Sonntag, 17. Februar 2019

Ein Gefühl von früher


Die Fenster sind geöffnet, die Rollos sind oben, Sonnenlicht durchflutet die Wohnung und es ist der erste Morgen sei Langem, an dem ich ausgeschlafen bin und mich nicht mit Musik in Form bringe. Die einzige Geräuschkulisse rauscht von der Hamburger Chaussee unten herein, und hier und da ein, zwei Vögel. Bevor ich irgendwas Anderes an diesem Tag mache, nehme ich mir das neue Buch zur Hand, We Have Always Lived In The Castle von Shirley Jackson. Ich habe seit gefühlten - und tatsächlichen - Ewigkeiten kein Buch mehr gelesen. Im Studium war das anders; ich habe nicht wirklich viel gelesen, aber wichtige und oftmals nicht einfache Werke englischsprachiger Literatur. Herrliche Werke, gern (aber nicht nur) etwas abseits des Mainstream gelegen. Joseph Heller, Thomas Pynchon, Bret Easton Ellis, Jay McInerney, Tama Janowitz, Douglas Coupland, Poppy Z Brite, Philip Roth und mehr. Heute habe ich ein Gefühl wie von damals, wie ich es lange nicht mehr hatte. Es mag zwar erst Mitte Februar sein, aber es ist hell und sonnig draußen, die Luft ist erstaunlich mild und weht über Eck durch die Wohnung, erfrischend, aber nicht kalt, und ich liege mit Jacksons Buch auf dem Bett und lasse mich in ihre Beschreibungen fallen, die - wie immer in ihren Geschichten - wunderbar nachvollziehbar, lebendig und emotional sind. Ich habe ein Gefühl von Freiheit, die Zeit gerät völlig in den Hintergrund, keine Geräusche von Musik, von Videospielen oder politischer Satire, keine Texte, die mit Schule zu tun haben, keine künstliche Beleuchtung, ein Gefühl von Leichtigkeit, von unbeschwertem, zwanglosem Lesen, das ich so lange nicht mehr hatte, weil ich mir immer eingeredet habe, dass ich ja viel lieber Verfilmungen sehe, weil sie auf mehreren Kanälen wirken. Dabei ist es ganz angenehm, eine Welt mal wieder vor dem geistigen Auge entstehen zu lassen, meine eigene Auswahl an Stimmen zu treffen, meine eigenen Kameraperspektiven und Blickwinkel zu wählen, unterstützt von Shirley Jacksons Wortwahl. Ich fühle mich zurückversetzt in eine Zeit, in der ich noch nicht berufstätig war, sondern die Freiheit der Universität genießen konnte, das Gefühl von Unendlichkeit, in meinem Zimmer in den Kronshagener Bergen liegen, lesen, in den Frühlingshimmel hinausschauen aus dem fünfzehnten Stock, kilometerweit, Dutzende von Kilometern weit sehen zu können, über den Dingen zu stehen, meine eigenen Wege durch die englische Literaturwissenschaft zu finden. Freiheit entdecken.

Diese Stunde Literatur heute mittag war herrlich, und ich freue mich schon auf weitere Gedankenspaziergänge mit Ms Jackson. Manche Erlebnisse lassen sich eben nicht vor dem Bildschirm erleben...

post scriptum: ...und auch deswegen bin ich froh, noch nicht zur Generation "Smombie" zu gehören.

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