Samstag, 31. März 2018

Livius als Möbelfälscher



Das Abitur naht, für viele von uns stehen nach den Ferien haufenweise Prüfungen an, haufenweise Protokolle, das lässt mich an mein eigenes Abitur denken. Ich habe zwar meine Abizeitung nicht mehr, wohl aber den Beitrag, den ich vor rund sechzehn Jahren für das Blatt geschrieben habe. Wer Fehler findet, darf sie behalten ;-)

Livius als Möbelfälscher...“
oder: Latein-LK bei Peer Hedersen

...schrieb bereits vor mehr als 2000 Jahren die menschlichen Tugenden nieder. Einige seiner wichtigsten Virtutes:


Amor Patriae – Vaterlandsliebe: Oder wie sollte man es sonst nennen, wenn wir mal wieder vor dem verschlossenen Raum 12 saßen und den nächstbesten Lehrer (zufällig meistens Herr Köhmann) baten, die Tür zu öffnen und uns zurück in unsere erfrischende, unverbraucht duftende Heimat zu lassen?
Severitas – Strenge: Oh ja, in unserem Unterricht ging der Lehrer mit gnadenloser Härte gegen uns vor. Wurde unter den Schülern über ein außerunterrichtliches Thema diskutiert, hatte der Lehrer davon unterrichtet zu werden, um mitreden zu können. Man musste dabei laut genug reden, damit auch die kleinen Feinheiten verstanden wurden. Im Gegenzug wurde Gehorsam von den Schülern verlangt! Es war Vorschrift, dem Lehrer immer bis zum Ende der Campergeschichten zuzuhören.
Dignitas – Würde: Wer Schüler des Latein-LK war, hatte sich würdig zu äußern. Das galt natürlich auch für die Lehrer. Ausdrücke wie z.B. „Ach, das heilige Jahr des Vatikan... So´n Scheiß, wen interessiert das schon!“ waren selbstverständlich Tabu. Nie wurde abfällig spottend von drogensüchtigen, schwedischen Reitlehrerinnen gesprochen. Warum auch; Thema war schließlich gerade Seneca. „Perfer, obdura!“
Disciplina – Auch: Disziplin: Strengste Disziplin war vorgeschrieben und wurde stets befolgt. Dabei hatte der Lehrer die Rolle des Vorbildes inne und führte diese beispielhaft aus. Kam er jemals zu spät? Lachte er jemals lauthals über gewisse Äußerungen? Hat er jemals die Stunde überzogen? Nein, unser Lehrer hielt sich immer genau an die Vorschriften.
Audacia – Kühnheit: Die Schüler waren in der Tat kühn, dass lässt sich nicht bestreiten. Wie sollte man sonst einen Menschen nennen, der sich seine täglichen zehn Minuten Frischluft selbst im Winter nicht nehmen lässt und, wohl wissend, dass ihm von seinen Mitschülern ärgste Bestrafung droht, das Fenster öffnet, eine Lungenentzündung riskierend?
Constantia – Festigkeit: Es geht hier um die Festigkeit des Geistes. Zweifelsohne hatten die Schüler ihren schwankenden Geist längst hinter sich gelassen. Einmal mehr erwies sich der Magister als Wegbereiter für diese Entwicklung. Was man sich vorgenommen hatte, das wurde streng befolgt und konsequent durchgezogen, seien es nun die Vorsätze, nach einer Klausur besonders hart an der Grammatik zu arbeiten oder das Vorhaben, eine Vokabelsammlung gründlich durchzugehen. „Festina lente.“
Benevolentia – Wohlwollen: Dies ging von Seiten des Lehrers aus. Er hätte mit erbarmungsloser Härte sich uns verweigern können, doch was tat er, als in einem Anfall von geistiger Umnachtung einem Schüler während der Klausur der Atem stockte? Er erklärte die Deklination der Vokabel „duo, duae, duo“. War dieses nicht ein Zeichen des Lehrers, welches uns sagen sollte, dass er uns unbedingt wohlbehalten durch das Abitur bringen wollte? Auf jeden Fall!
Temperantia – Zurückhaltung: Wenn dem Lehrer in plötzlicher Großmut ein Stück Kuchen angeboten wurde, so lehnte er es selbstverständlich ab. Im äußersten Fall ließ er sich dazu hinreißen, mit seinem Taschenmesser einen kleinen Brocken des Gebäckes abzuschaben, enthaltsam aber, denn er achtete sehr auf seine Linie. Hätte er ungebändigt von dem Kuchen gegessen, so hätte er es sich schließlich nach erledigter Arbeit nicht mehr daheim mit einem Bier und seiner großen Latte von Grisham-Romanen gemütlich machen können. „Ergo bibamus!“
Modestia – Auch: Bescheidenheit: Obwohl der Magister sich selbst stundenlang für die Entwicklung der Schüler aufopferte, brüstete er sich nie mit ganz besonders guten Formulierungen. Falls mal ein Zitat angebracht wurde, so folgte stets der Satz: „Das ist nicht von mir.“ Wenn das nicht ein Zeichen von Bescheidenheit ist! Und erst recht der nächste Satz, in unmittelbarer Folge: „Aber ich könnte das auch so schreiben.“

Vielen Dank, Herr Petersen, dass sie nicht in jeder Hinsicht dem römischen Ideal entsprochen haben, so wenig wie wir alle, wenn auch wahrscheinlich mit ein wenig mehr „Constantia“. Wie sagt man so schön? „Iucundi acti labores.“ Das soll aber nicht heißen, dass wir ihrem Unterricht nicht gerne beigewohnt hätten. Es heißt nämlich auch: „Ducunt volentem fata, nolentem trahunt.“ Es war der erste Latein-LK seit acht Jahren. Warum? Das ist wirklich eine gute Frage. Trotz einiger weniger Längen fanden wir den Unterricht sehr interessant und zügellos genug, dass man gleichzeitig lernte, ohne einem großen Druck unterworfen zu sein. Natürlich muss man sich für das Fach begeistern können, um den LK zu wählen. Die Ausrede: „Latein ist eine tote Sprache, ich bin doch nicht verrückt!“ gilt aber längst nicht mehr.
De gustibus non est disputandum.“

Donnerstag, 29. März 2018

Drei Sch(w)ulgeschichten

Was man als Lehrer so alles über die Jahre erlebt...

1. Fünfzehn Minuten Ruhm

"Ich finde deine mündliche Mitarbeit gut, du beteiligst dich aktiv und ich hoffe, dass du auch so weiter machst. Das finde ich deswegen gut, weil ich gehört hab, dass ein paar deiner Mitschüler auf dir rumhacken. Das hat mich nämlich an eine Geschichte erinnert, und zwar hatte ich mal einen Schüler, das müsste auch so neunte... nein, achte Klasse war das. Der war ziemlich intelligent, traute sich aber nicht, das zu zeigen, weil er dann als Streber beschimpft wurde. Er wusste alle Antworten, konnte das alles, aber wollte keine Angriffsfläche für's Mobbing bieten. Aber sie hatten ihn rausgepickt, weil er mit den Mädchen besser klar kam als mit den Jungs, das war komisch, und er war ein bisschen sensibel, und sie bezeichneten ihn als Schwuchtel. Das hat ihn echt verletzt, und er wusste auch nicht, warum sie das machen, er wusste nicht, ob er selbst etwas falsch macht und ob er etwas ändern sollte. Bis zur zehnten Klasse haben sie auf ihm rumgehackt, im Sportunterricht geschubst, härter angegangen als andere und es war eine grauenhafte Zeit für ihn. Vielleicht kennst du das. Vielleicht kannst du dich damit ein bisschen identifizieren. Dieser Schüler damals... ... ...das war ich. Und ich habe es gehasst, ich habe unter dem Mobbing echt gelitten. Ich erzähle dir diese Geschichte nicht einfach nur so. Denn ich hab gehört, dass sie dich auch Schwuchtel nennen. Und du kennst all' das... ... Andy Warhol hat einmal gesagt, dass jeder Mensch irgendwann seine fünfzehn Minuten Ruhm hat. Irgendwann ist jeder ein Star, kann glänzen, kann seine Stärken zeigen, ohne dafür gehasst zu werden. Mir ging es auch so. Und dir wird es auch so gehen. Irgendwann kommt der Moment, an dem du deine Stärken ausleben kannst, an dem du ganz du sein darfst. Ich möchte dir dafür den Rücken stärken. Und deswegen finde ich es toll, dass du dich nicht unterkriegen lässt, auch wenn sie dich Schwuchtel nennen und dich ärgern. Bleib am Ball, deine Zeit wird kommen, und ich finde, dass du ein intelligenter, toller junger Mann bist, lass' dir von niemandem etwas Anderes einreden. Okay?"

2. Der Zusammenhang

"Aber diese Vokabel bedeutet doch eigentlich etwas ganz Anderes, wieso übersetzt man das hier denn so?" - "Naja, es kommt immer auf den Zusammenhang an, in dem die Vokabel steht. Ganz einfaches Beispiel: Hin und wieder sage ich zu meiner besten Freundin "Du Fotze!" - ohne dass ich das böse meine, im Gegenteil. Das ist dann keine Beleidigung, unter uns ist das witzig gemeint und das versteht sie auch so." Mädchen schauen sich an, Augen leuchten auf, Lächeln. "Ihr kennt das doch. Fotze, oder Schlampe, oder Bitch. Und genau so kann ein lateinisches Wort in einem anderen Textzusammenhang eine ganz andere Bedeutung haben." - "Ahhhhh! Jetzt macht das Sinn!"


3. Iiiieeehhh!!! 

Sechste Klasse, Intensivierung mit einer reinen Mädchengruppe. Black Stories gehen im Englischunterricht immer. So kann man wunderbar üben, Fragen zu stellen, und die Schüler zum Englischreden bringen, großartig. Two men are playing chess. The winner picks up a gun and shoots himself. Why did he do that? "Ääähhhmmm, maybe there was a backstory, maybe the mens had eine, wie sage ich das, Beziehung miteinander?" "Iiiieeehhh!!!" tönt es aus der ersten Reihe. "Nanu, Trulla, warum sagst du denn iieeehhh?" - "Naja, weil das voll eklig ist." - "Das verstehe ich nicht, das musst du mir erklären." - "Naja normalerweise sind doch Mann und Frau zusammen und das ist doch total eklig, wenn zwei Männer zusammen..." - von der rechten Seite widerspricht eine Mitschülern: "Das ist überhaupt nicht eklig. Das kommt Dir nur so vor, weil du das noch nicht kennst, aber eigentlich ist das voll in Ordnung!" Sechste Klasse. Meine Augen leuchten.

post scriptum: The two men were on a sinking submarine and their oxygen was running out. They knew they had to die, but there was only one bullet left in a revolver. So the two men played a game of chess: The winner was allowed to shoot himself and die a quick death, while the other one had to die slowly and painfully...

Mittwoch, 28. März 2018

Nummer Achtzehn

Ob ich jemals verbeamtet werde...?

Endlich: Die Ferien sind erreicht. Irgendwie habe ich mich noch nie so sehr nach den Ferien gesehnt wie diesmal - sonst war es eher in Richtung "Schade, dass wir uns jetzt zwei Wochen nicht sehen". In SPO hatte ich richtig Spaß am Unterrichten, da geht man dann schon etwas wehmütiger in die Ferien. Selbstverständlich freuen sich auch die Schüler - bei einigen stehen vielleicht richtig tolle Reisen an, bei mir zumindest der Hansa-Park; die Saison beginnt morgen und ich bin froh, dass ich - wenn es nötig ist - einfach mal ausbrechen kann. Muss mich dran erinnern, den ADAC zu rufen, ich brauche Starthilfe, nachdem das Auto den ganzen Winter über nur gestanden hat.

Und die Ferien sind bitter nötig, und das nicht nur aus spaßigen Gründen wie Freizeitparks oder Monster-mit-der-großen-Buba-verkloppen. Ich muss die Wohnung grundreinigen, weil ich so viel im Kopf hatte, dass ich nicht mehr an so banale Sachen wie "wegwerfen" gedacht habe. Kaum zu glauben: Alles steht überall herum - weil ich immer mit was Anderem im Kopf beschäftigt bin. Und ich muss auch mal gründlich über meine Zukunft nachdenken. Was erwarte ich von "meiner" Schule? Wie soll es weitergehen?

Und noch ein positiver Grund ist, dass gerade Ni No Kuni 2 erschienen ist - ich mag es, wenn pünktlich zu den Ferien ein neues Videospiel erscheint (an das ich aufgrund der hervorragenden Qualität des Vorgängers hohe Ansprüche stelle). Und ich werde auch noch für's Videospielen bezahlt, wenn man es so sehen will, denn...

...endlich ist der Anschlussvertrag da! Heute habe ich meinen achtzehnten Arbeitsvertrag unterschrieben, das Gehalt wird weiter gezahlt, schön. Für einen Monat. Ich hasse Bürokratie, wieder nur so ein Stückwerk, wieder fühle ich mich unsicher - ich muss mich daran gewöhnen und dagegen abhärten. Und für die Schüler ist das natürlich auch nur ansatzweise hilfreich.

Egal. Hauptsache, es geht weiter, und so starte ich jetzt in die Ferien mit einer Meditation, denn ich möchte ein Gespräch nochmals Revue passieren lassen. "Wenn ich hochbegabt bin, will ich das gar nicht wissen!" sagt heute ein Schüler zu mir. Vielleicht liest er das hier gerade. Meine Reaktion? Random-Fragen. Hast du Probleme mit Autorität? Hast du Neurodermitis? Wie stellst du die Lautstärke beim Fernsehen ein? Ich stelle meistens einfach nur Fragen und sage gar nichts weiter dazu. Informationen sammeln, Details sammeln, Puzzleteile.

Ich liebe es, Menschen kennenzulernen.
Kommt gut in die Ferien!

Montag, 26. März 2018

Ba-ba-dook. Dook! DOOK!!!

Was das genau ist? Wird zum Glück nie explizit gezeigt oder erklärt. Ist aber zutiefst menschlich...

Vorgestern hatte ich Lust auf einen neuen Film. Diesmal sollte es nichts Episches, Großes, Stundenlanges sein; ich hatte Lust auf einen kleinen, effektiven Horrorfilm. Genauer gesagt auf ein Subgenre, den sogenannten Psychological Horror. Das sind diese Geschichten, bei denen der Horror größtenteils im Kopf des Zuschauers stattfindet. Beispiele dafür sind Rosemary's Baby, The Shining oder die späteren Filme von David Lynch und die dritte Staffel seiner Serie Twin Peaks. Ich liebe es einfach, die oft subtile Abfahrt in den Wahnsinn zu genießen, und habe es dabei besonders gern, wenn meine Sinne verwöhnt werden - Spiel mit Licht und Schatten, Farbfiltern und sorgfältig gestalteten Surroundsound.

Also habe ich mich auf die Suche begeben und bin eher durch Zufall bei einem Film gelandet, der ein bisschen wie eine Gruselgeschichte für Kinder wirkte, wie etwas aus dem Geschichtenbuch. Wurde auf RogerEbert.com und Rottentomatoes extrem positiv bewertet, gilt als einer der kritisch erfolgreichsten Filme seines Jahres und das hat mich neugierig gemacht auf diesen unscheinbaren, unerwarteten Film aus Australien: The Babadook (2014).

If it's in a word or it's in a look, you can't get rid of the Babadook!

Eigentlich möchte ich nicht zuviel zum Inhalt sagen. Es geht um eine seit einem Unglück schwer belastete Mutter-Sohn-Beziehung. Der Junge ist stark verhaltensauffällig und die Unfähigkeit des Umfeldes, mit dieser Situation zurechtzukommen, führt nach und nach zur Isolation der Mutter; diese versucht, alle Anfeindungen auszuhalten, doch ihre "heile" Welt bricht nach und nach zusammen - spätestens seit einer Gutenacht-Geschichte, die sie ihrem Jungen vorliest, stellt sich eine Paranoia ein, die schließlich dazu führt, ihr Leben komplett zu hinterfragen.

Diese eigentlich unschuldige Geschichte namens The Babadook handelt von einer Kreatur, die des Nachts versucht, von Menschen Besitz zu ergreifen. Aber sowas gibt es natürlich nicht im richtigen Leben... oder doch? Genau diese Frage dominiert das letzte Viertel des Films, und als Zuschauer ist man gut beraten, die Dinge, die man sieht, nicht ganz wörtlich zu nehmen. Es gibt etwas, das man subjektive Kamera nennt: Die Kamera zeigt Dinge so, wie sie von einer der Figuren wahrgenommen werden.

Wir haben hier psychologischen Horror, der sich vor allem im Kopf abspielt. Wer ein wenig Lebenserfahrung besitzt, wird sich mit den Figuren identifizieren können und deren Leid verstehen. Es fliegen keine Körperteile durch die Gegend. Es gibt noch nicht einmal einen nennenswerten Bodycount. Aber den gab es bei The Shining auch nicht, und trotzdem ging jener Film unter die Haut.

In diesem Film taucht nichts Übernatürliches auf. Metaphorisch, ja, und auch menschlich. Eben eine Allegorie auf menschliche Emotionen - und damit keinesfalls unrealistisch - und das gibt dem Film seine Energie: Dass jeder Mensch lernen muss, mit seinem Babadook zu leben ("You can't get rid of the Babadook!"). Du auch, und auch ich. Und auch wenn es jetzt vielleicht noch nicht so weit sein mag, so kommt dieser Moment unausweichlich.

post scriptum: Es ist doch mal wieder kennzeichnend für die menschliche Dummheit und den Unwillen, etwas verstehen zu wollen, wenn es Mühe erfordert. Während die Kritik den Film hoch lobt, ist er beim allgemeinen Publikum ziemlich unpopulär. Das zeigt sich in der Wertung der IMDb oder zum Beispiel in den Rezensionen bei Amazon. Bin froh, dass ich nicht zu dieser Gruppe gehöre - ich fand den Film klasse ;-)

Samstag, 24. März 2018

Stressige Gegend

So wie einst Dirk Bach, könnte ich mich auch rauslehnen und die Schlimme Ecke ein wenig beobachten...

Wer den Beitrag von vorletzter Nacht gelesen hat, erkennt die Anspielung. Es geht also mal wieder um unser kleines Viertel. Und die Welt ist so klein: Meine Mutter hat damals im Studium nebenan in der Rendsburger Landstraße eine Wohnung gehabt, und auch die große Buba kennt jemanden in ebendieser Straße. Wenn ich fünfzig Meter gehe, laufe ich an der Danewerkstraße vorbei, in der Er wohnt. Ein paar Nummern weiter wohnt ein ehemaliger Stupa-Kollege. Im gelben Haus schräg über die Straße hat eine Brachenfelder Kollegin gewohnt. Trägt alles dazu bei, dass ich mich "zuhause" fühle - und dass ich dadurch berufstechnisch extrem unflexibel bin, weil ich nicht wegziehen möchte. Da wäre die Kieler Gelehrtenschule ja eigentlich die perfekte Option für den Beruf; das geht in die Gesamtgedanken ein.

Aber ich bin völlig von meinem eigentlichen Thema abgekommen. Seit einer Woche ist der Wulfsbrook gesperrt. Whatever, Baustellen gibt es überall. Aber das hat ein paar Auswirkungen, die spannend sind. Wer die Gegend nicht kennt: Wenn man aus Kiel über die Hamburger Chaussee rausfährt, hat man nach dem Waldwiesenkreisel (beliebter Ort für Autounfälle) die Möglichkeit, entweder nach links abzweigend auf der Hamburger Chaussee zu bleiben und Richtung Molfsee zu fahren, oder aber rechts abzweigend auf der Rendsburger Landstraße gen Russee zu tingeln. Und sollte man die falsche Ausfahrt gewählt haben, gibt es immer noch die Möglichkeit, über den Wulfsbrook zwischen den Straßen zu wechseln.

Beides beliebt, die Hamburger Chaussee ist eine recht vielbefahrene Straße, besonders Blaulicht-intensiv wegen der anliegenden Helios-Klinik. Umso erstaunlicher ist es, wie ruhig es in unserer peacigen Gegend sein kann - doch das war einmal. Wie gesagt, der Wulfsbrook ist gesperrt, man kann also nicht mehr so einfach zwischen Rendsburger Landstraße und Hamburger Chaussee wechseln, sondern muss jetzt den umständlichen Weg mitten durch unser Viertel nehmen, durch die Helgolandstraße.

Und so kommt es, dass ich seit letztem Montag tatsächlich auf die Fußgängerampel achten muss, bevor ich die Straße zum Sky oder der Sparkasse kreuze, denn es herrscht Stau. In der Helgolandstraße, in der sonst nur hin und wieder ein paar Autos fahren, ist es laut geworden, es wird gedrängelt, es wird gehupt. Menschen werden noch unruhiger und stressiger, als sie es sowieso schon sind, hinter ihrem Steuer. Die Schlange der wartenden Autos reicht quer über den Karpfenteich (lustiger Ausdruck, wenn man es mal bedenkt...), dazu die Wagen, die alles zugeparkt haben, das sorgt für - ja, für was eigentlich?

Man hat die Wahl, sich dem Stress hinzugeben, zu hupen, möglichst schnell vorankommen zu wollen. Sich aufzuregen, den Blutdruck steigen zu lassen. Scheiße, mach' mal schneller da vorne! Diese dämliche Baustelle im Wulfsbrook, ich könnte kotzen, auch die Buslinie Zweiundsechzig fährt jetzt anders, ich muss Umwege laufen, kann nicht einfach mal kein Stau sein? Das Gefühl habe ich schon einmal beschrieben.

Oder man nimmt es, wie es ist. Man akzeptiert seine Lage. Man realisiert, dass man mit seinen Problemen nicht allein ist, dass es auch andere Autofahrer gibt, die ebenso die Umleitungen nehmen müssen, die ebenso für ihren Weg länger brauchen. Und man versucht, zu entspannen.

Und ich? Ich genieße die Tatsache, dass ich von meiner Wohnung aus all' das ansehen kann, wenn ich das will. Und dass ich im dritten Stock wohne. Über den Dingen. Wörtlich und im übertragenen Sinne.

Zeit für ein Bad.

Donnerstag, 22. März 2018

Peacige Gegend

Waldwiese - gehört einfach dazu.

Ich mag es ja eigentlich nicht, von fremden Menschen unerwartet angesprochen zu werden. Oder, sagen wir es so, ich habe Angst davor. Weil ich nicht weiß, ob ich vielleicht unangemessen reagieren werde usw., hochbegabtes Kopfzerbrechen, das eigentlich echt nicht nötig wäre.

Wie dem auch sei, heute bin ich angesprochen worden. Da setzt sich im Bus eine ältere Dame neben mich, nachdem sie gefragt hat, ob der Platz frei sei. Und leitet direkt über in ein Gespräch, und ich war so überfordert mit der Situation, dass ich einfach das Gehirn beiseite geräumt und mitgemacht habe. Warum das möglich war - weiter unten. Jedenfalls erzählen wir so über Kiel, über unsere Berufe, sie kommt aus der Gegend um Hannover, was hat uns nach Kiel gezogen, wir reden über Mieten, vielleicht sind es die schwarz lackierten Fingernägel, jedenfalls geht sie schnell in's "Du" (was mir sehr zusagt) und wir unterhalten uns, als wären mehrere Jahrzehnte Altersunterschied gar nicht präsent.

Und so unterhalten wir uns auch, wo wir wohnen und wie wir wohnen. Über die Mieten, die am Blücherplatz in die Höhe geschossen sind - ist ja auch so, wer kann sich schon Blücherplatz leisten? Ich unterrichte Blücherplatz, erkläre ich ihr, ich unterrichte Düsternbrook, und wir verstehen uns. Und ich erzähle ihr, dass ich mich in Hassee verdammt wohlfühle. Natürlich liegt das auch an der Art der Wohnung und was ich daraus mache, aber es ist schon ein nettes Viertel. Gar nicht weit zum Drachensee oder Russee, wenn man in die Natur möchte, gute Verkehrsanbindung, es fühlt sich nicht so tot an, hier findet auch mal Alltag statt, natürlich haben wir hier auch kleinere oder größere Problemchen, Einbrüche, Pöbeleien und Zeugs, aber ich find's hier toll, und die ältere Dame auch. Sie sagt: "Hassee ist eine ganz peacige Gegend." Und allein die Verwendung dieses Ausdrucks qualifiziert sie dafür, in Hassee zu leben.

Das war also wirklich eine unterhaltsame Busfahrt; normalerweise bin ich immer froh, wenn man mich nicht anspricht, sondern ich in Ruhe nachdenken kann, Stunden durchgehen, Erlebnisse verarbeiten, all' sowas. Aber heute war die olle Areté hyperaktiv; in meinen zwei Freistunden bin ich nach Hause gefahren, just in dem Moment kommt der Paketbote vorbei, ich kann das Paket in Ruhe auspacken, mich drüber freuen und wieder in den Bus zurück Richtung Schule steigen - Laune im oberen Drittel, und wenn ich dann von so einer fetzigen Oma angesprochen werde, mache ich nicht dicht, sondern gehe drauf ein und genieße den Moment. Wie sagte einst der Dalai Lama?

"Nichts ist entspannender, als das anzunehmen, was kommt."

Dienstag, 20. März 2018

Elternabend: Brennende Fragen

Schick machen? Nee...!

Elternabende sind doch eine fantastische Erfindung - zumindest, wenn man davon überzeugt ist, als Lehrkraft alles richtig gemacht zu haben.  Wenn nicht... davon handelt das heute etwas umfangreichere post scriptum.

Wenn man nicht gerade Klassenlehrer ist, besteht die eigene Hauptaufgabe am Elternabend darin, sich kurz vorzustellen (wenn man neu an der Schule oder in der Klasse ist), die Stoffverteilung zu skizzieren und für Fragen bereit zu stehen, derer normalerweise nicht viele auftauchen, denn die meisten Eltern wollten "nur mal sehen, wie der Neue aussieht." Und/oder sich von ihrer vorgefertigten Meinung überzeugen; ich habe es an anderen Schulen hin und wieder erlebt, dass mein Verhalten wohl doch nicht dem entsprochen hat, was die Eltern dachten ("macht keinen Unterricht, ist eine Gefahr für unsere Kinder, hält sich nicht an den Lehrplan, hat rechte Tendenzen, keine Umgangsformen, keinerlei pädagogische Kompetenz, überhaupt keine Erfahrung, noch nicht einmal sein Staatsexamen" und vieles mehr - nichts davon von mir erfunden, leider).

Mittlerweile ist es bei mir mit den Elternabenden wie mit dem Elternsprechtag - ich freue mich drauf. Wobei ich mir nicht sicher bin, wieviel "Mühe" ich mir geben soll - wenn ich nicht weiß, ob ich an der Schule bleibe oder nicht. Da besteht immer die Gefahr, dass sich eine "Scheißegal-Haltung" einstellt. Ich bereite nichts Konkretes vor, was ich vielleicht sagen möchte, stelle mich nicht auf eventuelle Fragen ein, und es bleiben in meinem Kopf als brennende Fragen nur noch übrig:

Was ziehe ich an? Szene oder etwas dezenter? Mit oder ohne Nagellack? Vielleicht mit ein bisschen Kajal? Die Eltern, die mich bereits kennen, sollen mich ja schließlich wiedererkennen können; das geht nicht, wenn ich in Bluejeans auftauche. Schauen wir mal. Mehr Zeit als auf mein Erscheinungsbild werde ich im Vorfeld darauf verwenden, mich nicht schuldig zu fühlen für das, was die Eltern zu beklagen haben. Zu dem Thema hatte ich bereits einmal einen Beitrag geschrieben, aber nicht veröffentlicht - das wird heute im PS nachgeholt.

post scriptum: Schuldgefühle. Kennt jeder, denke ich mir zumindest, und vielleicht hat ja der eine oder andere Lehrerkollege die hier beschriebene Variante auch schon einmal erlebt.

Die Klassenarbeit steht an, und ich fühle mich entspannt, weil ich im Kurs- oder Klassenbuch genau nachvollziehen kann, dass wir alle Themen, Grundregeln, Ausnahmen und Eselsbrücken im Unterricht vorbereitet haben. Sogar den Großteil der Vokabeln (am Beispiel der Lateinarbeit) haben wir explizit wiederholt. Es kann eigentlich gar nichts mehr schiefgehen.

Und dann nimmt man sich den Stapel mit den Arbeiten vor. Ach herrje, ganz oben liegt die Arbeit von Schüler XYZ, der schon im Unterricht nicht der Leistungsstärkste ist. Ich schaue in seine Übersetzung und werde bestätigt. Ich lege seine Arbeit erstmal zur Seite, ich würde gern zuerst eine gute Arbeit korrigieren, um zu sehen, dass das Niveau leistbar war. Und so forste ich den Stapel durch...

...und finde keine einzige Arbeit, die auf Anhieb gut gelungen scheint. Nicht einmal der Paradeschüler ABC landet im oberen Notenbereich, und auf einmal stellt sich eine Befürchtung ein: Muss ich zur Genehmigung? Weil womöglich mehr als ein Drittel der Schüler eine Fünf oder Sechs bekommen hat? Was kann ich nur tun? Kann ich den Fehlerindex ein bisschen anpassen, kann ich einzelne Fehler schönen? Was ist denn da nur schiefgegangen?

Es muss an mir gelegen haben. Irgendwas muss ich im Unterricht falsch gemacht haben, wenn selbst die Vorzeigeschüler nicht auf eine Eins oder Zwei geschafft haben. Und sofort legt mein Kopfkino eine Extraschicht Horror ein. Vor meinem geistigen Auge sehe ich... [und hier darf jeder seiner Fantasie freien Lauf lassen] - es wäre ja nicht meine erste Genehmigung. Gerade an den GemSen ist das hin und wieder mal vorgekommen, da hatte ich auch nie ein schlechtes Gewissen. Aber an einer Schule, deren Leitbild umfasst, die Schüler zu möglichst guten Leistungen zu bringen, bin ich nicht ganz so entspannt. Also... gar nicht entspannt. 

Denn dann sind sie wieder da, die Schuldgefühle. Als ob es in der Macht der Lehrkraft läge, jedem Schüler mindestens zu einer Zwei zu verhelfen. Dabei habe ich mir den Arsch aufgerissen, habe in jeder Stunde wieder versucht, ein Bewusstsein und einen Respekt vor den Anforderungen des Faches zu schaffen. Weil ich einen katastrophalen Ausfall habe kommen sehen - aber was kann ich sonst noch machen? 

Sie sind Jugendliche. Ich nehme es niemandem übel, wenn er keinen Bock auf Schule hat. In diesem Alter sind andere Sachen wichtiger: Freundschaft, Sex, Drogen, Selbstfindung und vieles mehr, was einen Teenager mächtig aus der Bahn werfen kann. 

Manch' einer muss eben erst richtig auf die Fresse fallen, bevor er merkt, dass "am Abend vorher lernen" irgendwann nicht mehr klappt... und ich muss genügend Rückgrat aufbringen, zu sagen, dass es eben nicht mehr für das Latinum (oder ESA, MSA, whatever) ausreicht. Anstatt so lange an Fehlerindizes herumzudrehen, Bonuspunkte zu kassieren und Sonstiges, nur damit es für fünf Punkte reicht. Denn manche Schüler suggerieren durch ihr Verhalten im Unterricht, dass sie es gar nicht auf die fünf Punkte anlegen - und das möchte ich entsprechend honorieren. 

Pädagogik und so.

Sonntag, 18. März 2018

Das Schiff in der Nacht (Vierter Tag)


Kapitel 12Die Dämmerung

Zuerst blinzelte sie. Als sie merkte, dass sie wieder aufgewacht war, riss Vivien beide Augen auf. Sie schaute erneut an ihre Zimmerdecke. Sie lag mitten in ihrem eigenen Zimmer auf dem Boden. In ihrem Kopf schwirrte nur ein Gedanke umher: Marion Letticeworth.
Marion hatte unzählige Menschen umgebracht. Schuldige und Unschuldige. Diese Menschen mussten gerächt werden, und Vivien allein war die Möglichkeit dazu gegeben worden. Sie durfte nicht untätig herumliegen. Nach der großen Uhr in der Gemäldehalle blieben ihr nur noch wenige Sekunden Zeit, um Vergeltung zu üben. Die Halle! Ich muss dorthin, Marion ist sicher in der Halle und genießt den Anblick all ihrer Opfer, dachte Vivien grimmig. Sie stand auf und ging zur Zimmertür. Wie kann ich Marion besiegen, fragte sie sich. Ich habe keine Waffen. Als sie in ihren Hosentaschen suchte, fand sie den goldenen Skarabäus, die Dokumente und Fotos, die sie mitgenommen hatte und den halben Schutzengelanhänger. Die Sachen würden ihr nicht viel nützen. Ich habe keine Zeit, mir jetzt darüber Gedanken zu machen. Das kann ich gleich immer noch herausfinden, beschloss sie, als sie ihr Zimmer verließ.
Auf dem Korridor erwartete Vivien bereits die erste Überraschung. Der Boden schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Sie stand auf schwarzem Nichts. Immer positive Gedanken, so tun, als ob der Boden unverändert wäre. Sie durfte nur nicht nach unten schauen. Dann wandte sie sich der Doppeltür zu, die zum Saal führte. Sie war zu ihrer Überraschung verschlossen. Vivien war vor den Kopf gestoßen. Was nun? Sie blickte den Flur nach links hinab, Richtung Heck. Mein Gott, das kann nicht wahr sein, dachte sie erschrocken, als sie die Pendel mit den scharfen Klingen sah, die auf dem Gang hin und her schwangen. Marion will mich umbringen. Es hämmerte immer wieder in ihrem Kopf. Dieser eine Gedanke – sie will mich töten, nein, vernichten! Und dazu das Ticken der Uhr im Saal. Wie viel Zeit war noch? Wie lange war sie ohnmächtig? Vivien lief zur Empfangshalle, um die anderen Türen auszuprobieren, die in den Saal führten. Die Tür in die Halle war offen. Vivien trat hindurch und konnte leises Zischen in der Luft hören. Sie versuchte sich zu konzentrieren und konnte sehen, wie neben dem Türrahmen, durch den sie gerade getreten war, Pfeile auf Kopfhöhe aus einer Öffnung in der Wand schossen. Sie waren ziemlich klein und mussten vergiftet sein, da sie sonst kaum eine Gefahr darstellten. Ich werde nicht als Opfer dieser hinterhältigen Fallen enden, dachte Vivien und ging in die Knie. Sie krabbelte unter den Pfeilen hindurch und voran. Als sie direkt vor der großen Tür zum Saal ankam, begann der Holzboden zu wackeln. Vivien schreckte hoch und sprang einen Satz zurück. Keine Sekunde zu früh, denn der Boden brach weg und auch hier öffnete sich ein schwarzer Abgrund. Marion, du täuschst mich nicht, schmunzelte Vivien und wollte gerade wieder auf die Tür zugehen. Als sie jedoch ins Leere trat und nach vorne stolperte, durchfuhr sie der Schrecken wie ein Blitz. Die Einsicht, dass der Abgrund hier echt war, kam zu spät, denn sie stürzte hinab.
Im letzten Moment konnte sie sich mit der linken Hand an den Holzdielen festhalten. An der Kante baumelnd schaute sie hinab. Unter ihr war überall gähnende Leere, ein unendlicher Abgrund. Mit der anderen Hand griff Vivien nach dem Boden über ihr. Durch Schaukeln versuchte sie, sich hochzuziehen. Die Panik verlieh ihr die Kraft, sich zu retten. Mit Schwung zog sie sich hinauf. Nachdem sie sich oben aufgerichtet hatte, schaute sie verzweifelt zur Tür in die Statuenhalle. Sie war nicht mehr zu erreichen. Auswege gab es keine; die Treppe ans Deck war eingestürzt. Als Vivien sich der Tür zum zweiten Korridor näherte, hörte sie wieder das Sausen in der Luft. Auch hier war die Falle mit den Pfeilen in Aktion. Vivien duckte sich erneut und schlüpfte hindurch.
Sie öffnete die Tür und ging in den anderen Flur. Hier war es unerwartet dunkel, viel dunkler als vorher. Auch schien der Boden sich zu bewegen. Vivien ging voran, bemerkte jedoch, dass sie kaum von der Stelle kam. Wie ein Laufband lief der Boden unter ihr rückwärts, während sie ging. Das Hauptproblem war, dass der Boden unter ihren Füßen wegglitt, je schneller sie versuchte, zum anderen Ende des Ganges zu gelangen. Sie rannte, so schnell sie konnte, wurde vom Laufband aber sogar noch zurückbefördert. So sehr Vivien sich abmühte, sie landete schließlich keuchend wieder an der Eingangstür. Sie brach vor Erschöpfung zusammen. Kurz wurde ihr schwarz vor Augen, bis sie sich einen Moment später zusammenriss und ihr eine Sache auffiel. Der Boden steht still. Wenn ich mich nicht bewege, steht der Boden still! Je schneller ich laufe, desto schneller werde ich zurückgetragen. Angenommen, ich würde rückwärts gehen, überlegte Vivien. Was würde dann wohl geschehen? So gut es ging setzte sie einen Fuß zurück. Wie sie vermutet hatte, trug der Boden sie ein Stück geradeaus. Sie tat einen großen Schritt rückwärts. Dadurch wurde sie ein ganzes Stück voran transportiert. So legte sie den Weg zurück bis zu der Stelle, an der sich die Tür zum Saal befand. Aber da war keine Tür. Das kann doch nicht sein. Da muss irgendwo die Tür sein. Ungeachtet des Bodens tastete Vivien sich an der Wand entlang, wurde hin und her gerüttelt und fiel hin. Sie konnte nicht mehr ausmachen, wo sich einmal die Tür in die Halle befunden hatte. Sie war verschwunden.
Was tue ich jetzt? Gibt es noch irgendeine Möglichkeit, in den Saal zu kommen? Der Boden setzte sich ohne ersichtlichen Grund von alleine in Bewegung, obwohl Vivien unbewegt an derselben Stelle stand. Sie wurde zur hinteren Halle transportiert und, da das Band nicht anhielt, durch die Tür geschleudert. Wie in einem Traum erschien ihr, was sie nun erblickte. Die sonst düstere Halle wurde von seltsamen Flimmern erleuchtet, als würde sie direkt durch das verrauschte Bild eines Fernsehers schauen. Dennoch schien sich ansonsten nichts verändert zu haben. Die Türen zu den Schatzkammern standen offen; da sie dort aber schon alles geplündert hatte, waren sie nicht mehr von Interesse. Und das Gitter zwischen den Räumen… Es sah so seltsam aus. Hatte jemand daran hantiert? Vivien ging zum Gitter im Boden und fühlte. Nichts. Das Gitter war weg. Stattdessen stand das Loch im Boden offen. Es ist mein einziger Ausweg, dachte sie und kletterte hinunter in einen riesigen Raum. Es musste der Frachtraum des Schiffes sein. Auf diversen Stapeln verschiedener Kisten, Koffer und Fässer lag eine dicke Staubschicht. Links und rechts säumten Hängematten die Halle, die an den Stützbalken festgemacht waren. Von überall her schienen kleine Lichter zu leuchten, anders als die, die Vivien zuvor auf dem Schiffsdeck gesehen hatte. Sie weiteten sich zu Visionen aus, als Vivien näher trat. Jede dieser Visionen zeigte einen Menschen, der von Marion Letticeworth umgebracht wurde.
Vivien konnte sehen, wie Mary Riley erstochen wurde und wie Daniel Baker und Victoria Norton das gleiche Schicksal fanden. Es waren nur zwei von unzähligen Szenen, die sie ansehen musste, während sie voranging. Von allen Seiten hörte sie die Schreie der Opfer. Sie hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu und ging weiter. In der Mitte des Frachtraumes befand sich eine große steinerne Säule, die vom Boden bis zur Decke führte. Langsam ging Vivien darauf zu und betrachtete sie von allen Seiten. Sie hatte an einer Seite eine Öffnung und war innen hohl, wie ein riesiger Schacht, der von oben nach unten führte. Vivien überlegte einen Moment. Ein Abzug… vielleicht von einem Kamin? Aber wieso nach unten, fragte sie sich. Ich bin sicher, dass ich im Kamin im Statuensaal herauskomme, wenn ich hochklettere. Es ist meine einzige Möglichkeit, und all diese Menschen hier – ihr Opfer kann nicht umsonst gewesen sein. Ich werde Marion besiegen, sagte sie sich tapfer, während sie sich daran machte, den Kamin zu erklimmen.
Es gestaltete sich ziemlich schwierig, in dem dunklen Kamin das obere Ende zu erreichen. Durch die obere Öffnung als auch die untere fiel ein wenig Licht in den düsteren Schacht. Die Steine waren uneben festgemauert, wodurch Vivien sich einige Punkte suchen konnte, an denen sie sich mit den Füßen abstützte. Ein paar Male rutschte sie mit den Händen ab, doch zuletzt reichte ihre Hand über die Oberkante des Kamins. Sie zog sich nach oben und kletterte aus dem Kamin. Langsam blickte sie um sich. Wieso habe ich nie darauf geachtet, dass dieser Kamin nach unten offen ist, fragte Vivien sich. Sie blickte auf die Trümmer des Kronleuchters, der beim Wellengang zuvor heruntergestürzt war. Waren diese Scherben vorher verschwunden? Doch die Scherben und der Kamin waren völlig egal. Marion Letticeworth stand mit dem Rücken zu Vivien gerichtet in der Mitte der Halle.
Die Wut stieg in Vivien auf. Dies ist die Zeit. Du wirst für das büßen, was du getan hast, dachte sie zornig und schlich sich von hinten an, als sich eine dritte Stimme aus dem Dunkel vernehmen ließ. „Halt!“ Auch Marion hatte diesen Ruf gehört und drehte sich erstaunt um. Mary Riley trat von der Seite an die Szenerie heran.
Mary!“ rief Marion erstaunt. „Was tust du hier?“ Mary ging hinüber zu Vivien. „Ich werde helfen.“ Sie wandte sich an Vivien. „Sie wollen die Verstorbenen rächen? Das ist sehr edel, zumal sie damit die auf diesem Schiff gefangenen Seelen für die Ewigkeit erlösen würden. Aber haben sie sich überlegt, wie sie Marion besiegen wollen?“ Marion lachte laut auf. „Gar nicht! Sie können es nicht, sie törichtes Wesen! Hätten sie bloß auf meinen Rat gehört und sich aus allem herausgehalten!“ Vivien war empört. „Nein! Wie könnte ich? Sie haben mich da mit hereingezogen!“ „Diese junge Frau ist anders als die anderen, die du dahingemeuchelt hast“, sagte Mary. „Ihr Geist ist stark, er lässt sich nicht von dir bezwingen. Deshalb werde ich ihr helfen!“ Sie drehte sich wieder zu Vivien. „Haben sie noch den goldenen Skarabäus, mit dem sie Marions Zimmer betreten haben?“ Marion rief erschrocken dazwischen: „Mein Anhänger? Oh, wie konnte ich ihn nur aus den Augen lassen? Er war ein Leben lang mein Schutz!“ Spöttisch merkte Mary an: „Dein Anhänger? Dein Schutz? Schwesterchen, du hättest früher merken, dass er dein Ruin war! Natürlich, dein Mann hat ihn dir geschenkt, und du hast natürlich immer daran geglaubt, dass es dich beschützen würde. Hast du dich nie gefragt, woher der Skarabäus kam?“ Verwundert blickte Marion zu Boden. „Charles sagte, es wäre ein Geschenk des Dorfältesten gewesen, als Erinnerung.“ „Charles! Er war so leicht zu beeinflussen. Zeigen sie mir den Käfer“, sagte Mary zu Vivien. Sie holte das Schmuckstück aus ihrer Hosentasche. „Dieses kleine Amulett hat dein Mann von Kuneelah aus dem Dorf bekommen. Er hat dir nichts verraten, damit du nicht eifersüchtig wurdest. Ich wusste, dass er das tun würde und auch, dass er dir den Anhänger schenken würde. Ich war es, ich habe Kuneelah den Käfer gegeben, damit er letztlich bei dir landet. Er war als Notbremse gedacht, falls du auf die schiefe Bahn geraten solltest. Und jetzt ist es geschehen.“ Vivien hatte bisher ungläubig zugehört. Jetzt meldete sie sich zu Wort. „Aber was kann ihr dieses Amulett denn antun? Von welchem Nutzen ist es?“ „Es ist nicht das Amulett direkt“, meinte Mary. „Es ist der Zauber, der damit zusammenhängt! Marion, ist dir nie die Statue aufgefallen, die dort en der Wand steht?“ Sie zeigte zu einer Figur an der rechten Wand, die sich von den anderen unterschied. Sie zeigte einen Heiligen mit einem Schwert in der Hand. Vorher war sie Vivien nie aufgefallen, aber bei zweitem Hinsehen konnte Vivien sehen, dass sie aus Ton war. „Es ist die Figur, die du selbst bei uns im Dorf gefertigt hast.“ Mary nahm Vivien den Skarabäus aus der Hand. „Und nun wirst du durch dein eigenes Werk zugrunde gerichtet.“ Mary wandte sich zu Vivien. „Meine Zeit ist vorbei, es liegt jetzt an ihnen. Führen sie all unsere Seelen aus der Hölle heraus in die Erlösung!“ Mit diesem Worten streckte sie den Arm aus. Der Skarabäus bewegte sich etwas, als würde er leben. Dann flog er hoch in die Halle und direkt auf die Tonfigur zu. Er setzte sich auf das Schwert und fing an, hell zu glühen. Das Amulett verschmolz mit dem Schwert. Es wurde gleißend hell im Saal. Vivien spürte, wie eine Veränderung mit ihr durchging. Es war so hell, sie konnte nichts mehr sehen. Auch Marion war von dem Licht geblendet worden. Als es dann wieder dunkler wurde und ihre Augen sich wieder an die Umgebung gewöhnt hatten, sah Vivien, dass Mary verschwunden war. Noch erstaunter betrachtete sie sich selbst. Ihre alten Klamotten waren verschwunden, sie trug ein prächtiges, wallendes Gewand und eine goldene Tiara auf ihrem Haupt. In ihrer rechten Hand hielt sie das Schwert, das eben noch die Tonfigur zierte. Es war reich mit Edelsteinen bestückt und ziemlich schwer, doch Vivien spürte die Kraft durch ihren Körper fließen.
Marion inzwischen hatte sich ein Schwert einer der Figuren geschnappt. Sie ging auf Vivien zu und rief: „Verraten von meiner eigenen Schwester! Sie sind daran schuld und werden dafür bezahlen. En Garde!“ Sie erhob das Schwert gegen Vivien.
Ich habe keine Wahl, dachte Vivien. Sie hob das Schwert in die Höhe und ging forschen Schrittes auf Marion zu. Dabei fühlte sie immer wieder den abgrundtiefen Hass gegen diesen Menschen. Gegen dieses Wesen! Beide holten aus. Die Schwerter klirrten in der Luft. Vivien versuchte, Marions Hieben so gut sie konnte auszuweichen. Marion war eindeutig flinker. Vivien behinderte die Last des weiten Kleides, das sie trug. Dennoch gelang es ihr, mit einem Schwerthieb Marion zu entwaffnen. „Ah! Soll sie der Teufel holen, mich kriegen sie nie. Die Zeit ist bald abgelaufen!“ rief Marion und rannte zur Haupthalle hinaus. Vivien lief hinterher, das Schwert in der Hand. Sie musste sie erwischen, bevor die Uhr zwölf schlug. Sonst wären alle Bemühungen umsonst gewesen.
Das Loch vor der Tür in der Empfangshalle war verschwunden. Die Treppe nach oben lag jedoch noch immer in Trümmern. Vivien meinte überlegen: „Geben sie es auf, Marion. Sie sind gefangen. Sie ergeben sich besser.“ „Das glauben sie“, konterte Marion. „Sie haben es eben noch nicht verstanden, was es heißt, ein Geist zu sein!“ Mit diesen Worten schien sie sich in Luft aufzulösen. Sie war nach oben durch die Decke verschwunden. Ich habe das noch nie geschafft, dachte Vivien. Aber ich kann etwas anderes! Sie stellte sich direkt vor die zerstörte Treppe und konzentrierte sich. Ihr Blick wurde unscharf, langsam fiel sie in Trance. War es eine Treppe oder waren es zwei? Das Bild wurde derart verschwommen, dass Vivien nur noch eine intakte Treppe vor sich sah. Langsam wandelte sie eine Stufe nach der anderen hinauf, bis sie wieder vor der Tür zum Oberdeck stand. Sie versuchte wieder, klar zu werden und besinnte sich auf das, was vor ihr lag. Sie öffnete die Tür und betrat die Eingangshalle von Schloss Letticeworth, in der Marion stand und lauerte.
Vivien rief triumphierend: „Sie glauben, sie könnten alles. Sie denken, sie seien Gott, oder wie soll ich sie verstehen? Es wird Zeit, dass sie jemand auf den Boden der Tatsachen zurückholt!“ „Niemals! Das ist mein Schloss, sie dürfen mich hier nicht… Das würden sie doch nie tun! Es ist meine Heimat! Können sie denn nicht mit mir fühlen?“ „Konnten sie jemals mit den Menschen fühlen, die sie kaltblütig ermordet haben? Das kann es nicht gewesen sein, was ihr Sohn gewollt hat. Dass sie mit dieser Schuld noch nicht längst in der Hölle gelandet sind, wundert mich!“ Bei jedem dieser flammenden Worte kam Vivien einen Schritt auf Marion zu. „Hexe! Wie konnte ich nur so blind sein; ich hätte sie nie auf dieses Schiff gelangen lassen dürfen!“ So schnell, wie Marion dies gesagt hatte, drehte sie sich um und lief zur Freitreppe. Vivien hastete hinterher.
Marion flüchtet zum Turm, dachte sie. Dort gibt es keinen Ausweg mehr, dann habe ich sie!
Es war ein anderes Turmzimmer als zuvor, das Vivien schließlich erreichte. Dennoch schien es ebenfalls eine Leiter an der Außenseite zu geben, denn Vivien sah gerade noch, wie Marions Fuß vor dem Fenster baumelte. Sie lief zum Fenster. Das Schwert bewies sich beim Hinausklettern als sehr hinderlich. Dennoch schaffte sie es, die Waffe mit auf die Zinne zu schleppen. Dort stand sie Marion gegenüber. „Sie haben soviel Mut bewiesen“, sagte Marion. „Wofür tun sie das alles? Weshalb riskieren sie soviel? Mein Werk in der Welt ist bereits beendet, was veranlasste sie, sich dennoch auf meine Spur zu begeben?“ Sie klang sehr erschöpft und müde. Vivien antwortete: „Sie haben diese Menschen ermordet, ebenso wie mich. Ich weiß, was uns alle erwartet, wenn ich nichts unternommen hätte. All diese Seelen müssten in der Hölle landen. Ich habe die Qualen erlebt, die dieses Fegefeuer mir hier schon beschert hat. Es war so schrecklich, dass ich gar nicht daran denken darf, wie die Hölle ist. Ich möchte nur noch eines: Meine eigene Seele wie auch die anderen gefangenen in die Freiheit führen. Wenn ich ihnen schon das Leben nicht zurückgeben kann, so will ich doch zumindest verhindern, dass ihr Fluch, Marion, bis in alle Ewigkeit lastet.“ „Das ehrt sie“, sagte Marion. Sie schloss die Augen. „Ich bewundere ihren Mut, ebenso wie ihre Willensstärke. Sie sind ein starker Mensch. Wer weiß, wenn ich diese Kraft besessen hätte, vielleicht wäre das alles damals vor hundert Jahren nie passiert. Sie waren immer bereit, alles, was da harrte, auf sich zu nehmen. Damals, als sie auf diesem Turm standen, habe ich Eines von ihnen gelernt. Wenn es keinen Weg zurück gibt, nützt es nichts, sich zu verstecken. Man muss vorwärts schauen. Ich danke ihnen für diese Lektion!“ Mit diesen Worten Sprang Marion vom Turm in die neblige Tiefe. „Sie können nicht fliehen“, rief Vivien und sprang hinterher. Der Sturz schien endlos zu sein. Langsam lichtete sich der Nebel und die dunkle Nacht umhüllte Vivien. Ihre Silhouette zeichnete sich zauberhaft vor dem hellen Mond ab, das Kleid wallte durch die Luft. Sie landete auf dem Deck des Schiffes, ebenso wie Marion kurz zuvor. Marion lag wimmernd am Boden. Scheinbar war ihr Fall nicht so glatt verlaufen. Vivien ging zu ihr und richtete das Schwert auf sie.
Marion Letticeworth, sie haben verloren!“ Marion keuchte. „Ich gebe auf.“ In diesem Moment begann das Schiff, sich langsam aber sicher aufzulösen. „Die Zeit ist um“, stöhnte Marion. „Sie haben erreicht, was sie wollten. Ich hoffe, sie sind nun zufrieden. Ich war es nie.“ Ein seltsames Gefühl ging durch Vivien. Das Schiff begann, unscharf zu werden. Vivien merkte, wie sie selbst sich unwohl fühlte. Sie würde nun auch in die Ewigkeit verschwinden. „Sie waren nie zufrieden. Ein letztes Mal haben sie die Chance, das zu ändern. Eines habe ich auch von ihnen gelernt. Ein Leben für ein Leben. Der Tausch der Seelen! Ich werde dafür sorgen, dass auch sie ihren Frieden finden!“ Vivien ging zur Schiffsbrücke. Marion humpelte hinterher. Vivien stellte sich ans Steuerrad. „Wir werden tauschen. Ihren Körper gegen meine Seele. Ich werde Leben und sie endlich ihren Frieden haben. Das schwöre ich!“ Doch das Steuerrad ließ sich nicht bewegen, als Vivien es drehen wollte. „Und wie wollen sie meinen Körper finden? Dieses Schiff ist ein Wrack, es wird sich bald ins Nichts aufgelöst haben und sie gleich mit!“ meinte Marion. „Nein! Mary hat mich nicht umsonst unterstützt! Ich habe eine Macht erhalten, das ist mir bewusst geworden. Ich hätte es merken müssen, in dem Moment, als ich mein Bild verschwommen in der Galerie sah! Nun ist der Zeitpunkt gekommen, an dem ich diese Macht nutze.“ Vivien ging hinaus aufs Schiffdeck und zum Bug. Sie stellte sich an die Spitze des Schiffes und schaute aufs weite Meer hinaus. Dann schloss sie die Augen. Sie fühlte, dass sie den Anhänger von Charles Letticeworth um den Hals trug. Seine Hälfte des Anhängers. Die andere Hälfte hat Marion. Marions Körper. Ich werde ihn finden! Vivien öffnete die Augen, ließ den Blick über die See schweifen und konzentrierte sich.
Von Geisterhand erhob sich das Schiff in die Luft. Es leuchtete schwach und würde sich nicht mehr lange halten. Sie spürte, wie sie eins mit dem Schiff wurde. In der Luft drehte sich das Schiff und machte Fahrt. Vivien spürte, wie sie das Schiff steuerte, ohne dass ihre Hände das Steuer berührten. Sie stand allein an der Spitze der Letitia, die ihre letzte Fahrt vor dem gleißenden Mondlicht unternahm. Das lange Kleid wehte im Fahrtwind, während Vivien spürte, dass sie ihrem Ziel immer näher kam. Sie fühlte, dass es nicht mehr weit war. Marion kam langsam an die Spitze des Schiffes gekrochen. Sie sah, wie sich die Küste näherte. An einer Stelle konnte sie ein rotes Leuchten sehen. Auch Vivien vernahm es. Dort muss ich hin, spürte sie. Nach und nach versammelten sich auf dem Schiffsdeck alle Seelen der Opfer. Vivien brachte das Schiff in der Luft vor der Küste zum Stillstand. Alle konnten den riesigen Ring aus roten Flammen sehen, der den Körper Marions umgab. Vivien stieg vom Schiff in das Feuer hinab. Gleichzeitig trat Marion vor ihr geistiges Ich. Die beiden verschmolzen zu einem Geist wie alle anderen auf dem Schiff. Vivien drehte sich um und schaute zum Schiff. Bald würde es verschwunden sein. Sie blickte auf alle Seelen, die versammelt an Deck standen. Danke, dachte sie. Danke für eure Hilfe! Das Schiff drehte langsam ab. Noch immer umgab das Feuer Vivien. Ich wünsche euch Frieden, sagte Vivien in die Nachtluft und merkte, wie eine Träne über ihre Wange rollte. Sie schaute dem Schiff nach, das in Richtung Mondlicht flog. Es leuchtete immer schwächer.
Sie blieb stehen, bis sie nichts mehr sehen konnte. Dann drehte sie sich um.



Kapitel 13Epilog

Die Bewohner des kleinen Dorfes, dessen Namen sie nicht einmal aussprechen konnte, hatten so etwas noch nie gesehen. Natürlich waren alle sofort, als sie das seltsame Leuchten an der Küste sahen, herbeigeeilt. Aber sie hätten nie gedacht, dass jemand mitten aus diesem Feuer erscheinen würde. Vivien wirkte auf alle Anwesenden wie ein Geist, obwohl sie diesen Zustand hinter sich gelassen hatte. Sie war wieder Mensch, wieder zurück zu den Lebenden gekehrt. Weit am Horizont ging die Sonne auf und tauchte das Land in zauberhaftes Licht.
Nie werde ich vergessen, was an diesem Ort geschehen ist. Die Dorfbewohner werden es auch für immer in Erinnerung behalten. Ein altes Unrecht ist nun aufgeklärt und vernichtet worden. Die seltsamen Erscheinungen an der Westküste Englands werden ein Ende haben. Ich habe viel gelernt, in der Zeit, als ich tot war. Ich weiß nun, dass das Ende nicht, wie viele sagen, irgendwo geschrieben steht. Wer dieses Wissen in sich trägt, besitzt die Macht, seinen Weg selbst zu bestimmen. Ich hoffe, Marion hat ebensoviel von mir lernen können. Sie und all die anderen Toten haben nun endlich das Ziel erreicht, das sie ersehnten. Ihre Seelen sind in den Himmel aufgefahren. Schlussendlich bin ich froh, dass ich diese Erfahrung machen durfte. Ich habe etwas über mich, das Leben und die Ewigkeit erfahren. Ethan, Betsy und Jake werden lachen, wenn sie das hören, aber es ist wahr: Ich habe eine Lehre mitgenommen, die ihnen ewig vorbehalten bleiben wird.“ Vivien überlegte, bevor sie den Stift wieder ansetzte. „Aber vielleicht ist das alles auch nur Einbildung.“


Ende

Samstag, 17. März 2018

Secret of Mana (Hast Du Worte...!)

25 years - still amazing!

"HOPSE ist verbrüht."
"PHIGGY ist gezappelt."
"Nfufufu."

Das klingt wie totaler Unsinn. Ist es auch - aber ohne diesen Unsinn wäre mein Leben zu diesem Zeitpunkt um eine Nuance ärmer. Ich nehme mir heute ein wenig Zeit, um über ein Videospiel zu schreiben, das für mich etwas mehr als einfach nur ein Videospiel geworden ist - Secret of Mana (Seiken Densetsu 2, 1993). So albern die obigen Zitate klingen - und das darf man guten Gewissens den Übersetzern in die Schuhe schieben - so kommt man nicht um die Tatsache herum, dass viele Menschen dies als eines der besten Videospiele aller Zeiten betrachten. Das muss doch einen Grund haben, oder? Und was hat dieses Spiel damals mit mir angestellt? Hier ergibt sich endlich mal wieder eine Chance, ein Plädoyer für Videospiele zu bringen, die mittlerweile seit vielen Jahren im Ruf stehen, aggressiv zu machen und Amokläufe an Schulen zu motivieren, ignorant völlig ungeachtet anderer einflussgebender Faktoren.

1993 war ich zehn Jahre alt. Es muss dann, oder aber ein paar Jahre später gewesen sein, dass ich SoM auf meinem Super Nintendo Entertainment System gespielt habe - das SNES war damals ein Verkaufsschlager, der aus Japan kommend die Welt im Sturm erobert hatte. Videospiele waren damals noch nicht so weit verbreitet wie heute. Das war neu, wenngleich das NES oder der Gameboy vorweg gegangen sind und auch auf den PCs und Amigas dieser Welt Spiele immer mehr Fans gefunden hatten.

Damit begann das Abenteuer... (PS4-Version)

In SoM, einem klassischen RPG (role playing game), übernimmt man die Rolle eines namenlosen Jungen, der auszieht, um die Welt vor dem Untergang zu bewahren. Namenlos, klingt doof, war aber ziemlich genial - denn so konnte man sich selbst aussuchen, wie man seinen Helden nannte, solange dieser Name nicht länger als sechs Buchstaben war. Und so kam man dann auf Namen wie ÖTTI, DEIDÄH, PHIGGY, HOPSE, POMSAH und all' möglichem anderem Kram. Dazu kam, dass man nicht allein unterwegs war; im ersten Viertel des Spiels lernte man schnell zwei Begleiterinnen kennen, eine verwöhnte, sehr tussige Prinzessin und eine freche Koboldin, die unseren Helden damals mit "Hey, alte Socke!" begrüßte - was vom Helden dann kommentiert wurde mit "Alte Socke??? Ich heiße TRULLA!" - oder was auch immer man sich für Namen überlegt hatte.

Das war mehr als nur cool, denn diese Grundidee erlaubte, das Spiel zusammen mit einem Freund zu spielen - oder, und das war damals wirklich bahnbrechend, sogar zu dritt. Internet gab es damals nicht, MMORPGs hatte man noch nie gehört. Und das hat extrem viel Spaß gemacht - so habe ich damals mit meinen Nachbarinnen immer wieder gern die Welt gerettet, mit immer wechselnden Rollen. Mal habe ich den schwertschwingenden (oder Peitsche, oder Axt, oder jegliche andere der insgesamt acht Waffentypen) Helden gespielt, mal eine seiner Begleiterinnen, die über Magie verfügten.

Ganz neue Blickwinkel!

Das ganze Spiel hatte so Vieles, was dafür sprach. Was damals noch nicht so verbreitet war, und infolge des riesigen Erfolgs in Auszügen gern kopiert wurde. So gab es ein einfaches, trotz seiner Komplexität sehr schnell zugängliches Ringmenü, actionreiche Kämpfe, knallbunte Farben (auch das war damals ungewöhnlich und wurde sehr positiv aufgenommen), eine wunderschöne, abwechslungsreiche Spielmusik, eine dramatische Story, liebenswürdige Charaktere, vielfältige Landschaften...

...und die haben damals eben nicht meine Gewaltbereitschaft angeregt, sondern meine Fantasie. Ich habe Geschichten geschrieben, in denen ich die Welten oder Ereignisse aus SoM verarbeitet habe, weil mich das alles stark inspiriert hat. Ich konnte Stunden vor dem Bildschirm verbringen, ich konnte das Spiel mehrfach hintereinander spielen, ohne, dass es mir irgendwann langweilig wurde. Die unterschiedlichen Kampfstrategien, die Möglichkeit, den spielbaren Charakter während des Spiels frei zu wechseln, das ergab einen großen Wiederspielwert.

Dass das Spiel jetzt fünfundzwanzig Jahre auf dem Buckel hat, macht es keineswegs altmodisch oder gar langweilig. Im Gegenteil: Es war eines der ersten Videospiele, die ich mit der großen Buba zusammen gespielt habe, und sie war begeistert. Wir hatten so viel Spaß daran, immer daneben zu hauen ("Nicht auf den Busch schlagen!" - "Nicht in's Wasser laufen!" - "Geh' endlich tot!" - "Oh deidäh, ich bin Steidäh!" - "Kist-HÄH? Dei-DÄH!"), und genau so ging es damals auch meinen Nachbarinnen.

Die oben genannten Faktoren haben dafür gesorgt, dass das Spiel auch heute noch bei vielen Kritikern auf der Liste der besten Videospiele ganz weit oben erscheint. Grund genug, dass ein paar Entwickler sich entschieden haben, das Spiel fünfundzwanzig Jahre später neu aufzulegen, in einer hochauflösenden Version in 3D für die PS4 und den PC. Dass das Spiel meine Jugend so intensiv geprägt hat, hat dazu geführt, dass ich flammend voller Vorfreude auf die Veröffentlichung dieses Remakes gewartet habe und natürlich äußerst kritisch damit in's Gericht gegangen bin. Zeit für ein kleines Resümee.

Neue optionale Outfits ;-)

Grafik

Genau wie früher sind die Farben in der modernen Version knallbunt, lebhaft und strahlen einem entgegen. Es ist schön zu sehen, dass die Entwickler sich nicht für einen hyperrealistischen Stil entschieden haben - auch wenn dieser Faktor bei manchen Spielern zu viel Kritik geführt hat, denen die neue Grafik nicht genügend aufgemotzt war. Ich persönlich finde es eine gute Entscheidung, dass man nicht zuviel verändert hat. Die schönsten Überraschungen stecken in den kleinen Details: Die Zauberanimationen sind noch funkelnder und vielfältiger als im Original geworden. Die Gestaltung der Oberwelt, die man ab Erhalt des Flugdrachens bereisen kann, ist schöner und detaillierter geworden. Was ich dagegen vermisse, sind die Flüge mit den Canoni-Brüdern. Es gibt sie immer noch, allerdings sieht man nicht mehr, wie man von Punkt A hoch durch die Luft nach B geschleudert wird, mit einem flüchtigen Blick über die Weltkarte. Ich fand das damals immer ganz aufregend. Für mich überwiegen die positiven Faktoren in der Neuauflage, das brillantere Wasser, die detailliertere Ausgestaltung der insgesamt zweiundsiebzig verschiedenen Waffen (acht Typen in je neun Versionen), die Gestaltung der Gegner.

Die Koboldin - damals und heute

Sound

Hier sind die größten Neuerungen zu verzeichnen. Zunächst einmal wurde der gesamte Soundtrack neu eingespielt. Viele Stücke klingen wesentlich tiefer, umfangreicher orchestriert, teilweise nicht ganz so aufdringlich wie im Original. Hier scheiden sich die Geister; zum größten Teil gefallen mir die neuen Stücke sehr gut, es gibt aber auch Situationen (wie z.B. die Manafestung), in denen mir das Original besser gefallen hat. Allerdings hat man im während des Spiels jederzeit frei zugänglichen Optionsmenü die Möglichkeit, zweischen der Originalmusik und der des Remakes zu wechseln, ein netter Touch. Die Soundeffekte sind wesentlich umfangreicher gestaltet worden. So wird der Auftritt jedes Elementargeistes mit passenden Geräuschen versehen, die Zauber sind aufwendiger ausgestaltet.

Die einschneidendste Veränderung findet sich allerdings in der Sprachausgabe. Damals, 1993, konnte man von so etwas nur träumen, und so wurden alle Unterhaltungen ausschließlich in Textform dargestellt, wobei man immerhin in der Ausgestaltung der Textfenster Veränderungen vornehmen konnte. In der neuen Version sind sämtliche Textzeilen in japanischer und englischer Sprachausgabe enthalten. Das betrifft nicht nur die plotrelevanten Unterhaltungen, sondern jeden noch so kleinen Nebencharakter. Das ist einfach toll mitzuerleben und gibt dem Spiel wesentlich mehr Pep, gerade durch die Verwendung der Stimmen im Kampf. Man darf allerdings die Wahl der Sprecher in Zweifel ziehen. Ein paar (der englischen Sprecher) machen ihren Job recht gut, viele allerdings klingen unmotiviert und für die jeweiligen Charaktere unpassend besetzt. Wenn man darüber hinwegsehen kann, hat man allerdings sehr viel Spaß an den mit deutlich mehr Humor aufgemotzten Unterhaltungen.

Auch hier der Vergleich zwischen Remake und Original

Gameplay

Im Wesentlichen hat sich am Gameplay nichts geändert. In der Neuauflage hat man die Wahl, von jedem Gegenstand vier, acht oder zwölf Items mitführen zu können; im Original war das Maximum auf vier festgelegt, was damals den Schwierigkeitsgrad je nach Spielererfahrung etwas erhöht hat. Das macht die Neuauflage zu einem deutlich einfacheren Spiel; überhaupt hatte ich den Eindruck, dass sehr viele Kämpfe leichter geworden sind als damals. Allerdings hat man den Schwierigkeitsgrad auch selbst gut unter Kontrolle: Wer alle Waffen und Zauber so früh wie möglich so weit wie möglich auflevelt, der wird das Spiel ohne große Probleme beenden. Wer schneller durchgeht, könnte hier und da Probleme bekommen. Mich hat der leichte Schwierigkeitsgrad nicht gestört, aber es finden sich viele Stimmen im Internet, die daran Anstoß nehmen.

Eine fantastische Neuerung sind die Plaudereien der drei Hauptfiguren. Fast jedes Mal, wenn man in einem Hotel übernachtet, führen sie ein kleines Gespräch vor dem Schlafengehen. Das können plotrelevante, ernsthafte Unterhaltungen sein, oft aber dienen sie als comic relief und zur Charakterisierung der Figuren, indem die Prinzessin wie eine sehr verwöhnte Göre rüberkommt und die Koboldin als rotzfreches Ding. Ich bin jedenfalls davon sehr begeistert; vor allem gen Ende des Spieles tauchen in diesen Unterhaltungen sehr viele tongue in cheek-Sprüche auf, Kommentare zur eigenen Neuauflage des Spiels oder sarkastische Anmerkungen zu Kritikern des Originals und weiteres. Hierzu gebe ich keine Beispiele; es macht sehr viel Spaß, das selbst zu entdecken.

Ich bin sehr zufrieden, dass die letzten Waffenorbs, die sich durch Besiegen von Gegnern in der Manafestung finden lassen, diesmal einfacher zu bekommen sind. Ich weiß noch genau, wie ich damals Stunden gebraucht habe, um nur eine einzige Waffe zu ihrer stärksten Form zu verbessen, und ich hatte es nie geschafft, die Axt auf das Maximum zu bringen. Diesmal geht das einfacher.

Außerdem finde ich es gut, dass diesmal die Zusatzeffekte mancher Ausrüstungsgegenstände angezeigt werden - wenn diese zum Beispiel vor Zustandveränderungen schützen können. Auf diese Weise achtet man nicht immer nur darauf, welche Teile den höchsten Abwehrwert bieten, sondern kann sich vor Attacken der Gegner besser schützen.

Ich finde es etwas schade, dass die Entwickler nicht die Chance genutzt haben, zusätzliche Spielinhalte hinzuzufügen, wie zum Beispiel einen post game content oder new game plus. Diese Entscheidung mag einher gegangen sein mit dem Beschluss, nicht allzu viel am Originalcharakter zu ändern (was sich, wie gesagt, auch in der Grafik widerspiegelt) - ich hatte allerdings tatsächlich mit irgend einem Zusatz gerechnet.

Es macht einen Riesenspaß, die hübschen Orte zu erforschen!

Was mich begeistert, ist die Autosave-Funktion, die bei Spielen seit einigen Jahren immer populärer geworden ist. Noch immer hat man die Möglichkeit, bei Übernachtungen einen Speicherstand anzulegen, aber wann immer man eine Region wechselt, wird zusätzlich ein automatischer Speicherstand angelegt. Das schützt vor Frust und ist zu diesem Zeitpunkt absolut notwendig, denn...

...ein großes ABER!

Leider ist die Neuauflage komplett verbugt. Ein erstes Update ist bereits zur Verfügung gestellt worden, aber noch immer stürzt das Spiel mit recht hoher Frequenz ab. Man sollte mit einem Neustart alle halbe Stunde rechnen. Das kann extrem frustrierend sein und verärgert vollkommen zu Recht die Fangemeinde da draußen. Ich hoffe, dass durch die sehr vielen Rückmeldungen (die bei einem Absturz direkt an die Entwickler gesendet werden können) das Team bereits mit Hochdruck an Lösungen arbeitet und bald weitere Patches erscheinen, die diese Abstürze verhindern können. Gerade aus diesem Grund bin ich heilfroh, dass es die Autosave-Funktion gibt und man nie viel Spielfortschritt verliert.

Fazit

Secret of Mana gilt nicht umsonst als eines der besten Videospiele, die je entwickelt wurden. Ich finde, dass durch die Neuauflage dieser Ruf noch zementiert wird. Ich bin sehr begeistert, hatte verdammt viel Spaß beim Durchspielen, bin durch die Sprachausgabe noch tiefer in die emotionale Geschichte hineingezogen worden, habe die zusätzliche Charaktertiefe genossen. Die Systemprobleme nerven, das ist klar, und werden hoffentlich bald behoben werden. Aber ich freue mich schon jetzt riesig darauf, die Neuauflage mit der großen Buba zusammen zu spielen und wieder das ganze Haus gründlich durchzuspülen.

Nfufufu!

post scriptum: "Kist-HÄH?!"

Freitag, 16. März 2018

Das Schiff in der Nacht (Dritter Tag)


Kapitel 9Verwirrung

Vivien wachte wieder in ihrem Bett auf. Sie wollte gar nicht wissen, wie sie dorthin gekommen war. Außerdem war etwas ganz anderes nicht in Ordnung.
Sie hatte keine Ahnung, was es war. Ein seltsames Gefühl beschlich sie dennoch. Irgendetwas ist hier faul. Vivien stand auf und schaute sich in ihrem Zimmer um. Nichts war zu erkennen. Sie schaute durch das Bullauge. Die See war ruhig. Verdächtig ruhig. Es war sogar richtig mild draußen geworden. In ihrem Zimmer war es gemütlich warm. Fast ein bisschen zu warm, dachte Vivien. Dann stutzte sie. Eine schlimme Vorahnung bahnte sich ihren Weg zu Viviens Verstand. Mit einem Satz war Vivien bei ihrer Tür. Sie hatte sich nicht geirrt. Vom Flur schlugen ihr dichte Flammen entgegen. Irgendwo war ein Feuer ausgebrochen. Ich muss vom Schiff, bevor ich mit verbrenne, dachte Vivien in Panik. Ihr Herz schlug schneller. Was soll ich tun, hämmerte es immer wieder in ihren Gedanken. Nur weg hier!
Der Fluchtweg nach rechts war durch das Feuer versperrt, so dass sie nach links Richtung Heck flüchten musste. Alle Türen waren verschlossen, nur der Hinterausgang ließ sich öffnen. Vivien rannte hindurch und stolperte in die Halle. Bis hierhin war das Feuer noch nicht vorgedrungen, doch stellte sich ihr ein ganz anderes Problem in den Weg: Das Schiff musste ein Leck haben. Vom Gitter, das nach unten führte, drang Wasser langsam, aber sicher in den Raum. Vivien hastete zur anderen Flurtür und wollte durch den zweiten Korridor die Flucht antreten. Je näher sie der Empfangshalle kam, umso heißer wurde es. Vivien fürchtete, sie würde zusammenbrechen. In diesem Flur brannte es noch nicht. Sie öffnete die Vordertür und stürzte in ein Flammenmeer. Das Feuer verzehrte alles Brennbare, Tische und Stühle waren ebenso in Flammen aufgegangen wie das Geländer der Haupttreppe. Die Bilder an den Wänden waren schwarz. Vivien hielt sich einen Arm vor das Gesicht und lief die Treppe hinauf. Als sie ans Oberdeck trat, bot sich ihr ein Bild des Grauens. Die Segel brannten lichterloh, die Flammen schlugen von den Kistenstapeln meterhoch gen Himmel. Das Heck inzwischen neigte sich immer tiefer, das Wasser musste wahnsinnig schnell in das Schiff dringen. Ein Krachen ließ Vivien aufhorchen. Was war jetzt los? Langsam drehte sie sich um. Sie sah gerade noch, wie der vordere Mast knickte. Sie wollte wegrennen, doch es war zu spät. Der Mast brach ein und stürzte mit einem gewaltigen Getöse auf sie nieder.
Sie riss die Augen auf. Was ist los! Sie starrte plötzlich an die Decke ihres Himmelbettes, spürte noch immer, wie ihr Puls raste. Dann schaltete sich ihr Gehirn ein. Vivien, beruhige dich, es war ja nur ein Alptraum, sagte sie sich. Doch sie konnte nicht wissen, dass der wahre Alptraum erst mit ihrem Erwachen begonnen hatte.
Sie schlug die Decke zurück und setzte sich auf. Schlaftrunken wankte sie hin und her. Ich muss erst mal richtig wach werden, sonst komme ich gar nicht mehr zurecht. Ich brauche frische Luft, dachte sie und stand auf, um das Fenster zu öffnen.
Die ersten Schritte fielen ihr ziemlich schwer. Sie taumelte von hinten nach vorne, von einer Seite zur anderen. Auch konnte sie kaum ein klares Bild ihrer Umgebung machen. Es schien ihr, als hätte sie zu viel getrunken. Aber ich trinke doch grundsätzlich nie so viel. Warum habe ich denn einen Brummschädel? Vivien sah, dass das Zimmer sich grundlegend verändert hatte. Mal wieder war das Bullauge verschwunden und stattdessen eine Tür dort. Aber auch an jeder der anderen Wände war eine Tür. Die ganze Einrichtung schien außerdem Kopf zu stehen. Alles war an der Decke festgemacht. Nichts fiel herunter, alles war an seinem Platz. Oder war sie selbst es, die Kopf stand? Vivien versuchte sich zu konzentrieren. Es gelang ihr beim besten Willen nicht. Ihre Beine wurden weich, sie wollte sich auf das Bett zurücksetzen, doch selbst das hing jetzt an der Decke. Bis auf eine Tür waren alle Ausgänge verkehrt herum angebracht. Sie konnte sie nicht öffnen, da sie zu klein war, um an die Griffe zu reichen. Was ist bloß mit mir los? Plötzlich wurde es vor ihren Augen ganz bunt. Sie konnte sehen, wie alle Personen, die sie bisher in ihren Ermittlungen kennen gelernt hatte, in einer Reihe standen und nacheinander von einer schwarzen Gestalt erstochen wurde. Dabei trugen alle ein Lächeln im Gesicht, während sie ins Nichts stürzten. Denk dir nichts dabei, Vivien. Ich bin ein Geist, und jemand anderes auch. Dieser Jemand spielt mir das alles vor, um mich zu verwirren. Ich werde mich einfach auf den Boden legen und versuchen, zu schlafen. Dann wache ich wieder auf, wenn alles normal ist, hoffte sie; als sie sich aber hingelegt hatte, wollte es ihr nicht gelingen, einzuschlafen. Sie fühlte sich unendlich müde und hatte schreckliche Kopfschmerzen. Sie wälzte sich hin und her, doch es wollte nichts nützen. Sie ging im Raum auf und ab, so gut sie konnte, doch vor lauter Verwirrung taumelte sie unkontrolliert durch den Raum, stieß gegen die Wände und fiel mehrmals hin.
Nach einiger Zeit des Stolperns und Wälzens, die Vivien wie eine Ewigkeit vorkam, merkte sie erschrocken, wie die Luft zum Atmen knapp wurde. Sie musste husten. Ich werde hier zu Tode gefoltert, dachte sie. Ach was, ich bin ja schon tot. Im selben Moment verfluchte sie ihren Galgenhumor. Was sie zu erleiden hatte, war schlimmer als der bloße Tod. Es gab hier doch eben noch eine Tür, die normal aussah, wo ist sie doch gleich? Vivien drehte sich im Kreis, schien sich endlos zu drehen, bevor sie die Tür fand. Ihr wurde schwindelig und sie kroch auf allen Vieren zur Tür. Mit der rechten Hand langte sie nach dem Knauf und zog sich daran hoch. Auf halbem Wege gab dieser jedoch nach und brach aus der Fassung heraus. Vivien sackte wieder zu Boden. In ihrer Hand hielt sie den runden Messingknauf. Verdammt! Was soll ich denn jetzt machen? Aus lauter Verzweiflung nahm Vivien sich vor, die Tür aufzubrechen. Sie stand auf und ging zur gegenüberliegenden Wand. Dann nahm sie, so gut es ging, Anlauf. Sie zielte mitten zwischen die beiden Türen, die vor ihrem Auge verschwammen, sich dann wieder vereinigten und auf einmal in vier Türen auseinanderbrachen. Dann ließ sie sich einfach nach vorne fallen. Ihr wurde schwarz vor Augen, aber sie wurde nicht ohnmächtig. Sie spürte, wie sie mit der linken Schulter vorweg gegen das Holz krachte. Es schien ein wenig nachzugeben. Doch damit war die Tür nicht geöffnet. Obwohl ihr mittlerweile alles wehtat, sie Sterne vor den Augen sah und noch immer wankte, versuchte Vivien es ein zweites Mal auf die gleiche Methode. Dieses Mal fiel die Tür zusammen mit ihrem Körper in einen Flur hinein.
Vivien blickte langsam auf. Sie wischte mit dem Ärmel die Haare aus dem Gesicht und versuchte, Einzelheiten zu erkennen. Ihr war sterbenselend zumute. Sie befand sich wieder in dem Korridor, an dessen Ende sie die Leichen von Tim und Sally gefunden hatte. Es muss wohl sein, dachte sie und richtete sich mühsam auf. Mit zitternden Knien tastete sie sich an der Wand entlang, um nicht umzufallen. Am Ende des Flures stieg sie die lange Treppe hinunter, stolperte dabei und fiel die letzten Stufen hinab.
Als Vivien wieder zu sich kam, sah sie direkt neben ihrem Kopf die Axt liegen, die sie damals hatte fallen lassen. Sie wollte aufschreien, doch sie war zu schwach dazu. Ihre Stimme versagte. Zwar war sie nur noch zu wenigen klaren Gedanken fähig, dennoch wusste sie, dass sie mit der Axt die anderen Türen in ihrem Zimmer einschlagen könnte. Trotz Schweißausbrüchen gelang es ihr, die Axt hinter sich herzuziehen, während sie den Flur zurückkroch. In ihrer Kabine angekommen konnte sie alles nur noch schemenhaft erkennen. Sie erhob die Axt und schlug auf die erste Holztür ein. Nach mehreren Schlägen, zwischen denen Vivien sich immer wieder ausruhen musste, hatte sie ein genügend großes Loch in die erste Tür geschlagen. Sie kroch hindurch, blieb dabei aber an einem Nagel hängen, wodurch ein langer Riss in ihre Hose geriet. Auch ihr rechtes Bein blieb dabei nicht unversehrt. Sie spürte einen stechenden Schmerz. Vivien, du darfst jetzt nicht aufgeben. Vielleicht kommst Du hier weiter, hoffte sie. Der Raum, in den sie gelangte, war jedoch eine Enttäuschung. Er war quadratisch und hatte keine Einrichtung. Gegenüber der Tür hing, natürlich verkehrt herum, als einziges die große Uhr aus der Halle an der Wand. Sie tickte noch immer, das Ticken war jedoch unerträglich laut, wie eine kleine Explosion, die Vivien immer wieder aufs Neue durch Mark und Bein ging. Schnell verließ sie die Kammer, verfolgt von den Schlägen der Uhr. Zurück in ihrer Kabine bemerkte sie die Wunde an ihrem Bein. Es war nur ein Ratscher, brannte aber unglaublich stark.
Sie nahm alle Kraft zusammen und warf die Axt auf die zweite Tür. Zu ihrer Verwunderung war sie nicht verschlossen, sondern sprang sofort auf. Vivien blickte in einen schwarzen Raum. Alles ist besser als dieses Chaos hier, dachte sie und ging hinein. Ihre Kopfschmerzen wurden immer stärker und in ihren Schläfen hämmerte das Blut. Vivien fand sich in einem Gerichtssaal wieder. Zeugen sprachen vor, der Richter hatte das Wort. „Zeugin Victoria Norton! Wer hat sie ermordet?“ Victorias Geist antwortete: „Ich weiß es nicht, ich habe nur einen Arm gesehen, als er mich würgte!“ „Zeuge Charles Letticeworth, wer hat sie ermordet?“ Victorias Geist verwandelte sich in den Kapitän. „Ich habe nur die Silhouette erkennen können, als ich mich umdrehte.“ „Zeuge John Waters, wer hat sie ermordet?“ Der Reporter erschien im Zeugenstand. „Er hat mich zu Boden geschlagen, ich könnte nur seine Schuhe sehen.“ „Diese zeugen sind doch zu nichts zu gebrauchen, haben alle nur eine Kleinigkeit gesehen, das nützt nichts. Zeugin Vivien Gloom, wer hat sie ermordet?“ Der Richter zeigte mit dem Finger bedrohlich auf Vivien. Sein stechender Blick war unerträglich. „Ich weiß es nicht“, hörte sie sich sagen. „Der Fall ist abgehakt. Die Verhandlung wird wegen Unzurechnungsfähigkeit geschlossen.“ Der Richter schlug mit dem Hammer auf Viviens Kopf, sie taumelte und fiel zu Boden. Es war der Boden ihrer Kabine. Ich kann nicht mehr. Ich gebe auf, dachte sie. Es war kaum noch Atemluft in ihrem Zimmer. Sie nahm die Axt und schlug auf eine der Wände ein, in der Hoffnung, nicht ersticken zu müssen. Bei ihrem ersten Schlag riss sie ein großes Loch in die Wand. Die Axt fiel hinaus ins Meer und versank dort. Sie hatte eine der Außenwände des Schiffes getroffen. Frische Seeluft strömte ins Zimmer. Es war noch immer Nacht, der Mond am klaren Himmel spiegelte sich auf dem leicht gekräuselten Wasser wider. Vivien, die total erschöpft auf dem Boden lag, schloss die Augen und atmete begierig die kühle Luft ein.
Sie spürte, wie ihre Lebensgeister zurückkehrten. Langsam verschwand die abgenutzte Luft aus der Kabine. Als Vivien merkte, wie ihre Sinne zurückkehrten, sah sie, wie auch in ihrem Zimmer bis auf ein großes Loch in der Außenwand wieder alles normal war. Die Einrichtung stand wieder auf dem Boden und alle Türen waren verschwunden. Nur die Ausgangstür war wieder an ihrem Platz. Gerettet, dachte sie. Jemand hat versucht, mich zu ersticken. Daher meine Wahnvorstellungen. Es wird Zeit, dass ich etwas unternehme. Ich werde jetzt dieses Schiff von oben nach unten nach Hinweisen absuchen. Es bleibt nicht mehr viel Zeit, das habe ich eindrucksvoll bemerkt. Mit Schaudern dachte Vivien an die hämmernden Schläge der großen Uhr.
Sie verließ ihre Kabine. Draußen auf dem Korridor überlegte sie – wo fange ich an? Ich werde zuerst das Deck und die Brücke untersuchen. Dann mache ich einen Rundgang über das Unterdeck. Vivien ging zur Empfangshalle. Sie blickte sich um. Alle Schrecken der letzten Stunden schienen vergessen zu sein. Nichts deutete darauf hin, dass eventuell ein anderes Schiff die Letitia gerammt haben könnte oder dass ein Feuer ausgebrochen wäre. Es war alles so wie bei ihrer Ankunft. Vivien genoss das Gefühl, wieder sicher gehen zu können. Auch die Kopfschmerzen waren verschwunden. Mit Entsetzen dachte sie im selben Moment daran, dass all die armen Seelen, die dieses Schiff bevölkerten, seit Jahren dieses Spiel mitmachen mussten. Höllenqualen, nur um danach zu sehen, dass alles wieder normal war.
Vivien ging um die Haupttreppe herum. Tatsächlich, die Tür zum Funkraum war noch immer da. Die Tür an der gegenüberliegenden Wand war allerdings verschwunden. Sie war also nur Illusion gewesen. Langsam ging Vivien die Treppe hinauf. Oben angekommen musste sie allerdings zu ihrer Überraschung feststellen, dass die Tür aufs Deck verschlossen war. Sie hatte sich auch sehr verändert. Wo vorher eine schlichte Holztür war, versperrte nun eine massive Eichentür mit Eisenbeschlägen den Durchgang. Ein großes Schlüsselloch ließ keinen Zweifel daran, dass irgendwo ein Schlüssel zu finden war. Nur wo?

Kapitel 10Klarheit?

Resignierend stieg Vivien die Treppe wieder hinab. Ihre Nachforschungen mussten also unten beginnen. Sie nahm sich vor, zuerst den linken Korridor hinabzugehen. In der Empfangshalle fand sich nichts, was Aufschluss über eine Mordserie hätte geben können. Unberührt und unversehrt standen alle Tische und Stühle dort, als warteten sie auf den großen Besucheransturm. Vivien öffnete die Tür zum Flur.
Auf geht’s, dachte sie, während sie die erste Tür zu ihrer Linken öffnete. Dies schien der einzige Raum zu sein, der sich nie veränderte. Noch immer stand er bis oben hin vollgestopft mit Koffern und Taschen. Es wird Stunden dauern, das alles durchzusehen. Ich schaue erst in den anderen Räumen nach, ob ich etwas finde. Dieses Zimmer wird dann die letzte Möglichkeit sein. Sie musste wieder niesen. Außerdem hasse ich den Staub! Mit diesen Gedanken zog sie die Tür hinter sich etwas schwungvoller zu, als sie es eigentlich gewollt hatte. Sie schritt den Gang hinab. Als sie an der Stelle vorbeikam, an der einst die Tür zur Kapitänskajüte ihren Platz hatte, klopfte sie die Wand ab. Nichts war zu hören, der Raum war verschwunden. Im Notfall könnte sie ja den Spiegel wieder zurückhängen. An ihrer eigenen Kabine ging sie vorbei, nicht ohne einen verächtlichen Blick auf das Messingschild zu werfen. „Vivien Gloom, Reisende“ Pah, von wegen Reisende. Ich werde hier gereist! Von meinem Zimmer habe ich erst einmal genug! Beim Weitergehen fiel ihr auf, dass sie noch nie das nächste Zimmer in Augenschein genommen hatte. War es verschlossen? Weshalb konnte sie es damals nicht betreten? Die Tür schien einladend, sie war ein wenig nach innen aufgeschwungen. Natürlich! Hier hingen vorher unendlich viele Vorhänge. Vivien schaute an die Tür. „Kabine 4b, Mary Riley, Klägerin“ Nachdem Vivien die Kabine betreten hatte, baute sich vor ihr eine Rauchwolke auf. Darin erschien ein weiterer Geist, eine Frau mittleren Alters, die Marion Letticeworth nicht unähnlich war. „Marion, sind sie das?“ fragte Vivien.
Nein, sie Dummchen. Wer sollte wohl in diesem Zimmer hausen? Ich bin es, Mary Riley.“ Als sie diesen Namen hörte, fing Vivien an zu rasen. Mit Mühe und Not hielt sie ihre Stimme im Zaum, als sie sagte: „Aha, sie waren es also, die Mrs Letticeworth des Mordes an Victoria Norton und Daniel Baker beschuldigt hat! Was haben sie sich dabei gedacht? Und woher haben sie von dem Unfall wissen können, es war doch alles geheim?“ Mary Riley schien verwirrt. „Meine Beste, ich bin mir nicht im Klaren, wie sie ihre Schlüsse ziehen. Dennoch würde ich gerne versuchen, ihnen zu erläutern, was am 7. Oktober 1902 passiert ist. Das ist es doch, worauf sie hinauswollen, oder?“ Vivien reagierte empört. „Halten sie mich nicht für dumm. Am 7. Oktober wurden Baker und Norton ermordet. Einen Monat nach Letticeworth. Soviel weiß ich bereits.“
Mary lächelte süffisant. „Was sind sie doch unkonzentriert. Sind sie etwa so wütend auf mich? Was habe ich denn getan? Ich meinte den 7. Oktober 1902, nicht 1903. Genau ein Jahr vorher. Der Kapitän befand sich auf der Rückreise aus Afrika. An Bord des Schiffes befanden sich sein Sohn Cedric, das Liebespärchen, die Crew und... ich.“ Vivien wusste nicht, was sie sagen sollte. Mary fuhr fort. „Und gerade deshalb kann ich ihnen sagen, was geschehen ist, bevor sie als Außenstehende mit blinden Vermutungen um sich werfen.“ Vivien warf hastig ein: „Sie bezeichnen mich also als Außenstehende? Ich bin, falls sie es nicht bemerkt haben, ebenfalls ermordet worden. Damit stecke ich ja wohl genau so tief in der Sache drin wie sie. Ich will ihnen mal was sagen. Ich habe mit Victoria Nortons Geist gesprochen. Sie sagte mir, dass ich das Rätsel um dieses Schiff lösen könnte. Deshalb bin ich jetzt auf der Suche nach dem wahren Mörder und habe bereits ein paar Spuren.“ Wieder war es Mary, die bemitleidend lächelte. „Sie denken wohl, das bisschen Papier, das sie hier auf dem Schiff finden, seien Anhaltspunkte? Ich bitte sie! Hören sie mir zu, was ich sage, ist die Wahrheit und nicht so ein Geschwafel, was sie lesen. Sie scheinen also zu wissen, dass Cedric ertrunken ist. Victoria und Daniel haben nicht auf ihn aufgepasst und damit eine Straftat begangen. Ein Jahr später werden sie ermordet. Klarer Fall für uns, aber die Polizei wusste ja nichts von Cedrics Unglück. Da vorher noch Charles Letticeworth starb, ergab sich für die Polizei ein schwieriges Rätsel. Ich habe die Behörden auf die Spur des Unfalls gebracht und damit auf Marion Letticeworths Fährte angesetzt. Soll ich ihnen sagen, warum? Aus reinem Mitgefühl!“
Vivien schwieg. Das alles erschien ihr wenig glaubwürdig. „Es ist vielleicht schwer für sie, das zu glauben. Sie lebten im 21. Jahrhundert, da herrschen andere Sitten. Aber ich will sie mal auf Marion Letticeworth am 10. Oktober 1902 aufmerksam machen. Sie war ein nervliches Wrack, als ihr Mann ihr mitgeteilt hatte, dass ihr einziger geliebter Sohn gestorben war. Das Familienglück war dahin!“ Vivien dachte an die Notizen der Letticeworths. Es war grauenhaft, dass dieses tragische Unglück die Familie derart ruiniert hatte. Keine Spur von Freude war mehr zu finden. Vivien zog Charles´ Notiz aus ihrer Tasche und überflog sie. „Ich will unsere gemeinsame Zeit in Afrika niemals vergessen, sie ist das Einzige, das mir noch bleibt… Dies ist mein letzter Wunsch, damit ich all diese schrecklichen Ereignisse endlich hinter mir lassen kann.“ Mary meldete sich zu Wort. „Sie sehen, dass es die Familie zerstört hat. Mann und Frau lebten sich immer weiter auseinander. Stellen sie sich dann Marion vor, nachdem auch noch ihr Ehemann gestorben war! Und nun überlegen sie, was aus der Frau geworden wäre, wenn auch noch der Mob hinter ihr her gewesen wäre! Man hätte Nachforschungen angestellt, alles, was Marion lieb und teuer war, auf den Kopf gestellt und in ihrer Vergangenheit herumgewühlt. Es hätte sie vollends zerstört. Ich habe der Polizei den Tipp gegeben, damit Marion all diese Qualen nicht erleiden musste, sondern ihren ewigen Frieden hatte.“ Vivien wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und sagte: „Und durch ihre Aussage ist Marion hingerichtet worden. Zu Unrecht, während der wahre Mörder noch herumläuft. Sie sind Schuld, dass wir auf diesem verfluchten Schiff gefangen sind. Vielleicht für ewig.“
Mary senkte den Blick. „Nicht für ewig, wie sie vielleicht schon gesehen haben. Nicht mehr lange, und unser Schicksal ist besiegelt. Sie müssen den Täter finden. Ich kann ihnen nur sagen, dass Marion es nicht war. Ich habe sie beschuldigt, um sie zu befreien. Ich konnte nicht wissen, welch Auswirkungen mein Handeln haben würde. Halten sie mich nicht für eine schlechte Person, ich bitte sie! Versuchen sie zu verstehen, was ich getan habe!“ „Ich kann nicht verstehen, weshalb sie sich solche Sorgen um eine Fremde gemacht haben.“ „Eine Fremde? Haben sie sich eigentlich schon einmal gefragt, wieso ich überhaupt auf der Überfahrt nach England war? Sind sie nicht stutzig geworden, als ich ihnen sagte, dass auch ich auf dem Schiff war? Marion Letticeworth war nicht irgendeine Fremde. Das hätten sie sich auch denken…“ Noch bevor Mary den Satz beenden konnte, wurde sie hinfort gezogen. Mit einem Rauschen verschwand ihr Geist und wirbelte eine dicke Staubschicht vom Boden auf. Ein Blatt Papier wurde von einem Tisch geweht und flog Vivien direkt in die Arme. Von den jüngsten Enthüllungen total überrannt ließ sie den Blick über das Blatt wandern.
An den unbekannten Leser dieses Briefes! Sie haben großes Glück, dass Sie diese Nachricht erhalten haben, denn ich habe sie bereits als Geist geschrieben, und so wie das Zusammentreffen von Geistern unwahrscheinlich ist, gilt das auch für die Besitztümer der Geister. Mein Name ist Mary Riley. Ich will nicht viel Wirbel um meine Person machen. Ich wurde am 24. Juni 1909 ermordet. Hinterrücks, wie es wohl auch bei Ihnen der Fall war. Dieses Schiff war ein ziemlicher Schock für mich. Ich habe zwar herausgefunden, dass der Fluch gehoben werden kann, indem das Rätsel um die Mordserie gelöst wird, doch was nützt es mir? Ich weiß nicht, wer die Morde verübt hat. Falls sie nicht wissen, wovon ich rede, suchen sie die Kajüten von Kapitän Letticeworth und seiner Frau auf. Dort befinden sich Dokumente, die von der Vergangenheit erzählen. Sie können sie garantiert lesen, denn sie wurden zu Lebzeiten der beiden geschrieben. Falls sie den Verstand haben, die Angelegenheit aufzuklären, habe ich eine Hilfe für sie. Egal, was sie auch hören: Marion Letticeworth ist zu Unrecht hingerichtet worden, sie hat Victoria Norton und Daniel Baker nicht ermordet. Der Tod des Kapitäns war kein Selbstmord. Sie werden schon noch herausfinden, warum. Viel wichtiger ist, dass sie den wahren Täter finden. Die Zeit läuft, das sehe ich an der großen Uhr in der Halle. Sie läuft unendlich langsam, aber vielleicht in ein paar Jahrzehnten wird die Stunde Zwölf schlagen. Dann ist das Schicksal dieses Schiffes besiegelt. Bis dahin haben Sie Zeit. Ich habe einen Verdacht. Die Zeitungen waren damals bereits sensationslüstern, das hat sich nie geändert. Vielleicht haben sie schon ein paar Artikel gefunden, die sich auf die Morde beziehen. Wenn nicht, sollten sie mal im Tresor des Schiffes nachschauen. Achten sie vor allem darauf, wer diese Artikel verfasst hat und dafür vermutlich eine ziemliche Summe Geld bekommen hat: John Waters. Ich habe ihn hier auf dem Schiff noch nicht gesehen, er hat auch keine Kabine hier. Vielleicht wird es Sie interessieren, dass John Waters nicht sein richtiger Name ist. Er wurde auf den Namen Jonathan Letticeworth getauft. Glauben Sie mir, ich muss es wissen. Es ist der Bruder des Kapitäns. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er Charles getötet hat, aber es ist gut möglich, dass er die Serie am Laufen hielt, um weiterhin mörderisch gute Stories zu bekommen. Überlegen Sie nur, welch Aufsehen der Prozess gegen Marion erregt hat; die Zeitungen waren voll davon. Auch für die Hinrichtung Marions trägt nicht Jonathan die Schuld. Das müssen Sie mir glauben. Dennoch kann es sein, dass Jonathan Baker und Norton umgebracht hat, um die ganze Angelegenheit ins Rollen zu bringen. Ich weiß nicht, wann Sie diese Nachricht lesen, es kann sein, dass es bereits über ein halbes Jahrhundert später ist. Vielleicht lebt John Waters inzwischen gar nicht mehr und die Angelegenheit hat sich geklärt. Dann allerdings wäre es schon seltsam, dass Sie sich noch immer auf diesem Schiff befinden, oder? Denken Sie darüber nach. Mary Riley, 13. April 1916“
Damit hatte Vivien nicht gerechnet. Dass ausgerechnet der unscheinbare Reporter hinter den Morden stecken sollte? Aber was Mary geschrieben hatte, klang plausibel. Zumindest nach Allem, was Vivien selbst bisher entdeckt hatte. Ich fasse es nicht, dass alles so abgelaufen sein soll, dachte sie. Ich muss noch einmal in Waters´ Kabine. Bevor sie jedoch das Zimmer verließ, schaute sie sich nochmals genau um. Der Schreibtisch, das einfache Bett, die Lampe an der Decke – nichts gab weiteren Aufschluss. Vivien öffnete die Tür zum Flur und ging zum nächsten Zimmer. Kabine 1a, John Waters. Sie trat ein. Noch immer waren die Spuren des Sturmes zu erkennen, bei dem Vivien die Akte Letticeworth verloren hatte. Das Fenster stand offen und es waren noch immer Wasserlachen auf dem Fußboden. Die See war inzwischen, auch nach dem zweiten Sturm, wieder friedlich geworden. Vivien schloss das Fenster und setzte sich wieder an den Schreibtisch. Obwohl sie damit rechnete, in den Schubladen erneut nichts zu finden, öffnete sie eine nach der anderen. Schließlich ist hier sowieso nichts normal, sagte sie sich. Leider waren die Schubladen leer. Plötzlich schaute Vivien auf. Der Haken! Sie setzte sich kerzengerade auf. Es war ein Haken an der ganzen Geschichte. John Waters, oder besser: Jonathan Letticeworth konnte nicht der Mörder sein. Dafür gab es mehrere Indizien. Zuerst bliebe dadurch ungeklärt, wer Charles Letticeworth ermordet hatte, da Selbstmord inzwischen ausgeschlossen war. Außerdem hat Jonathan auf diesem Schiff eine eigene Kabine. Damals hat Mary das sicherlich nicht wissen können. Auf diesem Schiff haben nur die Reisenden von damals und einige derer, die im Bezug mit dem Mörder ums Leben gekommen sind eine Kabine. Jonathan musste ebenfalls getötet worden sein, und zwar nach dem 13. April 1916. Er kann nicht der Täter sein.
Das änderte nichts an der Tatsache, dass John Waters der Bruder von Charles Letticeworth war. Aber er war noch nie erwähnt worden, oder habe ich da etwas übergangen? Es bleiben ziemlich viele Fragen offen. Was sagt mir die Tatsche, dass die beiden Brüder waren? Und wer war Mary Riley? Woher wusste sie so viel über John Waters? Warum sorgte sie sich derart um Marion? Ziemlich verwirrt stand Vivien auf und ging auf die Tür zu. Sie dachte an ihre Wahnvorstellungen. Jedes der Opfer hatte einen Teil des Mörders gesehen. Sie erinnerte sich gut, wie sie über dem Meer schwebend die Silhouette des Täters gesehen hatte. Wenn der Kontakt zwischen den Geistern doch nur nicht so schwer wäre, dann könnte man ein Phantombild erstellen. Welche anderen Möglichkeiten hatte sie denn, um den Mörder zu entlarven? Ein wenig betrübt von den geringen Erfolgschancen ging sie wieder hinaus auf den Korridor.
Sie verließ den Flur durch die Tür zu ihrer Linken und betrat wieder die hintere Halle. Die beiden Schatzkammern. Eine hatte sie bereits geöffnet. Was hatte Marion noch über die andere Kammer geschrieben? Sie suchte in ihrer Hosentasche nach der herausgerissenen Seite. „Der Glaube daran, dass es gelingt, muss sehr stark sein. Erst wenn die Tür sich vor den Augen des Betrachters teilt, ist sie wirklich offen.“ Vivien stellte sich vor die rechte Tür. Das Mondlicht erhellte die Halle ein wenig. Sie konnte sehen, dass sich die Intarsien auf der Tür verändert hatten. Sie zeigten keine Sternenkonstellation, sondern allein ein großes Auge. Ich glaube gang fest daran, dass diese Tür offen ist. Ich kann sie durchschreiten, sagte sie sich und ging mit ausgestreckten Armen drauf zu. Sie stieß gegen die Tür; diese jedoch rührte sich keinen Millimeter. Vivien seufzte. Ich hasse Türen. Dann erinnerte sie sich der vielen Türen in ihrer Kabine, nachdem sie aufgewacht war. Waren sie nicht vor ihren Augen verschwommen? Hatten sie sich nicht vor den Augen des Betrachters geteilt? Das könnte funktionieren. Wenn ich ein wenig schiele, sieht es aus, als hätte ich zwei Türen vor mir. Dann muss ich nur noch dazwischen hindurchgehen.
Sie blickte auf die Tür. Ihr Blick war zuerst verkrampft, schließlich entspannten sich ihre Augen aber. Sie schielte etwas und versuchte, durch die Tür hindurchzusehen, auf etwas, das sich vielleicht hinter der Tür befand. Dann geschah es – das Bild der Tür teilte sich. Eine Tür wanderte nach links, die andere nach rechts. Vivien atmete auf und ging auf die Türen zu. In dem Moment der Erleichterung fixierte sich ihr Blick aber wieder auf die Tür, wodurch diese im letzten Moment erneut scharf in ihr Blickfeld rückte. Sie stieß mit der Stirn gegen die Wand. Es hatte nicht funktioniert. Ich darf mich nicht auf die Tür konzentrieren. Ich muss in Trance bleiben, während ich auf die Tür zugehe. Vivien probierte es erneut. Wieder entspannte sie sich und wankte auf die Tür zu. Sie teilte sich erneut vor ihren Augen. Langsam trat sie an die Wand heran. Schritt für Schritt. Sie streckte den Arm aus, wollte die Wand berühren, doch der Arm glitt hindurch. Vivien stockte vor Verwunderung der Atem. Sie blickte auf ihren Arm, der in der Wand steckte. Ihr Blick war wieder gespannt, die Türen fügten sich zusammen und ein stechender Schmerz fuhr durch ihren Körper. Ängstlich starrte Vivien auf ihren Arm. Er steckte in der massiven Holztür fest. Sie zog, so fest es ihr möglich war, aber der Schmerz war so groß, dass sie es bald aufgab. Ich komme hier nur frei, wenn ich wieder die Türen teile und dann durch die Wand gehe, glaubte sie. Ungeachtet der Tatsache, dass ihr Arm auf einem Geisterschiff in einer Holzwand feststeckte, versuchte Vivien, sich zu entspannen. Sie ließ die Augenlider langsam sinken, bis ihr Blick verschwamm. Einen Moment später war ihr Arm frei. Sie ging schnell vorwärts. Ihr Körper versank in der Wand. Vivien spürte ein Kribbeln durch ihren Körper wandern. Das Gefühl war schnell vorüber, und in der Hoffnung, endlich durch die Tür gegangen zu sein, konzentrierte sie sich wieder auf ihre Umgebung.
Der Raum erschien ihr langsam schärfer. Er sah genauso aus wie die andere Schatzkammer, in der sie den Skarabäus gefunden hatte. Auf einem Pult lag ein großer, verzierter Schlüssel. Eine Laterne an der Decke spendete ein wenig Licht. Im Gegensatz zur anderen Kammer befand sich an diesem Pult jedoch keine Beschreibung zum Schlüssel. Vivien nahm ihn an sich. Ich kann mir schon denken, wohin der gehört. Er ist ebenso reich verziert wie die Tür, die aufs Deck führt. Ich werde ihn nachher gleich ausprobieren. Erst jedoch werde ich noch den anderen Flur absuchen. Sie drehte sich um. Von innen besaß die Tür einen Knauf. Vivien öffnete die Tür und ging wieder in die hintere Halle. Sie blickte um sich. Die Schatzkammern hatte sie also entdeckt. Im Boden befand sich ganz hinten noch immer das runde Gitter. Wohin kann es denn nur führen? Vivien versuchte wieder, das Gitter anzuheben. Mit Leibeskräften zog sie daran, doch es gelang ihr nicht, es auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Das schaffe ich niemals, beschloss sie und ging auf die Tür zu, die in den zweiten Korridor führte.
Die Tür mit den drei Totenschädeln jagte Vivien erneut einen Schauer über den Rücken. Das seltsame Licht, das von ihnen ausging, hielt die mysteriöse Atmosphäre auf dem Unterdeck aufrecht. Vivien ging in das afrikanische Zimmer. Jetzt, wo sie das ganze Unrecht kannte und über das Schicksal der Familie Letticeworth im Klaren war, erschienen ihr alle Erinnerungen an das Paradies auf Erden unendlich traurig. All dies war nun für immer verloren. Jetzt konnte sie verstehen, wie sich der Kapitän gefühlt haben musste, als er seine Notizen niederschrieb. Als Vivien das Bild von Charles und Marion mit dem Baby im Arm im Eingeborenendorf sah, konnte sie den Tränen nicht lange standhalten. Sie setzte sich in einen Korbsessel und betrachtete eine kleine Spieluhr, die von einem Tisch zu Boden gefallen war. Der Schlüssel zum Aufziehen steckte noch immer an der Seite; nachdem Vivien die Spieluhr auf den Tisch zurückgestellt hatte, zog sie sie auf.
Sie spielte eine sehr traurige und düstere Melodie, die von unendlicher Einsamkeit zeugte. Der Deckel des Kästchens öffnete sich. Zu sehen war ein kleines Bild von Charles und Marion, die auf einer Bank unter Bäumen saßen, zweifellos in Afrika. Neben dem Bild war ein kleiner Knauf eingearbeitet, der genauso aussah wie der an der Tür zu Cedrics Zimmer. Auf ihm war eine Sonne abgebildet. Langsam drehte sich dieser Knauf nach oben, ganz langsam wechselte das Bild in der linken Hälfte der Spieluhr. Zum Vorschein kam ein Foto von Cedric, der mit einem kleinen Affen spielte. Der Knauf drehte sich weiter, verschwand dabei in der Spieluhr. Der zweite Knauf mit dem Halbmond kam zum Vorschein. Das Lied war noch nicht zu Ende. Das Bild verschwand langsam. Ein drittes Foto erschien. Es war komplett schwarz, nichts darauf zu erkennen. Am interessantesten erschien Vivien jedoch der kleine Messingknauf, der sich ein weiteres Mal drehte. Nur ein kleines Stück weiter, dann kam ein dritter Knauf an die Oberfläche. Auf ihm war ein Stern abgebildet. Langsam lief die Feder der Spieluhr ab, das Lied erstarb und die Uhr kam zum Stillstand. Vivien war in Gedanken versunken. Sie dachte wehmütig daran, wie schön alles war, und wie traurig und allein alles geworden war. Mensch Mädel, nun lass dich nicht hängen, versuchte sie, sich selbst aufzubauen. Schau dir mal den Griff an, es muss da noch einen dritten geben! Ich sollte mal zu Cedrics Zimmer gehen, nahm sie sich vor. Als sie aufstand, wurde ihr bewusst, dass der Besuch in diesem Zimmer nichts gebracht hatte. Sie war mit ihren Ermittlungen kein Stück weitergekommen, hatte nur ein weiteres Zeitzeugnis entdeckt. Von solchen Sachen durfte sie sich nicht ablenken lassen. Vivien wandte sich der Tür zu, die direkt zu Marions Kabine führen sollte. Hier war sie noch gar nicht hindurchgegangen. Falls sie sich jedoch Hoffnungen gemacht hatte, ein weiteres Geheimnis dieses Schiffes zu entdecken, musste sie eine herbe Enttäuschung einstecken. Tatsächlich führte die Tür nur in Marions Zimmer und nicht in irgendwelche geheimen Kammern. Das Zimmer hatte sich auch nicht verändert. Auf dem Boden verteilt lagen noch immer die Glasscherben des zersprungenen Spiegels. Nach einem kurzen Moment setzte jedoch plötzlich wieder das Rauschen ein, das Vivien damals so neugierig auf diese Kammer gemacht hatte. Woher kann das kommen? Der Spiegel ist doch zerstört? Vivien suchte den Schreibtisch ab und schaute sich das Bett ganz genau an; die Quelle des unheimlichen Geräusches konnte sie aber nicht ausmachen. Sie entschied sich, das Rauschen zu ignorieren und zuerst weiterzuschauen. Sie verließ die Kabine Richtung Flur und wandte sich nach links. Sie stand wieder vor Kabine 8c. Ein weiteres Mal hatte der Besitzer gewechselt. Nach Daniel Baker und Victoria Norton stand hier nun: „Kabine 8c, Louis Nounes, Matrose“ Vivien dachte scharf nach, konnte sich aber nicht daran erinnern, den Namen Nounes schon einmal ge… Moment! Die Akte Letticeworth in John Waters´ Kabine – da war eine Zeugenaussage von Nounes. Das könnte interessant werden, meinte Vivien und öffnete die Tür.
Die Kabine des Matrosen war sehr spartanisch eingerichtet. Eine schäbige Matratze lag mitten im Raum. Auf ihr waren Flecken zu sehen, auch war sie an einem Ende aufgerissen. Ein großer Koffer, fast schon eine Truhe, stand an einer Seite der Kabine. Der Deckel war geöffnet und der Koffer bis zum Rand mit alten Klamotten vollgestopft. Von ihnen ging ein modriger Geruch aus, deshalb beschloss Vivien, nicht darin herumzuwühlen. An einer Wand hingen drei kleine Bilder von einem jungen Mädchen, das Vivien noch nie zuvor gesehen hatte. Es musste die Freundin oder vielleicht sogar Verlobte des Matrosen sein. Sie hatte es bestimmt auch nicht einfach, wenn ihr Liebster dauernd auf hoher See war, dachte sie mit Gedanken an Marion Letticeworth, deren Mann auch oft gereist ist, während sie allein zuhause blieb. Vivien dachte an den Brief von Cedric an seine Mutter zurück. Scheinbar hatte sie nie gewollt, dass ihr Sohn auf diese Schiffsreisen ging. Das nenne ich die Liebe einer Mutter, immer um den Sohn besorgt, dachte sie. Als sie die Wand entlang ging, rutschte sie fast auf einem Gegenstand aus. Vivien beugte sich nach unten. Es war ein Buch. Eine Art Tagebuch, es waren viele Einträge darin. Ach, du dumme Gans, wärst du doch bloß nicht draufgetreten. Jetzt ist die erste Seite herausgerissen, ich kann gar nichts mehr erkennen, tadelte sie sich selbst. Sie nahm das Buch und setzte sich auf den Fußboden.
„…ich das alles schreibe. Nur für den Fall, dass der Nachwelt ein Rätsel übrig bleibt.
27. Januar 1903: Tja, ich denke mal, das war es dann. Der Kleine ist hin und Schluss. Ich vermute mal, der Kapitän hat das mit seiner Frau irgendwie ausgemacht. Ich frage mich nur, warum dieses Pärchen einfach so davonkommt. Die hätten auf den Jungen aufpassen sollen. Verstehe das, wer will.
14. März 1903: Ich glaube das einfach nicht. Heute habe ich einen Brief bekommen. Einen Drohbrief! Natürlich von einem Unbekannten. Er schreibt, wenn ich auspacke, geht es mir an den Kragen. Wovon redet der? Ich werde mich einen Dreck darum kümmern, solange Felice in Sicherheit ist. Die Kleine vermisst mich ganz schön, aber als Matrose ist man halt viel unterwegs.
9. April 1903: Bin von meiner Mittelmeerfahrt zurück. Zuhause hat wieder so ein Brief auf mich gewartet. Der Unbekannte wurde etwas deutlicher. Wenn ich irgendjemandem sage, was damals auf dem Schiff geschehen ist, bringt er mich zum Schweigen. Der spielt bestimmt auf den Unfall von letztem Oktober an. Woher weiß er, dass ich das gesehen habe? Wer ist dieser Unbekannte?
16. August 1903: Ziemlich lange nichts mehr von dem mysteriösen Unbekannten gehört. Liegt wohl daran, dass ich meine Klappe halte. Warum sollte ich auch plaudern? Würde das glückliche Pärchen doch nur in den Ruin stürzen. Ich bin ja kein Unmensch.
10. September 1903: Schau mal einer an, der alte Letticeworth ist tot. Keiner weiß, was geschehen ist. Kann mir aber auch egal sein. Wichtiger ist, dass ich eine ziemlich harte Reise vor mir habe. Im November soll es nach Norwegen gehen, das wird heftig. Kann auch ziemlich lange dauern. Ich hoffe, Felice, du verzeihst mir.
27. September 1903: Seltsam. Ich habe einen Brief bekommen. Darin lag ein völlig leerer Zettel. Ohne Absender. Nur auf dem Umschlag war ein großes Ausrufezeichen geschrieben. Was soll denn das bedeuten?
8. Oktober 1903: Die Zeitungen sind wirklich schnell. Gestern ist das Liebespärchen ermordet worden, das auf der Reise von Afrika nach England dabei war. Ich habe langsam etwas Angst. Ich meine, warum hat mir dieser Verrückte damals diese Briefe geschrieben?
9. Oktober 1903: Heute hat jemand einen Brief unter meiner Tür durchgeschoben. Er war wieder von diesem Unbekannten. Die Polizei wird mich befragen, hieß es dort. Wenn ich irgendwas ausplaudere, würde Schreckliches geschehen. Drunter stand diesmal sogar ein Name: Riley. Ich frage mich, wer dieser Riley ist.
10. Oktober 1903: Die Polizei war da. Ich habe denen nur gesagt, dass vielleicht alle Fälle mit der Schiffsfahrt zu tun hätten. Mehr nicht. Das kann doch nicht zuviel gewesen sein.
24. Oktober 1903: Meine Felice! Sie ist ermordet worden! Ich wette, es war der Unbekannte! Ich habe Angst, was soll ich tun? Ich habe doch nichts Böses gemacht! Heute kam ein Brief: Sie wollten es ja so. Als nächstes sind sie dran! Ich will nicht sterben!“ Hier endeten die Einträge.
Schon wieder Mary Riley. Konnte sie es denn gewesen sein, die die Drohbriefe geschrieben hatte? Das würde ja bedeuten, dass Mary Daniel und Victoria getötet hat. Das widerspricht aber doch der Theorie, dass Mary Marion schützen wollte. Es sei denn, das war alles nur eine Ausrede von ihr. Vielleicht hatte sie Vivien alles nur vorgeflunkert, um den Verdacht von sich selbst abzulenken? Nein, das darf nicht sein. Wem kann ich denn überhaupt noch trauen, fragte sie sich. Wahrscheinlich war es irgendein anderer Riley, der Name ist ja nicht gerade selten. Ich muss hier raus, sonst verliere ich den Verstand. Vivien nahm den Bleistift mit, der im Tagebuch steckte. Zurück auf dem Korridor holte sie die Notiz des Kapitäns aus ihrer Tasche, setzte sich auf den Boden und schrieb alle Verdächtigen dieser Mordserie auf, ungeachtet der Tatsache, ob sie tot oder lebendig waren. Auf solche Kleinigkeiten durfte man auf einem Geisterschiff keine Rücksicht nehmen. Sie schrieb:
Verdächtige im Fall Letticeworth:
Mary Riley – Wer ist sie wirklich? Weiß sehr gut über Marion Letticeworth und John Waters Bescheid. Warum war Mary Riley damals auf der Schiffsreise dabei? Sehr verdächtig, ich glaube aber nicht, dass sie es war.
John Waters – Ist laut Mary Riley der Bruder von Charles Letticeworth. Riley gibt als mögliches Motiv Sensationsgier an. Unwahrscheinlich.
Daniel Baker – Selbstmord unwahrscheinlich.
Victoria Norton – Möglich, da sie von Schuldgefühlen geplagt wurde. Machte sich für den Tod von Cedric verantwortlich. Hatte jedoch vor, Baker zu heiraten, daher unwahrscheinlich.
Louis Nounes – Möglich. Wusste, was damals auf dem Schiff passiert ist. Dennoch unwahrscheinlich, da er mit dem Wissen eher erpresst hätte. Ist selbst Opfer eines Unbekannten mit dem Namen Riley geworden.
Charles Letticeworth – Wird wohl kaum alle anderen umgebracht haben, nachdem er selbst ermordet wurde. Polizei gab Selbstmord an, kein plausibles Motiv. (Schuldgefühle?)
Marion Letticeworth – Für ihre angeblichen taten wurde sie hingerichtet. Das Morden ging weiter, Brief an Victoria Norton verwischt Motiv, daher unwahrscheinlich.“
Sie überlegte einen Moment. Bis auf Mary Riley hatte sie bei allen Verdächtigen „unwahrscheinlich“ niedergeschrieben. Sie fügte ihrer Liste einen weiteren Eintrag hinzu.
??? – Ein Unbekannter, der mit der fatalen Schiffsreise in Verbindung steht. Muss Bedrohung durch Nounes gefürchtet haben, wollte damit vielleicht Riley belasten. Motiv unklar.“
Ich brauche unbedingt weitere Hinweise, meinte Vivien. Sie steckte das Papier und den Stift in ihre Hosentasche und stand auf. Als sie sich auf ihr rechtes Bein stützte, spürte sie wieder diesen Schmerz. Sie hatte ihre Wunde von vorher ganz vergessen. Ein langer Schnitt zierte ihr Bein; das Blut war mittlerweile getrocknet. Dennoch brannte die Stelle unglaublich. Vivien biss die Zähne zusammen und ging zur nächsten Tür. Es war das Zimmer von Cedric. Sie betrachtete den Knauf und drehte ihn, ohne lange zu zögern, weiter nach oben. Wie in der Spieluhr kam ein dritter Knauf zum Vorschein, der mit einem Stern verziert war. Sie drehte ihn herum und betrat das Zimmer.
Vivien stand auf einem offenen Feld an einer Küste. Der Himmel war stark bewölkt. Ein Pfarrer stand an einem rechteckigen Loch und hielt ein Gebetbuch in der Hand. Um das Loch herum standen einige Menschen in schwarz gekleidet. Vivien erkannte Marion und Charles, die der Beerdigung ihres Sohnes beiwohnten. Der Pfarrer hielt eine mitreißende Rede, Marion hatte sich nicht mehr unter Kontrolle und verbarg ihr Gesicht hinter einem Taschentuch. Charles nahm sie in den Arm. Langsam zogen dunklere Wolken auf. Es begann zu regnen, doch davon ließen sich die Trauergäste nicht beirren. Nur eine Frau ging davon. Es war Mary Riley. Sie verließ die Beerdigung schnellen Schrittes. Die anderen gingen nacheinander gesenkten Hauptes an das Grab heran. Obwohl Cedric ertrunken war, hatte Marion wohl eine Beerdigung gewünscht. Das war sehr vernünftig, da sie nun einen Ort hatte, an den sie gehen konnte, wenn sie ihrer Trauer freien Lauf lassen wollte. Der Pfarrer klappte das Buch zu und legte es beiseite. Er breitete seine Arme aus und sprach den Segen über die Anwesenden. Marion ging daraufhin zum Grab ihres Sohnes und nahm eine Blume aus dem Kranz, der auf dem Sarg lag. Sie ging damit zur Klippe und warf sie ins Meer. Es regnete inzwischen ziemlich stark, doch Marion schien es nicht zu bemerken. Ihr Gesicht war tränenüberströmt, als sie von der Klippe zurückkehrte. Vier ältere Herren ließen den Sarg ins Grab hinab. Jeder der Anwesenden warf eine Schaufel voll Sand ins Loch, sprach ein paar Abschiedsworte oder bekreuzigte sich. Dann ging die Trauergemeinde in einer Gruppe zurück zur Kirche. Auf halbem Wege riss Marion sich los und lief zum Grab zurück. Charles wollte sie zurückrufen, doch der Pfarrer legte eine Hand auf seine Schulter und hielt ihn zurück. Sie gingen weg, während Marion vor dem Grab auf die Knie fiel und bitter weinte. Sie faltete ihre Hände und schickte ein Gebet zum Himmel. In diesem Moment flog eine Taube vorbei. Eine weiße Feder schwebte sanft vom Himmel und fiel uns Grab. Dann wurde die Umgebung um Vivien schwarz. Sie befand sich wieder in Cedrics Zimmer.
Es war alles umgestaltet worden nach Cedrics Tod. Das Bett war mit schwarzem Samt bezogen und ein großer Kranz lag darauf. An einer Wand hing ein großes Kreuz, darunter eine Plakette mit Cedrics Geburts- und Todestag und einem rührenden Abschiedswort. Vivien spürte die Tränen in ihren Augen. Wozu dagegen ankämpfen? Es war ein Drama, das sich um die Familie Letticeworth rankte. Rosen hingen von der Decke, noch mehr Bilder zierten die Wände. Bilder vom Himmel, von Engeln mit großen Flügeln. Eine sanfte Stimme meldete sich aus dem Dunkel.
Jetzt wissen sie, wie es damals war. Wie wir uns gefühlt haben. Dieses Schiff entwickelt sich immer weiter. Wie es erscheint, hängt von der Perspektive des Betrachters ab. Nun, da sie unsere Gefühle von damals nachvollziehen können, brauchen sie die Erinnerung an damals nicht mehr. Sie können sich nun ihrer eigentlichen Aufgabe zuwenden.“ Abrupt endete die Stimme.
Vivien hatte sie nie zuvor gehört. Wahrscheinlich war es die Stimme eines der Trauergäste. In jedem Falle hatte sie Recht. Sie hat die Gefühle, die durch die Spieluhr ausgedrückt wurden, versucht zu ignorieren. Daher war sie in dieses Zimmer geführt worden. Nun war alles glasklar. Das Schiff lenkt mich zur Wahrheit. Ich muss sie nur finden wollen, dachte Vivien. Sie schaute sich noch einmal im Zimmer um, bevor sie es verließ. Wahrscheinlich würde sie es nie wieder in diesem Zustand betreten. Dann trocknete sie ihre Tränen mit dem Ärmel und ging hinaus auf den Flur. Der Tresor im nächsten Raum bot keine Aufschlüsse. Schließlich waren alle Fächer verschlossen, bis auf das von John Waters. Das hatte sie ja bereits ausgeräumt. Vivien überzeugte sich zur Sicherheit nochmals davon und ging zurück in die Eingangshalle. Bevor ich nach oben gehe, werde ich mir ein letztes Mal die Halle anschauen. Vivien öffnete die Doppeltür gegenüber der Haupttreppe mit einem Quietschen. Scheinbar unendlich lang erstreckte sich vor ihre die Galerie der Statuen und Gemälde. Sie ging zu ihrem eigenen Bild. Es war noch immer verschwommen. Gut, dachte Vivien, damit habe ich mein Schicksal noch immer in der Hand. Sie ging zum Kamin am Ende der Halle. Ob er wohl schon immer erloschen war? Die Uhr darüber tickte langsam weiter. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die zwölfte Stunde schlägt. Der kleinste der sieben Zeiger der Uhr deutete auf die Acht, alle anderen Zeiger standen scheinbar still kurz vor der Zwölf. Wenn der kleinste dort ankommt, ist meine Zeit abgelaufen. Ich darf es nicht zulassen, dass der Mörder sein Werk vollbringt, dachte Vivien und verließ die Halle. Sie ging die Haupttreppe hinauf und stand wieder vor der großen Eichentür, die zum Oberdeck führte. Aus ihrer Hosentasche holte sie den Schlüssel, den sie in der zweiten Schatzkammer gefunden hatte. Sie steckte ihn ins Schloss und drehte ihn zweimal herum, bis sie ein Einrasten des Schlosses hörte. Sie konnte die Pforte nun öffnen.
Vivien trat jedoch zu ihrer großen Überraschung nicht aufs Schiffsdeck, sondern in eine große Halle. Hinter ihr fiel die Tür krachend ins Schloss. Ihre Umgebung ließ sie vermuten, dass sie sich in einem Schloss befand. Die Steinmauern, die den Saal begrenzten, waren mit bunten Wandbehängen verziert. Am Ende der Halle führte eine Freitreppe nach oben in einen Flur. Vivien ging weiter in die Halle und schaute sich ungläubig um. Dann vernahm sie eine Stimme. „Willkommen auf Letticeworth Castle!“ Ein weiter Ring aus Nebel erschien um sie herum. Jetzt erscheint bestimmt wieder irgendein Geist, dachte Vivien. Sie hatte dieses Szenario des Nebels auf dem Schiff schon genügend ausgekostet.
Langsam verdichtete sich der Nebel. Es erschienen viele Gestalten um sie herum. Männer und Frauen verschiedenen Alters, alle in altertümlichen Gewändern, wie für einen Ball gekleidet. Vivien schaute sich um. Es mussten bestimmt über hundert Geister sein, die sich in der riesigen Halle trafen. Aus dem Nichts hörte Vivien Musik. Schnell bildeten sich Tanzpaare. Sie wollte nicht allein in der Mitte des Ganzen stehen. Sie ging forschen Schrittes zu einem jungen Mann und bat ihn zum Tanz. Er willigte ein und reichte Vivien die Hand. Aus dem Flur im oberen Stockwerk trat Charles Letticeworth. Alle schauten zu ihm auf. Er nickte mit dem Kopf. Das war das Zeichen für den Tanz. Mit unglaublicher Präzision schwangen sich alle Paare synchron in die erste Drehung. Vivien wurde geführt und schaute sich staunend um. Die Musik hatte ein forsches Tempo; sie konnte kaum die Gesichter der anderen erkennen. Sie meinte jedoch, sehen zu können, wie Daniel Baker und Victoria Norton miteinander tanzten, ebenso wie Tim und Sally, ihre Nachbarn. Auch Mary Riley sah sie unter den Tanzgästen. Es waren viele unbekannte Geister dabei. Sie alle müssen Opfer des Serienmörders geworden sein, dachte Vivien. Um sich nichts anmerken zu lassen, schaute sie ihrem Partner wieder in die Augen. Er lächelte sie an, während sie über die Tanzfläche glitten. Er ist ein sehr guter Tänzer, musste Vivien zugeben. Dann ließ er sie los. Sie taumelte ein paar Schritte und wollte sich empört zeigen, doch sie sah, dass alle Paare genau das Gleiche machten. Die Damen gingen zur einen Seite der Halle, die Herren zur anderen. Die beiden neu entstandenen Gruppen tanzten weiter. Vivien konnte nicht anders, als mitzutanzen. Obwohl sie die Choreographie gar nicht kannte, wurde sie mitgerissen und machte alles genauso wie die anderen. Dabei überlegte sie. Ob das vielleicht ein Ball ist, der hier regelmäßig abgehalten wird? Das ist ja super, denn endlich habe ich alle Opfer beisammen. Jetzt kann ich das Bild des Täters zusammenfügen. Ich werde mich gleich nach dem Tanz darum kümmern, nahm sie sich vor. Die beiden Gruppen wurden wieder zusammengefügt, es bildeten sich wieder Paare. Dieses Mal bekam Vivien keinen Partner. Sie stand allein in der Mitte, während alle anderen elegant im Kreis um sie herumtanzten. Dabei wurden ihre Silhouetten langsam undeutlicher, die Bilder verschwammen und lösten sich ebenso schnell, wie sie gekommen waren, wieder in Rauch. Damit hatte Vivien nicht gerechnet.
Wartet! Geht nicht“, rief sie in die leere Halle. Es war zu spät. Das Schloss war verlassen. Die letzten Rauchschwaden verzogen sich schnell. Das war vielleicht meine letzte Chance, dachte Vivien verzweifelt. Sie fürchtete, dass sie nun niemals den Mörder entlarven könnte. Was gab es nun noch zu tun? Langsamen Schrittes ging sie zur Eingangstür zurück. Sie wollte wieder zurück aufs Schiff, doch dabei stellte sich ihr ein Problem in den Weg. Die Tür nach draußen war verschlossen. Sie hatte den Schlüssel nicht mehr und einen anderen Ausweg schien es nicht zu geben.
Kapitel 11Die Ganze Wahrheit

Ich muss weiter, die Zeit läuft, dachte Vivien bei sich und sah sich um. Ihr Blick wanderte zu dem Balkon, von dem aus der Kapitän das Zeichen zum Tanz gegeben hatte. Er stand wieder dort und hatte sie beobachtet. Vivien rief: „Halt!“ und rannte die Freitreppe hinauf. Mit dem linken Fuß blieb sie hinter einer Stufe hängen und stolperte, doch zu ihrem Glück war die Treppe mit einem roten, weichen Teppich bedeckt. Vivien rappelte sich wieder auf und lief nach oben zum Korridor. Sie konnte noch eben erkennen, wie Charles Letticeworth in der letzten Tür auf der linken Seite verschwand. Im Vorbeilaufen schaute sie flüchtig auf die Galerie an der rechten Wand. Dort hingen viele Gemälde der verschiedensten Künstler. Vivien erkannte eine Kopie der Mona Lisa und der Ansicht von Delft. Dafür habe ich jetzt keine Zeit, dachte sie und sprintete zur letzten Tür. Sie öffnete sie und sah erschrocken, wie der Kapitän etwas aus dem geöffneten Fenster warf. Es schien ein Stapel mit Dokumenten und Büchern zu sein. Er selbst sprang hinterher. Vivien hastete zum Fenster. Sie schaute nach unter in den nächtlichen Innenhof des Schlosses. Dort auf dem Boden sah sie viele Zettel umherliegen, einige flatterten noch durch die Luft. Es schien, als wollten sie über die hohen Schlossmauern fliehen. Der Geist des Kapitäns war verschwunden. Über ihr schlechtes Timing enttäuscht ging Vivien zurück ins Zimmer. Es war ein richtiges Kaminzimmer, gemütlich ausgestattet mit zwei Sessel und einem Sofa, einem Schreibtisch mit Stuhl davor. Im Kamin befand sich nur noch die Asche des letzten Feuers. Die Wände waren auch hier mit Bildern geschmückt, sie waren jedoch von Kinderhand gemalt. Das hier ist das Arbeitszimmer des Kapitäns, da bin ich mir ganz sicher, meinte Vivien. Sie setzte sich an den Schreibtisch und öffnete eine Schublade. Neben verschiedenen Schreibfedern befanden sich hier ein versiegelter Brief und eine Geburtsurkunde. Auf dem Brief stand geschrieben: „Charles Letticeworth, letzter Wille“; es war sein Testament. Es ist zwar ein wenig taktlos, aber da er jetzt sowieso tot ist, kann ich den Brief auch öffnen, sagte Vivien sich und brach das Wachssiegel auf.
Im vollen Besitz meiner geistigen Kräfte vermache ich, Charles Letticeworth, mein gesamtes Hab und Gut meiner Frau Marion Letticeworth. Sollte meine geliebte Ehefrau vor mir verschieden sein, so erbt mein Sohn Cedric. Falls er die Volljährigkeit noch nicht erreicht hat, so übergebe ich ihn in die treusorgenden Hände meiner Schwägerin, Mary Riley. Charles Letticeworth, 23. November 1899“
Vivien musste schlucken. Schwägerin? Zögernd betrachtete sie die Geburtsurkunde, die in der Schublade lag. Sie bestätigte, dass Marion Letticeworth auf den Namen Marion Riley getauft worden war. Marion und Mary waren Schwestern? Das erklärt so manches, unter anderem, warum Mary so besorgt um die Gemütswelt Marions war. Es ging also um ihre Schwester! Welch Qual muss es dann für sie gewesen sein, ihre eigene Schwester hinrichten zu lassen? Vivien schauderte. Nein, so darf ich nicht denken! Sie hat sie nicht hinrichten lassen, sie wollte immer nur das Beste für sie! Oder etwa nicht?
Sie legte die Dokumente zurück in den Schreibtisch und schloss die Schublade. Dann ließ sie den Blick durchs Zimmer wandern. Unter dem Fenster lag auf dem Boden noch ein Buch. Es musste heruntergefallen sein, als Charles all diese Sachen aus dem Fenster werfen wollte. Vivien stand auf und nahm das Buch an sich. „Meine Aufzeichnungen“ stand darauf geschrieben. Sie setzte sich mit dem Buch in einen der Sessel und schlug es auf. Auf der ersten Seite stand der Name Charles Letticeworth“, die ersten acht Seiten waren jedoch unbeschriftet. Vivien blätterte, bis ihr der erste Text ins Auge fiel. Sie lehnte sich entspannt zurück und begann zu lesen. Innerlich war sie jedoch aufgeregt, welche Geheimnisse diese Aufzeichnungen zu Tage bringen würden.
So fühle ich mich. Wie die ersten Seiten dieses Buches. Total leer, mein Geist ist vollkommen leer. Keine Inspirationen mehr, keine traurigen Gefühle mehr, aber auch keine schönen. Ich will nicht Tagebuch führen, deswegen habe ich nur „Aufzeichnungen“ drauf geschrieben. Wenn je jemand dieses Buch findet und denkt, ich hätte Tagebuch geführt – das würde meinem Ruf schaden. Deswegen schreibe ich hier nur so rein, was mit gerade einfällt. Damit ich meinen Kopf wieder mit Ideen füllen kann.
Wir schreiben das Jahr 1894. Meinem Vater geht es sehr schlecht. Die Ärzte geben ihm noch zwei Wochen. Ich besuche ihn täglich, das tue ich, damit er nicht so alleine ist. Jonathan kümmert sich kaum um ihn. Ich habe meinen Bruder ewig nicht gesehen. Wie kann er seine Familie nur so im Stich lassen? Die Besuche bei Vater sind sehr anstrengend. Er redet immer über den Tod. Ich will nicht über den Tod reden, schließlich bin ich noch jung. Ich will noch etwas vom Leben haben! Vielleicht ist das die Einstellung, die ich brauche, damit ich wieder ein Ziel im Leben habe.
Vater ist gestorben. Gestern Nacht ist er eingeschlafen. Das war das Beste für ihn, er hat sehr leiden müssen. Er hat mir erzählt, dass er mir sein Schiff vermachen würde. Ist das nicht toll? Der Anwalt wird sich zwar erst morgen melden, aber das wäre so schön! Ich bin früher, als ich klein war, immer so gerne mit dem Schiff mitgefahren, als Vater noch seine Geschäftsreisen machte. Dass ich mich nun endlich selber um das Schiff kümmern sollte, hätte ich nie gedacht.
Der Anwalt war da und hat mir Vaters Testament gezeigt. Ich habe das Schiff bekommen. (Und einen Teil seines Geldes für meine Versorgung, wie er es nannte.) Ich werde das Dokument kopieren und eine Kopie auf der Letitia verstecken. Er hat sehr an ihr gehangen, es ist vielleicht richtig so. Jonathan erhält das Schloss. So stand es im Testament. Ich weiß nicht, was Vater sich dabei gedacht hat! Mein Bruder hat sich einen Dreck um ihn gekümmert; ich muss noch einmal mit dem Anwalt reden.
Das Schloss gehört meinem Bruder, dabei bleibt es. Der Anwalt hat aber gesagt, dass ich das Anwesen, da Jonathan nun nicht da ist, verwalten und rechtmäßig in dieser Aufgabe als Verwalter bewohnen darf. Schön!
Ich will auf dem Schloss nicht verschimmeln. Ich habe für Jonathan, sollte er je zurückkommen, einen Brief in Vaters Arbeitszimmer hinterlassen. Ich will auf Reisen gehen, das wird die Leere in meinem Kopf vertreiben. Nach Afrika! Ich freue mich schon so. Ich werde nächste Woche fahren. Meine Aufzeichnungen nehme ich mit.
Der letzte Eintrag ist ungefähr ein Jahr her. Ich bin in Afrika gelandet, in einem Eingeborenendorf. Der Name ist ganz komisch, die Leute hier sprechen ihn mit so einem komischen Schnalzen der Zunge aus. Das kann ich nicht. Ist auch nicht wichtig. Ich fühle mich hier sehr wohl. Die Reise ist problemlos verlaufen. Hier ist es einfach wunderschön und ich entdecke jeden Tag neue Wunder dieses Landes. Ich werde von der Flut an Eindrücken fast überrollt. Ich genieße dieses Gefühl.
Heute habe ich ein junges Mädchen kennen gelernt. Sie ist sehr geheimnisvoll. Ich weiß nicht, ob sie eine Eingeborene ist oder zugereist. Sie ist weiß. Und wunderhübsch. Ihren Namen hat sie mir aber noch nicht verraten. Afrika. Ich will hier nie wieder weg.
Sie hat mich in ihre Künstlerstube geführt. In einer romantischen kleinen Höhle hinter einem Wasserfall. Sie töpfert, ganz reizende kleine Figuren. Sie ist unglaublich geschickt mit dem Ton, ich habe es auch mal probiert, bin aber kläglich gescheitert. Sie heißt Marion.
Ein Monat muss vergangen sein. Marion hat mir die kleinen Geheimnisse des Dorfes gezeigt. Wo die schönsten Früchte wachsen, wo die ruhigsten Plätze sind… Ich bin mit ihr auf einem Elefanten geritten. Ein komisches Gefühl. Der Elefant gehört Marions Schwester. Sie hat nur eine Schwester und keine Brüder. Wer nennt seine Töchter denn Marion und Mary?
Mary ist sehr nett. Manchmal glaube ich, sie ist ein wenig eifersüchtig auf Marion, weil sie immer mit mir herumgeht. Ich mag Marion sehr, sie ist bildhübsch und voller Fantasie. Ihre Kreationen gefallen mir. Sie hat einen kleinen Berg aus Ton gemacht mit einem Wasserfall, so wie der, hinter dem ihr Atelier sich befindet. Zwei große Flügel wachen über diesen Berg.
Afrika. Die Faszination, die es auf mich ausübt, ist gewaltig. Noch gewaltiger ist die Aura, die Marion ausstrahlt. Wir haben geheiratet, mit einer sehr schönen Zeremonie der Dorfbewohner. Der Älteste hat die Predigt gehalten. Ich liebe Marion von ganzem Herzen. Mary hat sich so für uns gefreut. War alles nur gespielt? Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie eifersüchtig ist.
Ich dachte, es könnte nicht mehr besser werden. Ich habe mich geirrt. Es ist alles perfekt. Marion ist schwanger. Wenn es ein Junge wird, nennen wir ihn Cedric. Wird es ein Mädchen, wird es Cecilia heißen. Ich bin so glücklich! Mary hat sich inzwischen verlobt. Sie strahlt immer über das ganze Gesicht, wenn sie mit ihrem Liebsten durch das Dorf geht. Es ist der Enkel des Ältesten. Netter junger Mann, genau der Richtige für Mary, möchte man meinen.
Cedric ist jetzt fünf Jahre alt. Meine Güte, ich habe ewig nichts in dieses Buch geschrieben. Warum auch? Ich habe gefunden, was ich suchte. Dieses Buch sollte nur Unterstützung bei meiner Suche sein. Ich werde Marion vorschlagen, dass wir eines Tages nach England zurückreisen. Ich frage mich, was aus dem Schloss geworden ist. Ob Jonathan inzwischen dort ist?
Wir haben beschlossen, zu fahren. Mit der Letitia. Sie hat ewig im Hafen gelegen, die alte Dame muss jetzt erst mal generalüberholt werden. Dann werden wir unsere Sachen hier packen. Damit lassen wir uns aber viel Zeit, damit es nicht so ein schmerzhafter Abschied wird.
Cedric erwartet eine neue Welt. Ich bin gespannt, wie er den Wandel auffassen wird. Es wird wohl kein Problem darstellen, wenn wir ins Schloss einziehen, es ist ja groß genug. Wir werden Jonathan überraschen. Ich glaube nicht, dass er sich seine Erbschaft hat entgehen lassen. Nun, was er wohl aus sich gemacht hat? Ich habe eine Familie. Ich bin vollkommen zufrieden.
Es ist schon wieder eine lange Zeit vergangen. Wir sitzen noch immer hier im Dorf. Nächste Woche geht es los. Alle Andenken sind bereits sicher verstaut. Cedric hat jetzt auch verstanden, dass er seine Heimat verlassen wird. Er kommt damit zurecht, dass er seine Freunde verlassen muss. In England wird er neue Freunde finden. Sollte es uns dort nicht gefallen, können wir eine neue Reise unternehmen. Ich glaube aber nicht, dass Marion viel Spaß daran hätte. Sie reist nicht gerne mit dem Schiff, glaube ich.
Sie will es nicht zeigen, aber Marion ist bedrückt. Sie fürchtet sich vor der Abreise morgen. Ich habe auch ein wenig Angst, aber Marion hat Angst vor der See, vor den Wellen. Sie hat Angst, dass wir einen Unfall auf der Überfahrt haben könnten. Dabei wird schon nichts passieren. Ich dagegen habe Angst vor dem, was mich in England erwartet. Damals, als ich hierher kam, war ich gespannt, wie Afrika wird. Nun habe ich Angst, bei der Rückkehr in meine Heimat Enttäuschungen zu erleben. Vielleicht ist das auch alles nur Gewäsch.
Unser erster Tag auf See. Marion ist die ganze Zeit noch nicht einmal an Deck gewesen. Immer sitzt sie in ihrer Kabine, sie sagt, da machen ihr die Wellen am wenigsten aus. Wenn sie das so meint… Die Kajüte, die ich für Cedric eingerichtet habe, ist richtig hübsch geworden (ich will ihn später mal auf Reisen mitnehmen). Er fühlt sich dort genauso wohl wie hier oben an Deck. Am liebsten ist er aber noch immer bei seiner Mutter.
Jahrhundertwende, was bedeutet das schon? Neue Kriege, neue Krankheiten. Neue soziale Probleme. Und alle reden vom Aufbruch, alles soll besser werden. Ich kann nicht recht daran glauben. Eben stand ich an Deck und habe auf die weite See geschaut. Die unendliche Ferne reizt mich. Ich will irgendwann einmal um die ganze Welt reisen. Mit meiner Letitia. Und mit Cedric. Weit weg von allem Gerede, von allen Krankheiten und Sorgen.
Endlich habe ich meine „Aufzeichnungen“ wiedergefunden. Ich hatte sie in den Koffer gesteckt und vergessen. Jetzt sind wir in England. Genauer gesagt, auf unserem Schloss. Es ist leer. Ich hätte nie gedacht, dass Jonathan dieses Anwesen verkommen lässt. Es wird Zeit, dass wir es wieder auf Vordermann bringen. Der Schlüssel war noch immer bei dem Anwalt. Er hat ihn all die Jahre lang aufgehoben.
Ich kann es gar nicht glauben! Ich habe einen Auftrag von der Königin bekommen, ich soll für sie einen Transport ausführen. Wie komme ich zu der Ehre? Sie hat mir eine unglaubliche Belohnung angeboten, damit hätte ich für den Rest meines Lebens ausgesorgt. Das kann ich nicht ausschlagen, ich werde den Auftrag annehmen. Ich wüsste nur zu gerne, wer der Wohltäter war, der mich der Queen empfohlen hat.
In drei Tagen beginnt die große Reise. Es soll wieder nach Afrika gehen. Von dort soll ich einen Schatz holen und nach England bringen. Ich habe vor, meine „Aufzeichnungen“ zu beenden. Stattdessen werde ich ein Logbuch für die Letitia anfertigen. Ich fange noch in diesem Büchlein an, obwohl nicht mehr viel Platz ist. Dann nehme ich danach halt ein neues Buch.
Logbuch der Letitia, 12. September 1902: Nicht mehr lange, dann kommen wir in Afrika an. Marion wollte es zwar nicht, aber ich habe Cedric mitgenommen. Warum auch nicht? Das Reisen macht ihm viel Spaß. Gut, unter der Auflage, dass wir zwei Aufsichtspersonen mitgenommen haben, hat sie ihn gehen lassen. Ein junges Pärchen, Victoria Norton und Daniel Baker. Ist zwar nicht nötig, aber wenn Marion es denn so will. Sei mir alles egal.
Logbuch der Letitia, 25. September 1902: Wir sind abgereist. Aus Afrika. Heute ist der zweite Tag der Rückreise. Ankunft in Afrika war mit Überraschungen verbunden. Wir wurden von Mary, meiner Schwägerin begrüßt. Sie war allein. Nachdem wir abgereist waren, hat ihre Beziehung nur noch ein paar Wochen gehalten. Sie war verlobt, aber zur Heirat hat es nicht gereicht. Arme Mary! Sie sagte, sie will mit uns mitkommen. Einen Neuanfang in England starten. Ich habe ihr gesagt, dass das alles kein Problem sei. Sie ist jetzt an Bord. Es sind noch ein paar zahlende Passagiere dabei.
Logbuch der Letitia, 1. Oktober 1902: Wir haben Glück mit der Witterung. Keine Stürme bis jetzt, im Gegensatz zu den Warnungen, die wir gehört haben. Mary sagt, ich habe mich sehr verändert. Ich sei älter geworden in den paar Monaten unserer Abwesenheit. Sie kann das wohl besser beurteilen. Ich fühle mich jedenfalls bestens. Ich freue mich auf zuhause, auf Marion.“
Hier war das Buch zu Ende. Vivien schlug es zu. Jetzt hatte sie endlich einen Einblick in das Leben von Charles Letticeworth erhalten. Hätte sie dieses Buch früher gefunden, wäre alles klar gewesen. Nun, das Buch endet dort, wo das Logbuch auf dem Schiff begonnen hatte. Ich weiß jetzt also ganz genau, was vor dem 3. Oktober 1902 geschehen ist. Ich muss herausfinden, was danach geschah, dachte Vivien. Ein seltsamer Lärm aus dem Innenhof ließ sie aufschauen. Was soll das, was ist da los? Wieder hörte sie eine Stimme von irgendwoher. „Sie hätten die Vergangenheit besser ruhen lassen. Dieses Schloss wird ihr Untergang sein!“ Vivien stürzte zum Fenster. Sie sah, wie das Schloss zusammenbrach.
Es schien, als ob der Erdboden sich in Luft aufgelöst hatte. Das Schloss schwebte in einem dichten Nebel und zerbrach langsam vom Keller her in Einzelteile. Vivien sah die untersten Steine ins Nichts fallen. Flucht war jetzt höchstes Gebot. Vivien schnappte sich das Buch und rannte hinaus auf den Flur. Zu ihrer linken waren mehrere Türen. Sie waren verschlossen, erst die vierte Tür ließ sich öffnen. Sie führte zu einer Wendeltreppe, die Vivien schnell herablief. Nach wenigen Schritten stolperte sie und fiel die letzten Stufen hinab. Nachdem sie sich erholt hatte, riss sie die Tür auf, die sich ihr darbot. Sie führte in den unteren Flur. Von rechts löste sich der Flur auf, daher sprintete sie nach links. Vivien konnte gar nicht schnell genug durch die nächste Tür hasten. Sie landete in einem alten Saal. An der Wand hing ein Wappen, darunter sollten wohl einst zwei Lanzen gekreuzt hängen. Es war nur noch eine dort, statt der anderen war ein weißer Fleck an der Wand zu sehen. Dafür konnte Vivien sich keine Zeit mehr nehmen. Der Raum hatte keine weiteren Türen, aber eine Wand war zum Teil eingestürzt. Ohne weiter nachzudenken hechtete Vivien durch das Loch und landete wieder in der Eingangshalle. Die Freitreppe war eingestürzt, das Nichts fraß sich immer weiter durch das Schloss. In der Halle war es sehr staubig und es stürzten immer wieder Mauersteine von der Decke. Der Nebel, der das Schloss zerstörte, war direkt hinter Vivien. Sie rannte zur Ruine der Treppe und wollte den Trümmerhaufen hinaufklettern, als sie hinter den Steinen einen Durchgang erkannte. Er war zwar ziemlich schmal, doch Vivien nahm darauf keine Rücksicht. Sie ging geduckt den Gang herab. Er führte immer weiter abwärts und Vivien hatte Angst, dass das Nichts plötzlich durch den Boden dringen würde. Es war noch immer erbarmungslos hinter ihr her. Der ohrenbetäubende Lärm von den einstürzenden Steinen machte Vivien ganz konfus. Sie rannte und stolperte bis ans Ende des Ganges. Eine schwere Kerkertür verschloss den Durchgang. Vivien mühte sich in Panik ab und drückte aus Leibeskräften gegen die Tür. Sie öffnete sich schwerfällig. In der nächsten Kammer blickte Vivien sich um. Es war nicht, wie sie erwartet hatte, eine Folterkammer oder ein Gefängnis, sondern musste der Aufgang zu einem der Ecktürme sein. Eine Wendeltreppe führte nach oben. Windung um Windung lief Vivien nach oben, bis ihr schwindelig wurde. Sie klammerte sich an die massive Mittelsäule und verschnaufte. Als sie jedoch bei einem Blick nach unten den Nebel aufsteigen sah, rannte sie weiter. Durch eine Holzluke erreichte sie schließlich das Turmzimmer. Es blieb ihr keine Wahl, sie musste aus dem Fenster steigen. Sie kletterte mit dem rechten Bein zuerst über das Sims. Die Wunde schmerzte fürchterlich. Vivien zog das linke Bein nach und stand mit wackeligen Beinen auf dem Giebel des Schlosses. Der einzige Weg führte über das First zum nächsten Turm. Sie ging in die Knie und kletterte vorsichtig zum anderen Turm hinüber. Dort angekommen ergriff sie die Verzweiflung. Die Zerstörung war gewaltig fortgeschritten. Es gab nur eine Rettung; sie musste immer weiter nach oben. Eine Eisenleiter führte an der Außenseite des Turms nach oben. Eine Stufe nach der anderen erklomm Vivien, bis sie zuletzt auf der Zinne des letzten Turmes stand. Nun saß sie endgültig in der Falle. Der Mörder hatte seine Rache an ihr vollübt. Nein, dachte Vivien. Nicht, wenn ich die Initiative ergreife! Sie schaute nach unten. Da es keinen Weg zurück gibt, werde ich nach vorne sehen. Sie stieß sich mit beiden Beinen von den Ziegeln ab und sprang ins Nichts.
Sie fiel in den Nebel, der kein Ende zu haben schien. Alles um sie herum war weiß. Dann endlich, noch während sie weiter hinabstürzte, wurde es klarer. Und dunkler, denn der Nebel löste sich auf. Es wurde Nacht um sie herum. Vivien blickte nach unten und sah, wie sie genau auf ein Schiff mitten im Meer zusteuerte. Sie schloss die Augen. Obwohl sie eine harte Landung erwartet hatte, saß sie, ohne dass sie es bemerkt hatte, plötzlich mitten auf dem Oberdeck der Letitia. War alles nur eine Illusion? Vivien fühlte das Notizbuch in ihrer Hand. Nein, ich war wirklich auf dem Schloss. Um sie herum begann ein wundersames Leuchten.
Ein leichter Wind kam auf. Um das Schiff herum erschien Licht in allen Spektralfarben. Es kam von allen Seiten, auch aus dem Himmel und drängte sich an Vivien heran. Wie unendlich viele Nordlichter strahlte es um sie herum. Zuerst noch schwach, dann immer stärker, mit immenser Kraft wirkte das Leuchten auf Vivien. Sie fühlte sich geborgen inmitten dieses Lichtes. Bald war das ganze Schiff von den Lichtern erhellt. Dazu kamen leise Stimmchen, unendlich viele. Vivien schaute genau ins Licht. Als sich ihre Augen daran gewöhnt hatten, konnte sie nach und nach Gesichter erkennen. Erst eines, dann viele. Dann die Körper. Es waren Geister. Unzählige Geister hatten sich um sie herum auf dem Schiff versammelt. Sie alle schauten Vivien freundlich an. Sie konnte Mary Riley und Victoria Norton inmitten der Menge erkennen. Das mussten die Opfer sein. Unglaublich, sie sind alle versammelt. Das Licht ballte sich zu einer Masse, es schwirrte umher und leuchtete in die Nacht. Dann teilte es sich plötzlich in viele kleine Lichter, die wie Glühwürmchen aussahen. Sie bildeten einen Pfad, der zur Brücke führte. Vivien stand staunend auf und folgte dem Weg des Lichtes.
An der Brücke angekommen, sah sie, wie die Lichter zur Treppe nach unten schwebten. Sie ging die Treppe hinunter. In der Empfangshalle schwirrten die kleinen Flammen wieder wild umher. Vivien drehte sich herum. Wohin nun? Zeigt es mir, dachte sie. Sie spürte, dass die Geister ihre Gedanken verstehen konnten. Sagt es mir, dachte sie, wer ist der Mörder? Wo ist er? Die Lichter schwebten in die große Halle mit den Statuen. Sie flogen direkt auf ein Gemälde zu. Es war das Bild einer Frau. Alle kleinen Lichter versammelten sich dort und erleuchteten es. Das Gesicht strahlte Vivien entgegen. Ich habe es schon einmal gesehen, dachte sie. Auf den Fotos von Daniel. Und… im afrikanischen Zimmer. Diese Frau war…
Natürlich war ich es. Hätten sie sich doch denken können“, erschallte es hinter Vivien. Mit einem Mal war das Licht verschwunden, jegliche Atmosphäre von Geborgenheit hatte Vivien verlassen. Sie drehte sich um. Marion Letticeworth stand in der Tür.
Sie kam langsam auf Vivien zu. „Ich habe ihnen gesagt, sie sollen sich nicht in Sachen einmischen, die sie nichts angehen. Ich habe ihnen gleich bei ihrer Ankunft gesagt, dass sie alles in Ruhe lassen sollten. Warum konnten sie nicht wie alle anderen sein und ihre Seele schlafen legen? Mit welcher Impertinenz sie mir auf der Spur geblieben sind, ist unglaublich.“ Vivien war geschockt. „Marion? Sie haben die Morde begangen? Aber wieso? Warum das alles?“ Marions Stimme war bitter, als sie zu sprechen begann.
Sie haben doch fast alles gesehen. Fast alles gelesen, was sich auf diesem Schiff befindet. Hat ihnen das keinen Aufschluss gegeben? Ich habe alles verloren. Jemand sollte dafür büßen. Ich habe sie alle umgebracht. Nur meinen Mann nicht. Es war der Beginn des Dramas… Doch sie sollten wissen, dass die Geschichte vor über hundert Jahren in Afrika begonnen hat.
Ich war ein glückliches junges Mädchen, lebte mit meiner Schwester in einem Eingeborenendorf und hatte keine Sorgen. Es war ein schönes Leben, das ich geführt habe! Bis eines Tages aus heiterem Himmel ein junger Mann zu uns in Dorf kam. Charles. Ich war sofort von seinen Augen fasziniert. Sie haben mir alles über ihn verraten. Sie waren leer, dennoch traurig, am Tag seiner Ankunft. Er schien, als würde in seinem Leben etwas fehlen. Er sagte, ermache Urlaub und wollte nur mal ein wenig ausspannen. Ich wollte es nicht glauben. Dennoch hielt ich mich lange Zeit zurück. Über ein Jahr habe ich diesen Mann beobachtet und ihn schätzen gelernt, bis ich dann eines Tages auf ihn zugegangen bin. Sein Wesen hatte mich sofort fasziniert. Ich war beeindruckt von der Stärke seines Geistes. Er ließ sich nichts anmerken von den Schmerzen, die auf seiner Seele lasteten. Damals dachte ich, dass es Schmerzen seien. Es war jedoch etwas mir total Fremdes. Eine Leere hatte ihn ergriffen, etwas fehlte in seinem Leben, das er selbst nicht kannte. Er war auf der Suche nach etwas, wusste aber nicht, was es war. Er hoffte, es in Afrika finden zu können. Und wie die Geschichte zwischen uns beiden dann weitergegangen ist, das wissen sie ja“, sagte Marion mit einem Blick auf das Buch, das Vivien noch immer in der Hand hielt.
Ich mache vielleicht weiter an dem Tag, als Charles unseren Cedric mit auf die Reise genommen hat. Die Sache mit dem Schatz. Ich war dagegen, dass der Junge mitfährt. Ich hatte Angst um ihn, ich wollte nicht mein Ein und Alles verlieren. Dennoch ließ Charles sich nicht davon abhalten, ihn mitzunehmen. Auf die Reise habe ich dann noch dieses Pärchen geschickt, damit sie auf ihn aufpassen. Das war ein Fehler, den ich mir nie verzeihen werde. Und denen auch nicht.“ Ihre Stimme war zornerfüllt. „Daniel Baker und Victoria Norton. Sie sind Schuld am Tode meines Sohnes. Wenn sie auf Cedric aufgepasst hätten, wäre er nie ertrunken. Damit hat alles angefangen! Nachdem mein Mann von der Reise zurückgekommen war, hat er mir unter Tränen gestanden, was passiert ist. Ich habe mich in mein Zimmer eingeschlossen und geweint. Ich habe meinen Sohn geliebt, verstehen sie? Geliebt, er war mein Schatz! Deswegen habe ich mir solche Sorgen um ihn gemacht. Mein Cedric war mein ganzer Stolz! Ich wollte nicht mit auf Charles´ törichte reisen, ich wollte stattdessen zusammen mit Cedric bleiben und auf ihn warten können. Können sie sich nicht vorstellen, wie es für eine Mutter ist, von ihrem Sohn getrennt zu sein?“ Vivien musste schlucken. Sie fragte: „Und was ist danach geschehen? Sie haben in ihrem Zimmer gesessen und geweint. Aber danach?“
Danach, danach! Sie wollen doch nur wissen, warum ich alle umgebracht habe. Ich lasse mich nicht hetzen. Sie sollen verstehen, warum ich das alles getan habe. Ich will, dass sie zur Einsicht kommen, dass sie an meiner Stelle ebenso gehandelt hätten.“ Verbittert ging sie zum Kamin und sprach zur Wand. „Wir haben uns wochenlang nur angeschwiegen. Ich war zu betäubt von dem Schock, als dass ich klare Gedanken hätte fassen können. Charles hat sich die Schuld an der Tat gegeben. Er schwor sich, nie mehr eine Seereise zu machen. Ich habe Tag und Nacht nur aus meinem Fenster gestarrt. Er wollte das Schiff als Mahnmal für das Unglück herrichten und dann symbolisch versenken, um der Angelegenheit ein Ende zu machen. Der Arme muss schwer mit sich gekämpft haben. Ich war traumatisiert damals. Ich wurde erst wieder klar im Kopf, als ich meinen Mann tot in dem alten Saal des Schlosses gefunden hatte. Das war fast ein Jahr nach dem Unglück. Damit war für mich alles aus.
Charles hatte Selbstmord begangen. Er hatte die alte Lanze von der Wand genommen und mit der Spitze nach oben zwischen die Steine im Boden geklemmt. Dann hat er sich rückwärts drauffallen lassen. Das war nicht nur sein, sondern auch mein Ende. Ich hatte keinen Halt im Leben mehr. Mein Sohn war tot, und nun hatte ich auch noch meinen Mann verloren.
Ich begann, meine Chancen zu überdenken. Was hatte ich noch? Nichts. Nachdem ich zuerst mich für den Tod meines Sohnes verantwortlich gemacht hatte – denn ich hätte ihn nie auf die Reise gehen lassen dürfen – kam ich zur Einsicht, dass dieses verfluchte Pärchen die gesamte Schuld trug. Ich wollte meine Familie rächen. Sie mussten sterben. Ich nahm die Lanze, auf der mein Mann sich aufgespießt hatte, und räumte die beiden aus dem Weg. Glauben sie mir, es fiel mir nicht schwer. Ich spürte sogar eine große Erleichterung. Endlich, dachte ich, könnte ich die Angelegenheit ruhen lassen. Ich war mit allem im Reinen. Wenn Charles damals nicht meine Schwester mitgebracht hätte. Die gute Mary. Sie hat mich bei der Polizei angeschwärzt, um mir zu helfen. Das hat sie doch zu ihnen gesagt, oder? Sie war überzeugt, dass ich Charles umgebracht habe. Sie war felsenfest von meinem Motiv überzeugt, ich kann ihr das nicht mal übel nehmen.
Sie müssen wissen, dass wir von unseren Eltern in Afrika ausgesetzt wurden. Wir haben sie nie kennen gelernt. Die überaus freundlichen Dorfbewohner haben uns dann großgezogen. Wir waren die einzige beiden weißen Mädchen im Dorf. Ich denke, das hat Charles damals auf uns aufmerksam gemacht“, sagte Marion mehr zu sich als zu Vivien. Diese wiederum drängte darauf, die Wahrheit zu erfahren. „Was hat das alles mit ihrem sogenannten Motiv zu tun? Warum konnte Mary daraus schließen, dass sie ihren Mann ermordet haben?“ „Wir beide waren ohne Eltern. Ich wollte, dass Cedric niemals dieses Schicksal widerfährt. Mary dachte, dass ich Charles beschuldigt hätte, mir meinen Sohn entreißen zu wollen. So war es aber nie! Daraus hat sie dann geschlossen, dass seine Abreise mit meinem Jungen und sein tragischer Tod in mir dann ein Feindbild von meinem Mann erzeugt hätten. Diese blöde Kuh! Wegen ihrer Geschichte wurde ich hingerichtet. Und das, obwohl mein Mann doch Selbstmord begangen hatte! Dann wurde ich erst richtig böse. Und darüber hinaus verlor ich die Fähigkeit, Schuldige von Unschuldigen zu unterscheiden. Ich fühlte mich zu Unrecht hingerichtet und hatte das unglaublich starke Gefühl, noch etwas erledigen zu müssen. Ich habe mich mit meiner Seele auf diesem Schiff wiedergefunden, während mein Körper noch an Englands Küsten umherwandert. Das dürfen sie gerne glauben, schließlich haben sie ihre eigene Ermordung angesehen!
Zuerst war Mary dran. Ich habe sie umgebracht, um mich für das zu rächen, was sie mir angetan hat. Dann mussten die Leute beseitigt werden, die damals auf der Schiffsreise dabei waren. Zum Glück hatte mein Mann in seinen Alben genügend Fotos von damals. Sie alle habe ich über den Jordan geschickt, ohne auch nur ein bisschen Reue zu fühlen. Dann natürlich alle Anwesenden der Gerichtsverhandlung damals. Sie mussten sterben, damit nichts von damals erzählt werden konnte. Irgendwann merkte ich, wie die Angelegenheit totgeschwiegen wurde. Dann begannen meine Qualen. Das nötige war erledigt. Was sollte ich nun tun? Ich konnte nicht noch mehr unschuldige Menschen umbringen? Dennoch war ich dazu verdammt, eine Ewigkeit af diesem Schiff zu verbringen? Niemals, dachte ich. Dann entdeckte ich die Uhr.“ Sie blickte hinauf zu der großen Uhr über dem Kamin.
Ich wusste sofort, wenn diese Uhr abgelaufen ist, würde alles vorbei sein. Bis dahin war es aber noch ein langer Weg. Das Schiff trieb orientierungslos vor Englands Küste auf und ab. Selten hat ein Mensch die Letitia zu Gesicht bekommen, und wenn doch, so musste er durch meine Hand sterben, damit er nichts von seiner Entdeckung erzählen konnte. Es waren so wenige Opfer, dass die Behörden sich nicht weiter interessiert haben. Nur immer die Warnungen: Gehen sie nachts nicht an die Küsten, es besteht Sturzgefahr und so weiter. Es wurden alle möglichen Ausreden gefunden für das Verschwinden von ein paar Leuten. Sind sie nun zufrieden? Wissen sie, was sie wissen wollen? Können sie verstehen, wie ich mich als Mutter wie auch als liebende Ehefrau gefühlt habe?“
Sie sind wahnsinnig“, sagte Vivien. „Ich kann vielleicht nachvollziehen, wie sie sich gefühlt haben, aber derartige Vergeltungsgedanken? Ich verstehe einiges noch nicht. Zum Beispiel sollten sie mir mal erklären, wieso sie diesen Brief an Victoria Norton geschrieben haben, in dem sie ihr sagen, dass sie beide quitt sind und sie sich keine Vorwürfe mehr machen soll. Wir beiden wissen, dass sie auf keinen Fall quitt waren und sie sich ihre Genugtuung mit fatalen Folgen für das junge Pärchen verschafft haben!“
Wissen sie, wann ich den Brief geschrieben hatte? Jedenfalls war es, bevor mein Mann gestorben war. Ich befand mich in meiner Phantasiewelt, in der ich alleine durch einen Wald ging und nicht wusste, was ich tun sollte. Damals gab ich dem Pärchen nicht die Schuld. Damals war ich ja gar nicht in der Lage dazu. Erst, als Charles sich das leben nahm, war mir klar: Er hat es nur getan, weil sie meinen Sohn ermordet haben! Dafür mussten sie büßen!“ Vivien zögerte. „Sagen sie mir doch bitte, wie sie ihre eigene Schwester ermorden konnten. Bedeutet ihnen die Familie denn gar nichts?“ Marion war erbost.
Sie sind eine unglaublich ignorante Person. Was glauben sie denn, wie viel mir mein Mann und mein Sohn gegeben haben? Und dann behaupten sie, Familie bedeute mir nichts? Mary hat mich zerstört. Alles hätte friedlich sein können, die hätten doch nie herausgefunden, wer Baker und Norton erledigt hat. Ich war wieder ich selbst und hätte ein neues Leben anfangen können. Und dann kam Mary mir in die Quere und lieferte mich ans Messer.“ Vivien schüttelte den Kopf. Das alles erschien ihr bar jeder Logik. „Warum haben sie ihren Schwager umgebracht? Hat er auch das Schiff gesehen, oder wieso musste er sterben?“
Nein, er hat dieses Schiff als Lebender nie gesehen. Genauso wenig, wie er Schloss Letticeworth, seine Erbschaft je gesehen hatte. Er ließ das Anwesen verkommen, das ihm sein Vater so großzügig vermacht hatte. Er sollte für diese Pietätlosigkeit bezahlen. Ich schwang ein weiteres Mal die Lanze.“
Marion drehte sich vom Kamin weg und ging zu Mitte der Halle. Vivien stand noch immer vor der Tür zur Empfangshalle. Eine Sache wollte sie von Marion noch wissen. „Sagen sie mir, was passiert, wenn die Uhr abgelaufen ist.“ Marion schmunzelte. „Dann wird sich dieses Schiff in Luft auflösen und all seine Passagiere, alle Seelen mit sich in die Hölle reißen. Sie können nichts tun, um das zu verhindern. Dann werde ich endlich die Genugtuung haben, die mir gebührt, und keiner wird sie mir wieder nehmen können!“ Viviens Augen funkelten. „Ich werde das zu verhindern wissen. Sie werden für ihre Morde bezahlen. Es darf nicht sein, dass all diese Menschen umsonst gestorben sind!“ Marion senkte ihre Stimme. Sie sagte in einem leichten, seltsam verträumten Ton: „Keiner dieser Menschen ist umsonst gestorben. Niemand stirbt umsonst, wie sie es nennen. Ein Leben für ein Leben. Ihre Seelen landen auf diesem Schiff, dafür gelangen andere, längst verlorene Geister wieder in lebendige Körper. Ein Teil stirbt, ein anderer gedeiht. Ein reger Tausch, wenn sie es so wollen.“ Abrupt änderte sie den Tonfall. „Und sie werden hier enden. Ihre Seele wird in der Hölle landen und dort auf ewig schmoren!“ Marion breitete ihre Arme aus. Eine Druckwelle ging von ihrem Körper aus, die Vivien erfasste und aus dem Saal in die Empfangshalle schleuderte. Sie wurde gegen das Treppengeländer geschmettert. Mit einem lauten Knallen flogen die Türen zur Statuenhalle ins Schloss. Vivien konnte noch Marions lautes Lachen hören, bevor sie in Ohnmacht fiel.



Es sollte ihr letzter Schlaf sein…