchte
Ms Hilton zu erklären, „aber daraus ist Claris geworden. Er kennt sie nicht. Er
weiß nicht, dass er eine Tochter hat, zu früh ist er damals von mir
weggegangen, um seine Karriere anzugehen. Auch mich wird er wahrscheinlich
nicht mehr wiedererkennen.“
„Ich muss
ihnen das alles einfach glauben. Ich hoffe, sie wollen mich nicht austricksen. Nun,
wenn das wirklich alles wahr ist, dann muss ich als sein Anwalt mit Mr Ismay
sprechen. Ich muss ihm erzählen, dass er eine Tochter hat, und dass sie beide
hier an Bord sind. Es ist meine Pflicht.“
Diana
Hilton, die an das Bullauge getreten war, um einen verträumten Blick auf das
Meer zu werfen, drehte sich auf der Stelle um. Ihre Augen fixierten den Anwalt
erbarmungslos und ihre Stimme war eiskalt.
„Nein. Sie
werden schweigen. Sollte Bruce jemals erfahren, dass die Affäre von damals
nicht ohne Folgen geblieben ist, geht es ihnen an den Kragen. Das wollen sie
doch bestimmt nicht, oder?“
Ein um
Mitleid flehender Ton schwang in der Stimme des Anwaltes mit, als er erwiderte:
„Aber ich darf einem Klienten eine so ungeheuerliche Nachricht nicht
verschweigen, das müssen sie doch verstehen!“
„Na, dann
zeigen sie doch mal, wem sie ihre Loyalität entgegenbringen.“
„Wissen
sie, Mrs Hilton, da muss ich wirklich überlegen. Mr Ismay zahlt mir schließlich
mehr. Und von der menschlichen Seite betrachtet…“ Er legte eine Pause ein und
strich mit dem Ringfinger über den Rand seines Whiskyglases. „Sie sind ziemlich
ungerecht zu ihrer Tochter. Ihr Vater wäre sicher eine Stütze für die arme
Claris in dieser harten Zeit. Dass sie ihr einen Verlobten aufzwingen, finde
ich sehr herzlos von ihnen.“
Diana
Hilton wandte sich wieder dem Bullauge zu und blickte auf die weite See und auf
den Sternenhimmel. Ihre Stimme schien ganz weit weg, als sie zu erklären
versuchte:
„Mein Leben
lang habe ich mich um meine Tochter gesorgt. Eine Tochter, die keinen Vater
hatte. Ich habe mich aufgeopfert, damit sie ein besseres Leben führen konnte
als ich es tue. Ich will doch nur das Beste für sie. Es liegt mir sehr am
Herzen, für meine Familie einen besseren Platz in der Gesellschaft zu erlangen.
Das geht nur durch Heirat, das werden wohl selbst sie verstehen. Schauen sie
sich doch nur all die Snobs an, die hier vor kurzer Zeit noch am Empfang
standen. Solche Leute haben immer auf uns herabgeschaut, uns als unwichtig
abgehandelt. Menschen wie ich werden als kleine, dumme Püppchen gesehen, die
zwar nett aussehen, solange sie nur herumstehen, die aber keinen kulturellen
Nutzen für die feine Gesellschaft haben und nur behindern, wenn sie sich
einmischen. So war es schon immer und ich will verhindern, dass es ewig so
weitergeht.“
Sie drehte
sich um und blickte den Anwalt erneut eindringlich an.
„Das
verstehen sie doch, oder?“
„Aber ihre
Tochter war verliebt! Und sie zerstören diese Liebe für einen billigen
Gesellschaftsbonus!“
„Glauben
sie nicht, dieser Bonus, wie sie es nennen, sei mir billig. Aber sie sehen das
ganz richtig. Er war sowieso nichts wert, dieser… dieser Morrison. Bah, er
hätte sie nur ausgenutzt und ruiniert. Eine Mutter sieht das sofort.“
„Und nun
haben sie ihn in England zurückgelassen und ihre Tochter ist todunglücklich.“
„Sie hat
nicht unglücklich zu sein. Ich bin ihre Mutter und weiß, was das Beste für sie
ist. Das hat sie gefälligst einzusehen!“ Mittlerweile wurde sie immer lauter.
„Mrs
Hilton, beruhigen sie…“
„Mann,
verstehen sie denn gar nichts“, wurde Stansfield von ihr unterbrochen. „Ich bin
eine Ms Hilton. Unverheiratet!“
Stansfield
hob beschwichtigend die Arme.
„Wie sie
wollen, Ms Hilton, aber bitte beruhigen sie sich. Ich würde ihnen ja gerne
helfen, aber wenn irgendwann herauskommt, dass ich diese Information unterschlagen
habe, dann wandere ich ins Gefängnis.“
„Tja,
Stansfield, scheint, als wären sie in einer Zwickmühle. Ich rate ihnen an, das
Problem zu beseitigen, indem sie Ismay beseitigen. Gut“, räumte die eiskalte
Lady ein, „wenn man sie ertappt, werden sie wahrscheinlich gehängt, aber die
Freiheit erfordert ein gewisses Risiko, nicht wahr?“
Der Anwalt
schluckte und fragte ganz ruhig: „Sie wollen allen Ernstes, dass ich Bruce
Ismay ermorde?“
„Genau.
Töten sie ihn. Dann haben wir alle etwas davon. Claris braucht nie etwas von
ihrem Vater zu erfahren, ich brauche mich nicht mit ihm herumschlagen und sie
sind aus ihrer Zwickmühle befreit. Sie würden dafür sogar eine kleine Zulage
von mir erhalten, denn es wird nicht einfach werden. Er umgibt sich immer mit
Menschen, aber sie schaffen das schon. Ich wünsche ihnen viel Spaß!“
Mit diesen
Worten nahm Ms Hilton ihren Anwalt bei der Hand und führte ihn langsam, aber
bestimmt zur Tür.
„Sie
sollten sich aber nicht zuviel Zeit lassen. Irgendwann sind wir in New York und
dann ist es zu spät. Am besten, sie erledigen das sofort. Und jetzt hinaus!“
Mit einem
kräftigen Schubs befreite sie sich von Stansfield und schlug die Tür lautstark
hinter ihm zu. Der Anwalt wandte sich zum Gehen und stieß dabei fast mit
Steward Miller zusammen, der ihm entgegenkam.
„Guten
Abend! Kann ich ihnen helfen?“ fragte er wie immer zuvorkommend mit näselnder
Stimme. „Ich habe laute Geräusche gehört und dachte mir, vielleicht braucht
jemand Hilfe?“
„Nein
danke. Sie können mir nicht helfen“, antwortete sein Gegenüber undurchsichtig
und ging weg. Miller zog zweifelnd eine Augenbraue hoch und setzte seinen Weg
durch die Korridore fort.
Das Atrium - "Wo Ruhm und Ehre die Zeit krönen"
Beinahe
hätte Patrick Grearson sich auf dem Schiff verlaufen, während er den Weg zu
Kabine F-16 suchte. Schließlich aber hatte er in den Tiefen der Titanic dieses
Zimmer ausfindig gemacht und klopfte an der geweißten Holztür.
„Mrs
Dobbins, sind sie da? Mein Name ist Patrick Grearson. Sie werden mich wohl kaum
kennen, aber ich muss mit ihnen sprechen.“
Es dauerte
einen kleinen Moment, bis sich die Tür einen Spalt öffnete. Ein Augenpaar
blickte misstrauisch aus dem Zimmer.
„Guten
Abend, Mrs Dobbins. Captain Smith schickt mich. Ich muss mit ihnen reden.“
Die
Erwähnung des Namens des Kapitäns schien Eindruck auf das Augenpaar gemacht zu
haben. Die Tür öffnete sich ganz und Geraldine Dobbins kam zum Vorschein. Sie
sah genau so aus, wie Grearson sie vom Foto erwartet hatte. Eine kräftige Frau
in den frühen Sechzigern mit ergrautem Haar, das von einem Haarnetz umhüllt
war. Auch jetzt trug sie denselben weißen Kittel, den Grearson auf dem Foto
gesehen hatte.
„Na dann
kommen sie doch herein. Aber glauben sie nicht, dass ich extra für sie alles
hergerichtet habe.“
Er fühlte
die Feindseligkeit in ihrer Stimme. Scheinbar wollte sie mit niemandem etwas zu
tun haben. Unsicher betrat er ihre Kabine. Die Luft war überraschend warm, um
nicht zu sagen muffig. Ein Hauch von Mottenkugeln lag über allem. Schlichte
Hausfrauenkleider und Schürzen waren über das ganze Sofa verteilt. Mrs Dobbins
wischte sie zur Seite, wobei die Hälfte auf den Boden fiel. Das schien sie aber
überhaupt nicht zu stören. Die Hausfrau deutete Grearson, sich auf den
freigemachten Platz zu setzen, sie selbst nahm auf einem Stuhl Platz.
„Vielen
Dank, dass sie mich hereingelassen haben. Mrs Dobbins, etwas Unglaubliches ist
hier an Bord geschehen. Mr Ismay ist ermordet worden.“
„Ja und?“
„Sie
scheinen nicht zu verstehen. Bruce Ismay war der Vorsitzende der White Star
Linie. Man hat ihn umgebracht.“
Geraldine
Dobbins ließ keinen Zweifel daran, dass ihr die Wäsche wichtiger war als diese
Angelegenheit.
„Und warum
kommen sie wegen so einer Lappalie zu mir?“
„Weil ich
vermute, dass sie etwas damit zu tun haben.“
„Ach, ist
das so? Ich verstehe. Sie denken, dass ich den alten Knacker erstochen hätte,
wie?“
Grearson
war überrascht.
„Mrs
Dobbins, was reden sie denn da? Woher wissen sie, dass man ihn erstochen hat?
Das sollte bis jetzt geheim bleiben.“
Die
Hausfrau holte aus ihrem Kittel ein Taschentuch und wischte sich den Schweiß
von der Stirn.
„Man hört
hier viel an Bord“, konterte sie ruhig.
„Das glaubt
ihnen doch keiner. Nur Offizier Murdoch, Captain Smith, Steward Miller und ich
wussten davon. Damit machen sie sich ja selbst verdächtig. Also geben sie nicht
mir die Schuld, wenn ich eine kleine Vermutung äußere.“
„Jetzt
hören sie mir mal zu, junger Mann. Ich habe niemanden ermordet. Warum sollte
ich auch, und warum gerade den Präsidenten der Gesellschaft? Schauen sie sich
doch einmal in meiner Kabine um. Ich bin nur eine arme Hausfrau, die alles in
England aufgegeben hat, um in Amerika eine neue Existenz aufzubauen. Wollen sie
mir das mit ihren infamen Behauptungen ruinieren?“
„Nein. Ich
halte mich an die Tatsachen. Ich meine, gerade die Armut kann doch ein
reizendes Motiv bilden. Vielleicht war Erpressung im Spiel?“
„Mit
scheint es, dass sie zu viele Geschichten lesen, Mr Grearson. Da werden auch
immer so weit hergeholte Vermutungen angestellt. Sie wollen sich an die
Tatsachen halten? Bitte, dann tun sie das.“
„Verlassen
sie sich darauf. Doch bevor ich sie frage, warum sie überhaupt alles aufgegeben
haben, möchte ich ihnen etwas zeigen.“
Grearson
holte den Bogen Papier mit dem Lichtbild heraus und legte ihn auf den Tisch,
auf einen Haufen von Taschentüchern und Schlüpfern. Mrs Dobbins beugte sich
weit über den Tisch, um die Fotografie erkennen zu können. Sie versuchte, ihre
Überraschung durch genervten Tonfall zu überspielen.
„Soll das
etwa ich sein, die da herumkriecht?“
Volltreffer.
„Kein
Zweifel, Mrs Dobbins, das sind sie. Der Liftboy hat sie erkannt.“
„Dieser
Bengel, das setzt noch eine Ohrfeige“, sagte Mrs Dobbins eher zu sich selbst.
„Sie
schleichen da vor Bruce Ismays Kabine herum. Das hat mir der Fotograf
bestätigen können. Sie schauen doch ganz offensichtlich durch das
Schlüsselloch. Mir drängt sich ohne Alternative der Verdacht auf, dass sie
nachgeschaut haben, ob die Luft rein ist, dass sie dann die Kabine betreten
haben, Ismay ermordet haben und dann die Leiche vor meine Kabine geschleppt
haben.“
Die
Hausfrau erhob sich von ihrem Stuhl und stemmte die Hände in die Hüften.
„Soll ich
ihnen mal was sagen, Mr Grearson? Das ist ausgemachter Müll, was sie mir da
erzählen. Zunächst einmal erklären sie mir doch bitte, weshalb ich nachschauen
sollte, ob die Luft rein ist. Was sollte denn da unrein sein? Und wie sollte
ich so einfach in seine Kabine gekommen sein? Er wird abgeschlossen haben und
nicht für irgendwelche Unbekannten seine Tür öffnen. Und wenn die Leiche, wie
sie sagen, an ihre eigene Tür gelehnt wurde, dann könnte es doch durchaus sein,
dass ich sie dort gesehen habe und daher weiß, dass er erstochen wurde. Und
warum hätte ich Ismay töten sollen? Jetzt kommen sie mir nicht wieder mit
Erpressung. Ich habe mit ihm doch überhaupt nichts am Hut! Ich muss mir das
nicht länger gefallen lassen, ich habe schon genug Sorgen. Belästigen sie
gefälligst jemand anderen!“
Wieder
glänzten Schweißperlen auf ihrer Stirn. Grearson gab sich geschlagen, sie hatte
gute Argumente. Schweigend verließ er die Kabine. Warum hätte sie Ismay töten
sollen?
Draußen auf
dem Flur kam ihm ein junges Mädchen entgegen, vielleicht 23 Jahre alt. Sie
hatte rotes, lockiges Haar, das von einem kleinen Spitzenhäubchen verdeckt
wurde. Dazu trug sie eine passende weiße Schürze mit Spitzen. Grearson war
sofort angetan von ihrer zierlichen Gestalt.
„Guten
Abend, Miss!“
„Oh, guten
Abend“, sagte das Mädchen außer Atem. „Entschuldigen sie bitte, aber ich bin in
Eile. Ich bin Kindermädchen und nur kurz auf dem Weg zu meiner Kabine, um ein
paar Sachen zu holen.“
Grearson
war bezaubert von der hellen, glasklaren Stimme des Mädchens. Sie schien ihm
engelsgleich in ihrer weißen Kleidung. An ihrer rechten Hand trug sie einen
wunderschönen Ring mit einem Edelstein, der ebenso klar funkelte wie ihre
Augen.
„Sind sie
auch hier in der Nähe?“
„Ja, in
Kabine F-18.“
„Dann haben
sie ja das Zimmer direkt neben Mrs Dobbins!“
„Ach, die
Hausfrau. Ja, sie klagt sehr oft über die Fahrt nach Amerika.“
„Das habe
ich auch schon gehört. Sie hat in England alles aufgeben müssen, meinte sie.
Hat sie ihnen vielleicht erzählt, warum?“
„Da sollten
sie nicht mich fragen. Sie sollten zu Mr Ismay gehen und mit ihm darüber
sprechen, was vor fast einem Jahr in Belfast passiert ist. Hach, ich sollte
nicht so viel tratschen, ich muss jetzt wirklich los.“
Da war sie,
die Verbindung zwischen Dobbins und Ismay. Zu dumm, dass er nie von Bruce Ismay
erfahren würde, was damals passiert ist. Aber es gibt auch noch andere Wege,
dachte Grearson. Er schenkte dem jungen Mädchen ein Lächeln.
„Sie haben
einen schönen Ring an ihrer rechten Hand.“
„Nicht
wahr?“ antwortete sie und hielt ihre Hand gegen das Licht, das sich in allen
Facetten brach. „Den hat meine Chefin mir geschenkt. Sie ist ja so großzügig.“
„Ich
bedanke mich bei ihnen für die Auskunft. Sie haben mir schon sehr geholfen“,
sagte Grearson höflich und blickte ihr noch kurz hinterher, bis sie in ihrer
Kabine verschwunden war.
Ein Blick ins Café Parisian
Der
saftige, grüne Efeu rankte sich an dem weißen Holzgitter im Café Parisian
empor. Der längliche Saal war erstaunlich leer für diese Zeit. Susan Lockett
saß an einem der Tische, hatte die Beine übereinandergeschlagen und trank
nachdenklich einen Schluck Tee aus einer der exquisiten, extra für die Titanic
angefertigten Tassen.
Miller, der
Steward, betrat das Café und ließ seinen Blick schwenken. Er suchte nichts
Bestimmtes, aber es war schließlich seine Aufgabe, für das Wohlbefinden aller
zu sorgen. Als er Mrs Lockett in nachdenklicher Haltung an ihrem Tisch sitzen
sah, trat er unauffällig dazu.
„Entschuldigen
sie, kann ich ihnen vielleicht helfen? Sie sehen sehr unentschieden aus. Gibt
es ein Problem oder darf ich ihnen einfach eine weitere Tasse Tee bringen?“
Ms Lockett
lächelte für einen kurzen Moment.
„Vielen
Dank, ich brauche nichts. Ich denke nur nach.“
„Hoffentlich
verzeihen sie meine Neugier, aber es gibt hier nicht allzu viele…“ Miller
zögerte aus Höflichkeit, es auszusprechen, empfand es schließlich aber doch
eher als unhöflich, so zögernd mit dem Thema umzugehen. „Es gibt hier nicht
allzu viele farbige Gäste an Bord. Sie sind nicht aus Europa, darf ich
annehmen?“
„Das dürfen
sie annehmen. Und es steht ihnen offen, mich zu fragen, was sie wollen. Das
machen viele und ich habe mich daran gewöhnt. Ich stamme aus Afrika.
Westafrika, um es etwas genauer zu beschreiben.“
Miller
wagte einen Schritt in die Unverfrorenheit und setzte sich ungefragt zu der
jungen Frau. Die aber schien zu sehr mit ich beschäftigt zu sein, um Einspruch
zu erheben.
„Das
fasziniert mich sehr“, gab der Steward zu. „Sie machen auf mich den Eindruck
einer Geschäftsfrau. Ist das zutreffend?“
„Nicht
ganz. Ich leite eine Partneragentur mit einer Zweigstelle in New York. Ich
nutze die Gelegenheit für eine Art journalistische Weltreise, da ich nebenher
kleinere Kolumnen schreibe.“
„Sie müssen
meine Unwissenheit entschuldigen, aber ich kann mir unter einer Partneragentur
nichts vorstellen. Geht es dabei um Firmenpartner?“
„Nein, es
ist rein romantischer Natur. Eine Agentur für Verliebte, haben sie noch nie von
so etwas gehört? Menschen, die einen Partner suchen, die sich verlieben wollen,
annoncieren bei mir. Und mit etwas Glück finden sie dann den idealen
Lebensgefährten. Das ist immer ganz süß, wenn die frisch verliebten Pärchen
vorbeikommen, um sich nochmals zu bedanken. Manchmal wünschte ich, ich gehörte
auch dazu“, schob Ms Lockett mit etwas wehmütiger Stimme hinterher.
„Dann sind
sie noch nicht verheiratet?“
„Nein. Ich
warte auf den Mann für mein Leben. Bisher habe ich ihn noch nicht getroffen.“
„Ist das
nicht eine Ironie? Sie, die so viel Gutes für die Liebe tun, die Amors Pfeil
zwischen den Menschen hin- und hertragen, sollen selbst allein bleiben? Machen
sie sich keine Sorgen, so wird es nicht ewig sein.“
Ms Lockett
musste lachen.
„Sie haben Recht,
es ist eine Ironie. Aber ich werde weiter suchen.“
In diesem
Moment unterbrach kreischendes Gelächter aus dem hinteren Teil des Cafés die
Atmosphäre. Miller und Ms Lockett wandten den Blick nach hinten. Susan schlug
die Hände über dem Kopf zusammen.
„Meine
Güte. Bitte beachten sie die gar nicht, das ist Letitia Dumonde. Eine
verrückte, reiche Dame, die neben mir ein Zimmer hat. Sie ist fürchterlich
aufgeblasen und sucht immer nach Gelegenheiten, mich zu demütigen. Sie kann es
wohl nicht leiden, dass ich eine Schwarze bin.“
„Seien sie
aber vorsichtig, wie sie mit ihr umspringen“, gab der Steward zu bedenken.
„Reiche Leute haben oft guten Einfluss, also sollten sie es sich mit ihr nicht
verderben.“
„Ich
glaube, das habe ich schon“, meinte Ms Lockett lächelnd und dachte an die Szene
auf dem Empfang. „Aber das ist mir egal. Wenn ich erst einmal auf solche Leute
wie die Dumonde angewiesen bin, dann ist alles verloren.“ Sie musste lachen. Um
nicht unhöflich zu sein, lachte Miller kurz mit und wechselte dann das Thema.
„Wissen
sie, ich habe so ein altes Klischee von Afrika… noch aus meiner eigenen Schulzeit.
Und nun treffe ich endlich jemanden, den ich wirklich mal darüber fragen kann.
Sie sagen ja, dass sie dort aufgewachsen sind. Haben sie einem Volksstamm
angehört oder tun sie das immer noch? Ich meine, das mag ja eine ungeschickte
Frage sein, aber ich kenne mich da wie gesagt nicht aus. Und ich habe immer
noch das Bild der vielen verschiedenen Kulturen vor meinem Auge.“
Verschämt
blickte Ms Lockett zu Boden und sagte mit belegter Stimme:
„Das ist
ein Thema, mit dem ich mich nur ungern auseinandersetze.“
Beschwichtigend
fuhr Miller dazwischen.
„Entschuldigen
sie bitte, ich war penetrant. Sie müssen mir nichts erzählen.“
„Doch. Ich
bin von Geburt an Mitglied im Stamme der Taschk´Unapei. Das ist ein kleiner
Stamm an der Elfenbeinküste, in der Nähe von Abidjan.“
„Taschk´Unapei
– bedeutet das irgendwas in ihrer Sprache?“
Ms Lockett
lächelte.
„Ausnahmsweise
ist das mal nicht so. Oder wenn es so ist, dann wissen wir nichts davon. Unsere
Vorfahren haben diese Buchstabenfolge als ungelenke Inschrift an der Mauer
eines Heiligtums gesehen. Diese Worte waren ihnen nie begegnet, aber sie
symbolisierten Macht und Stärke, vor allem aber Gottesfürchtigkeit für sie. So
sind wir zu diesem Namen gekommen.“
„Dann haben
sie also auch einen oder mehrere Götter, die sie verehren?“
„Richtig.“
Ms Lockett schaute auf ihre Armbanduhr und blickte in Richtung der Fenster. „Er
steht jetzt gerade am Himmel. Weit im Westen. Es ist das Sternbild des Orion,
aber bei uns heißt der Gott Nun´Xite. Auch dieser Name eine weitere Inschrift.“
„Sie mal
einer an, der Orion! Das ist sehr interessant, ich habe mich schon immer für
die Astronomie interessiert.“
Susan
Lockett blickte Miller überrascht an.
„Ach ja?
Aber warum sind sie dann nicht in die Forschung gegangen, sondern als Steward
auf der Titanic gelandet?“
„Wissen
sie, ich denke, dass ich in meiner Aufgabe hier mehreren Menschen helfen kann,
als es in der Astronomie der Fall gewesen wäre. Ich bin froh, hier Steward sein
zu dürfen.“
„Nun ja,
ich kann jedenfalls ihre Begeisterung für die Sterne nicht unbedingt teilen.
Ich fand es bisher immer sehr langweilig.“
Miller
dachte an die Ereignisse des Abends und schmunzelte.
„Nun, daran
sollte sich etwas ändern. Und das schon bald, keine Angst.“
„Muss ich
das jetzt verstehen?“ fragte Ms Lockett verwirrt.
„Nein. Es
wäre nett, wenn wir uns später nochmals treffen könnten, Miss…“
„Jetzt habe
ich schon wieder vergessen, mich vorzustellen! Mein Name ist Susan Lockett,
entschuldigen sie bitte.“
„Nennen sie
mich einfach Miller. Ich muss jetzt wieder los, schließlich gibt es auf dem
ganzen Schiff immer viel zu tun. Wir sehen uns!“
Miller
nickte und ging schnellen Schrittes Richtung Tür. Ms Lockett blieb sitzen und
dachte nach. Sie gab vor, sich nicht dafür zu interessieren, doch Miller musste
sie irgendwie durchschaut haben. Sie dachte über den Orion nach…
Das türkische Bad
Ein wenig
zögernd betrat David Morrison das türkische Bad, das sich im vorderen Teil des
F-Decks befand. Er wurde überwältigt von der schwülen Luft, die ihm
entgegenschlug. Mehrere Männer, zumeist mit Handtüchern um den Hüften
bekleidet, gingen in der feuchtheißen Luft auf und ab oder hatten sich in einen
der Korbstühle gesetzt, die über den Raum verteilt waren. Mitunter verließ auch
mal einer den Raum in Richtung des angrenzenden elektrischen Bades oder des
Abkühlraumes. Morrison begab sich zur Umkleide und trat wenig später selbst nur
leicht bekleidet in den Raum, in dem er in voller Kleidung wohl zugrunde
gegangen wäre.
Bewundernd
blickte er sich im türkischen Bad um. Alle Wände waren gekachelt, die gekachelten
Flächen wiederum von edlem Teakholz umrahmt. An den Wänden standen Tische mit
osmanischen Intarsien. Ein Waschbecken mit Spiegel befand sich an der Wand, die
der Eingangstür gegenüberlag. Links davon ein Brunnen mit Trinkwasser, an dem
gerade jemand zugange war, um sich zu erfrischen, was in der Hitze des Bades
unbedingt nötig war.
Wo sollte
nun Mr Borebank zu finden sein? Morrison versuchte es auf gut Glück und rief in
den Raum:
„Mr
Borebank? Ich suche einen Mr Borebank!“
Der Mann am
Trinkwasserbrunnen drehte sich zu ihm um.
„Das bin
ich. Walter Borebank. Und mit wem habe ich die Ehre?“
Morrison
schaute den Mann an. Das war also der Ehemann von Lucia Borebank. Vielleicht
war er 35 Jahre alt; älter auf keinen Fall. Er sah jünger aus als seine Gattin,
seine Jugend wurde durch die hochgewachsene und sportlich durchtrainierte Figur
unterstrichen.
„Mein Name
ist David Morrison. Ihre Frau schickt mich zu ihnen, ich habe eine wichtige
Frage.“
„Nun, dann
setzen wir uns doch!“
Beide
gingen zu einem Tisch in einer Ecke des Bades.
„Die gute
Lucia hat ihnen also nicht weiterhelfen können, wie? Dabei weiß sie doch sonst
immer alles“, fügte er mit einem Augenzwinkern hinzu.
„Tja, aber
in dieser Angelegenheit hat sie verzweifelt dreingeschaut. Mein Mann kümmert
sich immer um so etwas“, äffte Morrison die Frau seines Gegenübers
erbarmungslos nach.
Borebank
schien das nicht zu stören. Im Gegenteil, er lachte laut auf und schlug
Morrison auf die Schulter.
„Na, alter
Junge, wie kann ich ihnen denn zu Diensten sein?“
„Es geht um
ihr Kindermädchen. Ich suche sie wegen eines Ringes, der mir heimtückisch
abgenommen wurde.“ Morrison dachte grimmig an Jacques Cartier. „Ihre Frau
meinte, mein Ring sei eine Fälschung gewesen und ihr Kindermädchen besitze das
Original. Deshalb muss ich unbedingt mit ihr sprechen. Wie ist ihr Name und in
welcher Kabine ist sie untergebracht?“
„Sie heißt
Lucy Ratchett. Ihre Kabine ist F-18.“
Lucy
Ratchett… der Name erinnerte David Morrison. Erinnerte ihn an eine Zeit, die er
hinter sich lassen wollte. Ratchett…
„Ist Lucy
ihr richtiger Name oder nennen sie sie nur so?“ wollte er wissen.
„Sie heißt
mit vollem Namen Lucinda Maria Ratchett“, antwortete Borebank, „aber sie dürfen
nicht ernsthaft glauben, dass wir sie immer so gerufen haben. Lucy ist da viel
einfacher!“
Es gab
keinen Zweifel. Lucinda Ratchett, eine von vielen Affären, die er gehabt hatte.
Ein Name und ein Gesicht, mehr aber nicht. Doch sie wollte mehr. Sie dachte,
Morrison wäre wirklich in sie verliebt. Sie wollte ihn ganz für sich haben. Lucy
hatte ihm den Ring geschenkt. Die Fälschung. Und das Original hatte sie selbst
behalten. Sie hatte eine Kopie angefertigt für ihn als ewigen Liebesbeweis, wie
romantisch! Morrison schüttelte es bei dem Gedanken.
„Ist was?“
fragte Borebank, der sich über die Schweigsamkeit seines Gesprächspartners
wunderte.
„Ich kann
es ihnen ruhig erzählen. Ich war eine Zeit lang mit ihrem Kindermädchen
zusammen. Eine Affäre, mehr war es nicht. Doch sie wollte mehr. Daher hat sie
mir eine Kopie des Ringes geschenkt, den ihre Frau ihr gegeben hat. Nun bin ich
auf dem Weg zu ihr, um mir den echten Ring zu holen. Das ist eine abartige
Situation.“
„Wird sie
in ihnen wohl den Mann wiedererkennen, den sie einst liebte?“
„Eine
interessante Frage. Ich glaube schon, dass sie mich wiedererkennen wird.
Vielleicht liebt sie mich noch immer.“
„Das kann
ich mir nicht vorstellen. Sie schien mir recht leicht zu haben.“
Sofort
verstummte Borebank, als ihm bewusst wurde, was er gerade gesagt hatte.
„Wie
bitte?“
„Sie werden
meiner Frau nichts sagen, ist das klar!“
Morrison
nickte. Was hatte er davon, zu tratschen?
„Auch ich
hatte eine Affäre mit dem jungen Ding.“ Morrison schluckte, als er das hörte,
doch Borebank fuhr unbeirrt fort: „Scheint ja sehr aktiv zu sein, die Kleine.
Glauben sie im Ernst, dass sie etwas von ihnen wollte?“
„Keine
Ahnung. Mein Herz gehörte jedenfalls einer Anderen, doch ihre Mutter war gegen
die Bindung. Deswegen will ich jetzt meinen Traum in Amerika verwirklichen.“
Borebank
lehnte sich zurück und seufzte.
„Ja ja, immer
diese Probleme mit den Weibern. Gehen sie zu ihr, schnappen sie sich den Ring
und dann streichen sie sie aus ihrem Gedächtnis, das scheint dieses kleine
Flittchen gar nicht wert zu sein. Wissen sie, als Kindermädchen ist sie ganz
gut, aber menschlich ist das ja unerhört.“
Dass er
selbst seine Frau auf diese Weise hintergangen hatte, überging er
geflissentlich und auch Morrison hielt es nicht für nötig, weiter zu bohren.
„F-18, ja?“
„Genau. Sie
sollten es aber erst später versuchen, denn…“
„…sie ist
eine kleine Herumtreiberin. Ich weiß. Das hat ihre Frau auch schon erwähnt. Wer
weiß, vielleicht ist sie ja auf Männerfang? Ich werde es später mal versuchen.
Aber vielen Dank für die Info!“
Borebank
blickte ihn ernst an.
„Ich
verlasse mich darauf, dass sie schweigen können. Ich liebe meine Frau und
könnte es mir nicht leisten, sie zu verlieren. Auf Wiedersehen!“
Damit erhob
er sich und betrat den Seitenkorridor. Morrison hingegen atmete noch ein wenig
die schwere Luft des türkischen Bades ein und versuchte, Lucys Lebenswandel zu
ignorieren und sich auf das Wesentliche, nämlich den Ring zu konzentrieren.
Auf dem Oberdeck der Titanic
„Mr
Grearson! Sie hätte ich hier draußen nun überhaupt nicht erwartet.“
„Das
Gleiche gilt für sie, Miller. Sollten sie nicht unter Deck sein und sich um die
Passagiere kümmern?“
Der Steward
ging das Bootsdeck zum Bug hinunter und trat zu Patrick Grearson an die Reling.
Das Bootsdeck war verlassen. Nur Offizier Morrow trat vor dem Funkraum auf und
ab.
„Ich wollte
mich nur ein wenig umschauen. Den Sternenhimmel betrachten. Mal sehen, ob ich
den Orion finden kann.“
„Ach,
interessieren sie sich für Sterne?“
Grearson
blickte Miller überrascht an und zeigte auf das Sternbild des Orion, das sich
am Firmament vor dem Bug der Titanic, noch knapp über dem Horizont erkennbar
zeigte.
„Dort haben
sie ihn, Orion, den Jäger.“
„Richtig,
Mr Grearson. Die Astronomie hat mich schon immer ein wenig interessiert, wissen
sie, gerade seit meiner eigenen Schulzeit. Wie gerne habe ich mich mit den
Lehren des Kopernikus wie auch denen des Galilei beschäftigt! Und heute ist
eine so wunderbare Nacht, keine Wolken, die Sterne funkeln geradezu!“
Offizier
Morrow hatte diese letzten Gesprächsfetzen überhört und trat an die beiden
Personen heran. Ein wenig mürrisch meinte er:
„Und wir
haben keinen Mond. Das kann kein gutes Zeichen sein. Die Nacht ein einziger
finsterer Schlund, und wir sind ihr hilflos ausgeliefert. Mondlose Nächte haben
mir schon immer Unbehagen beschert.“
„Dann
sollten sie mal die positiven Seiten betrachten, Mr Morrow“, gab Miller zu
bedenken. „Im Mondlicht ist es oft so hell, dass man die umliegenden Sterne
überhaupt nicht erkennen kann. Aber heute, da sehen sie selbst die kleineren
Sterne, es ist wirklich ein ganz toller Anblick.“
Grearson
schwieg unterdessen und hatte den Blick nach oben gerichtet. Morrow konnte die
Begeisterung nicht teilen.
„Das ist
ihre Angelegenheit. Mir haben mondlose Nächte bisher nie Gutes gebracht. Ich
werde zu Murdoch auf die Brücke gehen. Und sie sollten sich als Steward besser
um die Passagiere kümmern!“
Mit dieser
Mahnung verschwand Morrow.
„Mr
Grearson, wo ich sie schon einmal treffe, darf ich doch sicher fragen, ob sie
weitergekommen sind in der Angelegenheit Ismay?“
Grearson
drehte sich zu um und suchte aus seiner Tasche das Foto von Mrs Dobbins, das
der Fotograph gemacht hatte. Er zeigte es Miller.
„Mr
Stevens, ein Journalist aus C-was weiß ich? Jedenfalls auf meinem Deck, der hat
dieses Foto gemacht. Es zeigt eine Hausfrau, die durch das Schlüsselloch von Mr
Ismays Kabine schaut. Ich habe sie ausfindig machen können. Sie heißt Geraldine
Dobbins auf dem F-Deck. Ich habe auch bereits mit ihr gesprochen, aber sie hat
sehr verschlossen reagiert. Hat mir keine Auskunft geben wollen.“
„Vielleicht
haben sie ein wenig zu direkt gefragt?“
„Ich habe
sie nur gebeten, mir zu erklären, warum sie vor Ismays Kabine herumgekrochen
ist.“
„Verständlich,
dass sie ihnen keine Auskunft geben wollte, wenn sie etwas Unrechtmäßiges im
Sinn hatte. Doch genau das gilt es zu lösen. Wenn sie durch das Schlüsselloch
geschaut hätte, wäre es sicher interessant zu wissen, was sie gesehen hat. Und
wenn sie selbst in der Kabine gewesen wäre, stellt sich uns die Frage, woher
sie einen Schlüssel hat!“
Miller
zögerte. Das war wirklich eine wichtige Frage.
„Andererseits“,
warf Grearson ein, „müssen wir bedenken, dass die Leiche an meiner Tür lehnte.
Niemand sagt, dass Ismay in seinem Zimmer ermordet wurde.“
„Richtig,
und genau deshalb müssen wir nochmals mit der Hausfrau Kontakt aufnehmen. Wir
müssen wissen, was sie dort gesehen hat. Aber das müssen sie erledigen. Ich
muss unter Deck meiner Arbeit nachgehen. Machen sie ein wenig höflichen Druck
auf Mrs Dobbins, wenn sie nicht sprechen will. Sagen sie, sie wären im Namen
der Regierung unterwegs oder so etwas. Wenn sie aber bereit ist, zu sprechen,
dann seien sie höflich, vorsichtig und auf keinen Fall zu direkt, das
verschreckt sie nur.“
„Miller, es
ist erstaunlich, wie kühl sie die Situation kalkulieren. Aber sie haben recht,
so muss es gehen.“
„Wir
sollten wirklich wieder unter Deck gehen. Es ist jetzt nach einundzwanzig Uhr
und die Temperatur liegt nur noch bei knapp 33 Grad Fahrenheit. Kein Wunder,
dass die Passagiere nicht mehr auf dem Bootsdeck spazieren.“
„Wir
befinden uns halt im Nordatlantik, da ist es schon mal kälter als erwartet. Ich
frage mich nur, ob wir auch auf Eis stoßen werden.“
Der Steward
lachte.
„Nun
übertreiben sie aber. Vielleicht werden wir Eis sehen, aber wir werden gewiss
nicht darauf stoßen, wie sie sagen. Oben, in den beiden Krähennestern, sitzen
zwei äußerst fähige Menschen, Fleet und Lee, die Ausblick halten und die Brücke
rechtzeitig warnen werden, falls Eis in Sicht ist.“
Grearson
blickte nach oben. Dabei fiel sein Blick auf die riesigen Schornsteine der
Titanic. Vier Stück an der Zahl. Majestätisch ragten sie in den Nachthimmel
hinauf. Aus irgendeinem Grund schien der vierte Schornstein nicht im Betrieb zu
sein.
„Miller,
was ist mit diesen Schornsteinen?“
„Ich bin
sehr erfreut, dass es ihnen aufgefallen ist. Sehen sie, die meisten Passagiere
flanieren hier auf dem Deck des größten und luxuriösesten Schiffes, das die
Welt je gesehen hat, und haben überhaupt kein Auge für solche Details. Der
vierte Schornstein ist nur eine Attrappe. Es wurden nur drei Schornsteine
benötigt, aber der Aberglaube, dass die Zahl Vier Glück bringt, veranlasste
Harland & Wolff, einen vierten Schornstein anzubringen. Aber was erzähle
ich ihnen, sie wollten jetzt auch ihren Ermittlungen nachgehen. Und vergessen
sie nicht, Smith Bericht zu erstatten, falls sie etwas entdecken sollten!“
„Das versteht
sich von selbst, Miller.“
Die beiden
trennten sich. Grearson ging noch eine Runde über das Deck. Er war in
unerwartet guter Laune, atmete tief die kalte Luft ein und warf einen weiteren
Blick auf den Orion. Dann verließ er das Deck und machte sich auf den Weg
zurück in seine Kabine. Er beschloss, sich den Luxus des Fahrstuhls zu gönnen
und traf auf dem A-Deck wieder auf den Fahrstuhlführer Miles Hutchins.
„Guten
Abend, Mr Grearson.“
„Hallo,
Miles. Ich möchte auf das C-Deck.“
„Selbstverständlich.
Treten sie ein!“
Im
Fahrstuhl fragte Grearson: „Na, etwas Neues?“
„Glauben
sie das besser nicht. Und dabei warte ich so darauf, dass sich mal wieder etwas
ereignet, es wird ja beinah langweilig.“
„Du hörst
dich an, als wartetest du auf etwas Bestimmtes?“
„Sie
durchschauen mich. Ist es denn so offensichtlich? Ja, ich bin eigentlich
verabredet.“ Der Fahrstuhl war angekommen, doch Hutchins ließ sich nicht
beirren. „Heute Nachmittag zu Kaffeezeit hatte ich Mrs Ismay als Fahrgast, sie
steckte mir ein ordentliches Trinkgeld zu, eine Geldnote, und darin war eine
kleine Notiz eingewickelt, dass sie mich heute Abend wiedersehen wollte. Ich sollte
hier auf sie warten, aber sie kommt einfach nicht.“
„Mach dir
keine Sorgen, Miles, der Abend ist noch jung.“ Grearson versuchte geschickt,
seine Aufregung zu verbergen. „Und wenn es das erste Treffen mit dieser Frau
ist, ist sie vielleicht noch ein wenig unsicher. Das kommt schon noch“, meinte
er beruhigend.
Hutchins
widersprach: „Aber wir kennen uns doch schon länger! Ich bin doch kein Fremder
mehr, sie sollte mich eigentlich nicht warten lassen.“
„Ihr kennt
euch?“
„Ja, seit
ein paar Wochen schon. Sie wollte doch, dass ich diese Stelle hier annehme. Mr
Grearson, ich muss wieder nach oben, jemand ruft den Fahrstuhl. Wir können später
weiterreden.“
„In
Ordnung. Bis später!“
Grearson
verließ den Fahrstuhl, während der Liftboy sich wieder nach oben begab. Das war
ja äußerst interessant. Wie Hutchins selbst gesagt hatte: Lassen sie die Leute
reden und sie erzählen von selbst. Ganz offensichtlich hatte die gute Ehefrau
des White Star-Präsidenten eine Affäre mit diesem Liftboy. Grund genug, den
lästigen Ehemann auszuschalten?
Grearson
ging den Flur zu seiner Kabine hinab, schloss auf und trat ein. Als er spürte,
wie er auf Papier trat, blickte er nach unten. Jemand hatte in seiner
Abwesenheit eine Nachricht unter der Tür hindurchgeschoben. Grearson hob sie
auf und las sie:
„Der
Zahlmeister war so freundlich, mir ihre Zimmernummer zu sagen. Ich muss mit
ihnen sprechen, ich habe ihnen etwas zu sagen. Etwas, das sie vielleicht
interessieren könnte. Ich will mich mit ihnen treffen, aber nicht sofort.
Kommen sie um 23 Uhr auf den Schottlandweg, zu Seil und Beil. Geraldine
Dobbins.“
Nachdem der
Steward das Café Parisian verlassen hatte, war Susan Lockett noch sitzen
geblieben. Sie betrachtete den Teesatz in ihrer Tasse und dachte über ihr Leben
nach und über ihre Aufgabe. Die Aufgabe, die ihr von ihrer Familie übertragen
wurde. Die Aufgabe, die zu erfüllen ihr sehnlichster Wunsch seit Beginn der
Reise gewesen war. Doch sie war gescheitert. Ms Lockett dachte an Orion, an
ihren Gott Nun´Xite, dachte an den Zorn ihres Volkes bei ihrer Heimkehr. Sie
dachte an Bruce Ismay und empfand in jenem Augenblick nur Hass für diesen
Menschen. Und dann Verwirrung, als immer wieder das laute Kichern, man darf es
schon Kreischen nennen, seitens der edlen Letitia Dumonde ihre Gedankengänge
unterbrach.
Lady
Dumonde schien sich mal wieder prächtig mit Mrs Myers-Jones zu unterhalten.
Susan warf ihnen einen giftigen Blick zu und blickte auf ihre Uhr. Es ging
gegen zwanzig Minuten nach Neun. Ms Lockett erinnerte sich an ihre Verabredung
mit Mr Stevens auf dem Squashplatz. Himmel, jetzt galt es erst mal, diesen
Squashplatz zu finden! Die junge Frau stand auf, um das Café zu verlassen. An
der Eingangstür traf sie auf ein junges Mädchen, das ihr entgegenkam. Susan
sagte nur eben im Vorbeigehen einen „Guten Abend!“ und ging zur Treppe.
Das junge
Mädchen, Claris Hilton, betrat das Café und setzte sich an einen Tisch. Sie
blickte traurig die Einrichtung an und trocknete mehrmals mit einem seidenen
Taschentuch unsichtbare Tränen von ihrer Wange. Dann sah sie einen Schatten,
der sich hinter ihr auftürmte. Verwundert drehte sie sich um, um Letitia
Dumonde nebst Freundin zu sehen.
„Mein armes
Mädchen“, ließ die Dumonde ihre schrille Stimme vernehmen. „Mein armes Mädchen,
was ist denn mit ihnen? Sie sehen so traurig aus, das will mir gar nicht
gefallen!“
Und die
beiden setzten sich ungefragt an den Tisch.
„Was
könnten sie schon meine Probleme interessieren?“ schluchzte Ms Hilton und
blickte Lady Dumonde trüb an.
„Ich habe
sie schon vorher auf dem Empfang gesehen, mit diesem Deutschen, und ich habe
mir gedacht, dass sie ganz reizend ausschauen, recht kultiviert, wissen sie?
Sind sie von Adel?“
„Nein. Aber
ich werde es vielleicht bald sein“, erwiderte sie trotzig.
Mrs
Myers-Jones schaute dümmlich aus der Wäsche.
„Meine
Liebe, wie meinen sie denn das?“
„Meine
Mutter will mich mit einem Adligen verheiraten, damit unsere Familie in die
höheren Kreise aufsteigt.“
Hocherfreut
schlug Lady Dumonde die Hände zusammen.
„Aber das
ist ja ganz wunderbar! Ich habe mir gleich gedacht, dass sie etwas Besonderes
sind. Deswegen finde ich es auch so schade, wenn ein junges Ding wie sie sich
grämt.“
Ms Hilton
blickte die ältere Dame trotzig an.
„Ach,
meinen sie? Sie wissen ja gar nicht weshalb ich weine! Es ist doch gerade
deswegen, dass meine Mutter mich verheiraten will.“
Wieder war
es an Mrs Myers-Jones, ein fragendes Gesicht zu machen.
„Also, das
verstehe ich schon wieder nicht.“
„Sie sind
aber auch gar nicht neugierig, wie?“
„Eudora,
meine Liebe, es scheint, als wärst du zu taktlos gewesen“, kreischte Lady
Dumonde noch viel taktloser und kicherte dabei. Dann setzte sie eine ernste
Miene auf und fuhr fort: „Junges Mädchen, erzählen sie uns doch bitte, weshalb
sie so traurig sind.“
„Meine
Mutter nimmt mich mit nach Amerika, um mich dort in den Adel zu verheiraten.
Meine wahre Liebe aber sitzt in England. Meine Mutter hat mich von ihm
getrennt, um ihre eigenen Ziele zu verwirklichen. Sie sagt, es sei das Beste
für mich.“
„Nun, das
ist eine Zwickmühle“, meinte Lady Dumonde nachdenklich. „Wirklich eine
schwierige Situation. Denn ihre Mutter hat nicht ganz Unrecht. Sehen sie uns
an! Der Aufstieg in die feine Gesellschaft öffnet ihnen Türen und Tore. Aber ob
der Preis der wahren Liebe dafür nicht ein wenig hoch ist?“
„Letty, das
ist eindeutig zu viel verlangt. Die junge Liebe ist etwas Wunderbares, das darf
man nicht so einfach zerstören“, meinte Mrs Myers-Jones.
„Das
stimmt. Das ist wirklich ein hartes Los für sie. Soll ich vielleicht mal mit
ihrer Mutter reden? Als Vertreterin des Adels kann ich ihr diese Idee
vielleicht vernunftvoll ausreden. Auch wenn das eigentlich gegen meine Art ist,
ich hätte an ihrer Stelle wohl genauso gehandelt. Aber ich kann sie hier nicht
trauern sehen. Sagen sie uns doch ihren Namen, junge Dame!“
„Ich heiße
Claris Hilton. Meine Mutter ist Diana Hilton.“
„Hilton…
Hilton… Nein, noch nicht gehört. Aber ich werde mit ihrer Mutter sprechen müssen.
In welcher Kabine residieren sie?“
„D-12.“
Mrs
Myers-Jones rümpfte die Nase.
„D-Deck!
Welch Umstand! Und so niedrig“, kommentierte sie missbilligend.
Lady
Dumonde schlug ihr spielerisch auf die Hand.
„Du sollst
nicht so unhöflich sein! Jedenfalls nicht zu Leuten, die es nicht verdienen.
Bei Ms Lockett eben, da hättest du schimpfen dürfen. Na, zum Glück ist die
jetzt weg. Junges Mädchen, ich werde ihnen helfen. Ich weiß, wie es mit der
Liebe ist, auch ich hatte einst eine unglückliche Liebe, es war mir nicht
vergönnt, ewig anzudauern.“
„Möchten
sie ein wenig mehr erzählen?“ fragte Ms Hilton, froh über die Ablenkung.
„Das kann
ich nicht, meine Liebe. Nicht diese Geschichte!“
Abrupt
stand Lady Dumonde auf und verließ das Café. Mrs Myers-Jones und Ms Hilton
blieben sitzen. Verwirrt fragte Ms Hilton:
„Wieso war
denn das jetzt? Ist es so eine schlimme Angelegenheit gewesen?“
„Versprechen
sie mir, nicht zu sagen, dass ich es ihnen erzählt habe“, sagte die Myers-Jones
verschwörerisch und begann, nachdem Ms Hilton zustimmend genickt hatte: „Das
ist schon ganz lange her, aber Letty hatte einmal eine Affäre mit Bruce Ismay.
Das ist der Präsident der ganzen Gesellschaft hier. Affäre ist wohl der falsche
Ausdruck, die beiden waren wirklich verliebt. Aber es lief genau wie bei ihnen.
Lettys Mutter war gegen die Verbindung. Damals war Letty noch keine „Lady“. Sie
war ein einfaches Mädchen aus dem Volk. Sie hatte Ismay lange Zeit nicht mehr
gesehen. Dann, vor ungefähr 25 Jahren, kann auch ein bisschen weniger gewesen sein,
traf sie ihn zufällig auf einer Sylvesterfeier wieder. Ihre Liebe ist aufs Neue
entflammt, aber es konnte natürlich nichts werden. Ob es bei einer kleinen
Affäre geblieben ist oder gar nichts war, hat Letty mir nie erzählt. Tja,
wissen sie, der einzige Grund, weshalb wir auf dieser Schiffsreise sind, ist es
tatsächlich, um Bruce Ismay wiederzusehen. Letty hat schon ein paar Male mit
ihm gesprochen. Sie sagte zu mir, sie fühle immer noch die Leidenschaft wie
damals, als wäre es gestern gewesen. Gestern noch erzählte Letty mir von einer
Verabredung, einem geheimen Treffen mit Ismay, das wohl morgen stattfinden
sollte. Aber seit heute Mittag ist sie seltsam mürrisch, wenn es um das Thema
geht. Ich kann mir auch nicht vorstellen, woran das liegt. Deswegen ist sie so
abweisend, wenn man sie auf das Thema anspricht. Sie können ja versuchen,
dahinter zu kommen. Aber das dürfte schwierig werden. So, ich habe schon zuviel
getratscht“, sagte Mrs Myers-Jones plötzlich und nahm ihre Handtasche.
„Vielen
Dank für das Gespräch“, murmelte Ms Hilton verblüfft und blieb ein wenig
benebelt sitzen. Sie versuchte, das eben Gehörte zu verdauen und bestellte sich
einen Tee zur Beruhigung. An ihre eigenen Liebesprobleme verschwendete sie
keinen Gedanken mehr.
Rekreation des Atriums zwischen A- und B-Deck
Der
Schlüssel. Genau das war die Frage, die ihm Kopfzerbrechen bereitete. Grearson
hatte da einen interessanten, wenn auch kleinen Haken entdeckt. Wer immer in
Ismays Kabine gewesen ist, musste einen Schlüssel dafür haben.
Der Steward
Miller setzte sich auf einen der Korbsessel im Foyer des A-Decks und strich
sich die Augenbrauen glatt. Eine seiner üblichen Gesten, wenn er nachzudenken
pflegte. Der Schlüssel. Nur Ismay hatte einen Schlüssel für die Kabine. Damit
ergaben sich sofort mehrere Möglichkeiten. Wer immer in der Kabine gewesen ist
– vielleicht kannte Ismay ihn und hat ihm den Schlüssel im Vertrauen gegeben.
Das bedeutete vielleicht eine Person aus dem engeren Kreis um den ehemaligen
Präsidenten. Wer weiß, was Mrs Dobbins gesehen hat. Es war gut möglich, dass
sie etwas gesehen hat, was Mr Ismay hätte belasten können. Aber warum war in
diesem Fall Ismay ermordet worden?
Vielleicht
hatte aber auch jemand den Schlüssel von Ismay gestohlen und sich illegal
Zutritt zu der Kabine verschafft, um dort etwas zu stehlen. In diesem Fall wäre
der Kreis der Verdächtigen wieder beinahe unendlich groß. Es war ja nicht
einmal sicher, ob Mrs Dobbins überhaupt jemanden gesehen hatte. Möglicherweise
hat sie gelogen. Das heißt, sie hatte ja gar nichts gesagt! Vielleicht lag Mr
Grearson falsch und Mrs Dobbins hat gar nicht durch das Schlüsselloch geschaut,
sondern versucht, es aufzubrechen. Denn was hatte sie sonst als Passagierin der
dritten Klasse, deren Kabine ganz woanders ist, bei Ismays Kabine zu suchen?
Der
Schlüssel. Wenn nun niemand in Mr Ismays Kabine gewesen ist außer ihm selbst,
dann kann es kein Rätsel darum geben, wie jemand hineingelangt sein könnte. Mrs
Dobbins musste endlich reden. Dann kam ihm eine weitere Idee, mit der er auf
die Schiffsbrücke ging. Er musste mit Captain Smith sprechen.
Auf der
Brücke befand sich aber nur Offizier Murdoch und behielt die See im Auge.
„Entschuldigen
sie, Mr Murdoch. Ich suche Captain Smith. Sollte er nicht hier auf der Brücke
sein?“
Murdoch
drehte sich um und zog zweifelnd eine Augenbraue hoch.
„Sie
sollten es jedenfalls nicht sein. Aber zu ihrer Information: Captain Smith hat
sich in sein Zimmer zurückgezogen, mit der Bitte, nur im äußersten Notfall
gestört zu werden. Er schien heute Abend etwas müde zu sein.“
„Das ist
sehr ungünstig, ich müsste ihn unbedingt etwas fragen. Aber vielleicht können
sie mir auch weiterhelfen, sie waren ja ebenfalls anwesend, als Mr Ismay
aufgefunden wurde. Sie haben sich doch darum gekümmert, dass die Leiche in
Sicherheit gebracht wird, nicht wahr?“
„Das ist
richtig.“
„Dann haben
sie die Leiche vorher hoffentlich durchsucht, ob etwas abhanden gekommen ist
oder ähnliches?“
„Auch da
haben sie Recht, das ist schließlich meine Aufgabe.“
„Was haben
sie in seinen Taschen gefunden? In den Taschen seines Jacketts, seiner Hose, in
den Innentaschen? Da muss doch etwas gewesen sein?“
„Nur das
Übliche, Miller. Ich muss sie da leider enttäuschen. Ein Taschentuch mit
Monogramm, eine Schachtel Zigaretten, ein Schlüssel, etwas Geld.“
Bei dem
Wort „Schlüssel“ horchte Miller auf.
„Können sie
mir das bitte ein wenig genauer sagen?“ bat er den Offizier. Dieser gab
bereitwillig, wenn auch ein wenig genervt, Auskunft.
„Das
Taschentuch schien recht alt zu sein. Es war weiß. Das Monogramm, lassen sie
mich nachdenken. Es war ein L, mit blauem Faden eingenäht, wenn ich nicht irre.
Die Zigaretten von der Marke „Old Reds“. Ganz offensichtlich handelte es sich
bei dem Schlüssel um seinen Zimmerschlüssel. Daran war der Anhänger mit dem
Aufdruck seiner Zimmernummer. Bargeld von ungefähr fünfzig Pfund.“
„Nicht
schlecht. Vielen Dank für die Auflistung. Ich lasse sie jetzt in Ruhe.“
„Ich bitte
darum.“
Miller
verließ die Brücke und trat wieder auf das Bootsdeck, wo noch immer Offizier
Morrow wie ein Tiger vor dem Funkraum Wache hielt. Als er den Steward
erblickte, tippte er sich kurz an die Mütze. Miller nickte zurück und setzte
sich auf eine der Bänke.
Der
Zimmerschlüssel war also noch in Ismays Besitz. Das ließ vermuten, dass
vermutlich nie jemand in Ismays Kabine gewesen ist. Wie sollte man schließlich
an den Schlüssel gekommen sein? Mrs Dobbins musste reden, sonst würden Grearson
und er sich ewig im Kreis drehen.
Ein
Taschentuch mit dem Monogramm L. Sicher von seiner Ehefrau. Bei Gelegenheit
musste er nach ihrem Namen fragen.
Miller
spürte den stechenden Blick Morrows auf seinen Schultern lasten und drehte sich
um. Morrow trat näher.
„Sie
sollten nicht so viel an Bord umherwandern, es sei denn, sie kümmern sich um
ihre Gäste“, schalt der Offizier den Steward.
Der blickte
verlegen zur Seite, denn Morrow hatte Recht. Miller musste die Nachforschungen
Grearson überlassen.
„Machen sie
sich keine Sorgen, Offizier Morrow.“
„Um sie
sowieso nicht. Vielmehr um dieses Schiff. Ich will nur hoffen, dass diese Nacht
ruhig verläuft.“
„Immer noch
der Mond, wie?“
„Genau. Und
sehen sie, eben hat Captain Smith sich zur Ruhe begeben. Absoluter Leichtsinn.
Und dann habe ich kurz in den Funkraum geschaut. Phillips hat mich beinahe zur
Minna gemacht, ich sollte ihn nicht bei seinen Kontakten stören, er habe zuviel
zu tun. Ich weiß gar nicht, was er so viel zu tun haben könnte. Wahrscheinlich
die reichen Passagiere mit ihren kleinen Telegrammen in die Heimat und so
weiter. Ich mische mich da nicht ein. Hoffentlich bleiben Lee und Fleet in
ihren Krähennestern da oben wach“, sagte er und zeigte gen Himmel.
„Sie
glauben doch nicht, dass ernsthafte Komplikationen auftreten könnten, oder? Die
See ist so ruhig.“
„Und so
kalt. Es wundert mich, dass wir noch keine Eiswarnungen erhalten haben.“
„Nicht?
Woher wissen sie das, ich denke, Phillips lässt sie gar nicht in den Funkraum.“
Morrow
blickte über die Reling hinauf auf die See.
„Das
stimmt. Aber wenn wir Warnungen erhalten hätten, hätte Smith die Maschinen ein
wenig gedrosselt oder den Kurs ein wenig abgeändert. Nichts dergleichen, wir
fliegen weiter über das kalte Meer.“
Miller
erhob sich von seinem Platz und stellte sich neben Morrow an die Reling. Wir
fliegen über das Meer. Der kalte Wind trieb ihnen Tränen in die Augen und der
Blick in den unendlichen Nachthimmel wurde verschleiert. Nur eines konnte
Miller noch deutlich erkennen: Orion, den Jäger, der tief im Westen über das
Sternenfirmament herrschte.
Fortsetzung folgt...
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