Aufgabe: Dieses Bild ist langweilig. Male ein paar Tiere, Menschen oder Aktivitäten dazu und stelle das Bild dann Deinen Mitschülern vor.
Schüler: "Dr Hilarius, darf ich ein hässliches Schaf malen?"
Lehrer: "Das heißt ugly sheep."
S: "Okay, darf ich ein ugly sheep malen, das rosa Donuts scheißt und Regenbogen kotzt? Das sind sie dann in zehn Jahren!"
I LOVE MY PUPILS!!!
Mittwoch, 30. November 2016
Dienstag, 29. November 2016
Nichts bereuen
Ich bereue nichts.
Ich bereue nicht, dass ich alle möglichen Haarfarben ausprobiert habe. Auch wenn das Blau dann doch eher türkis war, auch wenn es etwas von Aquarium hatte und eine Freundin mir einen Haarreif mit Fischen aufsetzen wollte. Auch wenn es nicht wirklich blond war, sondern pommesgelb. Auch wenn mir die Farbe überhaupt nicht stand. Immerhin habe ich das alles einmal ausprobiert.
Ich bereue nicht meinen ersten bewussten Drogenkonsum. Das war damals, als ich mit einem Kommilitonen Sachen für die Saturnalien vorbereitet habe - wir haben dabei cuarenta y tres con leche getrunken. Ich war neugierig, und es war lecker. Schmeckte wie ein Vanillemilchshake, überhaupt nicht nach Alkohol. Cool, gleich noch ein zweites Glas davon. Und ein drittes. Und als ich aufgestanden bin, weil ich aufs Klo musste, schwankte plötzlich der Raum hin und her. Ich kannte das nicht - aber jener Kommilitone hat mir die Sache ganz behutsam erklärt. Diesen Abend bereue ich nicht. Auch wenn ich über zwanzig Jahre nichts konsumiert hatte und damit eine Hemmschwelle überschritten worden ist. Auch wenn das den Weg geebnet hat für eine intensivere Auseinandersetzung mit Drogen. Ich habe mich bewusst dafür entschieden, und ich würde es wieder tun.
Ich bereue nicht, dass ich mein Studium in die Länge gezogen habe. Saturnalien, Liebe, Fachschaft, Studierendenparlament, HiWi. Ich würde den gleichen Weg nochmal gehen, auch wenn ich dadurch vielleicht eine Planstelle verpasst habe. Auch wenn ich meinen Eltern noch länger auf der Tasche liegen musste - und das schlechte Gewissen deswegen. Auch wenn mich manche blöd anschauen, wenn ich ihnen erzähle, dass ich sechzehn Semester lang studiert habe.
Ich bereue nicht, dass ich Flo in mein Leben eingeladen habe. Das kam mehr durch Zufall, durch eine Auszugsparty und durch ein Foto. Wir haben uns geschrieben and the rest is history (his story?). Das bereue ich nicht, auch wenn ich in der Folgezeit oft seinetwegen traurig war, auch wenn ich mich öfters von ihm verletzt gefühlt habe, auch wenn ich mich phasenweise auf nichts Anderes mehr konzentrieren konnte, auch wenn ich seinetwegen geweint habe. Ich habe mich bewusst entschieden (und ihn vorgewarnt), diese Sache anzugehen, und es ist auch meine bewusste Entscheidung, dass ich immer für ihn da sein werde. Ich würde es wohl bereuen, wenn ich ihn jetzt aus meinem Leben striche.
Ich bereue all diese Sachen aus zwei Gründen nicht:
1) All diese Sachen haben ihr Gutes. Ob es nun meine Lieblingshaarfarbe ist, Lebenserfahrung, neue Freundschaften, ein anderes Gefühl von Liebe - es ist viel Gutes dabei herumgekommen, so dass ich sagen kann: Es hat sich gelohnt!
2) Was würde mir die ganze Reue nützen? Ich zöge mich damit nur runter, das hat mit dem Konzept vom Leben im Hier und Jetzt nicht viel zu tun, weil ich deprimiert auf die Vergangenheit schaue und mir "Was wäre gewesen, wenn..."-Schlösser aufbaue.
Ich habe das mal irgendwo gelesen, da hatte einer die Lebenseinstellung "Nichts bereuen." und ich konnte mich damit identifizieren.
Und das bleibt auch so.
Montag, 28. November 2016
Great Expectations
Great Expectations - Große Erwartungen scheinen gestern einige Leser dieses Blogs gehabt zu haben, als sie den Begriff "Vibrator" im Titel gesehen zu haben. Genau das ist der Clickbait-Effekt, ein reißerischer Titel lockt die Leser an, die dann vom Inhalt maßlos enttäuscht sind (oder in diesem Fall einen kleinen Twist am Ende hatten, oder beides).
Ich habe allergrößte Erwartungen; offiziell in fünf Stunden und zweiundfünfzig Minuten erscheint Final Fantasy XV weltweit auf dem Markt, der neueste Teil einer der bekanntesten und erfolgreichsten Mainstream-Rollenspiel-Anthologien für Konsole (und teilweise auch für den PC). Drei Jahre Wartezeit nähern sich dem Ende und ich bin gespannt, was mich erwartet. Ich habe alle Teile gespielt, außer den Fortsetzungen (X-2 und so'n Schwachfug) und den Online-Teilen.
Das Franchise wartet mittlerweile mit umfangreichen Extras auf, so ist vor ein paar Wochen bereits der begleitende Film Kingsglaive: Final Fantasy XV erschienen. Auch den werde ich mir zu Gemüte führen (er ist Teil der Special Edition des Spiels, aber auch gesondert auf DVD erhältlich). Und ich bin kritisch - die filmischen Umsetzungen von Videospielen sind ein Kapitel für sich, und leider ganz oft nicht zu ertragen. Ausnahme war definitiv Final Fantasy VII: Advent Children.
Nachteil bei so hohen Erwartungen ist, dass sie umso herber enttäuscht werden können. Ich habe mich extra nicht weiter über das Spiel informiert als dass ich weiß, dass es in einer modernen Welt spielt und etwas realistischer und psychologischer sein soll als die Vorgänger. Schauen wir mal - vielleicht folgt ein Review, wenn ich es durchgespielt habe. Die gute Nachricht ist, dass das bei solchen Spielen immer recht lange dauert, also sein Geld wert ist.
An alle, die es auch spielen werden: Gute Unterhaltung!
Sonntag, 27. November 2016
Vibratorfreuden
Nein, die Headline dieses Beitrags ist kein Clickbait, kein Köder, damit die Seite möglichst oft aufgerufen wird. Es geht mir tatsächlich um das vibrierende Spielzeug, und wie viel Spaß man damit haben kann. Muss nur aufpassen, dass das hier nicht zu explizit wird, denn theoretisch liest diese Beiträge ja die intelligenzbehaftete Population von vierzehn bis vierundachtzig.
Also, etwas genauer, es geht mir nicht um das Teil an sich, sondern um die Vibrationsfunktion. Ich gebe zu, bis vor Kurzem habe ich sie noch nicht genutzt. Das kam eher aus Versehen - aber der Effekt war immens! Diese Vibrationen gehen einem durch Mark und Bein und jagen Schauer über den Rücken. Ich muss mich aber erst noch dran gewöhnen, und irgendwie sind die Vibrationen so unvorhersehbar, also nicht gleichmäßig. Ich muss aufpassen, dass mir das Teil bei den stärkeren Bewegungen nicht aus der Hand fällt, ist ja schon ein bisschen rutschig.
Dennoch: Das könnte mir gefallen. Ich werde bei diversen Gelegenheiten mal die Vibration einschalten und schauen, ob das Erlebnis im Vergleich zu vorher an Qualität gewinnt. Am besten ist es irgendwie, wenn das Licht aus ist. Dann wirkt der ganze Spaß nicht mehr so "alltäglich" - spätestens nach zehn Minuten bin ich wie hypnotisiert bei der Sache.
Ich frage mich, ob ich ein Spätzünder bin, was die Vibration betrifft. Mit dem Gerät selbst zu spielen, klar, das "lernt" man irgendwann. Also, dass es einfach Spaß macht. Ich vermute, die meisten legen direkt damit los. Ich fand das am Anfang sehr befremdlich, allein schon dieses "wrrrrrrr"-Geräusch, das hat mich irritiert und ich konnte mich nicht direkt auf die Sache konzentrieren. Wie beim Sex mit Anderen, wenn man sich dabei von seinen Gedanken ablenken lässt und nicht mehr bei der Sache ist.
Dabei ist zumindest meine Wahrnehmung, wie oben beschrieben, dass ich etwa nach zehn Minuten das Geräusch gar nicht mehr wahrnehme. Und ein bisschen länger bin ich ja schon bei der Sache, vielleicht eine Stunde oder auch mal zwei. Oder, wenn ich Besuch habe, auch mal länger.
Ist halt so: Playstation-Spiele machen süchtig, und die Vibration im Controller steigert das Spielvergnügen je nach Genre erheblich, besonders bei Action oder Grusel. Ich denke mal, ich werde die Vibrationsfunktion jetzt immer eingeschaltet lassen.
post scriptum: Der Artikel macht Lust auf mehr... :-P Packt Eure versauten Gedanken weg! Ich spiel' jetzt weiter Project Zero.
Samstag, 26. November 2016
Beteigeuze (Kapitel 8)
Montag, der 15. April 1912
00:05 Uhr
Fassungslos
standen Miller und Grearson an der Spitze des Schornsteins und blickten auf das
Schiffsdeck unter ihnen. Der Schreck hatte ihnen die Worte geraubt. Für einen
Moment war es totenstill. Nach zwei Minuten, die ihnen wie eine Ewigkeit
vorkamen, erhob Miller das Wort.
„Scheint,
als wäre nichts Ernstes vorgefallen. Smith hätte sofort Alarm geschlagen, wenn
wir uns in einer Notsituation befänden. Offensichtlich wurde der Eisberg nur
gestreift.“
Grearson
blickte auf die Spitze des Eisberges, die aus dem Wasser ragte. Langsam trieb
der Gigant an ihnen vorbei. Die Katastrophe war abgewendet, so schien es.
„Wir müssen
hinunter“, sagte Grearson. „Der Fall ist gelöst, ich kenne den Mörder. Lassen
sie uns ins Cafe Parisian gehen, da ist nicht mehr so viel Betrieb.“
„Sie haben
den Fall gelöst? Das ist ja kaum zu glauben! Ich darf sie dazu beglückwünschen,
und ich bin gespannt auf ihren Bericht. Aber sie haben Recht, wir sollten jetzt
besser gehen.“
Langsam
stiegen beide die Leitern im Inneren des Schornsteins herab. Ein ungutes Gefühl
beschlich Grearson, denn als sie ungefähr die Hälfte geschafft hatten, konnten
sie die Alarmglocken in den Maschinenräumen hören. Grearson blickte Miller an.
„Schnell!“
rief der Steward. Sie eilten hinunter und sahen als erstes die roten
Warnlichter in den Maschinenräumen. Dann erkannten sie die Arbeiter, die aus
den Kesselräumen liefen und in Panik flüchteten.
„Ein Leck,
wir sind angeschlagen. Das Wasser steigt!“ riefen einige.
„Du meine
Güte“, rief Miller atemlos. „Mr Grearson, die Titanic ist… aber wie kann das
sein? Es dürfte kein Wasser so weit in die Titanic gelangen!“
„Schlechter
Stahl“, murmelte Grearson kaum hörbar. „Kommen sie!“ Beide liefen durch die
Maschinenräume zu den Treppen der dritten Klasse. Hastig stiegen sie die
Treppen hinauf und gelangten atemlos auf das D-Deck.
„Der
Squashplatz ist überflutet!“ rief eine junge Frau und rannte hysterisch die
Treppen hinauf. Mitglieder der Crew versuchten vergeblich, die Passagiere zu
beruhigen und zurückzudrängen, um ein Tumult auf dem Schiffsdeck zu vermeiden.
Miller
versuchte, durch kurze Kommentare seinen und Grearsons Weg an Deck zu bahnen.
Ab dem C-Deck wurde die Stimmung erstaunlich ruhig. Scheinbar hatten hier noch
nicht viele Passagiere etwas von der Katastrophe bemerkt. Nur wenige Reisende
liefen etwas verwirrt umher und fragten nach dem seltsamen Stoß, den sie
gespürt hätten.
Schließlich
befanden sich Miller und Grearson an der Haupttreppe auf dem A-Deck, an jenem
berühmten Relief, auf dem Ruhm und Ehre die Zeit krönen. Grearson war außer
Atem.
„Miller,
wir müssen uns auf die Suche machen nach den Verdächtigen. Wir brauchen
unbedingt ein paar Zeugenaussagen, sonst werden wir nie etwas beweisen können.
Ich weiß nicht, wie groß der Schaden an der Titanic ist, aber sie wird sinken.
Die Titanic wird untergehen, und wir müssen nun die entscheidenden Leben
retten, sonst wird dieser Mordfall in den Tiefen des Ozeans versinken. Gehen
sie an das Bootsdeck. Sprechen sie mit den Offizieren, versuchen sie, an Plätze
in einem Rettungsboot zu kommen. Ich werde versuchen, die Leute zu finden. Es
geht um Miss Lockett, die Hiltons, deren Anwalt, Lady Dumonde, David Morrison…“
Grearson
wurde jäh unterbrochen, als das Glas der prächtigen Kuppel über ihnen brach und
in großen Scherben auf den Teppich regnete. Jetzt war ein dumpfes Knarren und
Bersten im Inneren des Schiffes nicht mehr zu überhören.
„Sollten
sie jemanden an Deck treffen, fangen sie sie um Himmels Willen ab!“ mahnte
Grearson. „Ich verlasse mich darauf, dass sie uns retten.“
„Mr
Grearson, ich kann nichts versprechen. Ich will hoffen, dass die Offiziere den
Ernst der Lage verstehen.“
Sie nickten
sich kurz zu, dann lief Miller die Treppe hinauf, Grearson dagegen kehrte um
und lief in Richtung des C-Decks.
Ruhm und Ehre, im Begriff, die Zeit zu krönen
McElroy. Der
Zahlmeister war sein erstes Ziel. Wenn er ihn nicht erreichen würde, wäre alles
umsonst gewesen. Grearson sprintete die Treppe zum C-Deck hinunter und sah
erschrocken, dass sich vor dem Zahlmeisterbüro bereits sehr viele Passagiere
aufhielten und aufgebracht nach den Stewards fragten. Die Panik in ihren
Stimmen war nicht zu überhören. Ohne viel Rücksicht zu nehmen, bahnte er sich
mit den Ellenbogen seinen Weg durch die Menge. Ein kurzes, aber ernsthaftes
Zunicken zu McElroy reichte vollkommen aus. Der Zahlmeister händigte ihm seine
Sachen aus und bemühte sich dann wieder verzweifelt, die Menschen zu beruhigen.
Aufgeregt
überlegte Grearson nun, wo er beginnen sollte. Er musste sich von unten nach
oben durcharbeiten. Die Hiltons, auf dem D-Deck. Nein! Sie waren in ein anderes
Zimmer gezogen, aber wo? Der Zufall nahm ihm die Entscheidung ab, denn in
diesem Augenblick traten Claris Hilton und ihre Mutter in Begleitung von Lady
Dumonde die Haupttreppe herauf. Lady Dumonde winkte zu Grearson hinüber.
„Es ist
nicht zu glauben, Mr Grearson“, rief sie mit unüberhörbarem Organ. „Dieser
Tumult hier. Stellen sie sich nur mal vor, diese penetranten Stewards wollten
die Hiltons nicht einmal hier hinauflassen! Zum Glück war ich in der Nähe,
meine Argumente zählen immer.“
„Wirklich,
Lady Dumonde, das ist zu freundlich von ihnen, dass sie uns hergebracht haben.
Ich habe Angst, ich will nicht, dass uns auf dieser Fahrt etwas zustößt. Aber –
dieser Lärm, hört doch nur! Dieser Lärm!“
Wieder das
unerträgliche Zerren und Quietschen von Metall, das bis zur Grenze gedehnt und
gequetscht wurde, vermischt mit dem scharfen Klang von splitterndem Holz.
Lady
Dumonde beugte sich zu Claris´ Ohr und sagte: „Mein Kind, vielleicht wissen sie
es jetzt noch nicht, aber diesen Gefallen bin ich ihnen schuldig gewesen. Ihr
Leben haben sie noch vor sich. Sie werden alle Möglichkeiten ausschöpfen und
alles genießen, das hoffe ich. Und wenn es ihnen mal schlecht gehen sollte,
nehmen sie ihr Taschentuch mit dem L zur Hand und denken sie an mich.“
Claris
hatte die wahre Bedeutung dieser Worte nicht richtig begriffen. Zwar lächelte
sie höflich und bedankte sich noch einmal artig, doch sie wusste nicht, wem sie
da zuwinkte, als sie an Grearson herantrat.
„Mr
Grearson“, sagte sie, „wir müssen hier weg. Es gibt doch Rettungsboote, ich
habe sie schon an Deck gesehen. Meinen sie, die werden jetzt losgelassen?
Meinen sie, man wird mich und Mutter hier herausholen?“
„Das wird
man. Miss Hilton, sie brauchen sich überhaupt keine Sorgen zu machen. Sie
müssen hier weg, damit wir uns noch einmal gründlich unterhalten können. Gehen
sie mit ihrer Mutter an Deck. Sollte irgendein Steward sie nicht durchlassen,
warten sie an der Haupttreppe, ich werde sie dann aufgabeln, wenn ich nach oben
gehe. Sollten sie es aber ohne Probleme bis auf das Bootsdeck schaffen, dann
suchen sie nach dem Steward Miller. Er wird ihnen helfen, auf das Rettungsboot
zu gelangen und ihnen alles erklären. Dazu habe ich jetzt keine Zeit. Ich muss
noch ein paar Menschen auffinden. Haben sie eine Ahnung, wo sich ihr Geliebter,
Mr Morrison befindet?“
Claris
schüttelte verwirrt den Kopf. Ihr ganzer Körper zitterte vor Angst. Grearson
fasste sie an beiden Armen und versuchte, sie zu beruhigen.
„Machen sie
sich keine Sorgen, es wird alles gut.“ Sehr sicher war er sich da allerdings
selbst nicht.
„Ich weiß
nicht, wo David ist. Oh bitte, sie müssen ihm helfen! Was nützt es mir,
gerettet zu werden, wenn ich meinen David hier verlieren soll? Was kann mir das
nur nützen?“
Diana
Hilton trat heran und nahm Claris bei der Hand.
„Komm,
Claris, wir müssen“, sagte sie bestimmt. „Und sie sollten mal nach dem
Rauchsalon sehen. Mr Morrison war schon immer ein Spieler. Vielleicht finden
sie ihn dort.“
Ohne ein
weiteres Wort zu verlieren, schritten die beiden, so weit es ihre Kleider
ermöglichten, die Treppen hinauf. Grearson blickte sich um. Fieberhaft
überlegte er weiter. Sein Blick fiel auf Lady Dumonde, die noch immer an einem
Tisch stand und sich ihres Schmuckes entledigte. Grearson ging zu ihr.
„Was tun
sie da?“
Lady Dumonde
ließ sich nicht abhalten, ihre seidenen Tücher und Schals ebenfalls abzulegen.
„Das einzig
Richtige. Ich habe einen Titel geheiratet und eine Maske aufgesetzt, aber das
hilft mir jetzt auch nicht mehr weiter. Wenn ich mit diesem Schiff untergehen
soll, dann will ich das wenigstens nicht mit einem schlechten Gewissen erleiden
müssen. Ich befreie mich von diesen nervigen Accessoires, damit ich mich freier
bewegen und ein paar Leuten helfen kann.“
„Das ist
sehr gütig und weise von ihnen“, meinte Grearson aufrichtig. Er bewunderte
diese Frau, die so sehr den brechenden Geist der Titanic verkörperte und dabei
eine Stärke an den Tag legte, die dem Schiff leider nicht zugekommen war.
„Sie
sollten mal in den Salon gehen. Von dort kam ich gerade, dort halten sich Miss
Lockett und Mr Andrews auf. Das könnte sie vielleicht interessieren.“
Grearson
atmete tief durch. Es hatte keinen Sinn, einen Plan bei der Auffindung der
Personen zu verfolgen. Die Zeit drängte und das Knarren der Bohlen setzte gleich
einer Stoppuhr ungeheure Mengen an Adrenalin frei, die nur die nächstliegende
Lösung zuließen. Der Salon.
„Danke,
Lady Dumonde.“ Er nickte kurz, dann lief er mit seinen Sachen unter dem Arm die
Treppe wieder hinauf.
Der Salon.
Auch hier war es noch erstaunlich ruhig. Zwar bildete das Stimmengewirr der
vielen Passagiere eine beinah undurchdringliche Wand für Patrick Grearson, doch
die Panik hatte die Reisenden noch nicht ergriffen. Vermutlich glaubten sie
alle fest daran, dass es sich nur um einen minderen Defekt handeln würde. Woher
sollten sie auch wissen, was sie erwartete?
Grearson
blickte quer durch den Raum. Es war nicht leicht, einen guten Überblick zu
erhalten. Er ging durch die Menge und traf plötzlich auf Susan Lockett, die
sich mit Thomas Andrews unterhielt.
„Miss
Lockett! Das ist ja gut, dass ich sie hier treffe. Sie müssen mit mir kommen.
Wir müssen runter von dem Schiff.“
„Mr
Grearson!“ rief Ms Lockett überrascht. „Mit ihnen hätte ich hier nun nicht
gerechnet. Warum sind sie so aufgeregt?“
„Wie können
sie mich das fragen! Die Titanic sinkt. Wir müssen fliehen!“
Ihre Augen
weiteten sich vor Entsetzen. Ängstlich blickte sie Andrews an und fragte: „Das
ist doch Unsinn, oder? Mr Andrews, bitte sagen sie es mir! Die Titanic ist
unsinkbar, es handelt sich nur um einen kleinen Defekt? Oder nicht? Mr
Andrews!“
Der
Ingenieur senkte den Blick und schüttelte dann den Kopf.
„Nein, Miss
Lockett. Die Titanic wird sinken. Ich habe gehofft, dass so ein Zwischenfall
nicht auftreten würde, denn es stand fest, dass sie dann untergehen würde.“
„Sie! Und
wieso tun sie hier jetzt einfach so, als wäre nichts geschehen? Sie wussten es
bereits?“ Ms Lockett bemühte sich, ihre Stimme unter Kontrolle zu bekommen und
zischte: „Wieso halten sie mich hier fest und reden mit mir, als wüssten sie
von nichts? Tun, als sei alles in bester Ordnung! Und wie können sie es
überhaupt verantworten, mit diesem Wissen hier dabei zu sein?“
„Ich kann
es nicht verantworten“, sagte Andrews kaum hörbar. „Ich kann es nicht. Ich habe
gebetet, dass alles gut geht, aber so sollte es nicht sein. Das Schicksal
spielt gegen mich. Ich weiß, was ich getan habe, und ich weiß, dass ich es nun
nicht mehr ändern kann. Ich habe meine Pflicht als überwachender Ingenieur
nicht erfüllt. Es ist nur richtig, wenn ich nun dieses Werk zu meinem eigenen
Grab werden lasse.“
„Reden sie
keinen Unsinn, Mann“, rief Grearson genervt. „Wir müssen hier verschwinden!
Miss Lockett, gehen sie hinauf auf das Bootsdeck. Man wird ihnen den Weg sicher
nicht versperren. Suchen sie auf dem Deck nach dem Steward, Miller. Er wird sie
in einem Rettungsboot unterbringen. Ich komme nach, ich muss noch ein paar
Leute suchen.“
„Aber, Mr
Grearson…“
„Gehen sie,
es bleibt womöglich nicht mehr viel Zeit.“
Susan
nickte Andrews kurz zu und verließ den Salon. Grearson wandte sich an den
Ingenieur.
„Wenn sie
untergehen wollen, dann machen sie das, ich werde sie nicht aufhalten. Aber sie
können mir zuvor noch helfen. Haben sie Müller, den Wissenschaftler, gesehen?
Ich weiß, dass er in diesem ganzen Komplott eine wichtige Rolle gespielt hat
und ich muss ihn sprechen.“
„Mr Müller
hat sich auf sein Zimmer zurückgezogen. Zumindest wollte er das. Er machte
keinen zufriedenen Eindruck, aber der wäre wohl auch kaum noch angebracht.“
„Welches
Zimmer ist es“, fragte Grearson hektisch.
„Kabine
B-17.“
„Gut. Ich
werde ihn suchen. Mr Andrews, wenn sie hier lebend rauskommen, wird auf sie und
Müller eine Menge Ärger zukommen.“
„Herein.
Oh, ich habe sie heute doch schon einmal gesehen. Herr Grearson, nicht wahr?“
Müller
machte keinen ängstlichen Eindruck. Müde vielleicht, aber weder traurig noch
besonders zufrieden. Einfach nur müde.
„Das ist
richtig. Mr Müller, sie müssen mitkommen, hinauf aufs Bootsdeck. Sie stecken
tief in der Ismay-Angelegenheit mit drin, in der ganzen Sache mit dem Stahl und
so weiter. Ich habe einige wichtige Fragen an sie, dazu müssen wir aber von
diesem Schiff runter.“
„Das denke
ich nicht. Mr Ismay hat bekommen, was er verdient hat. Die Titanic, sein
eigenes Baby, sinkt jetzt und er kann nun nichts mehr tun. Er ist ruiniert. Ich
habe ihn gewarnt, aber er wollte nicht auf mich hören. Nun bekommt er die
Quittung dafür. Das ist alles, was ich dazu sagen kann und will. Und ich, der
ich meinen Beruf so schmählich verraten habe, tue gut daran, nun auf der
Titanic unterzugehen.“
„Lassen sie
das. Wir brauchen sie, Müller. Gehen sie nach oben, gehen sie zu den
Rettungsbooten! Ein Steward wird sie in eines der Boote bringen.“
„Herr
Grearson, sie wollen es wohl nicht verstehen. Sehen sie nicht, dass alles, was
mit der Titanic verbunden war, nun mit ihr zerbricht und untergeht? Es war nur
ein kleiner Zusammenstoß mit einem Eisberg, nicht einmal das, wir haben ihn ja
nur geschrammt. Aber durch meine schlechte Arbeit in den letzten Jahren bin ich
jetzt dafür verantwortlich, dass dieses riesige Schiff aufgrund einer kleinen
Wunde zugrunde geht. Sprechen sie nur einmal mit Herrn Andrews. Der wird jetzt
auch nicht allzu begeistert sein.“
„Ich habe
mit ihm gesprochen. Hören sie, Müller, das bringt uns jetzt auch nicht weiter.
Ich habe Andrews gesagt, er soll machen, was er will, meinetwegen mit dem
Schiff hier untergehen, das ist mir egal. Bei ihnen ist es mir aber nicht egal.
Mr Ismay ist ermordet worden, und sie stehen unter Verdacht. Also kommen sie
jetzt besser mit!“
Sein Ton ließ
nun keine Widerrede mehr zu. Damit hatte er bei dem zerstreuten Wissenschaftler
den wunden Punkt getroffen. Motiviert durch Grearsons strengen Blick und das
immer lauter werdende Ächzen des berstenden Stahls erhob Müller sich, nahm ein
paar Akten und einige wenige Gegenstände mit sich und verließ seine Kabine.
Patrick
Grearson war außer Atem. Die Lauferei – so viel war er lange nicht mehr hin und
her gelaufen. Die fehlende Übung machte sich bemerkbar. Trotz der angespannten
Situation nahm er sich den Moment und setzte sich auf Müllers Sessel. Er atmete
tief durch und schloss die Augen. Ja, es konnte alles klappen, wenn er nun noch
Morrison auffinden könnte und dann im Rettungsboot den Mord aufklären könnte.
Es musste einfach klappen. Er öffnete die Augen wieder und machte sich auf den
Weg zum Rauchsalon.
Die
Haupttreppe auf dem D-Deck füllte sich nun zusehends mit Menschen. Zwar schien
es den Crewmitgliedern zu gelingen, die Passagiere der unteren Decks unten zu
halten, doch mittlerweile tat auch hier die Panik ihr Übriges. Grearson sah
keine Möglichkeit, über die Treppe nach oben zu kommen. In diesem Moment brach
das Geländer der darüberliegenden Etage unter dem Druck der vielen Passagiere,
die sich dagegen lehnten, zusammen. Wie tote Käfer stürzten sie von oben direkt
in die Menschenmenge, die sich auf der Treppe aufhielt. Grearson erschauderte
und lief zurück in den Korridor. Vielleicht war es auf der Hintertreppe noch
nicht so voll.
Er hatte
Glück. Die meisten Menschen, die sowieso nur die Haupttreppe benutzten, sahen
diese als einzige Fluchtmöglichkeit an, so dass Grearson gut über die
Hintertreppe nach oben gelangen konnte. So schnell er noch konnte, lief er zum
Rauchsalon. Mrs Hilton hatte richtig vermutet, Morrison saß am Tisch des
Kartenspielers und spielte tatsächlich.
„Morrison!
Kommen sie hier weg. Wie können sie in diesem Moment nur ans Spielen denken?“
„Ach, sie
kenne ich doch auch. Was liegt ihnen daran, dass ich flüchte? Offensichtlich
geht hier alles den Bach runter. Spiele, solange du noch kannst, sage ich mir,
also habe ich mich zu Mr Cartier hier gesetzt. Auch wenn er mich vorher tüchtig
ausgenommen hat.“
„Ihre
Geliebte erwartet sie. Wollen sie sie etwa so einfach im Stich lassen? Claris
ist oben auf dem Bootsdeck. Sie ist auf dem Weg in ihre Zukunft. Wollen sie sie
nicht begleiten?“
„Claris ist
in Sicherheit?“
„Ja! Und
sie können es auch sein. Sie müssen es nur wollen. Gehen sie aufs Deck und
suchen sie sie. Und ich muss dann auch noch einmal mit ihnen reden, also sehen
sie zu, dass sie in das gleiche Rettungsboot kommen.“
„Mr
Cartier, so sehr ich ihre Gegenwart und ihre fiesen Tricks auch genossen habe“,
sagte Morrison und nickte dem Spieler zu, der verständnisvoll grinste. „Ich
muss weg. Mein Leben erwartet mich.“
Damit nahm
Morrison seinen Glücksbringer, den dunkelgrünen Würfel, wieder an sich und
verließ hastig den Raum. Grearson hielt nun auch nichts mehr auf und er ging
Richtung Haupttreppe.
Das
Gedränge war nun unglaublich. Es gab keine Möglichkeit mehr, das Chaos zu
verhindern, denn es war bereits ausgebrochen. Der holzgeschnitzte Engel mit der
Fackel, der das Treppengeländer verzierte, schien nun nicht mehr das Zeichen der Eleganz, sondern nur noch das
schwache Feuer der Hoffnung zu symbolisieren. Ein junger Mann von kräftiger
Statur, der oben auf der Treppe stürzte und hinabfiel, riss den Engel mit sich.
Ehre und
Ruhm, im Begriff, die Zeit zu krönen. Als wäre keine Menschenseele um sie
herum, betrachtete Lady Dumonde das Bild ausgiebig. Sie schien wie in Trance,
sagte kein Wort, drehte sich nicht um. Ihre eigenen Gedanken beschäftigten sie
zu sehr.
„Lady
Dumonde!“ rief Grearson von oben, so laut er konnte. Sie schien ihn nicht zu
hören. „Lady Dumonde, kommen sie! Wir müssen hier weg!“
Letitia
Dumonde dachte über die Zeit nach, die sie verbracht hat. Über die Art, wie sie
ihre Zeit verbracht hat. Über ihre Entscheidungen. Ob vielleicht alles einen
anderen Weg genommen hätte, wenn sie damals, vor über zwanzig Jahren…
„Lady
Dumonde!“
Aber es
hatte keinen Sinn, darüber noch nachzudenken. Es war alles geschehen. Und es
hatte keinen Sinn, einer vergangenen Ära nachzuweinen. Es war vorbei.
„Lady
Dumonde!“
Der Titel
war nichts wert, das Geld auch nichts. Was nützte all das schon, wenn es kein
Glück gab in ihrem Leben? Ehre und Ruhm, im Begriff, die Zeit zu krönen.
„Lady
Dumonde, jetzt kommen sie, wir müssen fliehen!“
Grearson
war zu ihr herunterkommen und legte ihr die Hand auf die Schulter.
„Kommen
sie.“
Letitia
Dumonde schloss kurz die Augen, nickte dann und eilte mit Grearson die Treppe
zum Bootsdeck hinauf.
Eine halbe Stunde zuvor:
„Mr
Grearson, ich kann nichts versprechen. Ich will hoffen, dass die Offiziere den
Ernst der Lage verstehen.“
Miller
nickte Grearson kurz zu und ging dann hinauf Richtung Bootsdeck. Zum Glück war
der Tumult noch nicht auf den oberen Decks angekommen. Miller trat hinaus auf
das Bootsdeck. Die Nacht war genauso kalt wie zuvor. Zwar waren einige
Passagiere auf das Deck hinausgetreten, um an die Rettungsboote zu kommen, doch
schien es, als wäre die Mehrheit noch nicht von der Gefahr, in der die Titanic
sich befand, überzeugt.
Miller
konnte die großen Eisbrocken auf dem Vorderdeck sehen, sie waren bedrohlich bis
an den Bug gerutscht. Dann richtete er den Blick an der Backbordseite, auf der
er sich befand, entlang. Die Rettungsboote waren von ihren Planen befreit und
jedem Boot war ein Aufsichtshabender zugeteilt, um die sichere Besetzung der
Boote zu garantieren. Offizier Morrow ging nach wie vor unbeirrt vor dem
Funkraum auf und ab.
Miller ging
zu ihm.
„Mr Morrow,
ich brauche Platz auf einem Rettungsboot für 20 Personen. Wir müssen warten,
bis der letzte dieser Personen angekommen ist. Können sie mir das garantieren?“
„Was? Sind
sie verrückt geworden? Das habe ich nicht zu entscheiden. Gehen sie mit ihrer
wahnsinnigen Idee lieber zu Murdoch, vielleicht hilft der ihnen weiter. Plätze
reservieren, also das ist vielleicht mal ein Unsinn!“
Miller ging
zur Brücke und sprach Offizier Murdoch an. Smith beaufsichtigte die Brücke.
Gleich nach dem Zusammenstoß war er aus seiner Kabine gekommen und hat nach
allen Kräften versucht, seiner Aufgabe als Kapitän gerecht zu werden. Im Moment
sah es gut aus.
„Mr Murdoch,
der Fall Ismay steht vor der Aufklärung, aber wir werden nie etwas beweisen
können, wenn wir nicht zusammen auf ein Rettungsboot kommen. Wir brauchen die
Aussagen einiger Mitreisenden, um unsere Theorie zu belegen. Können sie uns
helfen?“
Murdoch
drehte sich um.
„Die
Titanic sinkt, Miller! Wie können sie so etwas von mir verlangen? Ich… warten
sie es ab. Ich will sehen, was ich tun kann.“
„Es muss
einen Weg geben, dass wir von diesem Schiff runterkommen.“ Miller schaute den
Offizier ernst an.
„Wir müssen
beginnen“, sagte Captain Smith. Er schaute auf seine Uhr. „Halb Eins. Wir
müssen beginnen, die Rettungsboote zu beladen, wir dürfen nicht mehr länger
warten. Los, Murdoch, sie beginnen auf der Steuerbordseite, Lightoller, sie
gehen nach Backbord und überwachen die Vorgänge. Los jetzt!“
Die
Offiziere verließen die Brücke. Miller konnte nun von draußen einen Aufschrei
hören, als die Passagiere ihre Rettung nahen sahen. Der Steward trat ebenfalls
auf die Steuerbordseite hinaus, da er sich von Murdoch am ehesten Hilfe
erhoffte. Der war jedoch damit beschäftigt, mit Hilfe von George Hogg das erste
Rettungsboot zu beladen.
„Mr Miller!“
Claris
Hilton und ihre Mutter kamen zum Steward gelaufen. Völlig außer Atem fragte
Claris: „Können sie uns retten? Werden wir vom Schiff fliehen können? Was
sollen wir tun?“
„Miss
Hilton, ich kann nichts versprechen. Ich habe mit Offizier Murdoch gesprochen,
er wird versuchen, uns ein Rettungsboot zu stellen. Sie werden hier sicher
rauskommen, da bin ich sicher. Jetzt müssen wir aber erst einmal warten.“
Außer Atem
setzten Claris und Diana sich auf eine Bank und betrachteten, wie immer mehr
Menschen auf das Deck hinaustraten und versuchten, einen Platz im Rettungsboot
zu ergattern. Claris traten Tränen in die Augen und ihre Mutter holte ein
Taschentuch hervor, um sie zu trocknen.
„Warten sie
hier“, rief Miller. Er hatte jemanden am Heck des Schiffes entdeckt und lief
dorthin. Abigail Hopkins versuchte, sich in die Menge der Rettungssuchenden zu
drängen. Miller packte sie am Arm und zog sie weg.
„Kommen sie
da weg, Mrs Hopkins.“
„Lassen sie
mich los, ich will weg! Ich habe auch ein Recht auf Rettung, lassen sie mich!“
Sie wehrte
sich mit Händen und Füßen, doch Miller gelang es, sie gegen eine Wand zu
drängen.
„Jetzt
hören sie mir zu, Mrs Hopkins. Sie sind eine wichtige Zeugin. Sie müssen mir
helfen. Uns helfen. Es geht um einen Mordfall. Sie werden einen Platz in einem
Boot bekommen, aber dazu müssen sie jetzt die Ruhe bewahren. Gehen sie zum Bug
des Schiffes, gehen sie nach vorne zur Brücke. Sie werden dort zu ihrer Linken
auf einer Bank eine Mutter mit ihrer Tochter sehen. Setzen sie sich zu ihnen
und sagen sie, ich hätte sie geschickt. Wir werden dann zusammen gerettet
werden.“
„Kann ich
ihnen vertrauen?“ Zweifelnd blickte Mrs Hopkins den Steward an, der deutete
jedoch nur mit mahnendem Finger auf die Brücke. Widerwillig ging sie dorthin.
Miller lehnte sich gegen die Reling und atmete durch. Er schloss die Augen und
ging alles Vergangene im Geiste noch einmal durch. Dann öffnete er die Augen
wieder und machte sich einen Überblick über das Deck. Es war ein schauriger
Anblick. Der Bug lag deutlich im Wasser, die Titanic hatte eine erschreckende
Schräglage angenommen.
Noch viel
schauerlicher war allerdings die Tatsache, dass die Kapelle sich nun auf dem
Deck postiert hatte und begann, Lieder zur Ermutigung der Passagiere zu
spielen. Sie spielten, als seien sie von der Realität vollkommen unberührt und
ließen sich von der Angst überhaupt nicht berühren. So schien es – dennoch
erkannte Miller die Tränen in ihren Augen.
Jemand
tippte ihm auf die Schulter. Er drehte sich um und blickte in Ms Locketts
Augen.
„Hier sind
sie also. Ich war zuerst auf der anderen Seite des Schiffes und habe sie
gesucht. Mr Grearson hat mir gesagt, ich solle sie aufsuchen. Nun, da bin ich.
Retten sie mich!“
Miller
lächelte, soweit es ihm möglich war.
„Ganz so
einfach ist es leider nicht. Sehen sie Offizier Murdoch dort?“
Er deutete
auf den Offizier, der mit den Passagieren zu kämpfen hatte.
„Er
versucht, uns einen Platz im Rettungsboot zu sichern. Uns allen, die mit dem
Fall Ismay in Verbindung stehen.“
Susan
Lockett wurde blass.
„Kommen sie
mit“, sagte Miller und führte sie zu den Hiltons und Abigail Hopkins.
„Runter mit
dem Boot“, rief Murdoch und gab somit den Befehl, das erste Rettungsboot zu
Wasser zu lassen. Wohl fühlte er sich dabei nicht. Knapp 30 Menschen hat er auf
das Boot gebracht, es war für mehr als doppelt so viel Platz gewesen. Aber die
ernste Notlage, der Druck, der auf ihm lastete, ließ keine ruhigen Überlegungen
zu.
Murdoch
ging zu Miller.
„Gehen sie
zu Mr Symons dort an Boot Nummer eins. Ich muss noch kurz mit Moore sprechen.
Sagen sie Symons, ich hätte sie geschickt. Er wird sie auf das Boot bringen.“
Dann lief
Murdoch zu einem anderen Boot.
„Sie haben
es gehört“, sagte Miller. „Bitte nach ihnen, meine Damen.“
Aus der Tür
hinter ihnen kam Harald Müller und schauderte ob der kalten Nachtluft.
„Herr
Miller! Helfen sie mir!“
„Müller!
Kommen sie, auch für sie geht es hier auf dieses Boot.“
Der Gang
über das Bootsdeck gestaltete sich immer schwieriger, denn das Schiff neigte
sich langsam, aber sicher immer weiter.
Symons hatte bereits Sir Cosmo und Lady Duff-Gordon in das Rettungsboot
verfrachtet. Miller schaute zweifelnd auf die junge Frau, die neben Sir Cosmo
saß. Er wusste nicht, dass es Miss Francatelli war, seine Sekretärin. Und er
wusste auch nicht, wie sie es geschafft hatte, auf das Boot zu kommen… Symons
half nun den Hiltons, danach Abigail Hopkins und Susan Lockett hinein.
Murdoch kam
wieder. Bei ihm war David Morrison.
„Ist hier
alles in Ordnung?“
Miller
nickte.
„Mr
Morrison hat sie gesucht. Ich nehme an, er soll auch auf das Boot? Sie wissen
doch, Frauen und Kinder zuerst!“
„Murdoch,
schweigen sie. Sie wissen doch gar nicht, worum es hier geht“, bellte Miller
den Offizier an und schob Morrison zu Müller, der gerade einen Fuß in das Boot
setzte.
„Runter
damit“, tönte ein lauter Ruf aus der Nähe. Offizier Harold Lowe hatte ein
weiteres Boot freigegeben. Murdoch lief hin und fing an, zu fluchen. Wieder war
es nur halb besetzt.
Miller
schaute nervös auf seine Uhr. Wo blieb Grearson? Wie lange konnten sie noch
warten? Warum war an diesem Boot so wenig Andrang? Der Steward blickte auf die
Stelle, an der eben das Boot hinabgelassen worden war. Ein junger Mann stürzte
sich über die Reling, wohl in der Hoffnung, im Boot zu landen. Miller schloss
die Augen. Ein Schuss fiel. Murdoch trat wieder an ihn heran.
„Miller,
hier bricht ein Tumult aus. Ich kann nicht länger warten. Es hat gleich ein
Uhr. Wir wissen nicht, wie lange die Titanic es noch aushält. Ich muss das Boot
freigeben. Sie haben eben den Schuss gehört, ja? Dieser Mensch wollte sich auf
ein Boot drängeln. Wir müssen Ordnung bewahren!“
„Warten sie
nur noch einen kleinen Moment, ich bitte sie! Mr Grearson kann nicht mehr weit
sein!“
Als seien
seine Gebete erhört worden, stürzten Patrick Grearson und Letitia Dumonde in diesem
Augenblick aus der Tür von der Haupttreppe auf das Deck. Grearson hielt noch
immer seine Besitztümer umklammert und zog die Dumonde mit der anderen Hand zu
Miller, der bereits in das Boot gestiegen war. Hastig eilten beide in das
spärlich besetzte Boot, als plötzlich der Ruf „Zu Wasser lassen!“ erhallte.
Langsam
senkte sich das Boot an der schwarzen Außenwand der Titanic immer weiter
abwärts. Miller stand auf und blickte nach oben. Unfassbar. Dieses Boot war
kaum besetzt. Wie hatte Murdoch das nur verantworten können?
Die
Crewmitglieder ruderten das Boot bis in eine sichere Entfernung. Fassungslos
schauten alle zur Titanic. Aus dieser Entfernung war es deutlich zu sehen, wie
sehr sich das Schiff ins Wasser geneigt hatte. Keiner traute sich, ein überflüssiges
Wort zu sagen. Grearson blickte misstrauisch die anderen Flüchtigen an. Er
bemühte sich, zu schweigen, wenn es ihm auch schwer fiel.
Leuchtpistolen
wurden mehrmals abgefeuert. Die hellen Lichter ließen den dunklen Nachthimmel
erstrahlen. Noch wusste niemand der Passagiere, dass Rettung bereits unterwegs
war. Sie hörten nur die Schreie von Hunderten von Menschen und die verzweifelt
fröhlichen Melodien der Kapelle. Die Zeit verging. Ein Rettungsboot nach dem
anderen wurde herabgelassen, jedes für sich auf dem Weg, ein Stück Geschichte
zu schreiben. Keines jedoch so sehr wie Boot Nummer eins, in dem Miller mit
Grearson und den anderen saß.
Es war nun
halb zwei. Die Schreie wurden immer lauter, als den Passagieren und der Crew
langsam das wahre Ausmaß der Katastrophe bewusst wurde. Es waren nicht genügend
Rettungsboote vorhanden. Selbst wenn alle voll besetzt worden wären, hätten sie
niemals gereicht, um alle Passagiere zu retten. In Panik stürzten sich immer
mehr Menschen über die Reling, um darauf im kalten Wasser des Nordatlantiks
einen bitteren Erfrierungstod zu sterben.
Wie ein
riesiges sterbendes Tier lag die Titanic im Wasser. Es gab keine Hoffnung mehr,
weder für sie, noch für die Menschen, die auf ihre Versprechungen vertraut
hatten. Die Rettungsboote waren fort. Zehn Minuten nach zwei. Miller und die
anderen schwiegen betreten. Dann flackerte der Nachthimmel aufs Neue auf. Lange
hatte man sich bemüht, die Stromversorgung an Bord aufrecht zu erhalten, doch
es hatte keinen Sinn mehr. Die Lampen blitzten noch einmal kurz auf, dann wurde
die Titanic düster wie die mondlose Nacht, die sie umgab. Die Schreie des
nahenden Todes waren das einzige, was die Nacht mit Leben erfüllte.
Unerbittlich
hob sich das Heck der Titanic nun aus dem Wasser. Der Bug war komplett
vollgelaufen. Immer höher hoben sich die mächtigen Schiffsschrauben gen
Nachthimmel. So einer Belastung war die Titanic nicht gewachsen. Der Lärm des
reißenden, berstenden Stahls war unglaublich, als das Schiff unter dem Druck
des in die Höhe ragenden Hecks in der Mitte auseinanderbrach. Der Bug, der
bereits voller Wasser stand, sank unmittelbar darauf in einem gigantischen
Strudel unter das Wasser, während das Heck aus der gigantischen Höhe zunächst
mit unglaublicher Wucht auf den Meeresspiegel schlug, um dann ebenfalls
hinabzusinken und auf dem Meeresgrund sein Ende zu finden.
Die Schreie
waren verstummt. Über 1500 Menschen schwammen im eiskalten Nordatlantik in der
Hoffnung auf Rettung. Die Carpathia, durch den Notruf der Titanic alarmiert,
hatte zwar alle Mittel in Bewegung gesetzt und versuchte das Unmögliche, doch
würde sie für über 1000 Menschen zu spät kommen. Die nur zur Hälfte gefüllten
Rettungsboote schienen die letzte Hoffnung zu sein, doch deren Insassen
überlegten fieberhaft, ob sie sich lieber selbst retten oder zu den
Ertrinkenden zurückkehren sollten und dabei das Risiko eingehen, von den
Hilfesuchenden zum Kentern gebracht zu werden. Es ist leicht zu sagen, wie man
sich wohl hätte verhalten sollen, aber heute wissen wir, wie es wirklich war.
Die Stille
veranlasste Patrick Grearson dazu, das Wort zu erheben.
„Bruce
Ismay ist ermordet worden. Sie alle wissen das.“ Die erschrockene Reaktion der
Duff-Gordons und der Seeleute überging
er ganz einfach. „Der Mörder sitzt in diesem Rettungsboot. Ich habe mir meine
Gedanken gemacht. Sicher fragen sie sich, warum gerade ich. Die Leiche wurde an
meine Tür gelehnt. Ich habe das als Drohung verstanden und als Aufforderung, zu
handeln.“
Er blickte
sich kurz um. Miller blickte ihn ernst an und nickte.
„Sie
wissen, was heute Abend an Bord der Titanic geschehen ist. Sie wissen es – mehr
oder weniger. Die Titanic gibt es nicht mehr. Hinter uns liegen die Reste einer
glorifizierten Lüge.“
Müller
nickte schweigend und schloss die Augen. Claris Hilton und ihre Mutter
schützten sich mit einer schäbigen Decke vor der Kälte.
„Bruce
Ismay war ein Teil dieser Lüge. Er war in mehr trügerische Angelegenheiten
verwickelt als ich es zuerst glauben wollte. Doch ich glaube es nun, da ich die
Wahrheit kenne. Und unter all diesen Verwicklungen verbirgt sich auch das Motiv
für den Mord an ihm. Vielleicht war es aus Liebe geschehen? Lady Dumonde, sie
hatten mit Bruce Ismay eine Affäre, doch er hat sie beendet. Er hat sie allein
gelassen, mit ihrer unendlichen Liebe zu ihm im Stich gelassen. Und nun konnten
sie ihn auf dieser Überfahrt wiedersehen. Das war doch perfekt! Eine ideale
Gelegenheit, sich für die Schande zu rächen. Der Schmerz, den sie haben
erleiden müssen, war doch bestimmt unerträglich, nicht wahr?“
Aus
eiskalten Augen starrte die alternde Lady ihn an. Sie verzog keine Miene.
„Aber sie
sind ja nicht die einzige Person mit einem Motiv. Gerade daher habe ich sie ja
auf diesem Rettungsboot versammelt – um eine Gegenüberstellung zu erreichen. Erpressung,
Mr Müller, stellt auch ein Kapitalverbrechen dar, kein Kavaliersdelikt.
Zumindest, wenn es dann in Mord endet.“
Miller
griff ein: „Mr Grearson, das sollten sie…“
„Schweigen
sie, Miller. Ich kenne die Wahrheit. Ismay war sehr vorsichtig, wenn es darum
ging, sein Vermögen beisammen zu halten. Beim Bau der Titanic wurde gespart.
Ganz unauffällig natürlich. Ismay hat seinen Ingenieur Thomas Andrews
angewiesen, sie, Müller, zur Entwicklung von günstigem Stahl zu beauftragen.
Sie wussten
natürlich von nichts, wussten nicht, dass diese Entwicklung mit dem Bau der
Titanic in irgendeinem Zusammenhang steht. Das glaube ich ihnen. Denn nur so
kann ich mir den folgenden Gedankengang rekonstruieren. Sie sind natürlich
irgendwann dahinter gekommen, dass der schlechte Stahl für die Titanic
verwendet werden sollte. Sie haben Ismay gezwungen, die Wahrheit zu
veröffentlichen. Berufsethos, wie man es nennen könnte. Als das aber nichts
half, sind sie auf Erpressung umgestiegen. Wie viel sie dabei erpresst haben,
will ich gar nicht wissen, auch nicht, wie sich das wohl mit ihrem sogenannten
Berufsethos vereinbaren lässt. Ich vermute jedenfalls, dass ein Mord auch Folge
einer Zahlungsunwilligkeit Ismays gewesen sein könnte.“
„Lassen sie
das Gerede, sie können davon überhaupt nichts beweisen“, sagte Müller trotzig.
„Leider ist
das so“, gab Grearson zu. „Aber wo wir gerade beim Thema Recht und Unrecht
sind, sollte ich mich vielleicht ihnen zuwenden, Mrs Hilton. Ich habe nicht
daran gedacht, ihren Anwalt auf dieses Boot zu bringen. Ich hoffe inständig,
dass er gerettet wird. Wissen sie, die gute Claris kennt ja nun die Geschichte
von ihrem leiblichen Vater. Und sie weiß nun auch, dass ihr Anwalt auch Ismays
Anwalt war – das Verbindungsglied auf der Titanic.
Und ihre
perfekte Möglichkeit den Vater ohne das Wissen ihrer Tochter aus dem Weg zu
räumen. Ohne Vater würde niemals die heile falsche Welt, die sie zu Hause
gepflegt hatten, zusammenbrechen. War es ihr Anwalt? Haben sie ihn tatsächlich
dazu gebracht, es zu tun?“
Claris
schüttelte den Kopf und fuhr dazwischen: „Hören sie auf damit! Ich habe ihnen
doch gesagt, dass er es niemals gewesen ist. Er war dazu viel zu…“
„…verweichlicht.
Sag es ruhig, Claris“, ergänzte ihre Mutter mit gefühlkalter Stimme. „Dieser
Anwalt war ein Nichtsnutz.“
„Und
vielleicht sahen sie gerade deshalb die Notwendigkeit, selbst zur Tat zu
schreiten. Sie sind eine resolute Frau, Mrs Hilton“, räumte Grearson ein. „Aber
ob sie wirklich den Vater ihrer Tochter ermordet haben?“
Schweigen.
„Mr
Morrison, sie haben die Wahrheit gewusst. Ich bin mir da nicht sicher, aber ich
vermute es. Ich glaube, sie haben immer schon gewusst, wer der Vater von Claris
war. Mrs Hilton hat es ihnen erzählt, nicht wahr?“
Keiner
rührte sich.
„Fein. Sie
müssen nichts sagen. Aber wäre das nicht ein Motiv für sie, ihn umzubringen?
Ich meine, denken sie mal so: Mrs Hilton entreißt ihnen ihre geliebte Claris…
vielleicht wollen sie ihr einen Gefallen tun und ermorden Ismay, in der
Hoffnung, als Gegenleistung für ein gereinigtes Leben ihre Geliebte
zurückzubekommen?“
Claris
stand wortlos auf und gab Grearson eine Ohrfeige. Dann setzte sie sich wieder.
Die Kälte färbte ihre Lippen blau.
„Ich
erwarte keine Zugeständnisse. Noch nicht. Ich möchte nur, dass sie mir zuhören.
Am heutigen Abend hat eine Frau mit dem Namen Geraldine Dobbins etwas
beobachtet. Sie hat gesehen, wie sich jemand in Ismays Kabine aufgehalten hat.
Mit einem großen Dolch mit auffälligen Verzierungen, der, wie sie sagten, Miss
Lockett, aus ihrem Zimmer gestohlen wurde.“
Susan
Lockett nickte.
„Fatal nur,
dass sie da gelogen haben, Mrs Lockett. Das war ein großer Fehler. Doch lassen
sie mich zuerst noch einmal ein Kompliment zu ihrer ausgesprochen modischen
Erscheinung aussprechen.“
Miller
blickte zweifelnd auf Grearson, während Ms Lockett eher verwirrt von einem zum
anderen schaute.
„Ein
knielanger Rock, in schwarz, das passt sehr zu ihren schönen dunklen Beinen.“
Er schenkte ihr ein Lächeln, doch sie wollte es nicht erwidern. „Mrs Dobbins
konnte sich an diesen Rock erinnern.“ Jetzt war jede Wärme aus Grearsons Stimme
verschwunden. „Sie konnte sich an ihren Rock und an ihre Beine erinnern. Und es
war ihr Dolch, den sie sah. Und dann soll es jemand anderes gewesen sein, der
sich in Ismays Kabine aufgehalten hat? Nein, Miss Lockett, so war es nicht. Sie
waren heute Abend in Ismays Kabine und haben ihn kaltblütig erstochen!“
„Das ist
gelogen“, rief Ms Lockett. „Ich habe ihnen doch gesagt, dass der Dolch aus
meinem Zimmer entwendet worden ist. Bei mir ist eingebrochen worden, das haben
sie doch selbst erlebt!“
„Sie haben
gelogen, Susan. Bei ihnen ist nicht eingebrochen worden. Sie haben ihr Zimmer
schön unordentlich hergerichtet, damit es aussah, als sei alles durchwühlt
worden. Es kann bei ihnen gar nicht eingebrochen worden sein, Miss Lockett.
Mehr als einmal stellte sich mir heute Abend nämlich die Frage der Schlüssel.
Wie viele Schlüssel gab es wohl zu jeder Tür? Zwei, einer davon wurde als
Ersatzschlüssel bei Harland & Wolff aufbewahrt. Und ein Generalschlüssel
existiert hier an Bord, aber es ist unmöglich, dass jemand ihn in seinen Besitz
bringen konnte.
Wie also
ist man bei ihnen eingebrochen? Das Schloss wurde nicht aufgebrochen. Es ist
mir aufgefallen, als ich das kaputte Türschloss beim Zimmer von Miss Hilton
sah.“
Die Hiltons
und Morrison warfen sich vielsagende Blicke zu.
„Das
Schloss an deren Tür war komplett herausgebrochen, ihre Tür aber war
unversehrt! Sie mussten sogar aufschließen, bevor sie mich hereinlassen
konnten. Wie ist es also möglich, dass zuvor jemand bei ihnen eingebrochen ist?
Es ist unmöglich. Sie haben ihren eigenen Dolch genommen und haben damit Ismay
in seinem Zimmer besucht. Dann haben sie ihn erstochen und an meine Zimmertür
gestellt.“
Ms Lockett
sagte nichts. Die Duff-Gordons und Miss Francatelli schauten ungläubig hin und
her. Miller kniff die Augen zusammen und schaute zu Grearson.
„Wieso hat
sie das getan, Mr Grearson“, fragte Miller schlicht.
„Sehen sie,
Miller, ich habe auch lange überlegt. Aber ich habe mich erinnert. Als
Geschäftsmann bin ich viel unterwegs und muss immer auf dem neuesten Stand der
Dinge sein. Daher lese ich viel Zeitung. Und ich habe mich vorher noch nett mit
Miss Lockett unterhalten. Und vielleicht kann ich es ihnen so sagen: Die Götter
haben mir eine Eingebung gegeben. Ismay hatte wichtige Positionen inne. Er
wurde zu diversen Empfängen geladen und war Repräsentant der Krone. So nahm er
auch damals an einem Staatsbesuch in Afrika teil. Er besuchte die Stadt
Veridjan, um genau zu sein. Eine Stadt, deren Einwohner für ihre Religiosität
bekannt sind.
In dieser
Stadt gab es eine Ikone, einen Edelstein mit dem Namen Beteigeuze. Ein sehr
wertvoller Stein. Ismay war nicht der unbeleckte Mann, den wir auf dieser Reise
vielleicht kennen gelernt haben. Er hat damals eben diese Ikone gestohlen. Das
wissen sie, Miss Lockett, und das wussten damals alle Mitglieder ihres
Volksstammes!“
Jetzt
endlich zeigte sich auf Ms Locketts Gesicht eine Spur von Hass.
„Wir
wussten es. Es war ein ungeheures Verbrechen. Er hatte eine Freveltat begangen
und ich wurde ausgewählt, um diese Tat zu rächen.“
„Miss
Lockett, sie haben Bruce Ismay getötet.“
„Ich habe
ihn in seinem eigenen Bett erstochen. Er hatte nichts anderes verdient, und
wenn ich vor die Wahl gestellt würde, würde ich es wieder tun.“
„Und Mrs
Dobbins hat sie dabei beobachtet.“
„Was hat
diese alte Frau da überhaupt gewollt? Was sucht eine Reisende der dritten
Klasse oben bei Mr Ismay?“ fragte Susan Lockett verwirrt. „Wäre sie nicht da
gewesen, hätte mich niemals jemand erkannt!“
„Auch Mrs
Dobbins hegte einen Hass gegen Ismay. Sie machte ihn verantwortlich für den Tod
ihres Mannes beim Stapellauf der Titanic. Sie hatte das Gleiche vor wie sie,
Miss Lockett, und wenn sie Ismay nicht ermordet hätten, hätte sie es wohl
getan. Und weil sie alles gesehen hat, musste sie sterben. Sie haben auf sie
geschossen.“
„Sie können
sich nicht vorstellen, was für mich alles auf dem Spiel stand! Die Ehre meines
Landes musste wiederhergestellt werden. Und als ich sie dann auf dem Deck sah,
wusste ich, was sie vorhatte. Da musste die Pistole sprechen.“
Grearson
seufzte.
„Warum nur?
Warum nur musste es so enden?“
Es
herrschte für einen kleinen Moment Schweigen in der Gruppe. Dann erhob Miller
die Stimme.
„Es ist
noch nicht zu Ende.“
Alle
blickten ihn verwirrt an.
„Aber sie
hat doch zugegeben, dass sie es getan hat“, sagte Grearson völlig außer
Fassung.
„Ich
zweifle kein Wort von dem an, was Miss Lockett uns hier erzählt hat. Sie hat
auf Ismay mit dem Messer eingestochen. Das stimmt. Und sie hat auf Mrs Dobbins
geschossen. Auch das ist richtig. Aber es war keine Pistolenkugel, die Mrs
Dobbins getötet hat.“
Nun hatte
man eine Stecknadel in der kristallklaren Nacht fallen hören können. Grearson
stand versteinert an seiner Position, Ms Lockett sank langsam zurück.
„Mr
Grearson, sie haben interessante Schlüsse gezogen, aber haben sie da nicht ein
paar Dinge vergessen? Ihre Ermittlungen sind sehr gut, es fehlen lediglich ein
paar Kleinigkeiten. Zum Beispiel haben sie den Mord an Miss Ratchett
übergangen. Das sollten wir nicht auslassen, denn er verbindet alles, was an
Bord geschehen ist. Einschließlich ihnen, Mrs Hopkins.“
Abigail
Hopkins schaute zweifelnd auf und schüttelte den Kopf.
„Sie irren
sich.“
„Ich werde
sie vom Gegenteil überzeugen müssen. Doch lassen sie mich zunächst so beginnen.
Viele Menschen hatten ein Motiv, um Bruce Ismay zu ermorden. Sie haben das sehr
gut erläutert, Mr Grearson. Und in der Tat haben vier Leute sich entschlossen,
ihn umzubringen und sind im Laufe des Abends in seiner Kabine erschienen. Miss
Lockett aus dem bereits genannten Grund. Mrs Dobbins – auch das haben sie gut
erklärt. Doch wie schon gesagt konnte Mrs Dobbins es nicht tun, weil bereits
jemand anderes im Zimmer war, als sie zur Tat schreiten wollte, nämlich Miss
Lockett. Und dann waren da noch sie, Mrs Hopkins.“
„Was? Ich?“
Die Überraschung in der Stimme der jungen Frau klang nicht wirklich
überzeugend.
„Vielleicht
darf ich ihnen zunächst zwei pikante Details enthüllen“, sagte Miller. „Mrs
Hopkins ist die Schwester von Lucy Ratchett. Und sie ist die Nichte von Bruce
Ismay. Und schauen sie jetzt nicht so entsetzt. Es war nicht schwer, das aus
den Tagebucheinträgen ihrer Schwester zu erschließen. Das führte mich zu dem
erschreckenden Verdacht, dass vielleicht sie ihre eigene Schwester ermordet
haben und ihren Onkel. Ihren Onkel, um an sein Geld zu kommen – denn sie
brauchten Geld, ganz zweifelsohne. Und ihre Schwester, damit sie ihnen nicht
mehr wie ein Klotz am Bein hängt. Aber konnten sie wirklich so böse sein? Ihre
Schwester hat sie schließlich gebraucht! Sie war auf sie angewiesen und hat sie
als Vorbild genommen.“
„Vorbild?
Dass ich nicht lache!“ Aus Mrs Hopkins´ Stimme sprach die pure Verachtung. „Sie
war ein dummes Ding, viel zu naiv für diese kalte Welt, aber wenigstens hatte
sie es bei diesen Borebanks gut. Sie haben sich um sie gesorgt, sie hatte
Unterkunft und alles. Ich war neidisch auf sie.“
„Aha! So
habe ich es noch nicht betrachtet. Aber lassen wir das ruhig beiseite. Sie
haben ihre Schwester nicht ermordet. Auch den Mord an Ismay haben sie nicht
begangen. Das war Miss Lockett, wie wir bereits gehört haben.“
Susan
Lockett barg ihren Kopf in den Händen. Sie konnte keinen der stechenden Blicke
ertragen, die ihr die anderen Flüchtigen zuwarfen.
„Aber, Miss
Lockett, dieses Verbrechen, das sie begangen haben, war keines. Ismay war zu
dem Zeitpunkt, als sie hereinkamen, bereits tot.“
Jetzt
schaute die junge Frau doch auf. Ein kurzes Tuscheln zwischen den Duff-Gordons
ließ den Steward in seinen Ausführungen ungestört.
„Sie haben
auf eine Leiche eingestochen, daran besteht kein Zweifel. Lassen sie mich bitte
rekonstruieren: Sie betreten die Kabine Ismays. Die Tür ist, warum auch immer,
nicht abgesperrt. Sie treten also ein, das Messer in der Hand. Sie haben nicht
bemerkt, dass Mrs Dobbins in einem der Zwischenkorridore sitzt und sie
beobachtet hat. Sie sehen Bruce Ismay auf seinem Bett liegen. Er scheint zu
schlafen – das ist die Gelegenheit! Bitte fahren sie fort, Miss Lockett!“
„Ich gehe
auf sein Bett zu“, sagte Susan mit abwesender Stimme. „Ich sehe ihn an und
spüre nur den Hass meines Volkes, der mich dazu treibt. Ich nehme den Dolch und
stoße ihn ihm in die Brust. Er gibt keinen Laut von sich, er bewegt sich nicht.
Ich bekomme Angst und renne zur Tür, schaue mich um. Ich kann niemanden sehen,
also verschwinde ich so unauffällig wie möglich.“
Miller hob
die Hand.
„Ich möchte
ihnen dazu sagen, dass Mr Ismay ein exquisites Bett hatte. So, wie sie es mir
beschrieben hatten, Mr Grearson: Viele Kissen waren am Kopfende aufgetürmt. Ich
vermute, dass Ismay so an diese Kissen gelehnt war, dass es schien, als würde
er sitzen?“ fragte er Ms Lockett. Sie nickte. „Also war sein Oberkörper erhöht.
Bitte merken sie sich das! Die Leiche Ismays ist dann aber an Mr Grearsons Tür
aufgetaucht, was für große Verwirrung gesorgt hat.
Nun steht
also fest, dass eine weitere Person in Ismays Kabine war und den Körper
herausgezerrt und an seine Tür gestellt hat. Mrs Hopkins, der Besuch bei ihnen
war sehr nett und aufschlussreich. Besonders haben es mir ihre Schuhe angetan.
Sie haben sehr spitze Absätze, nicht wahr? Zeigen sie mal!“
Mrs Hopkins
zog einen ihrer Schuhe aus und reichte ihn dem Steward. Der hob ihn wie eine
Beute triumphierend in die Luft.
„Das ist
der Schuh, der die tiefen Punktabdrücke im Teppich in Ismays Zimmer
hinterlassen hat. Ganz ohne Zweifel. Eine Spur von tiefen Abdrücken führte von
Bett zur Tür. Die haben sie dort hinterlassen, Mrs Hopkins, als sie die Leiche
vom Bett und zur Tür gezerrt haben. Als sie ihn bereits ermordet auffanden,
waren sie in guter Stimmung, dass ihnen jemand die Arbeit abgenommen hatte,
aber das reichte ihnen nicht. Sie sahen nun endlich die Chance, sich für etwas
zu rächen. Somit zogen sie den Mann vom Bett herunter. Ismays Körper war
schwer, eine ziemliche Belastung, und es ist schon erstaunlich, dass sie dabei nicht
umgeknickt sind. Sie waren es, die die Leiche an Mr Grearsons Tür gestellt hat.
Und dann haben sie Ismays Kabine abgeschlossen und den Schlüssel, den der
Mörder in der Tür hat stecken lassen, in Ismays Anzugtasche gelegt. Aber dazu
will ich später kommen.
Und warum
haben sie das getan? Wollen sie uns das vielleicht lieber selbst sagen?“
Abigail
Hopkins machte ein finsteres Gesicht. Sie schaute jeden Einzelnen an. Ihr Blick
blieb bei Grearson hängen.
„Deinetwegen“,
sagte sie mit hasserfüllter Stimme. „Dir habe ich einst vertraut und es war der
größte Fehler, den ich je begangen habe. Du hast mich ausgenutzt, mich benutzt.
Du hast mich missbraucht und für diese Schande solltest du nun büßen.“
„Ach, was
reden sie denn da für einen Unsinn“, lachte Grearson abfällig. „Das ist doch
völlig verrückt!“
„Mr
Grearson, bitte gehen sie die junge Frau nicht so an“, meinte Miller. „Sie
spricht die Wahrheit und damit müssen sie jetzt fertig werden. Ich habe den
Verdacht bekommen, als ich in ihrem Zimmer, Mrs Hopkins, am Spiegel den Namen
„Paddy“ zweimal durchgestrichen mit Lippenstift geschrieben sah. Paddy ist eine
Kurzform von Patrick. Patrick Grearson. Er war ihre erste Liebe. Sie haben ihm
vertraut und er hat dieses Vertrauen ausgenutzt. Und sie wollten Rache üben, wollten
Mr Grearson den Mord anhängen, damit er im Gefängnis büßen konnte?“
„Dieses
miese Schwein sollte die Rache einer verletzten Frau kennen lernen. Er hat mich
behandelt wie Dreck!“
Grearson
rief: „Und deswegen wolltest du mir hier einen Mord anhängen, den ich nicht
begangen habe?!“
„Sollen wir
jetzt auch noch Mitleid mit dir haben?“
„Seien sie
beide ruhig!“ befahl Miller. „Grearson, was sie getan haben, ist ein
Verbrechen. Aber wir haben keine Beweise mehr dafür. Wenn vor Gericht nur ihre
Aussage, Mrs Hopkins, gegen seine steht, dann haben sie schlechte Chancen.“
„Das war
mich auch klar. Deswegen musste ich mich halt so rächen.“
Miller
lächelte.
„Es war so
unnötig, Mrs Hopkins. So überflüssig! Sie hätten uns eine Menge Rätsel erspart,
wenn sie das nicht getan hätten.“
„Aber dann
hätte ich ihn niemals hinter Gittern sehen können.“
Miller
lächelte wieder. Leise sagte er: „Oh doch, Mrs Hopkins, das werden sie können.
Denn es war Mr Grearson, der Bruce Ismay ermordet hat.“
Es war
keine Spur von der Carpathia zu sehen und die Kälte drängte sich durch jeden
Stoff, den die Reisenden zum Schutz vor der Nacht trugen. Doch sie spürten die
Kälte nicht mehr. Ihre Augen waren gebannt auf den Steward gerichtet, der
wiederum lächelnd zu Patrick Grearson hinüberschaute.
„Das ist
jetzt wirklich witzig, Mr Miller“, sagte Grearson spöttisch, „aber wir sollten
diese Spielchen lassen. Ich habe ihnen schließlich bei den Ermittlungen
geholfen!“
„Das ist
richtig. Sie haben mir bei den Ermittlungen geholfen, die mich unweigerlich zu
Miss Lockett als Mörderin führen würden. Damit wären sie dann aus dem Schneider
gewesen. Und es hätte auch geklappt, wenn nicht ein winziges Detail mich gleich
beim ersten Besuch in ihrer Kabine gestört hätte. Ich sah Ismays Leiche. Ich
betrachtete sie genau und konnte die Klammer einer Brosche an seinem Jackett
erkennen. Die Halterung, verstehen sie? Darin war vermutlich mal ein Stein
enthalten, doch er fehlte.“
„Ja und?
Was hat das mit mir zu tun?“ Grearsons Gesicht hatte jede Spur von
Freundlichkeit verloren. Seine gesunden Wangen wirkten im fahlen Licht so
aschgrau wie seine Augen.
„Dieser
Stein war jener berühmte Edelstein, der in Afrika gestohlen wurde. Beteigeuze,
ein wertvoller Rubin. Ismay hatte ihn gestohlen und dann in diese Brosche
einarbeiten lassen.“
„Natürlich.“
Grearson setzte sich wieder. „Miss Lockett hat Ismay ermordet und dann den
Stein mitgenommen, um die Ehre ihrer Leute wieder herzustellen.“
„Ach ja?
Ich frage sie, Miss Lockett: Als sie auf Ismay einstachen, war die Brosche da
noch vollständig?“
Die junge
Frau überlegte kurz. Dann sagte sie bestimmt: „Nein. Der Stein war bereits
entfernt. Ich weiß es genau, weil ich nach der richtigen Stelle für den
Einstich gesucht habe. Dabei ist mir die komische Brosche aufgefallen.“
„Aber warum
soll gerade ich den Stein gestohlen haben?“ fragte Grearson verzweifelt. „Es
kann doch auch jeder andere gewesen sein.“
„Aber nicht
jeder andere besitzt die übrigen Steine, um sie zu der unschätzbar wertvollen
Orion-Konstellation zusammenzusetzen. Und jetzt seien sie ruhig, Mr Grearson.
Ich will ihnen eine Geschichte erzählen. Sie beginnt vor ein paar Monaten.
Ein junger
Geschäftsmann hat es geschafft, Edelsteine einer berühmten Kollektion zu
stehlen. Er ist niemals erwischt worden. Es waren die Steine der berühmten
Orion-Sammlung. Acht Juwelen, jeder für sich zwar wertvoll, aber nicht
unbedingt ausreichend für einen Mord. Doch sie alle zusammen bildeten die
wertvollste Kollektion der Welt. Ein unermesslicher Reichtum! Doch wie groß war
die Enttäuschung für unseren Dieb, als er entdeckte, dass der Kollektion zwei
Steine fehlten! Ich will ihnen ein wenig bei der Orientierung helfen, so wie
Mrs Dobbins mir geholfen hat. Sie forderte mich auf, den Mann ohne Schultern zu
suchen und führte mich zu einem Fernglas, dessen einzigartige Bedeutung sich
mir erst nach langem Überlegen erschloss. Es war ein hervorragender Hinweis,
den sie mir gegeben hat. Bitte blicken sie zum Horizont!“
Miller
deutete gen Westen, die anderen schauten ebenfalls dorthin.
„Sie können
dort am Himmel das Sternbild des Orion sehen. Dort der Kopf, die Schultern. Die
drei Sterne in einer Reihe bilden den Gürtel und dort die beiden Fußsterne.
Dieses ist das Sternbild, was bei den Taschk´Unapei als Gott Nun´Xite verehrt
wird. Und dieses Sternbild wird durch die Juwelenkollektion dargestellt. Leider
fehlten der Kollektion sozusagen die beiden Schultersterne, Beteigeuze und
Bellatrix. Das habe ich in einem Buch über Astrologie nachgeschlagen. Mrs
Dobbins war unglaublich klug. Sie wusste, dass die beiden Steine fehlten und
der Mörder alles daran setzte, sie zu bekommen.
Unser Dieb
hat lange Zeit dafür gebraucht, bis er die beiden Steine ausfindig machen
konnte. Einen besaß Joseph Bruce Ismay, der andere befand sich im Besitz der
Familie Borebank. Oder, um es vielleicht genauer zu sagen, im Besitz von Lucy
Ratchett. Mrs Borebank hatte ihr den Ring, der diesen Stein umfasste,
geschenkt.
Unser Dieb
plante nun, sich zuerst Ismays Stein unter den Nagel zu reißen. Und wie
sorgfältig er dabei vorging! Die Titanic war noch im Bau inbegriffen, doch er
traf bereits Maßnahmen, informierte sich über die Kabinen und schaffte es,
durch Bestechung eines Arbeiters einen dritten Schlüssel von Ismays Kabine
herzustellen, der für ihn in einem Hotel in London hinterlegt wurde. Dort hat
er ihn dann abgeholt und war bereit für die Überfahrt.
Und nun
müssen sie sich bitte über eines im Klaren sein: Der Mordfall beginnt nicht mit
dem Eintreffen von Miss Lockett am Schauplatz, sondern rund eine Stunde vorher.
Es ist ungefähr 19 Uhr. Das ist nämlich der Moment, an dem unser Dieb mit
seinem Schlüssel Ismays Zimmer öffnet und die Kabine nach dem Stein durchwühlen
will. Er hat nicht damit gerechnet, dass der untreue Mr Ismay zu dieser Zeit
eine Verabredung mit einer netten jungen Dame in seinem Zimmer hat. Er hat ihr
seinen eigenen Zimmerschlüssel gegeben. Natürlich denkt Ismay nun, als er die
Tür seiner Kabine offen stehen sieht, dass sie bereits dort ist und schaut
nach. Nur so ist es möglich, dass Mr Ismay ohne seinen eigenen Schlüssel in
seine Kabine gelangen konnte. Und urplötzlich überrascht er unseren Dieb bei
seinem Einbruch.
Es kommt
zum Kampf. Unser Dieb ist jedoch überlegen und schafft es, Ismay zu Boden zu
schlagen. Dort würgt er ihn dann zu Tode. Das war sehr umsichtig von ihm, denn
die Spuren eines solchen Mordes hätten erst in New York nachgewiesen werden
können. Und um alles noch unscheinbarer wirken zu lassen, deponiert er dann die
Leiche so auf dem Bett, als hätte Ismay sich nur eben zu einem Nickerchen
zurückgezogen. Dabei entdeckt er den Edelstein Beteigeuze an seiner Brust,
bricht ihn aus der Brosche und verschwindet gut gelaunt.
In seiner
guten Laune hat er allerdings nicht beachtet, dass der Schlüssel noch immer in
der Tür steckte. Auch hat er nicht bemerkt, dass Mrs Dobbins den Mord
beobachtet hat. Erst als Mrs Dobbins ihn mit diesem Wissen erpressen wollte,
musste er handeln, doch das folgte um einiges später.
Es war
reiner Zufall, dass sich an diesem Abend auch Miss Ratchett an Bord aufhielt.
Noch größer der Zufall, dass unser Dieb sie zu Gesicht bekam und an ihrer Hand
den Ring mit dem Edelstein entdeckte. Bellatrix, der zweite Schulterstern.
Diese Gelegenheit war so nah, so greifbar, dass unser Dieb einen innerlichen
Freudentanz aufgeführt haben musste. Ohne Verzug verführte er Miss Ratchett
dazu, ihn in ihr Zimmer zu lassen. Das war nicht schwer, denn sie war ein
leichtes Mädchen, verdiente sich ein Zubrot damit, sich an Männer zu verkaufen.
Sie sah also in ihm einen zahlungsfreudigen Kunden, er sah in ihr nur das Opfer,
das den Ring trug.
Er tötete
sie mit einer Nagelfeile und nahm sofort den Ring an sich. Dann verließ er ihre
Kabine. Dieses Mal hinterließ er kaum eine Spur. Kaum. Denn er hatte einen
Kugelschreiber verloren, der fast unter das Bett gerollt war. Ich habe ihn zur
Sicherheit mitgenommen. Sie erkennen ihn doch sicherlich wieder, Mr Grearson?“
Miller
hielt den Stift hoch und legte das erste Mal eine Pause ein, in der betretenes
Schweigen herrschte. Grearson verzog keine Miene.
„Tja, und
damit war die Kollektion vollständig. Ich denke, sie haben sich die Schatulle
mit den Steinen beim Zahlmeister abgeholt, bevor sie von Bord gegangen sind?“
Wortlos
nahm Grearson seinen Beutel zur Hand und zog das Kästchen hervor, das noch vor
Stunden auf der Kommode in seinem Zimmer gestanden hat. Darin befanden sich nun
acht Juwelen, ein perfektes Abbild der Orion-Sternenkonstellation. Beteigeuze
und Bellatrix lagen sorgfältig gesäubert an ihrem Platz.
„Ich habe
lange überlegen müssen“, fuhr Miller fort, „denn es gab so viele Spuren, die
mich in die Irre führten. So viele Menschen hatten ein Motiv, es zu tun, aber
nur ein Motiv für den Mord an Ismay! Ich war mir sicher, dass diese drei Morde
miteinander zusammenhingen. Wir dürfen nicht vergessen, dass auch Mrs Dobbins
ermordet wurde. Nicht von ihrem Schuss, Miss Lockett, der hat sie nur
gestreift. Aber als Grearson herausgefunden hat, dass die alte Frau bereit war,
gegen ihn auszusagen, setzte er ihr eine tödliche Injektion. Nicht viele
Menschen hatten Zugang zum Krankenzimmer… und dort war sie ermordet worden.
Aber es war
zu spät. Sie hatte die Hinweise, die zu ihnen als Mörder führten, Mr Grearson,
bereits gut platziert. Am frühen Abend haben sie sich zurückgezogen mit dem
Vorwand, unter Seekrankheit zu leiden, was durchaus nicht unüblich ist. In
Wahrheit aber wollten sie nur ungestört sein, um ihren Plan durchzuführen. Sie
verschwanden kurz in ihrer Kabine, dann gingen sie in Ismays Zimmer und
durchwühlten es. Sie wurden von Ismay überrascht, töteten ihn und nahmen den Stein
an sich. Mrs Dobbins hat alles beobachtet. Sie geht, so schnell sie kann,
hinunter in den Maschinenraum und bittet einen der Arbeiter, ein Fernglas im
vierten Schornstein zu deponieren. Weiß der Himmel, wie sie an dieses Fernglas
gekommen ist! Der Arbeiter tut dies und Mrs Dobbins läuft wieder hinauf. Sie
geht wieder zu Ismays Kabine, schaut nach, ob Mr Grearson noch da ist, doch die
Kabine ist leer.
Dann hört
sie Schritte auf dem Flur, Schnell versteckt sie sich im Korridor hinter einer
Ecke. Sie hört, wie die Schritte in Ismays Zimmer verschwinden. Sie geht wieder
zur Tür und beobachtet nun Miss Lockett, die sich an der Leiche zu schaffen
macht. Bevor Miss Lockett das Zimmer verlässt, verschwindet sie wieder in ihrer
eigenen Kabine auf dem F-Deck. Dort wartet sie und überlegt, was sie nun tun
soll. Ismay ist tot – soll sie nun noch weitermachen oder ihrem Leben ein Ende
setzen, wo jetzt doch alles vorbei ist?
Von diesen
Gedanken bekommt Miss Lockett nichts mit. Sie hat den Dolch in Ismays Brust
geheftet und verschwindet enttäuscht und ohne Juwel aus seinem Zimmer. Grearson
bekommt davon schon längst nichts mehr mit. Gleich nachdem er Ismays Kabine
verlassen hatte, war er in sein eigenes Zimmer zurückgekehrt, um mit gutem
Gefühl seine Seekrankheit auszukurieren.
Somit hat
er auch nicht mitbekommen, wie nach Miss Lockett Mrs Hopkins dessen Zimmer
betreten hat und die Leiche an seine Tür geschleppt hat, um sich für die
Vergewaltigung zu rächen. Grearson, der seinen Auftritt beim Empfang nicht
verpassen wollte, ordnete noch schnell seine Erscheinung und öffnete die Tür.“
Miller
wandte sich an Grearson.
„Sie müssen
einen ordentlichen Schreck bekommen haben, als ihnen mit einem Mal die Leiche
entgegen fiel. Sie betätigten die Klingel… und den Rest kennen wir ja.“
Es
herrschte wieder für einen Moment Ruhe.
Diana
Hilton fragte: „Haben sie das wirklich getan, Mr Grearson? Ich weiß nicht, ob
ich sie dafür hassen oder ihnen danken soll.“
Keiner
wusste eine Antwort darauf zu geben. Grearson nickte nur stumm und blickte unablässig
auf das Kästchen auf seinen Knien. Die Wellen schlugen leise klatschend an das
Rettungsboot. Miss Francatelli, die Sekretärin, drängte sich an Sir Cosmo und
zitterte vor Kälte. Dann blickte Susan Lockett wieder auf.
„Mr Miller,
woher konnten sie wissen, dass Ismay schon tot war, als ich ihn ermordete?“
„Sie haben
ihn nach eigenen Angaben erstochen. Ich habe den Dolch in seiner Brust gesehen,
als er in Grearsons Kabine lag. Aber Ismay musste schon tot gewesen sein zu
diesem Zeitpunkt, denn die Wunde um den Einstich herum hatte kaum geblutet. Ich
sagte ihnen, sie sollten sich bitte merken, dass Ismay auf vielen Kissen
gelegen hat. Sein Oberkörper war also aufgerichtet. Nun stellen sie sich also
vor, dass sein Herz nicht mehr schlägt, weil er erwürgt worden ist. Das Blut
zirkuliert nicht mehr durch den Körper. Es fließt hinab zu seinen Beinen, weil
der Oberkörper aufgerichtet ist. Somit ist kaum noch Blut an der Stelle
vorhanden, an der sie ihn erstochen haben. Hinzu kommt, dass Mrs Hopkins die
Leiche an die Tür gestellt hat! Wenn Ismay zu dem Zeitpunkt noch gelebt hätte,
wäre mehr Blut in den Adern gewesen und die Wunde wäre nicht so unauffällig
gewesen.
Drei Morde,
Mr Grearson, und sie als Geschäftsmann hatten es wirklich nötig, nach den
Sternen zu greifen?“
Grearson
hatte die ganze Zeit über geschwiegen. Seine Lippen waren wie auch die der
anderen blau angelaufen, seine Zähne klapperten leise. Er hatte die ganze Zeit
nur auf das Kästchen mit den Edelsteinen gestarrt. Nun blickte er auf und sah
zu Miller. Seine Stimme hatte fast einen anklagenden Ton.
„Ich hatte
den Fall gelöst, Miller. Warum haben sie es nicht dabei belassen können?“ Er
lächelte ihn traurig an. „Warum?“
Und dann
zog er aus seinem Beutel eine glänzende Pistole.
Nachwort
„Als die
Carpathia endlich zur Rettung kam, fand sie ein Rettungsboot mit nur einem
Überlebenden vor. Ich habe überlebt. Ich weiß nicht, ob ich vielleicht anders
hätte handeln sollen. Mein Leben ist jedenfalls den einzigen Weg gegangen, der
mir noch geblieben war. Es waren nicht viele Menschen in unserem Boot. Es war
ein Leichtes, sie zu töten. Aber Miller… er hat das Kästchen mit sich ins
Wasser gerissen. Es schwamm obenauf, aber der Verschluss hatte sich geöffnet
und die Edelsteine waren für immer in den Tiefen des Atlantiks verloren. All
meine Bemühungen waren vergebens. Als tapferer Geschäftsmann ging ich in die
Presse ein. Patrick Grearson, der dem Tod in dieser kalten, verhängnisvollen
Nacht getrotzt hatte. Welch Ironie. Wieder eine Fassade. Eine Fassade, die mir
angedichtet wurde und hinter der sich ein Abgrund verbarg. Wie auch die
Titanic. Ich habe viele Menschen getötet. Ich weiß, dass Sie mich deswegen
verdammen werden. Aber stellen Sie sich nur die eine Frage: Hätten Sie in
meiner Lage, in jener Nacht damals nicht auch so gehandelt?“
Ende
Realität und Träumerei
Ein Nachwort
des Autors
Ich brauche
sicher nicht zu erwähnen, dass die vorliegende Geschichte Fiktion ist. Dennoch
beruht sie auf einer wahren Begebenheit – dem Untergang der Titanic, der mich
immer wieder fasziniert hat. Besonders die Wahrheiten jenseits des Kitschs
haben meine Aufmerksamkeit gewonnen. Deshalb habe ich auch Realität in das Werk
einfließen lassen. Ich kann und möchte
nicht jedes einzelne Detail aufzählen, das wahr bzw. erfunden ist, das wäre zu
umständlich. Ich will nur soviel sagen, dass ich mich bemüht habe, die
technischen Details um die Titanic möglichst wahrheitsgetreu wiederzugeben.
Somit stimmen die Daten, die Uhrzeiten der historischen Ereignisse, die Namen der
Crewmitglieder – die meisten zumindest. Aber hier muss schon gesagt werden,
dass Bruce Ismay, obwohl er zwar an jener Reise teilgenommen hat, nicht
ermordet wurde. Auch die Geschehnisse, die sich um Captain Smith, Offizier
Lightoller und Murdoch ranken, sind zum großen Teil ausgedacht. Wer wirklich an
den Ereignissen rund um den Untergang der Titanic interessiert ist, wird sich
freuen, in meinem Werk die kleinen Wahrheiten zu finden.
Was mir
allerdings besonders am Herzen lag, und das möchte ich hier noch einmal
ausdrücklich betonen, ist die korrekte Darstellung der Titanic-Katastrophe als
eine Verkettung von menschlichem Versagen. Es beginnt (in meinem Werk) mit der
Ignoranz des Funkers John „Jack“ Phillips, der die Geschäftstelegramme für wichtiger
befand als die vielen Eiswarnungen, die die Titanic erreicht haben. Es führt
weiter über Captain Smith, der in keinem Moment trotz der Eiswarnungen ein
Zeichen gegeben hat, die Maschinen auch nur ein wenig zu drosseln. Es gab an
Bord der Titanic keine Ferngläser. Es ist eine historisch belegte Tatsache,
dass die meisten der Rettungsboote nur zur Hälfte besetzt waren, teils sogar
mit noch weniger Menschen. Das Rettungsboot „Steuerbord Nr. 1“, in dem Grearson
und Miller fliehen, war ursprünglich nur mit zwölf Personen bei einer Kapazität
von 40 besetzt. Darunter befanden sich tatsächlich die Duff-Gordons und deren
Sekretärin Miss Francatelli. Man munkelte, Sir Cosmo habe die Crewmitglieder
bestochen, um sie mit auf das Boot zu bekommen. Es kostete ihn viele Jahre, um
seinen Namen wieder reinzuwaschen.
Vielleicht
wird nun auch klar, weshalb ich die Titanic als Mythos betrachte. Nicht als
einen Mythos von Schönheit und Dekadenz oder von Vergänglichkeit, sondern als
Legende, als Mythos, der die Unfehlbarkeit des Menschen unwiderlegbar
widerruft. Die Geschichte mit dem schlechten Stahl ist von mir erfunden.
Schließlich war aber nicht schlechter Stahl schuld am Untergang, sondern wie
schon gesagt diese Reihe von Fehlern, die auf menschliches Versagen zurückzuführen
ist.
Die Titanic
wird ewig ein Rätsel bleiben. Meine Geschichte soll daran nichts ändern, sie
soll nur denen, die sich bisher noch nicht mit jener Tragödie befasst haben,
einen unterhaltsamen und (zumindest ein wenig) authentischen Einblick hinter die
fabelhaften Kulissen geben und jenen, die bereits mit der Titanic vertraut
sind, eine spannende Geschichte verflochten mit ein paar kritischen Spitzen
sein.
Dr Hilarius
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