Freitag, 15. Februar 2019

Berberian Sound Studio

Who is that person inside you...?

Frühlingswetter und Kannibalismus in der Schule, über all' sowas könnte ich gerade schreiben, aber das muss bis zum post scriptum warten. Zumindest der Kannibalismus; wer schönes Wetter haben will, soll einfach rausgehen. Heute geht es mir um den Film, den ich gestern gesehen habe, und den ich faszinierend fand - nicht nur wegen seines komischen Namens Berberian Sound Studio (2012) [im Folgenden als BSS abgekürzt].

Der Film ist unbekannt, und dagegen möchte ich angehen. Ich habe mir tatsächlich die Mühe gemacht, an eine Bluray heranzukommen. Mit deutscher Tonspur gibt es die nicht, und das ist auch gut so, weil ein großer Teil des Effektes des Films - keine große Überraschung - vom Sound abhängt. Dieser Text wird soweit wie möglich spoilerfrei gehalten. Das ist nicht so schwer, da es in BSS keine Twists gibt, sondern "nur" eine konsequente Beobachtung eines allmählichen Nervenzusammenbruchs.

Das erinnert nicht ohne Grund an Roman Polanskis Repulsion (1965); beide Filme sind psychologische Horrorfilme bzw. Thriller, in denen sich der Schrecken im Kopf der Hauptfigur und im Kopf des Zuschauers abspielt. Nicht umsonst hat BSS in Deutschland eine Freigabe ab zwölf Jahren erhalten - trotz Szenen, in denen einer Frau die Haare ausgerissen werden, eine Frau mehrfach erstochen wird und einer weiteren Frau ein glühendes Eisen in die Vagina eingeführt wird.

Mittels eines ganz einfachen Tricks bekommen wir davon kaum etwas mit, und dieser Trick zieht sich als Stilmittel durch den gesamten Film - bedingt durch den Plot: Ein britischer Tontechniker, der sich bisher auf Naturdokumentationen spezialisiert hatte, reist zu einem neuen Arbeitsauftrag gegen Ende der Siebziger-Jahre nach Italien, um dort den Ton für einen neuen Film abzumischen. Was er vorher nicht weiß: Er soll für ein ihm unbekanntes Filmgenre tätig sein, den sogenannten Giallo.

Kurz gesagt: Gialli sind italienische Horrorfilme, die in den Siebzigern und Achtzigern extrem populär waren, mit Regisseuren wie Dario Argento, Mario Bava, Lucio Fulci und vielen weiteren. Ich mag sie sehr. Diese Filme versuchten, sich als Kunstobjekte zu positionieren, mit einem besonderen Fokus auf Sex und Nacktheit und auf intensive Szenen grafischer Gewalt.

Davon hat der Tontechniker Gilderoy, der nun die Arbeit im Berberian Sound Studio aufnimmt, vorher noch nie gehört. Während er jahrelang friedliche Naturaufnahmen mit Ton unterlegen musste, das Plätschern des Wassers, das Rauschen des Windes, so geht es nun um Schmerzensschreie, um Klingen, die durch Fleisch schneiden, um Haut, die verbrannt wird und Körperteile, die ausgerissen werden.

Anfangs verstört, später schockiert es ihn und er beginnt, den Bezug zu seinen friedlichen Werten zu verlieren (symbolisiert durch regelmäßige Briefe seiner Mutter, die von den niedlichen Vogelküken zuhause berichtet, die im Baum nisten). Nach und nach entgleitet ihm der Halt in der Realität, er wird überfordert von den Sound-Eigenarten des Giallo (sämtliche Dialoge werden zum Beispiel erst nachher eingesprochen; am Set spricht jeder in seiner Muttersprache), von der Sprachbarriere, der italienischen Arbeitsethik und er muss sich allmählich der Frage stellen, ob er diesem Sumpf, in dem er zu versinken scheint, noch entkommen kann - oder möchte.

Das erinnert an die Franzosin Carole, die in Polanskis Film Jahrzehnte zuvor von ihren eigenen Ekelgefühlen überwältigt wird, und ist ähnlich subtil und konsequent filmisch umgesetzt. Warum ist dieses wirklich gute psychologische Profil so unbekannt? Sicherlich, weil es keine Mainstream-Elemente gibt, dazu ist der Film zur Hälfte in Englisch und Italienisch und mit Untertiteln versehen (und das muss auch so sein, aus Gründen, auf die ich hier nicht näher eingehen werde), außerdem fließt trotz der Gewaltszenen kein Tropfen Blut:

So wie wir in Filmen normalerweise die Kameraperspektive einnehmen - wir sehen die Handlung, sehen aber nicht das Regieteam, die Mikros, Gaffer, Mitarbeiter usw., so invertiert BSS das Konzept und zeigt uns ausschließlich das Tonstudio. Wir sehen konsequent die Reaktionen der Figuren auf das, was in dem blutrünstigen Film gezeigt wird, und das ist zugleich genial und zielführend, weil es um die Frage geht, was dieser Gewaltfilm mit Gilderoy anstellt. Wir sehen keine einzige explizite Gewaltszene - malen uns aber gleichzeitig im Kopf aus, was wohl gerade auf der Leinwand passieren mag, während der Tontechniker eine Melone nach und nach zermatscht.

Durch die Nutzung der subjektiven Kamera fällt es dem Zuschauer im letzten Akt selbst nicht mehr leicht auszumachen, was Realität und was Wahn oder Traum ist. Die Schlussszene des Films ist konsequent und logisch, auch wenn sie für manche Zuschauer vielleicht nicht sofort zu verstehen ist. Wer den Film sehen möchte, kann ihn bei Amazon prime finden - gegen eine geringe Ausleihgebühr - mit genau dieser Konfiguration: Originalton in Englisch und Italienisch, deutsche Untertitel. Angenehm, psychologisch, spannend und eine tolle, liebevolle Hommage an die italienischen Gialli aus den Siebzigern. Und für Filmfreaks, die sich tatsächlich dafür interessieren, wie Tonarbeit an einem Film wohl aussieht, ist der Film sowieso wärmstens zu empfehlen - da sieht man zum Beispiel, wie diese "Flatsch"-Geräusche erzeugt werden, wenn im Film eine Klinge in Fleisch eindringt: Im Soundstudio sticht jemand mit einem Messer auf Kohlköpfe ein. Diese Methode (im Englischen als Foley work bezeichnet) war damals Gang und Gäbe und wird auch heute noch verwendet. Umso spitzfindiger, dass die Tontechniker in der Nachbearbeitung des Films Berberian Sound Studio die Kohlkopfszene intoniert haben, indem sie mit Küchenmessern auf Fleischstücke eingestochen haben.

post scriptum: Nun, wie versprochen, Kannibalismus in der Schule, ja, das war eine wunderhübsche Stilblüte. Aufgabe lautete "Write a comment on the decision to go to Prague for a field trip." Eines der Argumente lautete "Also you can eat well and cheaply in Prague. For example, there are really tasty citizens at reasonable prices." Na, habt Ihr eine Idee, wie der Verfasser auf diesen kannibalistischen Kommentar gekommen ist? Antworten gerne in den Kommentaren posten!

2 Kommentare:

  1. Die Lösung lautet, dass "Burger" (=Hamburger) in Profanenglisch mit "citizens" verwechselt werden können: Darum entsteht aus dem deutschen Satz "es gibt wirklich leckere Burger zu vernünftigen Preisen" dann diese kannibalistische Vorstellung! PS: Interessant fand ich auch den Titel des Filmes "Barbarian" oder "Berberian Ton Studio": Das barbarische oder die Gewalt entsteht ja in den Köpfen und ist in gewisser Weise auch ein wenig Mind Control, die hier angedeutet wird.

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    1. Meine Überlegung war, dass die Schüler "Bürger" per Sprachaufzeichnung haben übersetzen lassen - witzig war es in jedem Fall ;-)
      Ich bin mir allerdings nichts sicher, ob Berberian auf den Ursprung "barbar" zurückgehen soll; Berberian ist ein Nachname aus dem mittleren Osten, der sich wiederum vom Beruf des "barber" ableitet. Trotzdem ist Deine Deutung wunderbar passend zu dem Thema Gewalt - und Gewaltvorstellungen - die wir in dem Film haben. Danke für den Beitrag! ;-)

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