Mittwoch, 30. November 2016

Schaf, by: Schüler

Aufgabe: Dieses Bild ist langweilig. Male ein paar Tiere, Menschen oder Aktivitäten dazu und stelle das Bild dann Deinen Mitschülern vor.

Schüler: "Dr Hilarius, darf ich ein hässliches Schaf malen?"
Lehrer: "Das heißt ugly sheep."
S: "Okay, darf ich ein ugly sheep malen, das rosa Donuts scheißt und Regenbogen kotzt? Das sind sie dann in zehn Jahren!"

I LOVE MY PUPILS!!!

 

Dienstag, 29. November 2016

Nichts bereuen


Ich bereue nichts.

Ich bereue nicht, dass ich alle möglichen Haarfarben ausprobiert habe. Auch wenn das Blau dann doch eher türkis war, auch wenn es etwas von Aquarium hatte und eine Freundin mir einen Haarreif mit Fischen aufsetzen wollte. Auch wenn es nicht wirklich blond war, sondern pommesgelb. Auch wenn mir die Farbe überhaupt nicht stand. Immerhin habe ich das alles einmal ausprobiert.

Ich bereue nicht meinen ersten bewussten Drogenkonsum. Das war damals, als ich mit einem Kommilitonen Sachen für die Saturnalien vorbereitet habe - wir haben dabei cuarenta y tres con leche getrunken. Ich war neugierig, und es war lecker. Schmeckte wie ein Vanillemilchshake, überhaupt nicht nach Alkohol. Cool, gleich noch ein zweites Glas davon. Und ein drittes. Und als ich aufgestanden bin, weil ich aufs Klo musste, schwankte plötzlich der Raum hin und her. Ich kannte das nicht - aber jener Kommilitone hat mir die Sache ganz behutsam erklärt. Diesen Abend bereue ich nicht. Auch wenn ich über zwanzig Jahre nichts konsumiert hatte und damit eine Hemmschwelle überschritten worden ist. Auch wenn das den Weg geebnet hat für eine intensivere Auseinandersetzung mit Drogen. Ich habe mich bewusst dafür entschieden, und ich würde es wieder tun.

Ich bereue nicht, dass ich mein Studium in die Länge gezogen habe. Saturnalien, Liebe, Fachschaft, Studierendenparlament, HiWi. Ich würde den gleichen Weg nochmal gehen, auch wenn ich dadurch vielleicht eine Planstelle verpasst habe. Auch wenn ich meinen Eltern noch länger auf der Tasche liegen musste - und das schlechte Gewissen deswegen. Auch wenn mich manche blöd anschauen, wenn ich ihnen erzähle, dass ich sechzehn Semester lang studiert habe.

Ich bereue nicht, dass ich Flo in mein Leben eingeladen habe. Das kam mehr durch Zufall, durch eine Auszugsparty und durch ein Foto. Wir haben uns geschrieben and the rest is history (his story?). Das bereue ich nicht, auch wenn ich in der Folgezeit oft seinetwegen traurig war, auch wenn ich mich öfters von ihm verletzt gefühlt habe, auch wenn ich mich phasenweise auf nichts Anderes mehr konzentrieren konnte, auch wenn ich seinetwegen geweint habe. Ich habe mich bewusst entschieden (und ihn vorgewarnt), diese Sache anzugehen, und es ist auch meine bewusste Entscheidung, dass ich immer für ihn da sein werde. Ich würde es wohl bereuen, wenn ich ihn jetzt aus meinem Leben striche.

Ich bereue all diese Sachen aus zwei Gründen nicht:

1) All diese Sachen haben ihr Gutes. Ob es nun meine Lieblingshaarfarbe ist, Lebenserfahrung, neue Freundschaften, ein anderes Gefühl von Liebe - es ist viel Gutes dabei herumgekommen, so dass ich sagen kann: Es hat sich gelohnt!

2) Was würde mir die ganze Reue nützen? Ich zöge mich damit nur runter, das hat mit dem Konzept vom Leben im Hier und Jetzt nicht viel zu tun, weil ich deprimiert auf die Vergangenheit schaue und mir "Was wäre gewesen, wenn..."-Schlösser aufbaue.

Ich habe das mal irgendwo gelesen, da hatte einer die Lebenseinstellung "Nichts bereuen." und ich konnte mich damit identifizieren.

Und das bleibt auch so.

Montag, 28. November 2016

Great Expectations


Great Expectations - Große Erwartungen scheinen gestern einige Leser dieses Blogs gehabt zu haben, als sie den Begriff "Vibrator" im Titel gesehen zu haben. Genau das ist der Clickbait-Effekt, ein reißerischer Titel lockt die Leser an, die dann vom Inhalt maßlos enttäuscht sind (oder in diesem Fall einen kleinen Twist am Ende hatten, oder beides).

Ich habe allergrößte Erwartungen; offiziell in fünf Stunden und zweiundfünfzig Minuten erscheint Final Fantasy XV weltweit auf dem Markt, der neueste Teil einer der bekanntesten und erfolgreichsten Mainstream-Rollenspiel-Anthologien für Konsole (und teilweise auch für den PC). Drei Jahre Wartezeit nähern sich dem Ende und ich bin gespannt, was mich erwartet. Ich habe alle Teile gespielt, außer den Fortsetzungen (X-2 und so'n Schwachfug) und den Online-Teilen.

Das Franchise wartet mittlerweile mit umfangreichen Extras auf, so ist vor ein paar Wochen bereits der begleitende Film Kingsglaive: Final Fantasy XV erschienen. Auch den werde ich mir zu Gemüte führen (er ist Teil der Special Edition des Spiels, aber auch gesondert auf DVD erhältlich). Und ich bin kritisch - die filmischen Umsetzungen von Videospielen sind ein Kapitel für sich, und leider ganz oft nicht zu ertragen. Ausnahme war definitiv Final Fantasy VII: Advent Children.

Nachteil bei so hohen Erwartungen ist, dass sie umso herber enttäuscht werden können. Ich habe mich extra nicht weiter über das Spiel informiert als dass ich weiß, dass es in einer modernen Welt spielt und etwas realistischer und psychologischer sein soll als die Vorgänger. Schauen wir mal - vielleicht folgt ein Review, wenn ich es durchgespielt habe. Die gute Nachricht ist, dass das bei solchen Spielen immer recht lange dauert, also sein Geld wert ist.

An alle, die es auch spielen werden: Gute Unterhaltung!

Sonntag, 27. November 2016

Vibratorfreuden


Nein, die Headline dieses Beitrags ist kein Clickbait, kein Köder, damit die Seite möglichst oft aufgerufen wird. Es geht mir tatsächlich um das vibrierende Spielzeug, und wie viel Spaß man damit haben kann. Muss nur aufpassen, dass das hier nicht zu explizit wird, denn theoretisch liest diese Beiträge ja die intelligenzbehaftete Population von vierzehn bis vierundachtzig.

Also, etwas genauer, es geht mir nicht um das Teil an sich, sondern um die Vibrationsfunktion. Ich gebe zu, bis vor Kurzem habe ich sie noch nicht genutzt. Das kam eher aus Versehen - aber der Effekt war immens! Diese Vibrationen gehen einem durch Mark und Bein und jagen Schauer über den Rücken. Ich muss mich aber erst noch dran gewöhnen, und irgendwie sind die Vibrationen so unvorhersehbar, also nicht gleichmäßig. Ich muss aufpassen, dass mir das Teil bei den stärkeren Bewegungen nicht aus der Hand fällt, ist ja schon ein bisschen rutschig.

Dennoch: Das könnte mir gefallen. Ich werde bei diversen Gelegenheiten mal die Vibration einschalten und schauen, ob das Erlebnis im Vergleich zu vorher an Qualität gewinnt. Am besten ist es irgendwie, wenn das Licht aus ist. Dann wirkt der ganze Spaß nicht mehr so "alltäglich" - spätestens nach zehn Minuten bin ich wie hypnotisiert bei der Sache.

Ich frage mich, ob ich ein Spätzünder bin, was die Vibration betrifft. Mit dem Gerät selbst zu spielen, klar, das "lernt" man irgendwann. Also, dass es einfach Spaß macht. Ich vermute, die meisten legen direkt damit los. Ich fand das am Anfang sehr befremdlich, allein schon dieses "wrrrrrrr"-Geräusch, das hat mich irritiert und ich konnte mich nicht direkt auf die Sache konzentrieren. Wie beim Sex mit Anderen, wenn man sich dabei von seinen Gedanken ablenken lässt und nicht mehr bei der Sache ist.

Dabei ist zumindest meine Wahrnehmung, wie oben beschrieben, dass ich etwa nach zehn Minuten das Geräusch gar nicht mehr wahrnehme. Und ein bisschen länger bin ich ja schon bei der Sache, vielleicht eine Stunde oder auch mal zwei. Oder, wenn ich Besuch habe, auch mal länger.

Ist halt so: Playstation-Spiele machen süchtig, und die Vibration im Controller steigert das Spielvergnügen je nach Genre erheblich, besonders bei Action oder Grusel. Ich denke mal, ich werde die Vibrationsfunktion jetzt immer eingeschaltet lassen.

post scriptum: Der Artikel macht Lust auf mehr... :-P Packt Eure versauten Gedanken weg! Ich spiel' jetzt weiter Project Zero.

Samstag, 26. November 2016

Beteigeuze (Kapitel 8)




Montag, der 15. April 1912

00:05 Uhr

Fassungslos standen Miller und Grearson an der Spitze des Schornsteins und blickten auf das Schiffsdeck unter ihnen. Der Schreck hatte ihnen die Worte geraubt. Für einen Moment war es totenstill. Nach zwei Minuten, die ihnen wie eine Ewigkeit vorkamen, erhob Miller das Wort.
„Scheint, als wäre nichts Ernstes vorgefallen. Smith hätte sofort Alarm geschlagen, wenn wir uns in einer Notsituation befänden. Offensichtlich wurde der Eisberg nur gestreift.“
Grearson blickte auf die Spitze des Eisberges, die aus dem Wasser ragte. Langsam trieb der Gigant an ihnen vorbei. Die Katastrophe war abgewendet, so schien es.
„Wir müssen hinunter“, sagte Grearson. „Der Fall ist gelöst, ich kenne den Mörder. Lassen sie uns ins Cafe Parisian gehen, da ist nicht mehr so viel Betrieb.“
„Sie haben den Fall gelöst? Das ist ja kaum zu glauben! Ich darf sie dazu beglückwünschen, und ich bin gespannt auf ihren Bericht. Aber sie haben Recht, wir sollten jetzt besser gehen.“
Langsam stiegen beide die Leitern im Inneren des Schornsteins herab. Ein ungutes Gefühl beschlich Grearson, denn als sie ungefähr die Hälfte geschafft hatten, konnten sie die Alarmglocken in den Maschinenräumen hören. Grearson blickte Miller an.
„Schnell!“ rief der Steward. Sie eilten hinunter und sahen als erstes die roten Warnlichter in den Maschinenräumen. Dann erkannten sie die Arbeiter, die aus den Kesselräumen liefen und in Panik flüchteten.
„Ein Leck, wir sind angeschlagen. Das Wasser steigt!“ riefen einige.
„Du meine Güte“, rief Miller atemlos. „Mr Grearson, die Titanic ist… aber wie kann das sein? Es dürfte kein Wasser so weit in die Titanic gelangen!“
„Schlechter Stahl“, murmelte Grearson kaum hörbar. „Kommen sie!“ Beide liefen durch die Maschinenräume zu den Treppen der dritten Klasse. Hastig stiegen sie die Treppen hinauf und gelangten atemlos auf das D-Deck.
„Der Squashplatz ist überflutet!“ rief eine junge Frau und rannte hysterisch die Treppen hinauf. Mitglieder der Crew versuchten vergeblich, die Passagiere zu beruhigen und zurückzudrängen, um ein Tumult auf dem Schiffsdeck zu vermeiden.
Miller versuchte, durch kurze Kommentare seinen und Grearsons Weg an Deck zu bahnen. Ab dem C-Deck wurde die Stimmung erstaunlich ruhig. Scheinbar hatten hier noch nicht viele Passagiere etwas von der Katastrophe bemerkt. Nur wenige Reisende liefen etwas verwirrt umher und fragten nach dem seltsamen Stoß, den sie gespürt hätten.
Schließlich befanden sich Miller und Grearson an der Haupttreppe auf dem A-Deck, an jenem berühmten Relief, auf dem Ruhm und Ehre die Zeit krönen. Grearson war außer Atem.
„Miller, wir müssen uns auf die Suche machen nach den Verdächtigen. Wir brauchen unbedingt ein paar Zeugenaussagen, sonst werden wir nie etwas beweisen können. Ich weiß nicht, wie groß der Schaden an der Titanic ist, aber sie wird sinken. Die Titanic wird untergehen, und wir müssen nun die entscheidenden Leben retten, sonst wird dieser Mordfall in den Tiefen des Ozeans versinken. Gehen sie an das Bootsdeck. Sprechen sie mit den Offizieren, versuchen sie, an Plätze in einem Rettungsboot zu kommen. Ich werde versuchen, die Leute zu finden. Es geht um Miss Lockett, die Hiltons, deren Anwalt, Lady Dumonde, David Morrison…“
Grearson wurde jäh unterbrochen, als das Glas der prächtigen Kuppel über ihnen brach und in großen Scherben auf den Teppich regnete. Jetzt war ein dumpfes Knarren und Bersten im Inneren des Schiffes nicht mehr zu überhören.
„Sollten sie jemanden an Deck treffen, fangen sie sie um Himmels Willen ab!“ mahnte Grearson. „Ich verlasse mich darauf, dass sie uns retten.“
„Mr Grearson, ich kann nichts versprechen. Ich will hoffen, dass die Offiziere den Ernst der Lage verstehen.“
Sie nickten sich kurz zu, dann lief Miller die Treppe hinauf, Grearson dagegen kehrte um und lief in Richtung des C-Decks.


 Ruhm und Ehre, im Begriff, die Zeit zu krönen

McElroy. Der Zahlmeister war sein erstes Ziel. Wenn er ihn nicht erreichen würde, wäre alles umsonst gewesen. Grearson sprintete die Treppe zum C-Deck hinunter und sah erschrocken, dass sich vor dem Zahlmeisterbüro bereits sehr viele Passagiere aufhielten und aufgebracht nach den Stewards fragten. Die Panik in ihren Stimmen war nicht zu überhören. Ohne viel Rücksicht zu nehmen, bahnte er sich mit den Ellenbogen seinen Weg durch die Menge. Ein kurzes, aber ernsthaftes Zunicken zu McElroy reichte vollkommen aus. Der Zahlmeister händigte ihm seine Sachen aus und bemühte sich dann wieder verzweifelt, die Menschen zu beruhigen.
Aufgeregt überlegte Grearson nun, wo er beginnen sollte. Er musste sich von unten nach oben durcharbeiten. Die Hiltons, auf dem D-Deck. Nein! Sie waren in ein anderes Zimmer gezogen, aber wo? Der Zufall nahm ihm die Entscheidung ab, denn in diesem Augenblick traten Claris Hilton und ihre Mutter in Begleitung von Lady Dumonde die Haupttreppe herauf. Lady Dumonde winkte zu Grearson hinüber.
„Es ist nicht zu glauben, Mr Grearson“, rief sie mit unüberhörbarem Organ. „Dieser Tumult hier. Stellen sie sich nur mal vor, diese penetranten Stewards wollten die Hiltons nicht einmal hier hinauflassen! Zum Glück war ich in der Nähe, meine Argumente zählen immer.“
„Wirklich, Lady Dumonde, das ist zu freundlich von ihnen, dass sie uns hergebracht haben. Ich habe Angst, ich will nicht, dass uns auf dieser Fahrt etwas zustößt. Aber – dieser Lärm, hört doch nur! Dieser Lärm!“
Wieder das unerträgliche Zerren und Quietschen von Metall, das bis zur Grenze gedehnt und gequetscht wurde, vermischt mit dem scharfen Klang von splitterndem Holz.
Lady Dumonde beugte sich zu Claris´ Ohr und sagte: „Mein Kind, vielleicht wissen sie es jetzt noch nicht, aber diesen Gefallen bin ich ihnen schuldig gewesen. Ihr Leben haben sie noch vor sich. Sie werden alle Möglichkeiten ausschöpfen und alles genießen, das hoffe ich. Und wenn es ihnen mal schlecht gehen sollte, nehmen sie ihr Taschentuch mit dem L zur Hand und denken sie an mich.“
Claris hatte die wahre Bedeutung dieser Worte nicht richtig begriffen. Zwar lächelte sie höflich und bedankte sich noch einmal artig, doch sie wusste nicht, wem sie da zuwinkte, als sie an Grearson herantrat.
„Mr Grearson“, sagte sie, „wir müssen hier weg. Es gibt doch Rettungsboote, ich habe sie schon an Deck gesehen. Meinen sie, die werden jetzt losgelassen? Meinen sie, man wird mich und Mutter hier herausholen?“
„Das wird man. Miss Hilton, sie brauchen sich überhaupt keine Sorgen zu machen. Sie müssen hier weg, damit wir uns noch einmal gründlich unterhalten können. Gehen sie mit ihrer Mutter an Deck. Sollte irgendein Steward sie nicht durchlassen, warten sie an der Haupttreppe, ich werde sie dann aufgabeln, wenn ich nach oben gehe. Sollten sie es aber ohne Probleme bis auf das Bootsdeck schaffen, dann suchen sie nach dem Steward Miller. Er wird ihnen helfen, auf das Rettungsboot zu gelangen und ihnen alles erklären. Dazu habe ich jetzt keine Zeit. Ich muss noch ein paar Menschen auffinden. Haben sie eine Ahnung, wo sich ihr Geliebter, Mr Morrison befindet?“
Claris schüttelte verwirrt den Kopf. Ihr ganzer Körper zitterte vor Angst. Grearson fasste sie an beiden Armen und versuchte, sie zu beruhigen.
„Machen sie sich keine Sorgen, es wird alles gut.“ Sehr sicher war er sich da allerdings selbst nicht.
„Ich weiß nicht, wo David ist. Oh bitte, sie müssen ihm helfen! Was nützt es mir, gerettet zu werden, wenn ich meinen David hier verlieren soll? Was kann mir das nur nützen?“
Diana Hilton trat heran und nahm Claris bei der Hand.
„Komm, Claris, wir müssen“, sagte sie bestimmt. „Und sie sollten mal nach dem Rauchsalon sehen. Mr Morrison war schon immer ein Spieler. Vielleicht finden sie ihn dort.“
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, schritten die beiden, so weit es ihre Kleider ermöglichten, die Treppen hinauf. Grearson blickte sich um. Fieberhaft überlegte er weiter. Sein Blick fiel auf Lady Dumonde, die noch immer an einem Tisch stand und sich ihres Schmuckes entledigte. Grearson ging zu ihr.
„Was tun sie da?“
Lady Dumonde ließ sich nicht abhalten, ihre seidenen Tücher und Schals ebenfalls abzulegen.
„Das einzig Richtige. Ich habe einen Titel geheiratet und eine Maske aufgesetzt, aber das hilft mir jetzt auch nicht mehr weiter. Wenn ich mit diesem Schiff untergehen soll, dann will ich das wenigstens nicht mit einem schlechten Gewissen erleiden müssen. Ich befreie mich von diesen nervigen Accessoires, damit ich mich freier bewegen und ein paar Leuten helfen kann.“
„Das ist sehr gütig und weise von ihnen“, meinte Grearson aufrichtig. Er bewunderte diese Frau, die so sehr den brechenden Geist der Titanic verkörperte und dabei eine Stärke an den Tag legte, die dem Schiff leider nicht zugekommen war.
„Sie sollten mal in den Salon gehen. Von dort kam ich gerade, dort halten sich Miss Lockett und Mr Andrews auf. Das könnte sie vielleicht interessieren.“
Grearson atmete tief durch. Es hatte keinen Sinn, einen Plan bei der Auffindung der Personen zu verfolgen. Die Zeit drängte und das Knarren der Bohlen setzte gleich einer Stoppuhr ungeheure Mengen an Adrenalin frei, die nur die nächstliegende Lösung zuließen. Der Salon.
„Danke, Lady Dumonde.“ Er nickte kurz, dann lief er mit seinen Sachen unter dem Arm die Treppe wieder hinauf.

Der Salon. Auch hier war es noch erstaunlich ruhig. Zwar bildete das Stimmengewirr der vielen Passagiere eine beinah undurchdringliche Wand für Patrick Grearson, doch die Panik hatte die Reisenden noch nicht ergriffen. Vermutlich glaubten sie alle fest daran, dass es sich nur um einen minderen Defekt handeln würde. Woher sollten sie auch wissen, was sie erwartete?
Grearson blickte quer durch den Raum. Es war nicht leicht, einen guten Überblick zu erhalten. Er ging durch die Menge und traf plötzlich auf Susan Lockett, die sich mit Thomas Andrews unterhielt.
„Miss Lockett! Das ist ja gut, dass ich sie hier treffe. Sie müssen mit mir kommen. Wir müssen runter von dem Schiff.“
„Mr Grearson!“ rief Ms Lockett überrascht. „Mit ihnen hätte ich hier nun nicht gerechnet. Warum sind sie so aufgeregt?“
„Wie können sie mich das fragen! Die Titanic sinkt. Wir müssen fliehen!“
Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. Ängstlich blickte sie Andrews an und fragte: „Das ist doch Unsinn, oder? Mr Andrews, bitte sagen sie es mir! Die Titanic ist unsinkbar, es handelt sich nur um einen kleinen Defekt? Oder nicht? Mr Andrews!“
Der Ingenieur senkte den Blick und schüttelte dann den Kopf.
„Nein, Miss Lockett. Die Titanic wird sinken. Ich habe gehofft, dass so ein Zwischenfall nicht auftreten würde, denn es stand fest, dass sie dann untergehen würde.“
„Sie! Und wieso tun sie hier jetzt einfach so, als wäre nichts geschehen? Sie wussten es bereits?“ Ms Lockett bemühte sich, ihre Stimme unter Kontrolle zu bekommen und zischte: „Wieso halten sie mich hier fest und reden mit mir, als wüssten sie von nichts? Tun, als sei alles in bester Ordnung! Und wie können sie es überhaupt verantworten, mit diesem Wissen hier dabei zu sein?“
„Ich kann es nicht verantworten“, sagte Andrews kaum hörbar. „Ich kann es nicht. Ich habe gebetet, dass alles gut geht, aber so sollte es nicht sein. Das Schicksal spielt gegen mich. Ich weiß, was ich getan habe, und ich weiß, dass ich es nun nicht mehr ändern kann. Ich habe meine Pflicht als überwachender Ingenieur nicht erfüllt. Es ist nur richtig, wenn ich nun dieses Werk zu meinem eigenen Grab werden lasse.“
„Reden sie keinen Unsinn, Mann“, rief Grearson genervt. „Wir müssen hier verschwinden! Miss Lockett, gehen sie hinauf auf das Bootsdeck. Man wird ihnen den Weg sicher nicht versperren. Suchen sie auf dem Deck nach dem Steward, Miller. Er wird sie in einem Rettungsboot unterbringen. Ich komme nach, ich muss noch ein paar Leute suchen.“
„Aber, Mr Grearson…“
„Gehen sie, es bleibt womöglich nicht mehr viel Zeit.“
Susan nickte Andrews kurz zu und verließ den Salon. Grearson wandte sich an den Ingenieur.
„Wenn sie untergehen wollen, dann machen sie das, ich werde sie nicht aufhalten. Aber sie können mir zuvor noch helfen. Haben sie Müller, den Wissenschaftler, gesehen? Ich weiß, dass er in diesem ganzen Komplott eine wichtige Rolle gespielt hat und ich muss ihn sprechen.“
„Mr Müller hat sich auf sein Zimmer zurückgezogen. Zumindest wollte er das. Er machte keinen zufriedenen Eindruck, aber der wäre wohl auch kaum noch angebracht.“
„Welches Zimmer ist es“, fragte Grearson hektisch.
„Kabine B-17.“
„Gut. Ich werde ihn suchen. Mr Andrews, wenn sie hier lebend rauskommen, wird auf sie und Müller eine Menge Ärger zukommen.“

„Herein. Oh, ich habe sie heute doch schon einmal gesehen. Herr Grearson, nicht wahr?“
Müller machte keinen ängstlichen Eindruck. Müde vielleicht, aber weder traurig noch besonders zufrieden. Einfach nur müde.
„Das ist richtig. Mr Müller, sie müssen mitkommen, hinauf aufs Bootsdeck. Sie stecken tief in der Ismay-Angelegenheit mit drin, in der ganzen Sache mit dem Stahl und so weiter. Ich habe einige wichtige Fragen an sie, dazu müssen wir aber von diesem Schiff runter.“
„Das denke ich nicht. Mr Ismay hat bekommen, was er verdient hat. Die Titanic, sein eigenes Baby, sinkt jetzt und er kann nun nichts mehr tun. Er ist ruiniert. Ich habe ihn gewarnt, aber er wollte nicht auf mich hören. Nun bekommt er die Quittung dafür. Das ist alles, was ich dazu sagen kann und will. Und ich, der ich meinen Beruf so schmählich verraten habe, tue gut daran, nun auf der Titanic unterzugehen.“
„Lassen sie das. Wir brauchen sie, Müller. Gehen sie nach oben, gehen sie zu den Rettungsbooten! Ein Steward wird sie in eines der Boote bringen.“
„Herr Grearson, sie wollen es wohl nicht verstehen. Sehen sie nicht, dass alles, was mit der Titanic verbunden war, nun mit ihr zerbricht und untergeht? Es war nur ein kleiner Zusammenstoß mit einem Eisberg, nicht einmal das, wir haben ihn ja nur geschrammt. Aber durch meine schlechte Arbeit in den letzten Jahren bin ich jetzt dafür verantwortlich, dass dieses riesige Schiff aufgrund einer kleinen Wunde zugrunde geht. Sprechen sie nur einmal mit Herrn Andrews. Der wird jetzt auch nicht allzu begeistert sein.“
„Ich habe mit ihm gesprochen. Hören sie, Müller, das bringt uns jetzt auch nicht weiter. Ich habe Andrews gesagt, er soll machen, was er will, meinetwegen mit dem Schiff hier untergehen, das ist mir egal. Bei ihnen ist es mir aber nicht egal. Mr Ismay ist ermordet worden, und sie stehen unter Verdacht. Also kommen sie jetzt besser mit!“
Sein Ton ließ nun keine Widerrede mehr zu. Damit hatte er bei dem zerstreuten Wissenschaftler den wunden Punkt getroffen. Motiviert durch Grearsons strengen Blick und das immer lauter werdende Ächzen des berstenden Stahls erhob Müller sich, nahm ein paar Akten und einige wenige Gegenstände mit sich und verließ seine Kabine.
Patrick Grearson war außer Atem. Die Lauferei – so viel war er lange nicht mehr hin und her gelaufen. Die fehlende Übung machte sich bemerkbar. Trotz der angespannten Situation nahm er sich den Moment und setzte sich auf Müllers Sessel. Er atmete tief durch und schloss die Augen. Ja, es konnte alles klappen, wenn er nun noch Morrison auffinden könnte und dann im Rettungsboot den Mord aufklären könnte. Es musste einfach klappen. Er öffnete die Augen wieder und machte sich auf den Weg zum Rauchsalon.

Die Haupttreppe auf dem D-Deck füllte sich nun zusehends mit Menschen. Zwar schien es den Crewmitgliedern zu gelingen, die Passagiere der unteren Decks unten zu halten, doch mittlerweile tat auch hier die Panik ihr Übriges. Grearson sah keine Möglichkeit, über die Treppe nach oben zu kommen. In diesem Moment brach das Geländer der darüberliegenden Etage unter dem Druck der vielen Passagiere, die sich dagegen lehnten, zusammen. Wie tote Käfer stürzten sie von oben direkt in die Menschenmenge, die sich auf der Treppe aufhielt. Grearson erschauderte und lief zurück in den Korridor. Vielleicht war es auf der Hintertreppe noch nicht so voll.
Er hatte Glück. Die meisten Menschen, die sowieso nur die Haupttreppe benutzten, sahen diese als einzige Fluchtmöglichkeit an, so dass Grearson gut über die Hintertreppe nach oben gelangen konnte. So schnell er noch konnte, lief er zum Rauchsalon. Mrs Hilton hatte richtig vermutet, Morrison saß am Tisch des Kartenspielers und spielte tatsächlich.
„Morrison! Kommen sie hier weg. Wie können sie in diesem Moment nur ans Spielen denken?“
„Ach, sie kenne ich doch auch. Was liegt ihnen daran, dass ich flüchte? Offensichtlich geht hier alles den Bach runter. Spiele, solange du noch kannst, sage ich mir, also habe ich mich zu Mr Cartier hier gesetzt. Auch wenn er mich vorher tüchtig ausgenommen hat.“
„Ihre Geliebte erwartet sie. Wollen sie sie etwa so einfach im Stich lassen? Claris ist oben auf dem Bootsdeck. Sie ist auf dem Weg in ihre Zukunft. Wollen sie sie nicht begleiten?“
„Claris ist in Sicherheit?“
„Ja! Und sie können es auch sein. Sie müssen es nur wollen. Gehen sie aufs Deck und suchen sie sie. Und ich muss dann auch noch einmal mit ihnen reden, also sehen sie zu, dass sie in das gleiche Rettungsboot kommen.“
„Mr Cartier, so sehr ich ihre Gegenwart und ihre fiesen Tricks auch genossen habe“, sagte Morrison und nickte dem Spieler zu, der verständnisvoll grinste. „Ich muss weg. Mein Leben erwartet mich.“
Damit nahm Morrison seinen Glücksbringer, den dunkelgrünen Würfel, wieder an sich und verließ hastig den Raum. Grearson hielt nun auch nichts mehr auf und er ging Richtung Haupttreppe.

Das Gedränge war nun unglaublich. Es gab keine Möglichkeit mehr, das Chaos zu verhindern, denn es war bereits ausgebrochen. Der holzgeschnitzte Engel mit der Fackel, der das Treppengeländer verzierte, schien nun nicht mehr  das Zeichen der Eleganz, sondern nur noch das schwache Feuer der Hoffnung zu symbolisieren. Ein junger Mann von kräftiger Statur, der oben auf der Treppe stürzte und hinabfiel, riss den Engel mit sich.
Ehre und Ruhm, im Begriff, die Zeit zu krönen. Als wäre keine Menschenseele um sie herum, betrachtete Lady Dumonde das Bild ausgiebig. Sie schien wie in Trance, sagte kein Wort, drehte sich nicht um. Ihre eigenen Gedanken beschäftigten sie zu sehr.
„Lady Dumonde!“ rief Grearson von oben, so laut er konnte. Sie schien ihn nicht zu hören. „Lady Dumonde, kommen sie! Wir müssen hier weg!“
Letitia Dumonde dachte über die Zeit nach, die sie verbracht hat. Über die Art, wie sie ihre Zeit verbracht hat. Über ihre Entscheidungen. Ob vielleicht alles einen anderen Weg genommen hätte, wenn sie damals, vor über zwanzig Jahren…
„Lady Dumonde!“
Aber es hatte keinen Sinn, darüber noch nachzudenken. Es war alles geschehen. Und es hatte keinen Sinn, einer vergangenen Ära nachzuweinen. Es war vorbei.
„Lady Dumonde!“
Der Titel war nichts wert, das Geld auch nichts. Was nützte all das schon, wenn es kein Glück gab in ihrem Leben? Ehre und Ruhm, im Begriff, die Zeit zu krönen.
„Lady Dumonde, jetzt kommen sie, wir müssen fliehen!“
Grearson war zu ihr herunterkommen und legte ihr die Hand auf die Schulter.
„Kommen sie.“
Letitia Dumonde schloss kurz die Augen, nickte dann und eilte mit Grearson die Treppe zum Bootsdeck hinauf.

Eine halbe Stunde zuvor:

„Mr Grearson, ich kann nichts versprechen. Ich will hoffen, dass die Offiziere den Ernst der Lage verstehen.“
Miller nickte Grearson kurz zu und ging dann hinauf Richtung Bootsdeck. Zum Glück war der Tumult noch nicht auf den oberen Decks angekommen. Miller trat hinaus auf das Bootsdeck. Die Nacht war genauso kalt wie zuvor. Zwar waren einige Passagiere auf das Deck hinausgetreten, um an die Rettungsboote zu kommen, doch schien es, als wäre die Mehrheit noch nicht von der Gefahr, in der die Titanic sich befand, überzeugt.
Miller konnte die großen Eisbrocken auf dem Vorderdeck sehen, sie waren bedrohlich bis an den Bug gerutscht. Dann richtete er den Blick an der Backbordseite, auf der er sich befand, entlang. Die Rettungsboote waren von ihren Planen befreit und jedem Boot war ein Aufsichtshabender zugeteilt, um die sichere Besetzung der Boote zu garantieren. Offizier Morrow ging nach wie vor unbeirrt vor dem Funkraum auf und ab.
Miller ging zu ihm.
„Mr Morrow, ich brauche Platz auf einem Rettungsboot für 20 Personen. Wir müssen warten, bis der letzte dieser Personen angekommen ist. Können sie mir das garantieren?“
„Was? Sind sie verrückt geworden? Das habe ich nicht zu entscheiden. Gehen sie mit ihrer wahnsinnigen Idee lieber zu Murdoch, vielleicht hilft der ihnen weiter. Plätze reservieren, also das ist vielleicht mal ein Unsinn!“
Miller ging zur Brücke und sprach Offizier Murdoch an. Smith beaufsichtigte die Brücke. Gleich nach dem Zusammenstoß war er aus seiner Kabine gekommen und hat nach allen Kräften versucht, seiner Aufgabe als Kapitän gerecht zu werden. Im Moment sah es gut aus.
„Mr Murdoch, der Fall Ismay steht vor der Aufklärung, aber wir werden nie etwas beweisen können, wenn wir nicht zusammen auf ein Rettungsboot kommen. Wir brauchen die Aussagen einiger Mitreisenden, um unsere Theorie zu belegen. Können sie uns helfen?“
Murdoch drehte sich um.
„Die Titanic sinkt, Miller! Wie können sie so etwas von mir verlangen? Ich… warten sie es ab. Ich will sehen, was ich tun kann.“
„Es muss einen Weg geben, dass wir von diesem Schiff runterkommen.“ Miller schaute den Offizier ernst an.
„Wir müssen beginnen“, sagte Captain Smith. Er schaute auf seine Uhr. „Halb Eins. Wir müssen beginnen, die Rettungsboote zu beladen, wir dürfen nicht mehr länger warten. Los, Murdoch, sie beginnen auf der Steuerbordseite, Lightoller, sie gehen nach Backbord und überwachen die Vorgänge. Los jetzt!“
Die Offiziere verließen die Brücke. Miller konnte nun von draußen einen Aufschrei hören, als die Passagiere ihre Rettung nahen sahen. Der Steward trat ebenfalls auf die Steuerbordseite hinaus, da er sich von Murdoch am ehesten Hilfe erhoffte. Der war jedoch damit beschäftigt, mit Hilfe von George Hogg das erste Rettungsboot zu beladen.
„Mr Miller!“
Claris Hilton und ihre Mutter kamen zum Steward gelaufen. Völlig außer Atem fragte Claris: „Können sie uns retten? Werden wir vom Schiff fliehen können? Was sollen wir tun?“
„Miss Hilton, ich kann nichts versprechen. Ich habe mit Offizier Murdoch gesprochen, er wird versuchen, uns ein Rettungsboot zu stellen. Sie werden hier sicher rauskommen, da bin ich sicher. Jetzt müssen wir aber erst einmal warten.“
Außer Atem setzten Claris und Diana sich auf eine Bank und betrachteten, wie immer mehr Menschen auf das Deck hinaustraten und versuchten, einen Platz im Rettungsboot zu ergattern. Claris traten Tränen in die Augen und ihre Mutter holte ein Taschentuch hervor, um sie zu trocknen.
„Warten sie hier“, rief Miller. Er hatte jemanden am Heck des Schiffes entdeckt und lief dorthin. Abigail Hopkins versuchte, sich in die Menge der Rettungssuchenden zu drängen. Miller packte sie am Arm und zog sie weg.
„Kommen sie da weg, Mrs Hopkins.“
„Lassen sie mich los, ich will weg! Ich habe auch ein Recht auf Rettung, lassen sie mich!“
Sie wehrte sich mit Händen und Füßen, doch Miller gelang es, sie gegen eine Wand zu drängen.
„Jetzt hören sie mir zu, Mrs Hopkins. Sie sind eine wichtige Zeugin. Sie müssen mir helfen. Uns helfen. Es geht um einen Mordfall. Sie werden einen Platz in einem Boot bekommen, aber dazu müssen sie jetzt die Ruhe bewahren. Gehen sie zum Bug des Schiffes, gehen sie nach vorne zur Brücke. Sie werden dort zu ihrer Linken auf einer Bank eine Mutter mit ihrer Tochter sehen. Setzen sie sich zu ihnen und sagen sie, ich hätte sie geschickt. Wir werden dann zusammen gerettet werden.“
„Kann ich ihnen vertrauen?“ Zweifelnd blickte Mrs Hopkins den Steward an, der deutete jedoch nur mit mahnendem Finger auf die Brücke. Widerwillig ging sie dorthin. Miller lehnte sich gegen die Reling und atmete durch. Er schloss die Augen und ging alles Vergangene im Geiste noch einmal durch. Dann öffnete er die Augen wieder und machte sich einen Überblick über das Deck. Es war ein schauriger Anblick. Der Bug lag deutlich im Wasser, die Titanic hatte eine erschreckende Schräglage angenommen.
Noch viel schauerlicher war allerdings die Tatsache, dass die Kapelle sich nun auf dem Deck postiert hatte und begann, Lieder zur Ermutigung der Passagiere zu spielen. Sie spielten, als seien sie von der Realität vollkommen unberührt und ließen sich von der Angst überhaupt nicht berühren. So schien es – dennoch erkannte Miller die Tränen in ihren Augen.
Jemand tippte ihm auf die Schulter. Er drehte sich um und blickte in Ms Locketts Augen.
„Hier sind sie also. Ich war zuerst auf der anderen Seite des Schiffes und habe sie gesucht. Mr Grearson hat mir gesagt, ich solle sie aufsuchen. Nun, da bin ich. Retten sie mich!“
Miller lächelte, soweit es ihm möglich war.
„Ganz so einfach ist es leider nicht. Sehen sie Offizier Murdoch dort?“
Er deutete auf den Offizier, der mit den Passagieren zu kämpfen hatte.
„Er versucht, uns einen Platz im Rettungsboot zu sichern. Uns allen, die mit dem Fall Ismay in Verbindung stehen.“
Susan Lockett wurde blass.
„Kommen sie mit“, sagte Miller und führte sie zu den Hiltons und Abigail Hopkins.
„Runter mit dem Boot“, rief Murdoch und gab somit den Befehl, das erste Rettungsboot zu Wasser zu lassen. Wohl fühlte er sich dabei nicht. Knapp 30 Menschen hat er auf das Boot gebracht, es war für mehr als doppelt so viel Platz gewesen. Aber die ernste Notlage, der Druck, der auf ihm lastete, ließ keine ruhigen Überlegungen zu.
Murdoch ging zu Miller.
„Gehen sie zu Mr Symons dort an Boot Nummer eins. Ich muss noch kurz mit Moore sprechen. Sagen sie Symons, ich hätte sie geschickt. Er wird sie auf das Boot bringen.“
Dann lief Murdoch zu einem anderen Boot.
„Sie haben es gehört“, sagte Miller. „Bitte nach ihnen, meine Damen.“
Aus der Tür hinter ihnen kam Harald Müller und schauderte ob der kalten Nachtluft.
„Herr Miller! Helfen sie mir!“
„Müller! Kommen sie, auch für sie geht es hier auf dieses Boot.“
Der Gang über das Bootsdeck gestaltete sich immer schwieriger, denn das Schiff neigte sich langsam, aber sicher immer  weiter. Symons hatte bereits Sir Cosmo und Lady Duff-Gordon in das Rettungsboot verfrachtet. Miller schaute zweifelnd auf die junge Frau, die neben Sir Cosmo saß. Er wusste nicht, dass es Miss Francatelli war, seine Sekretärin. Und er wusste auch nicht, wie sie es geschafft hatte, auf das Boot zu kommen… Symons half nun den Hiltons, danach Abigail Hopkins und Susan Lockett hinein.
Murdoch kam wieder. Bei ihm war David Morrison.
„Ist hier alles in Ordnung?“
Miller nickte.
„Mr Morrison hat sie gesucht. Ich nehme an, er soll auch auf das Boot? Sie wissen doch, Frauen und Kinder zuerst!“
„Murdoch, schweigen sie. Sie wissen doch gar nicht, worum es hier geht“, bellte Miller den Offizier an und schob Morrison zu Müller, der gerade einen Fuß in das Boot setzte.
„Runter damit“, tönte ein lauter Ruf aus der Nähe. Offizier Harold Lowe hatte ein weiteres Boot freigegeben. Murdoch lief hin und fing an, zu fluchen. Wieder war es nur halb besetzt.
Miller schaute nervös auf seine Uhr. Wo blieb Grearson? Wie lange konnten sie noch warten? Warum war an diesem Boot so wenig Andrang? Der Steward blickte auf die Stelle, an der eben das Boot hinabgelassen worden war. Ein junger Mann stürzte sich über die Reling, wohl in der Hoffnung, im Boot zu landen. Miller schloss die Augen. Ein Schuss fiel. Murdoch trat wieder an ihn heran.
„Miller, hier bricht ein Tumult aus. Ich kann nicht länger warten. Es hat gleich ein Uhr. Wir wissen nicht, wie lange die Titanic es noch aushält. Ich muss das Boot freigeben. Sie haben eben den Schuss gehört, ja? Dieser Mensch wollte sich auf ein Boot drängeln. Wir müssen Ordnung bewahren!“
„Warten sie nur noch einen kleinen Moment, ich bitte sie! Mr Grearson kann nicht mehr weit sein!“

Als seien seine Gebete erhört worden, stürzten Patrick Grearson und Letitia Dumonde in diesem Augenblick aus der Tür von der Haupttreppe auf das Deck. Grearson hielt noch immer seine Besitztümer umklammert und zog die Dumonde mit der anderen Hand zu Miller, der bereits in das Boot gestiegen war. Hastig eilten beide in das spärlich besetzte Boot, als plötzlich der Ruf „Zu Wasser lassen!“ erhallte.
Langsam senkte sich das Boot an der schwarzen Außenwand der Titanic immer weiter abwärts. Miller stand auf und blickte nach oben. Unfassbar. Dieses Boot war kaum besetzt. Wie hatte Murdoch das nur verantworten können?
Die Crewmitglieder ruderten das Boot bis in eine sichere Entfernung. Fassungslos schauten alle zur Titanic. Aus dieser Entfernung war es deutlich zu sehen, wie sehr sich das Schiff ins Wasser geneigt hatte. Keiner traute sich, ein überflüssiges Wort zu sagen. Grearson blickte misstrauisch die anderen Flüchtigen an. Er bemühte sich, zu schweigen, wenn es ihm auch schwer fiel.
Leuchtpistolen wurden mehrmals abgefeuert. Die hellen Lichter ließen den dunklen Nachthimmel erstrahlen. Noch wusste niemand der Passagiere, dass Rettung bereits unterwegs war. Sie hörten nur die Schreie von Hunderten von Menschen und die verzweifelt fröhlichen Melodien der Kapelle. Die Zeit verging. Ein Rettungsboot nach dem anderen wurde herabgelassen, jedes für sich auf dem Weg, ein Stück Geschichte zu schreiben. Keines jedoch so sehr wie Boot Nummer eins, in dem Miller mit Grearson und den anderen saß.
Es war nun halb zwei. Die Schreie wurden immer lauter, als den Passagieren und der Crew langsam das wahre Ausmaß der Katastrophe bewusst wurde. Es waren nicht genügend Rettungsboote vorhanden. Selbst wenn alle voll besetzt worden wären, hätten sie niemals gereicht, um alle Passagiere zu retten. In Panik stürzten sich immer mehr Menschen über die Reling, um darauf im kalten Wasser des Nordatlantiks einen bitteren Erfrierungstod zu sterben.
Wie ein riesiges sterbendes Tier lag die Titanic im Wasser. Es gab keine Hoffnung mehr, weder für sie, noch für die Menschen, die auf ihre Versprechungen vertraut hatten. Die Rettungsboote waren fort. Zehn Minuten nach zwei. Miller und die anderen schwiegen betreten. Dann flackerte der Nachthimmel aufs Neue auf. Lange hatte man sich bemüht, die Stromversorgung an Bord aufrecht zu erhalten, doch es hatte keinen Sinn mehr. Die Lampen blitzten noch einmal kurz auf, dann wurde die Titanic düster wie die mondlose Nacht, die sie umgab. Die Schreie des nahenden Todes waren das einzige, was die Nacht mit Leben erfüllte.
Unerbittlich hob sich das Heck der Titanic nun aus dem Wasser. Der Bug war komplett vollgelaufen. Immer höher hoben sich die mächtigen Schiffsschrauben gen Nachthimmel. So einer Belastung war die Titanic nicht gewachsen. Der Lärm des reißenden, berstenden Stahls war unglaublich, als das Schiff unter dem Druck des in die Höhe ragenden Hecks in der Mitte auseinanderbrach. Der Bug, der bereits voller Wasser stand, sank unmittelbar darauf in einem gigantischen Strudel unter das Wasser, während das Heck aus der gigantischen Höhe zunächst mit unglaublicher Wucht auf den Meeresspiegel schlug, um dann ebenfalls hinabzusinken und auf dem Meeresgrund sein Ende zu finden.
Die Schreie waren verstummt. Über 1500 Menschen schwammen im eiskalten Nordatlantik in der Hoffnung auf Rettung. Die Carpathia, durch den Notruf der Titanic alarmiert, hatte zwar alle Mittel in Bewegung gesetzt und versuchte das Unmögliche, doch würde sie für über 1000 Menschen zu spät kommen. Die nur zur Hälfte gefüllten Rettungsboote schienen die letzte Hoffnung zu sein, doch deren Insassen überlegten fieberhaft, ob sie sich lieber selbst retten oder zu den Ertrinkenden zurückkehren sollten und dabei das Risiko eingehen, von den Hilfesuchenden zum Kentern gebracht zu werden. Es ist leicht zu sagen, wie man sich wohl hätte verhalten sollen, aber heute wissen wir, wie es wirklich war.
Die Stille veranlasste Patrick Grearson dazu, das Wort zu erheben.
„Bruce Ismay ist ermordet worden. Sie alle wissen das.“ Die erschrockene Reaktion der Duff-Gordons und  der Seeleute überging er ganz einfach. „Der Mörder sitzt in diesem Rettungsboot. Ich habe mir meine Gedanken gemacht. Sicher fragen sie sich, warum gerade ich. Die Leiche wurde an meine Tür gelehnt. Ich habe das als Drohung verstanden und als Aufforderung, zu handeln.“
Er blickte sich kurz um. Miller blickte ihn ernst an und nickte.
„Sie wissen, was heute Abend an Bord der Titanic geschehen ist. Sie wissen es – mehr oder weniger. Die Titanic gibt es nicht mehr. Hinter uns liegen die Reste einer glorifizierten Lüge.“
Müller nickte schweigend und schloss die Augen. Claris Hilton und ihre Mutter schützten sich mit einer schäbigen Decke vor der Kälte.
„Bruce Ismay war ein Teil dieser Lüge. Er war in mehr trügerische Angelegenheiten verwickelt als ich es zuerst glauben wollte. Doch ich glaube es nun, da ich die Wahrheit kenne. Und unter all diesen Verwicklungen verbirgt sich auch das Motiv für den Mord an ihm. Vielleicht war es aus Liebe geschehen? Lady Dumonde, sie hatten mit Bruce Ismay eine Affäre, doch er hat sie beendet. Er hat sie allein gelassen, mit ihrer unendlichen Liebe zu ihm im Stich gelassen. Und nun konnten sie ihn auf dieser Überfahrt wiedersehen. Das war doch perfekt! Eine ideale Gelegenheit, sich für die Schande zu rächen. Der Schmerz, den sie haben erleiden müssen, war doch bestimmt unerträglich, nicht wahr?“
Aus eiskalten Augen starrte die alternde Lady ihn an. Sie verzog keine Miene.
„Aber sie sind ja nicht die einzige Person mit einem Motiv. Gerade daher habe ich sie ja auf diesem Rettungsboot versammelt – um eine Gegenüberstellung zu erreichen. Erpressung, Mr Müller, stellt auch ein Kapitalverbrechen dar, kein Kavaliersdelikt. Zumindest, wenn es dann in Mord endet.“
Miller griff ein: „Mr Grearson, das sollten sie…“
„Schweigen sie, Miller. Ich kenne die Wahrheit. Ismay war sehr vorsichtig, wenn es darum ging, sein Vermögen beisammen zu halten. Beim Bau der Titanic wurde gespart. Ganz unauffällig natürlich. Ismay hat seinen Ingenieur Thomas Andrews angewiesen, sie, Müller, zur Entwicklung von günstigem Stahl zu beauftragen.
Sie wussten natürlich von nichts, wussten nicht, dass diese Entwicklung mit dem Bau der Titanic in irgendeinem Zusammenhang steht. Das glaube ich ihnen. Denn nur so kann ich mir den folgenden Gedankengang rekonstruieren. Sie sind natürlich irgendwann dahinter gekommen, dass der schlechte Stahl für die Titanic verwendet werden sollte. Sie haben Ismay gezwungen, die Wahrheit zu veröffentlichen. Berufsethos, wie man es nennen könnte. Als das aber nichts half, sind sie auf Erpressung umgestiegen. Wie viel sie dabei erpresst haben, will ich gar nicht wissen, auch nicht, wie sich das wohl mit ihrem sogenannten Berufsethos vereinbaren lässt. Ich vermute jedenfalls, dass ein Mord auch Folge einer Zahlungsunwilligkeit Ismays gewesen sein könnte.“
„Lassen sie das Gerede, sie können davon überhaupt nichts beweisen“, sagte Müller trotzig.
„Leider ist das so“, gab Grearson zu. „Aber wo wir gerade beim Thema Recht und Unrecht sind, sollte ich mich vielleicht ihnen zuwenden, Mrs Hilton. Ich habe nicht daran gedacht, ihren Anwalt auf dieses Boot zu bringen. Ich hoffe inständig, dass er gerettet wird. Wissen sie, die gute Claris kennt ja nun die Geschichte von ihrem leiblichen Vater. Und sie weiß nun auch, dass ihr Anwalt auch Ismays Anwalt war – das Verbindungsglied auf der Titanic.
Und ihre perfekte Möglichkeit den Vater ohne das Wissen ihrer Tochter aus dem Weg zu räumen. Ohne Vater würde niemals die heile falsche Welt, die sie zu Hause gepflegt hatten, zusammenbrechen. War es ihr Anwalt? Haben sie ihn tatsächlich dazu gebracht, es zu tun?“
Claris schüttelte den Kopf und fuhr dazwischen: „Hören sie auf damit! Ich habe ihnen doch gesagt, dass er es niemals gewesen ist. Er war dazu viel zu…“
„…verweichlicht. Sag es ruhig, Claris“, ergänzte ihre Mutter mit gefühlkalter Stimme. „Dieser Anwalt war ein Nichtsnutz.“
„Und vielleicht sahen sie gerade deshalb die Notwendigkeit, selbst zur Tat zu schreiten. Sie sind eine resolute Frau, Mrs Hilton“, räumte Grearson ein. „Aber ob sie wirklich den Vater ihrer Tochter ermordet haben?“
Schweigen.
„Mr Morrison, sie haben die Wahrheit gewusst. Ich bin mir da nicht sicher, aber ich vermute es. Ich glaube, sie haben immer schon gewusst, wer der Vater von Claris war. Mrs Hilton hat es ihnen erzählt, nicht wahr?“
Keiner rührte sich.
„Fein. Sie müssen nichts sagen. Aber wäre das nicht ein Motiv für sie, ihn umzubringen? Ich meine, denken sie mal so: Mrs Hilton entreißt ihnen ihre geliebte Claris… vielleicht wollen sie ihr einen Gefallen tun und ermorden Ismay, in der Hoffnung, als Gegenleistung für ein gereinigtes Leben ihre Geliebte zurückzubekommen?“
Claris stand wortlos auf und gab Grearson eine Ohrfeige. Dann setzte sie sich wieder. Die Kälte färbte ihre Lippen blau.
„Ich erwarte keine Zugeständnisse. Noch nicht. Ich möchte nur, dass sie mir zuhören. Am heutigen Abend hat eine Frau mit dem Namen Geraldine Dobbins etwas beobachtet. Sie hat gesehen, wie sich jemand in Ismays Kabine aufgehalten hat. Mit einem großen Dolch mit auffälligen Verzierungen, der, wie sie sagten, Miss Lockett, aus ihrem Zimmer gestohlen wurde.“
Susan Lockett nickte.
„Fatal nur, dass sie da gelogen haben, Mrs Lockett. Das war ein großer Fehler. Doch lassen sie mich zuerst noch einmal ein Kompliment zu ihrer ausgesprochen modischen Erscheinung aussprechen.“
Miller blickte zweifelnd auf Grearson, während Ms Lockett eher verwirrt von einem zum anderen schaute.
„Ein knielanger Rock, in schwarz, das passt sehr zu ihren schönen dunklen Beinen.“ Er schenkte ihr ein Lächeln, doch sie wollte es nicht erwidern. „Mrs Dobbins konnte sich an diesen Rock erinnern.“ Jetzt war jede Wärme aus Grearsons Stimme verschwunden. „Sie konnte sich an ihren Rock und an ihre Beine erinnern. Und es war ihr Dolch, den sie sah. Und dann soll es jemand anderes gewesen sein, der sich in Ismays Kabine aufgehalten hat? Nein, Miss Lockett, so war es nicht. Sie waren heute Abend in Ismays Kabine und haben ihn kaltblütig erstochen!“
„Das ist gelogen“, rief Ms Lockett. „Ich habe ihnen doch gesagt, dass der Dolch aus meinem Zimmer entwendet worden ist. Bei mir ist eingebrochen worden, das haben sie doch selbst erlebt!“
„Sie haben gelogen, Susan. Bei ihnen ist nicht eingebrochen worden. Sie haben ihr Zimmer schön unordentlich hergerichtet, damit es aussah, als sei alles durchwühlt worden. Es kann bei ihnen gar nicht eingebrochen worden sein, Miss Lockett. Mehr als einmal stellte sich mir heute Abend nämlich die Frage der Schlüssel. Wie viele Schlüssel gab es wohl zu jeder Tür? Zwei, einer davon wurde als Ersatzschlüssel bei Harland & Wolff aufbewahrt. Und ein Generalschlüssel existiert hier an Bord, aber es ist unmöglich, dass jemand ihn in seinen Besitz bringen konnte.
Wie also ist man bei ihnen eingebrochen? Das Schloss wurde nicht aufgebrochen. Es ist mir aufgefallen, als ich das kaputte Türschloss beim Zimmer von Miss Hilton sah.“
Die Hiltons und Morrison warfen sich vielsagende Blicke zu.
„Das Schloss an deren Tür war komplett herausgebrochen, ihre Tür aber war unversehrt! Sie mussten sogar aufschließen, bevor sie mich hereinlassen konnten. Wie ist es also möglich, dass zuvor jemand bei ihnen eingebrochen ist? Es ist unmöglich. Sie haben ihren eigenen Dolch genommen und haben damit Ismay in seinem Zimmer besucht. Dann haben sie ihn erstochen und an meine Zimmertür gestellt.“
Ms Lockett sagte nichts. Die Duff-Gordons und Miss Francatelli schauten ungläubig hin und her. Miller kniff die Augen zusammen und schaute zu Grearson.
„Wieso hat sie das getan, Mr Grearson“, fragte Miller schlicht.
„Sehen sie, Miller, ich habe auch lange überlegt. Aber ich habe mich erinnert. Als Geschäftsmann bin ich viel unterwegs und muss immer auf dem neuesten Stand der Dinge sein. Daher lese ich viel Zeitung. Und ich habe mich vorher noch nett mit Miss Lockett unterhalten. Und vielleicht kann ich es ihnen so sagen: Die Götter haben mir eine Eingebung gegeben. Ismay hatte wichtige Positionen inne. Er wurde zu diversen Empfängen geladen und war Repräsentant der Krone. So nahm er auch damals an einem Staatsbesuch in Afrika teil. Er besuchte die Stadt Veridjan, um genau zu sein. Eine Stadt, deren Einwohner für ihre Religiosität bekannt sind.
In dieser Stadt gab es eine Ikone, einen Edelstein mit dem Namen Beteigeuze. Ein sehr wertvoller Stein. Ismay war nicht der unbeleckte Mann, den wir auf dieser Reise vielleicht kennen gelernt haben. Er hat damals eben diese Ikone gestohlen. Das wissen sie, Miss Lockett, und das wussten damals alle Mitglieder ihres Volksstammes!“
Jetzt endlich zeigte sich auf Ms Locketts Gesicht eine Spur von Hass.
„Wir wussten es. Es war ein ungeheures Verbrechen. Er hatte eine Freveltat begangen und ich wurde ausgewählt, um diese Tat zu rächen.“
„Miss Lockett, sie haben Bruce Ismay getötet.“
„Ich habe ihn in seinem eigenen Bett erstochen. Er hatte nichts anderes verdient, und wenn ich vor die Wahl gestellt würde, würde ich es wieder tun.“
„Und Mrs Dobbins hat sie dabei beobachtet.“
„Was hat diese alte Frau da überhaupt gewollt? Was sucht eine Reisende der dritten Klasse oben bei Mr Ismay?“ fragte Susan Lockett verwirrt. „Wäre sie nicht da gewesen, hätte mich niemals jemand erkannt!“
„Auch Mrs Dobbins hegte einen Hass gegen Ismay. Sie machte ihn verantwortlich für den Tod ihres Mannes beim Stapellauf der Titanic. Sie hatte das Gleiche vor wie sie, Miss Lockett, und wenn sie Ismay nicht ermordet hätten, hätte sie es wohl getan. Und weil sie alles gesehen hat, musste sie sterben. Sie haben auf sie geschossen.“
„Sie können sich nicht vorstellen, was für mich alles auf dem Spiel stand! Die Ehre meines Landes musste wiederhergestellt werden. Und als ich sie dann auf dem Deck sah, wusste ich, was sie vorhatte. Da musste die Pistole sprechen.“
Grearson seufzte.
„Warum nur? Warum nur musste es so enden?“
Es herrschte für einen kleinen Moment Schweigen in der Gruppe. Dann erhob Miller die Stimme.
„Es ist noch nicht zu Ende.“
Alle blickten ihn verwirrt an.
„Aber sie hat doch zugegeben, dass sie es getan hat“, sagte Grearson völlig außer Fassung.
„Ich zweifle kein Wort von dem an, was Miss Lockett uns hier erzählt hat. Sie hat auf Ismay mit dem Messer eingestochen. Das stimmt. Und sie hat auf Mrs Dobbins geschossen. Auch das ist richtig. Aber es war keine Pistolenkugel, die Mrs Dobbins getötet hat.“
Nun hatte man eine Stecknadel in der kristallklaren Nacht fallen hören können. Grearson stand versteinert an seiner Position, Ms Lockett sank langsam zurück.
„Mr Grearson, sie haben interessante Schlüsse gezogen, aber haben sie da nicht ein paar Dinge vergessen? Ihre Ermittlungen sind sehr gut, es fehlen lediglich ein paar Kleinigkeiten. Zum Beispiel haben sie den Mord an Miss Ratchett übergangen. Das sollten wir nicht auslassen, denn er verbindet alles, was an Bord geschehen ist. Einschließlich ihnen, Mrs Hopkins.“
Abigail Hopkins schaute zweifelnd auf und schüttelte den Kopf.
„Sie irren sich.“
„Ich werde sie vom Gegenteil überzeugen müssen. Doch lassen sie mich zunächst so beginnen. Viele Menschen hatten ein Motiv, um Bruce Ismay zu ermorden. Sie haben das sehr gut erläutert, Mr Grearson. Und in der Tat haben vier Leute sich entschlossen, ihn umzubringen und sind im Laufe des Abends in seiner Kabine erschienen. Miss Lockett aus dem bereits genannten Grund. Mrs Dobbins – auch das haben sie gut erklärt. Doch wie schon gesagt konnte Mrs Dobbins es nicht tun, weil bereits jemand anderes im Zimmer war, als sie zur Tat schreiten wollte, nämlich Miss Lockett. Und dann waren da noch sie, Mrs Hopkins.“
„Was? Ich?“ Die Überraschung in der Stimme der jungen Frau klang nicht wirklich überzeugend.
„Vielleicht darf ich ihnen zunächst zwei pikante Details enthüllen“, sagte Miller. „Mrs Hopkins ist die Schwester von Lucy Ratchett. Und sie ist die Nichte von Bruce Ismay. Und schauen sie jetzt nicht so entsetzt. Es war nicht schwer, das aus den Tagebucheinträgen ihrer Schwester zu erschließen. Das führte mich zu dem erschreckenden Verdacht, dass vielleicht sie ihre eigene Schwester ermordet haben und ihren Onkel. Ihren Onkel, um an sein Geld zu kommen – denn sie brauchten Geld, ganz zweifelsohne. Und ihre Schwester, damit sie ihnen nicht mehr wie ein Klotz am Bein hängt. Aber konnten sie wirklich so böse sein? Ihre Schwester hat sie schließlich gebraucht! Sie war auf sie angewiesen und hat sie als Vorbild genommen.“
„Vorbild? Dass ich nicht lache!“ Aus Mrs Hopkins´ Stimme sprach die pure Verachtung. „Sie war ein dummes Ding, viel zu naiv für diese kalte Welt, aber wenigstens hatte sie es bei diesen Borebanks gut. Sie haben sich um sie gesorgt, sie hatte Unterkunft und alles. Ich war neidisch auf sie.“
„Aha! So habe ich es noch nicht betrachtet. Aber lassen wir das ruhig beiseite. Sie haben ihre Schwester nicht ermordet. Auch den Mord an Ismay haben sie nicht begangen. Das war Miss Lockett, wie wir bereits gehört haben.“
Susan Lockett barg ihren Kopf in den Händen. Sie konnte keinen der stechenden Blicke ertragen, die ihr die anderen Flüchtigen zuwarfen.
„Aber, Miss Lockett, dieses Verbrechen, das sie begangen haben, war keines. Ismay war zu dem Zeitpunkt, als sie hereinkamen, bereits tot.“
Jetzt schaute die junge Frau doch auf. Ein kurzes Tuscheln zwischen den Duff-Gordons ließ den Steward in seinen Ausführungen ungestört.
„Sie haben auf eine Leiche eingestochen, daran besteht kein Zweifel. Lassen sie mich bitte rekonstruieren: Sie betreten die Kabine Ismays. Die Tür ist, warum auch immer, nicht abgesperrt. Sie treten also ein, das Messer in der Hand. Sie haben nicht bemerkt, dass Mrs Dobbins in einem der Zwischenkorridore sitzt und sie beobachtet hat. Sie sehen Bruce Ismay auf seinem Bett liegen. Er scheint zu schlafen – das ist die Gelegenheit! Bitte fahren sie fort, Miss Lockett!“
„Ich gehe auf sein Bett zu“, sagte Susan mit abwesender Stimme. „Ich sehe ihn an und spüre nur den Hass meines Volkes, der mich dazu treibt. Ich nehme den Dolch und stoße ihn ihm in die Brust. Er gibt keinen Laut von sich, er bewegt sich nicht. Ich bekomme Angst und renne zur Tür, schaue mich um. Ich kann niemanden sehen, also verschwinde ich so unauffällig wie möglich.“
Miller hob die Hand.
„Ich möchte ihnen dazu sagen, dass Mr Ismay ein exquisites Bett hatte. So, wie sie es mir beschrieben hatten, Mr Grearson: Viele Kissen waren am Kopfende aufgetürmt. Ich vermute, dass Ismay so an diese Kissen gelehnt war, dass es schien, als würde er sitzen?“ fragte er Ms Lockett. Sie nickte. „Also war sein Oberkörper erhöht. Bitte merken sie sich das! Die Leiche Ismays ist dann aber an Mr Grearsons Tür aufgetaucht, was für große Verwirrung gesorgt hat.
Nun steht also fest, dass eine weitere Person in Ismays Kabine war und den Körper herausgezerrt und an seine Tür gestellt hat. Mrs Hopkins, der Besuch bei ihnen war sehr nett und aufschlussreich. Besonders haben es mir ihre Schuhe angetan. Sie haben sehr spitze Absätze, nicht wahr? Zeigen sie mal!“
Mrs Hopkins zog einen ihrer Schuhe aus und reichte ihn dem Steward. Der hob ihn wie eine Beute triumphierend in die Luft.
„Das ist der Schuh, der die tiefen Punktabdrücke im Teppich in Ismays Zimmer hinterlassen hat. Ganz ohne Zweifel. Eine Spur von tiefen Abdrücken führte von Bett zur Tür. Die haben sie dort hinterlassen, Mrs Hopkins, als sie die Leiche vom Bett und zur Tür gezerrt haben. Als sie ihn bereits ermordet auffanden, waren sie in guter Stimmung, dass ihnen jemand die Arbeit abgenommen hatte, aber das reichte ihnen nicht. Sie sahen nun endlich die Chance, sich für etwas zu rächen. Somit zogen sie den Mann vom Bett herunter. Ismays Körper war schwer, eine ziemliche Belastung, und es ist schon erstaunlich, dass sie dabei nicht umgeknickt sind. Sie waren es, die die Leiche an Mr Grearsons Tür gestellt hat. Und dann haben sie Ismays Kabine abgeschlossen und den Schlüssel, den der Mörder in der Tür hat stecken lassen, in Ismays Anzugtasche gelegt. Aber dazu will ich später kommen.
Und warum haben sie das getan? Wollen sie uns das vielleicht lieber selbst sagen?“
Abigail Hopkins machte ein finsteres Gesicht. Sie schaute jeden Einzelnen an. Ihr Blick blieb bei Grearson hängen.
„Deinetwegen“, sagte sie mit hasserfüllter Stimme. „Dir habe ich einst vertraut und es war der größte Fehler, den ich je begangen habe. Du hast mich ausgenutzt, mich benutzt. Du hast mich missbraucht und für diese Schande solltest du nun büßen.“
„Ach, was reden sie denn da für einen Unsinn“, lachte Grearson abfällig. „Das ist doch völlig verrückt!“
„Mr Grearson, bitte gehen sie die junge Frau nicht so an“, meinte Miller. „Sie spricht die Wahrheit und damit müssen sie jetzt fertig werden. Ich habe den Verdacht bekommen, als ich in ihrem Zimmer, Mrs Hopkins, am Spiegel den Namen „Paddy“ zweimal durchgestrichen mit Lippenstift geschrieben sah. Paddy ist eine Kurzform von Patrick. Patrick Grearson. Er war ihre erste Liebe. Sie haben ihm vertraut und er hat dieses Vertrauen ausgenutzt. Und sie wollten Rache üben, wollten Mr Grearson den Mord anhängen, damit er im Gefängnis büßen konnte?“
„Dieses miese Schwein sollte die Rache einer verletzten Frau kennen lernen. Er hat mich behandelt wie Dreck!“
Grearson rief: „Und deswegen wolltest du mir hier einen Mord anhängen, den ich nicht begangen habe?!“
„Sollen wir jetzt auch noch Mitleid mit dir haben?“
„Seien sie beide ruhig!“ befahl Miller. „Grearson, was sie getan haben, ist ein Verbrechen. Aber wir haben keine Beweise mehr dafür. Wenn vor Gericht nur ihre Aussage, Mrs Hopkins, gegen seine steht, dann haben sie schlechte Chancen.“
„Das war mich auch klar. Deswegen musste ich mich halt so rächen.“
Miller lächelte.
„Es war so unnötig, Mrs Hopkins. So überflüssig! Sie hätten uns eine Menge Rätsel erspart, wenn sie das nicht getan hätten.“
„Aber dann hätte ich ihn niemals hinter Gittern sehen können.“
Miller lächelte wieder. Leise sagte er: „Oh doch, Mrs Hopkins, das werden sie können. Denn es war Mr Grearson, der Bruce Ismay ermordet hat.“
Es war keine Spur von der Carpathia zu sehen und die Kälte drängte sich durch jeden Stoff, den die Reisenden zum Schutz vor der Nacht trugen. Doch sie spürten die Kälte nicht mehr. Ihre Augen waren gebannt auf den Steward gerichtet, der wiederum lächelnd zu Patrick Grearson hinüberschaute.
„Das ist jetzt wirklich witzig, Mr Miller“, sagte Grearson spöttisch, „aber wir sollten diese Spielchen lassen. Ich habe ihnen schließlich bei den Ermittlungen geholfen!“
„Das ist richtig. Sie haben mir bei den Ermittlungen geholfen, die mich unweigerlich zu Miss Lockett als Mörderin führen würden. Damit wären sie dann aus dem Schneider gewesen. Und es hätte auch geklappt, wenn nicht ein winziges Detail mich gleich beim ersten Besuch in ihrer Kabine gestört hätte. Ich sah Ismays Leiche. Ich betrachtete sie genau und konnte die Klammer einer Brosche an seinem Jackett erkennen. Die Halterung, verstehen sie? Darin war vermutlich mal ein Stein enthalten, doch er fehlte.“
„Ja und? Was hat das mit mir zu tun?“ Grearsons Gesicht hatte jede Spur von Freundlichkeit verloren. Seine gesunden Wangen wirkten im fahlen Licht so aschgrau wie seine Augen.
„Dieser Stein war jener berühmte Edelstein, der in Afrika gestohlen wurde. Beteigeuze, ein wertvoller Rubin. Ismay hatte ihn gestohlen und dann in diese Brosche einarbeiten lassen.“
„Natürlich.“ Grearson setzte sich wieder. „Miss Lockett hat Ismay ermordet und dann den Stein mitgenommen, um die Ehre ihrer Leute wieder herzustellen.“
„Ach ja? Ich frage sie, Miss Lockett: Als sie auf Ismay einstachen, war die Brosche da noch vollständig?“
Die junge Frau überlegte kurz. Dann sagte sie bestimmt: „Nein. Der Stein war bereits entfernt. Ich weiß es genau, weil ich nach der richtigen Stelle für den Einstich gesucht habe. Dabei ist mir die komische Brosche aufgefallen.“
„Aber warum soll gerade ich den Stein gestohlen haben?“ fragte Grearson verzweifelt. „Es kann doch auch jeder andere gewesen sein.“
„Aber nicht jeder andere besitzt die übrigen Steine, um sie zu der unschätzbar wertvollen Orion-Konstellation zusammenzusetzen. Und jetzt seien sie ruhig, Mr Grearson. Ich will ihnen eine Geschichte erzählen. Sie beginnt vor ein paar Monaten.
Ein junger Geschäftsmann hat es geschafft, Edelsteine einer berühmten Kollektion zu stehlen. Er ist niemals erwischt worden. Es waren die Steine der berühmten Orion-Sammlung. Acht Juwelen, jeder für sich zwar wertvoll, aber nicht unbedingt ausreichend für einen Mord. Doch sie alle zusammen bildeten die wertvollste Kollektion der Welt. Ein unermesslicher Reichtum! Doch wie groß war die Enttäuschung für unseren Dieb, als er entdeckte, dass der Kollektion zwei Steine fehlten! Ich will ihnen ein wenig bei der Orientierung helfen, so wie Mrs Dobbins mir geholfen hat. Sie forderte mich auf, den Mann ohne Schultern zu suchen und führte mich zu einem Fernglas, dessen einzigartige Bedeutung sich mir erst nach langem Überlegen erschloss. Es war ein hervorragender Hinweis, den sie mir gegeben hat. Bitte blicken sie zum Horizont!“
Miller deutete gen Westen, die anderen schauten ebenfalls dorthin.
„Sie können dort am Himmel das Sternbild des Orion sehen. Dort der Kopf, die Schultern. Die drei Sterne in einer Reihe bilden den Gürtel und dort die beiden Fußsterne. Dieses ist das Sternbild, was bei den Taschk´Unapei als Gott Nun´Xite verehrt wird. Und dieses Sternbild wird durch die Juwelenkollektion dargestellt. Leider fehlten der Kollektion sozusagen die beiden Schultersterne, Beteigeuze und Bellatrix. Das habe ich in einem Buch über Astrologie nachgeschlagen. Mrs Dobbins war unglaublich klug. Sie wusste, dass die beiden Steine fehlten und der Mörder alles daran setzte, sie zu bekommen.
Unser Dieb hat lange Zeit dafür gebraucht, bis er die beiden Steine ausfindig machen konnte. Einen besaß Joseph Bruce Ismay, der andere befand sich im Besitz der Familie Borebank. Oder, um es vielleicht genauer zu sagen, im Besitz von Lucy Ratchett. Mrs Borebank hatte ihr den Ring, der diesen Stein umfasste, geschenkt.
Unser Dieb plante nun, sich zuerst Ismays Stein unter den Nagel zu reißen. Und wie sorgfältig er dabei vorging! Die Titanic war noch im Bau inbegriffen, doch er traf bereits Maßnahmen, informierte sich über die Kabinen und schaffte es, durch Bestechung eines Arbeiters einen dritten Schlüssel von Ismays Kabine herzustellen, der für ihn in einem Hotel in London hinterlegt wurde. Dort hat er ihn dann abgeholt und war bereit für die Überfahrt.
Und nun müssen sie sich bitte über eines im Klaren sein: Der Mordfall beginnt nicht mit dem Eintreffen von Miss Lockett am Schauplatz, sondern rund eine Stunde vorher. Es ist ungefähr 19 Uhr. Das ist nämlich der Moment, an dem unser Dieb mit seinem Schlüssel Ismays Zimmer öffnet und die Kabine nach dem Stein durchwühlen will. Er hat nicht damit gerechnet, dass der untreue Mr Ismay zu dieser Zeit eine Verabredung mit einer netten jungen Dame in seinem Zimmer hat. Er hat ihr seinen eigenen Zimmerschlüssel gegeben. Natürlich denkt Ismay nun, als er die Tür seiner Kabine offen stehen sieht, dass sie bereits dort ist und schaut nach. Nur so ist es möglich, dass Mr Ismay ohne seinen eigenen Schlüssel in seine Kabine gelangen konnte. Und urplötzlich überrascht er unseren Dieb bei seinem Einbruch.
Es kommt zum Kampf. Unser Dieb ist jedoch überlegen und schafft es, Ismay zu Boden zu schlagen. Dort würgt er ihn dann zu Tode. Das war sehr umsichtig von ihm, denn die Spuren eines solchen Mordes hätten erst in New York nachgewiesen werden können. Und um alles noch unscheinbarer wirken zu lassen, deponiert er dann die Leiche so auf dem Bett, als hätte Ismay sich nur eben zu einem Nickerchen zurückgezogen. Dabei entdeckt er den Edelstein Beteigeuze an seiner Brust, bricht ihn aus der Brosche und verschwindet gut gelaunt.
In seiner guten Laune hat er allerdings nicht beachtet, dass der Schlüssel noch immer in der Tür steckte. Auch hat er nicht bemerkt, dass Mrs Dobbins den Mord beobachtet hat. Erst als Mrs Dobbins ihn mit diesem Wissen erpressen wollte, musste er handeln, doch das folgte um einiges später.
Es war reiner Zufall, dass sich an diesem Abend auch Miss Ratchett an Bord aufhielt. Noch größer der Zufall, dass unser Dieb sie zu Gesicht bekam und an ihrer Hand den Ring mit dem Edelstein entdeckte. Bellatrix, der zweite Schulterstern. Diese Gelegenheit war so nah, so greifbar, dass unser Dieb einen innerlichen Freudentanz aufgeführt haben musste. Ohne Verzug verführte er Miss Ratchett dazu, ihn in ihr Zimmer zu lassen. Das war nicht schwer, denn sie war ein leichtes Mädchen, verdiente sich ein Zubrot damit, sich an Männer zu verkaufen. Sie sah also in ihm einen zahlungsfreudigen Kunden, er sah in ihr nur das Opfer, das den Ring trug.
Er tötete sie mit einer Nagelfeile und nahm sofort den Ring an sich. Dann verließ er ihre Kabine. Dieses Mal hinterließ er kaum eine Spur. Kaum. Denn er hatte einen Kugelschreiber verloren, der fast unter das Bett gerollt war. Ich habe ihn zur Sicherheit mitgenommen. Sie erkennen ihn doch sicherlich wieder, Mr Grearson?“
Miller hielt den Stift hoch und legte das erste Mal eine Pause ein, in der betretenes Schweigen herrschte. Grearson verzog keine Miene.
„Tja, und damit war die Kollektion vollständig. Ich denke, sie haben sich die Schatulle mit den Steinen beim Zahlmeister abgeholt, bevor sie von Bord gegangen sind?“
Wortlos nahm Grearson seinen Beutel zur Hand und zog das Kästchen hervor, das noch vor Stunden auf der Kommode in seinem Zimmer gestanden hat. Darin befanden sich nun acht Juwelen, ein perfektes Abbild der Orion-Sternenkonstellation. Beteigeuze und Bellatrix lagen sorgfältig gesäubert an ihrem Platz.
„Ich habe lange überlegen müssen“, fuhr Miller fort, „denn es gab so viele Spuren, die mich in die Irre führten. So viele Menschen hatten ein Motiv, es zu tun, aber nur ein Motiv für den Mord an Ismay! Ich war mir sicher, dass diese drei Morde miteinander zusammenhingen. Wir dürfen nicht vergessen, dass auch Mrs Dobbins ermordet wurde. Nicht von ihrem Schuss, Miss Lockett, der hat sie nur gestreift. Aber als Grearson herausgefunden hat, dass die alte Frau bereit war, gegen ihn auszusagen, setzte er ihr eine tödliche Injektion. Nicht viele Menschen hatten Zugang zum Krankenzimmer… und dort war sie ermordet worden.
Aber es war zu spät. Sie hatte die Hinweise, die zu ihnen als Mörder führten, Mr Grearson, bereits gut platziert. Am frühen Abend haben sie sich zurückgezogen mit dem Vorwand, unter Seekrankheit zu leiden, was durchaus nicht unüblich ist. In Wahrheit aber wollten sie nur ungestört sein, um ihren Plan durchzuführen. Sie verschwanden kurz in ihrer Kabine, dann gingen sie in Ismays Zimmer und durchwühlten es. Sie wurden von Ismay überrascht, töteten ihn und nahmen den Stein an sich. Mrs Dobbins hat alles beobachtet. Sie geht, so schnell sie kann, hinunter in den Maschinenraum und bittet einen der Arbeiter, ein Fernglas im vierten Schornstein zu deponieren. Weiß der Himmel, wie sie an dieses Fernglas gekommen ist! Der Arbeiter tut dies und Mrs Dobbins läuft wieder hinauf. Sie geht wieder zu Ismays Kabine, schaut nach, ob Mr Grearson noch da ist, doch die Kabine ist leer.
Dann hört sie Schritte auf dem Flur, Schnell versteckt sie sich im Korridor hinter einer Ecke. Sie hört, wie die Schritte in Ismays Zimmer verschwinden. Sie geht wieder zur Tür und beobachtet nun Miss Lockett, die sich an der Leiche zu schaffen macht. Bevor Miss Lockett das Zimmer verlässt, verschwindet sie wieder in ihrer eigenen Kabine auf dem F-Deck. Dort wartet sie und überlegt, was sie nun tun soll. Ismay ist tot – soll sie nun noch weitermachen oder ihrem Leben ein Ende setzen, wo jetzt doch alles vorbei ist?
Von diesen Gedanken bekommt Miss Lockett nichts mit. Sie hat den Dolch in Ismays Brust geheftet und verschwindet enttäuscht und ohne Juwel aus seinem Zimmer. Grearson bekommt davon schon längst nichts mehr mit. Gleich nachdem er Ismays Kabine verlassen hatte, war er in sein eigenes Zimmer zurückgekehrt, um mit gutem Gefühl seine Seekrankheit auszukurieren.
Somit hat er auch nicht mitbekommen, wie nach Miss Lockett Mrs Hopkins dessen Zimmer betreten hat und die Leiche an seine Tür geschleppt hat, um sich für die Vergewaltigung zu rächen. Grearson, der seinen Auftritt beim Empfang nicht verpassen wollte, ordnete noch schnell seine Erscheinung und öffnete die Tür.“
Miller wandte sich an Grearson.
„Sie müssen einen ordentlichen Schreck bekommen haben, als ihnen mit einem Mal die Leiche entgegen fiel. Sie betätigten die Klingel… und den Rest kennen wir ja.“
Es herrschte wieder für einen Moment Ruhe.
Diana Hilton fragte: „Haben sie das wirklich getan, Mr Grearson? Ich weiß nicht, ob ich sie dafür hassen oder ihnen danken soll.“
Keiner wusste eine Antwort darauf zu geben. Grearson nickte nur stumm und blickte unablässig auf das Kästchen auf seinen Knien. Die Wellen schlugen leise klatschend an das Rettungsboot. Miss Francatelli, die Sekretärin, drängte sich an Sir Cosmo und zitterte vor Kälte. Dann blickte Susan Lockett wieder auf.
„Mr Miller, woher konnten sie wissen, dass Ismay schon tot war, als ich ihn ermordete?“
„Sie haben ihn nach eigenen Angaben erstochen. Ich habe den Dolch in seiner Brust gesehen, als er in Grearsons Kabine lag. Aber Ismay musste schon tot gewesen sein zu diesem Zeitpunkt, denn die Wunde um den Einstich herum hatte kaum geblutet. Ich sagte ihnen, sie sollten sich bitte merken, dass Ismay auf vielen Kissen gelegen hat. Sein Oberkörper war also aufgerichtet. Nun stellen sie sich also vor, dass sein Herz nicht mehr schlägt, weil er erwürgt worden ist. Das Blut zirkuliert nicht mehr durch den Körper. Es fließt hinab zu seinen Beinen, weil der Oberkörper aufgerichtet ist. Somit ist kaum noch Blut an der Stelle vorhanden, an der sie ihn erstochen haben. Hinzu kommt, dass Mrs Hopkins die Leiche an die Tür gestellt hat! Wenn Ismay zu dem Zeitpunkt noch gelebt hätte, wäre mehr Blut in den Adern gewesen und die Wunde wäre nicht so unauffällig gewesen.
Drei Morde, Mr Grearson, und sie als Geschäftsmann hatten es wirklich nötig, nach den Sternen zu greifen?“
Grearson hatte die ganze Zeit über geschwiegen. Seine Lippen waren wie auch die der anderen blau angelaufen, seine Zähne klapperten leise. Er hatte die ganze Zeit nur auf das Kästchen mit den Edelsteinen gestarrt. Nun blickte er auf und sah zu Miller. Seine Stimme hatte fast einen anklagenden Ton.
„Ich hatte den Fall gelöst, Miller. Warum haben sie es nicht dabei belassen können?“ Er lächelte ihn traurig an. „Warum?“
Und dann zog er aus seinem Beutel eine glänzende Pistole.
  


 Nachwort



„Als die Carpathia endlich zur Rettung kam, fand sie ein Rettungsboot mit nur einem Überlebenden vor. Ich habe überlebt. Ich weiß nicht, ob ich vielleicht anders hätte handeln sollen. Mein Leben ist jedenfalls den einzigen Weg gegangen, der mir noch geblieben war. Es waren nicht viele Menschen in unserem Boot. Es war ein Leichtes, sie zu töten. Aber Miller… er hat das Kästchen mit sich ins Wasser gerissen. Es schwamm obenauf, aber der Verschluss hatte sich geöffnet und die Edelsteine waren für immer in den Tiefen des Atlantiks verloren. All meine Bemühungen waren vergebens. Als tapferer Geschäftsmann ging ich in die Presse ein. Patrick Grearson, der dem Tod in dieser kalten, verhängnisvollen Nacht getrotzt hatte. Welch Ironie. Wieder eine Fassade. Eine Fassade, die mir angedichtet wurde und hinter der sich ein Abgrund verbarg. Wie auch die Titanic. Ich habe viele Menschen getötet. Ich weiß, dass Sie mich deswegen verdammen werden. Aber stellen Sie sich nur die eine Frage: Hätten Sie in meiner Lage, in jener Nacht damals nicht auch so gehandelt?“
                         

Ende





Realität und Träumerei

Ein Nachwort des Autors

Ich brauche sicher nicht zu erwähnen, dass die vorliegende Geschichte Fiktion ist. Dennoch beruht sie auf einer wahren Begebenheit – dem Untergang der Titanic, der mich immer wieder fasziniert hat. Besonders die Wahrheiten jenseits des Kitschs haben meine Aufmerksamkeit gewonnen. Deshalb habe ich auch Realität in das Werk einfließen lassen. Ich kann  und möchte nicht jedes einzelne Detail aufzählen, das wahr bzw. erfunden ist, das wäre zu umständlich. Ich will nur soviel sagen, dass ich mich bemüht habe, die technischen Details um die Titanic möglichst wahrheitsgetreu wiederzugeben. Somit stimmen die Daten, die Uhrzeiten der historischen Ereignisse, die Namen der Crewmitglieder – die meisten zumindest. Aber hier muss schon gesagt werden, dass Bruce Ismay, obwohl er zwar an jener Reise teilgenommen hat, nicht ermordet wurde. Auch die Geschehnisse, die sich um Captain Smith, Offizier Lightoller und Murdoch ranken, sind zum großen Teil ausgedacht. Wer wirklich an den Ereignissen rund um den Untergang der Titanic interessiert ist, wird sich freuen, in meinem Werk die kleinen Wahrheiten zu finden.
Was mir allerdings besonders am Herzen lag, und das möchte ich hier noch einmal ausdrücklich betonen, ist die korrekte Darstellung der Titanic-Katastrophe als eine Verkettung von menschlichem Versagen. Es beginnt (in meinem Werk) mit der Ignoranz des Funkers John „Jack“ Phillips, der die Geschäftstelegramme für wichtiger befand als die vielen Eiswarnungen, die die Titanic erreicht haben. Es führt weiter über Captain Smith, der in keinem Moment trotz der Eiswarnungen ein Zeichen gegeben hat, die Maschinen auch nur ein wenig zu drosseln. Es gab an Bord der Titanic keine Ferngläser. Es ist eine historisch belegte Tatsache, dass die meisten der Rettungsboote nur zur Hälfte besetzt waren, teils sogar mit noch weniger Menschen. Das Rettungsboot „Steuerbord Nr. 1“, in dem Grearson und Miller fliehen, war ursprünglich nur mit zwölf Personen bei einer Kapazität von 40 besetzt. Darunter befanden sich tatsächlich die Duff-Gordons und deren Sekretärin Miss Francatelli. Man munkelte, Sir Cosmo habe die Crewmitglieder bestochen, um sie mit auf das Boot zu bekommen. Es kostete ihn viele Jahre, um seinen Namen wieder reinzuwaschen.
Vielleicht wird nun auch klar, weshalb ich die Titanic als Mythos betrachte. Nicht als einen Mythos von Schönheit und Dekadenz oder von Vergänglichkeit, sondern als Legende, als Mythos, der die Unfehlbarkeit des Menschen unwiderlegbar widerruft. Die Geschichte mit dem schlechten Stahl ist von mir erfunden. Schließlich war aber nicht schlechter Stahl schuld am Untergang, sondern wie schon gesagt diese Reihe von Fehlern, die auf menschliches Versagen zurückzuführen ist.
Die Titanic wird ewig ein Rätsel bleiben. Meine Geschichte soll daran nichts ändern, sie soll nur denen, die sich bisher noch nicht mit jener Tragödie befasst haben, einen unterhaltsamen und (zumindest ein wenig) authentischen Einblick hinter die fabelhaften Kulissen geben und jenen, die bereits mit der Titanic vertraut sind, eine spannende Geschichte verflochten mit ein paar kritischen Spitzen sein.

                                         Dr Hilarius