Mittwoch, 8. März 2017

S-Bahn-Fahrt (HB-Style)

Das ist in einem ICE, nicht in der S-Bahn, aber ich habe leider nicht das Foto gefunden, was hier eigentlich hingepasst hätte.

Berlin. Nein, genauer: Potsdam Hauptbahnhof. Das ist nicht Berlin. Das liegt in Tarifbereich C, "Bahnhöfe im Berliner Umland". Ich stehe am Bahnsteig und freue mich, denn ein purer Genuss beginnt: Eine Fahrt mit der S-Bahn, aber es muss perfekt sein, denn was jetzt folgt, hat Methode.

Ich hätte auch am Bahnhof Schöneberg einsteigen können, der ist viel näher an der Wohnung meiner Tante, in der ich für meine Berlinreisen unterkommen durfte. Aber eine S-Bahn-Fahrt ist wie ein Ritual. Ich fange ganz am Anfang an, an der Endhaltestelle. Ich bin der Erste, der den Zug betritt, er wirkt noch leer, richtig jungfräulich. Nur so kann ich den idealen Sitzplatz für mich finden, und der ist immens wichtig, denn für die kommenden knapp zwei Stunden ist das mein Meditationsplatz.

Ich steige ganz vorn ein. Ich sitze in der S-Bahn gern vorne, weil ich es aufregend finde, mit hoher Geschwindigkeit in einen S-Bahnhof einzufahren und verschiedenste Menschenmengen zu beobachten, an denen ich vorbeirase. Nach und nach kann ich einzelne wartende Reisegäste besser erkennen, während die Bahn bremst und schließlich stoppt. Ich steige nicht hinten ein. Ich steige nie hinten ein, wenn ich eine Fahrt genießen will.

Ich brauche einen Vierersitz - im Gegensatz zu den Zweiersitzen - damit ich mich nicht eingeengt fühle. Es darf gern voll werden, das macht nichts, es geht um das Prinzip Offenheit. Viel Platz haben, während man fährt, das fasziniert mich. Ich könnte mir vorstellen, eine Wohnung zu haben, die wie eine S-Bahn durch die Stadt fährt. So wird es nie langweilig.

Ich sitze in Fahrtrichtung. Ich möchte gern sehen, was kommt, oder vielmehr: Ich muss sehen, was kommt. Ich mag es nicht, plötzlich in einen Tunnel einzufahren. Ich mag es nicht, plötzlich in einen Bahnhof einzufahren. Ich möchte in Fahrtrichtung sitzen, damit ich weiß: Aha, da vorne kommt der Bahnhof Babelsberg, einen kleinen Moment noch und dann kann ich wieder das Vorbeirauschen an all den Menschen genießen. Das gibt mir also Sicherheit - ich mag es nicht, wenn Zukünftiges unsicher ist, sozusagen in der Schwebe, ich brauche Garantien, auf die ich mich stützen kann. Und der Platz gibt mir nicht nur Sicherheit, sondern auch die Vorfreude - ah, da vorne kommt die Stelle, wo sie letztens die Gleise umschwenken mussten, um die Brücken neu zu bauen - wie das jetzt wohl ausieht?

Ich sitze links. Die meisten S-Bahnhöfe Berlins sind sogenannte Inselbahnhöfe, deren Bahnsteig zwischen den Gleisen liegt. Und weil ich all' die Menschen am Bahnsteig sehen möchte, weil ich an ihnen vorbeirauschen möchte, weil ich mir ausmalen möchte, was sie wohl heute zum Frühstück gegessen haben oder wohin sie wohl fahren wollen. Säße ich rechts, das käme einer Flucht gleich: Ich fliehe vor den Menschen, raus in die Natur. Und ich hätte dann kein leeres Gleis (der Gegenrichtung) neben mir. Das leere Gleis links neben mir, wenn ich ganz vorne links sitze, ist wie eine Aorta. Der Puls der Stadt.

Ich sitze am Fenster, denn ich möchte eine sichere "Wand" neben mir haben. Ich möchte mich an das Fenster lehnen, wenn ich hinausschaue und meditativ über all meinen Denkstoff sinniere. Und natürlich möchte ich so nah wie möglich an all den wartenden Menschen vorbeirauschen, das gibt mir ein zusätzliches Gefühl von Geschwindigkeit. Die Wand ist sozusagen meine Fluchtmöglichkeit: Gleichzeitig möchte ich unter Menschen sein, aber vor ihnen sicher.

Wenn ich diesen idealen Sitzplatz bekomme, dann kann mir nichts mehr meine Stimmung vermiesen. Dann weiß ich: Die nächsten zwei Stunden kann ich sicher und in aller Ruhe genießen. Wenn aber jemand Anderes auf dem Platz sitzt, steige ich nicht ein. Lieber warte ich zwanzig Minuten auf die nächste Bahn nach Oranienburg, als mich mit einem Alternativplatz zufriedenzugeben. Dann kann ich es auch gleich lassen. Das Erlebnis steht und fällt also mit der Situation am Startbahnhof.

Und dann entfaltet sich die Fahrt wie ein Aufklappbuch, wie einem Roman folge ich dem Gleis der Linie S1. Natürlich kenne ich alle Haltestellen der Linie auswendig. Und zu den meisten Bahnhöfen fällt mir eine Anekdote ein, die ich im Kopf jeweils vorfreudig durchgehe.

Ah, gleich kommt die Haltestelle Zehlendorf, da ist immer sehr viel los. Da wird es richtig voll werden, weil der einzige Zugang zum Bahnsteig am Kopfende des Bahnhofs ist, da wird es drängelig, ich klemme meinen Rucksack schonmal zwischen die Beine.

Bahnhof Yorckstraße, jetzt wird es spannend, denn es ist der vorerst letzte oberirdische Bahnhof der Linie: Die S1 taucht ab in den Nord-Süd-Tunnel und wir fahren eine Weile unteriridisch weiter. Und dann diese spannenden Namen! Anhalter Bahnhof hatte für mich immer was Mystisches, und ich dachte, es geht hier wirklich um Anhalter. Oh, und das Feuer in dem Bahnhof, das Jahr, in dem man nur langsam und ohne Halt durch den Geisterbahnhof durchfahren musste!

Gleich kommt der verkehrstechnische Höhepunkt der Linie, Berlin Friedrichstraße. Ich fange gar nicht erst an zu schildern, was dieser Bahnhof in meinem Kopf auslöst, seien es nun Trittbrettfahrer, Berliner Mauer, Konzertsäle - die Gedankenzüge laufen auf Hochtouren, und an diesem Bahnsteig ist immer sehr viel los. Wie gut, dass ich ganz vorne links am Fenster sitze, da ist Platz für meine Beine und ich kann alle Menschen vorbeirauschen sehen und schätzen, wie viele wohl auf dem Bahnsteig sind. Und kann weitere Berechnungen im Kopf anstellen.

Haltestelle Nordbahnhof, wie aufregend! Ich weiß, dass es danach wieder an die Erdoberfläche geht, und weil ich ja ganz vorne links sitze, kann ich aus dem Fenster schauen, na, ist da schon ein Lichtschein zu sehen? Ja! Und ich genieße das Auftauchen der S-Bahn, als handele es sich um Ambrosia.

OKAY, CUT!

Ich merke gerade, wie die Ideen mit mir durchgehen. Dieser Artikel könnte ellenlang so weitergehen, aber das will doch keiner lesen! Daran muss ich mich immer wieder erinnern - und fahre stillschweigend mit einem entspannten Lächeln auf dem Gesicht stundenlang durch und rund um die Metropole, und es wird mir nie langweilig und ich bin vollkommen glücklich.

Mit der U-Bahn hat es noch etwas Anderes auf sich, aber das hebe ich mir für die Zukunft auf. Das war doch jetzt mal richtig hochbegabt-nerdig, oder? Und es ist das erste Mal, dass ich das so öffentlich schreibe. Ich habe mich - ungelogen - immer ein bisschen dafür geschämt, dass mir das gefällt. Das konnte kaum jemand verstehen, und deswegen dachte ich, das ist unnormal. Und hab' es für mich behalten.

Daher: Hochbegabung braucht Offenheit und Aufklärung!

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen