Kapitel
9
– Verwirrung
Vivien
wachte wieder in ihrem Bett auf. Sie wollte gar nicht wissen, wie sie
dorthin gekommen war. Außerdem war etwas ganz anderes nicht in
Ordnung.
Sie
hatte keine Ahnung, was es war. Ein seltsames Gefühl beschlich sie
dennoch. Irgendetwas ist hier faul. Vivien stand auf und schaute sich
in ihrem Zimmer um. Nichts war zu erkennen. Sie schaute durch das
Bullauge. Die See war ruhig. Verdächtig ruhig. Es war sogar richtig
mild draußen geworden. In ihrem Zimmer war es gemütlich warm. Fast
ein bisschen zu warm, dachte Vivien. Dann stutzte sie. Eine schlimme
Vorahnung bahnte sich ihren Weg zu Viviens Verstand. Mit einem Satz
war Vivien bei ihrer Tür. Sie hatte sich nicht geirrt. Vom Flur
schlugen ihr dichte Flammen entgegen. Irgendwo war ein Feuer
ausgebrochen. Ich muss vom Schiff, bevor ich mit verbrenne, dachte
Vivien in Panik. Ihr Herz schlug schneller. Was soll ich tun,
hämmerte es immer wieder in ihren Gedanken. Nur weg hier!
Der
Fluchtweg nach rechts war durch das Feuer versperrt, so dass sie nach
links Richtung Heck flüchten musste. Alle Türen waren verschlossen,
nur der Hinterausgang ließ sich öffnen. Vivien rannte hindurch und
stolperte in die Halle. Bis hierhin war das Feuer noch nicht
vorgedrungen, doch stellte sich ihr ein ganz anderes Problem in den
Weg: Das Schiff musste ein Leck haben. Vom Gitter, das nach unten
führte, drang Wasser langsam, aber sicher in den Raum. Vivien
hastete zur anderen Flurtür und wollte durch den zweiten Korridor
die Flucht antreten. Je näher sie der Empfangshalle kam, umso heißer
wurde es. Vivien fürchtete, sie würde zusammenbrechen. In diesem
Flur brannte es noch nicht. Sie öffnete die Vordertür und stürzte
in ein Flammenmeer. Das Feuer verzehrte alles Brennbare, Tische und
Stühle waren ebenso in Flammen aufgegangen wie das Geländer der
Haupttreppe. Die Bilder an den Wänden waren schwarz. Vivien hielt
sich einen Arm vor das Gesicht und lief die Treppe hinauf. Als sie
ans Oberdeck trat, bot sich ihr ein Bild des Grauens. Die Segel
brannten lichterloh, die Flammen schlugen von den Kistenstapeln
meterhoch gen Himmel. Das Heck inzwischen neigte sich immer tiefer,
das Wasser musste wahnsinnig schnell in das Schiff dringen. Ein
Krachen ließ Vivien aufhorchen. Was war jetzt los? Langsam drehte
sie sich um. Sie sah gerade noch, wie der vordere Mast knickte. Sie
wollte wegrennen, doch es war zu spät. Der Mast brach ein und
stürzte mit einem gewaltigen Getöse auf sie nieder.
Sie
riss die Augen auf. Was ist los! Sie starrte plötzlich an die Decke
ihres Himmelbettes, spürte noch immer, wie ihr Puls raste. Dann
schaltete sich ihr Gehirn ein. Vivien, beruhige dich, es war ja nur
ein Alptraum, sagte sie sich. Doch sie konnte nicht wissen, dass der
wahre Alptraum erst mit ihrem Erwachen begonnen hatte.
Sie
schlug die Decke zurück und setzte sich auf. Schlaftrunken wankte
sie hin und her. Ich muss erst mal richtig wach werden, sonst komme
ich gar nicht mehr zurecht. Ich brauche frische Luft, dachte sie und
stand auf, um das Fenster zu öffnen.
Die
ersten Schritte fielen ihr ziemlich schwer. Sie taumelte von hinten
nach vorne, von einer Seite zur anderen. Auch konnte sie kaum ein
klares Bild ihrer Umgebung machen. Es schien ihr, als hätte sie zu
viel getrunken. Aber ich trinke doch grundsätzlich nie so viel.
Warum habe ich denn einen Brummschädel? Vivien sah, dass das Zimmer
sich grundlegend verändert hatte. Mal wieder war das Bullauge
verschwunden und stattdessen eine Tür dort. Aber auch an jeder der
anderen Wände war eine Tür. Die ganze Einrichtung schien außerdem
Kopf zu stehen. Alles war an der Decke festgemacht. Nichts fiel
herunter, alles war an seinem Platz. Oder war sie selbst es, die Kopf
stand? Vivien versuchte sich zu konzentrieren. Es gelang ihr beim
besten Willen nicht. Ihre Beine wurden weich, sie wollte sich auf das
Bett zurücksetzen, doch selbst das hing jetzt an der Decke. Bis auf
eine Tür waren alle Ausgänge verkehrt herum angebracht. Sie konnte
sie nicht öffnen, da sie zu klein war, um an die Griffe zu reichen.
Was ist bloß mit mir los? Plötzlich wurde es vor ihren Augen ganz
bunt. Sie konnte sehen, wie alle Personen, die sie bisher in ihren
Ermittlungen kennen gelernt hatte, in einer Reihe standen und
nacheinander von einer schwarzen Gestalt erstochen wurde. Dabei
trugen alle ein Lächeln im Gesicht, während sie ins Nichts
stürzten. Denk dir nichts dabei, Vivien. Ich bin ein Geist, und
jemand anderes auch. Dieser Jemand spielt mir das alles vor, um mich
zu verwirren. Ich werde mich einfach auf den Boden legen und
versuchen, zu schlafen. Dann wache ich wieder auf, wenn alles normal
ist, hoffte sie; als sie sich aber hingelegt hatte, wollte es ihr
nicht gelingen, einzuschlafen. Sie fühlte sich unendlich müde und
hatte schreckliche Kopfschmerzen. Sie wälzte sich hin und her, doch
es wollte nichts nützen. Sie ging im Raum auf und ab, so gut sie
konnte, doch vor lauter Verwirrung taumelte sie unkontrolliert durch
den Raum, stieß gegen die Wände und fiel mehrmals hin.
Nach
einiger Zeit des Stolperns und Wälzens, die Vivien wie eine Ewigkeit
vorkam, merkte sie erschrocken, wie die Luft zum Atmen knapp wurde.
Sie musste husten. Ich werde hier zu Tode gefoltert, dachte sie. Ach
was, ich bin ja schon tot. Im selben Moment verfluchte sie ihren
Galgenhumor. Was sie zu erleiden hatte, war schlimmer als der bloße
Tod. Es gab hier doch eben noch eine Tür, die normal aussah, wo ist
sie doch gleich? Vivien drehte sich im Kreis, schien sich endlos zu
drehen, bevor sie die Tür fand. Ihr wurde schwindelig und sie kroch
auf allen Vieren zur Tür. Mit der rechten Hand langte sie nach dem
Knauf und zog sich daran hoch. Auf halbem Wege gab dieser jedoch nach
und brach aus der Fassung heraus. Vivien sackte wieder zu Boden. In
ihrer Hand hielt sie den runden Messingknauf. Verdammt! Was soll ich
denn jetzt machen? Aus lauter Verzweiflung nahm Vivien sich vor, die
Tür aufzubrechen. Sie stand auf und ging zur gegenüberliegenden
Wand. Dann nahm sie, so gut es ging, Anlauf. Sie zielte mitten
zwischen die beiden Türen, die vor ihrem Auge verschwammen, sich
dann wieder vereinigten und auf einmal in vier Türen
auseinanderbrachen. Dann ließ sie sich einfach nach vorne fallen.
Ihr wurde schwarz vor Augen, aber sie wurde nicht ohnmächtig. Sie
spürte, wie sie mit der linken Schulter vorweg gegen das Holz
krachte. Es schien ein wenig nachzugeben. Doch damit war die Tür
nicht geöffnet. Obwohl ihr mittlerweile alles wehtat, sie Sterne vor
den Augen sah und noch immer wankte, versuchte Vivien es ein zweites
Mal auf die gleiche Methode. Dieses Mal fiel die Tür zusammen mit
ihrem Körper in einen Flur hinein.
Vivien
blickte langsam auf. Sie wischte mit dem Ärmel die Haare aus dem
Gesicht und versuchte, Einzelheiten zu erkennen. Ihr war
sterbenselend zumute. Sie befand sich wieder in dem Korridor, an
dessen Ende sie die Leichen von Tim und Sally gefunden hatte. Es muss
wohl sein, dachte sie und richtete sich mühsam auf. Mit zitternden
Knien tastete sie sich an der Wand entlang, um nicht umzufallen. Am
Ende des Flures stieg sie die lange Treppe hinunter, stolperte dabei
und fiel die letzten Stufen hinab.
Als
Vivien wieder zu sich kam, sah sie direkt neben ihrem Kopf die Axt
liegen, die sie damals hatte fallen lassen. Sie wollte aufschreien,
doch sie war zu schwach dazu. Ihre Stimme versagte. Zwar war sie nur
noch zu wenigen klaren Gedanken fähig, dennoch wusste sie, dass sie
mit der Axt die anderen Türen in ihrem Zimmer einschlagen könnte.
Trotz Schweißausbrüchen gelang es ihr, die Axt hinter sich
herzuziehen, während sie den Flur zurückkroch. In ihrer Kabine
angekommen konnte sie alles nur noch schemenhaft erkennen. Sie erhob
die Axt und schlug auf die erste Holztür ein. Nach mehreren
Schlägen, zwischen denen Vivien sich immer wieder ausruhen musste,
hatte sie ein genügend großes Loch in die erste Tür geschlagen.
Sie kroch hindurch, blieb dabei aber an einem Nagel hängen, wodurch
ein langer Riss in ihre Hose geriet. Auch ihr rechtes Bein blieb
dabei nicht unversehrt. Sie spürte einen stechenden Schmerz. Vivien,
du darfst jetzt nicht aufgeben. Vielleicht kommst Du hier weiter,
hoffte sie. Der Raum, in den sie gelangte, war jedoch eine
Enttäuschung. Er war quadratisch und hatte keine Einrichtung.
Gegenüber der Tür hing, natürlich verkehrt herum, als einziges die
große Uhr aus der Halle an der Wand. Sie tickte noch immer, das
Ticken war jedoch unerträglich laut, wie eine kleine Explosion, die
Vivien immer wieder aufs Neue durch Mark und Bein ging. Schnell
verließ sie die Kammer, verfolgt von den Schlägen der Uhr. Zurück
in ihrer Kabine bemerkte sie die Wunde an ihrem Bein. Es war nur ein
Ratscher, brannte aber unglaublich stark.
Sie
nahm alle Kraft zusammen und warf die Axt auf die zweite Tür. Zu
ihrer Verwunderung war sie nicht verschlossen, sondern sprang sofort
auf. Vivien blickte in einen schwarzen Raum. Alles ist besser als
dieses Chaos hier, dachte sie und ging hinein. Ihre Kopfschmerzen
wurden immer stärker und in ihren Schläfen hämmerte das Blut.
Vivien fand sich in einem Gerichtssaal wieder. Zeugen sprachen vor,
der Richter hatte das Wort. „Zeugin Victoria Norton! Wer hat sie
ermordet?“ Victorias Geist antwortete: „Ich weiß es nicht, ich
habe nur einen Arm gesehen, als er mich würgte!“ „Zeuge Charles
Letticeworth, wer hat sie ermordet?“ Victorias Geist verwandelte
sich in den Kapitän. „Ich habe nur die Silhouette erkennen können,
als ich mich umdrehte.“ „Zeuge John Waters, wer hat sie
ermordet?“ Der Reporter erschien im Zeugenstand. „Er hat mich zu
Boden geschlagen, ich könnte nur seine Schuhe sehen.“ „Diese
zeugen sind doch zu nichts zu gebrauchen, haben alle nur eine
Kleinigkeit gesehen, das nützt nichts. Zeugin Vivien Gloom, wer hat
sie ermordet?“ Der Richter zeigte mit dem Finger bedrohlich auf
Vivien. Sein stechender Blick war unerträglich. „Ich weiß es
nicht“, hörte sie sich sagen. „Der Fall ist abgehakt. Die
Verhandlung wird wegen Unzurechnungsfähigkeit geschlossen.“ Der
Richter schlug mit dem Hammer auf Viviens Kopf, sie taumelte und fiel
zu Boden. Es war der Boden ihrer Kabine. Ich kann nicht mehr. Ich
gebe auf, dachte sie. Es war kaum noch Atemluft in ihrem Zimmer. Sie
nahm die Axt und schlug auf eine der Wände ein, in der Hoffnung,
nicht ersticken zu müssen. Bei ihrem ersten Schlag riss sie ein
großes Loch in die Wand. Die Axt fiel hinaus ins Meer und versank
dort. Sie hatte eine der Außenwände des Schiffes getroffen. Frische
Seeluft strömte ins Zimmer. Es war noch immer Nacht, der Mond am
klaren Himmel spiegelte sich auf dem leicht gekräuselten Wasser
wider. Vivien, die total erschöpft auf dem Boden lag, schloss die
Augen und atmete begierig die kühle Luft ein.
Sie
spürte, wie ihre Lebensgeister zurückkehrten. Langsam verschwand
die abgenutzte Luft aus der Kabine. Als Vivien merkte, wie ihre Sinne
zurückkehrten, sah sie, wie auch in ihrem Zimmer bis auf ein großes
Loch in der Außenwand wieder alles normal war. Die Einrichtung stand
wieder auf dem Boden und alle Türen waren verschwunden. Nur die
Ausgangstür war wieder an ihrem Platz. Gerettet, dachte sie. Jemand
hat versucht, mich zu ersticken. Daher meine Wahnvorstellungen. Es
wird Zeit, dass ich etwas unternehme. Ich werde jetzt dieses Schiff
von oben nach unten nach Hinweisen absuchen. Es bleibt nicht mehr
viel Zeit, das habe ich eindrucksvoll bemerkt. Mit Schaudern dachte
Vivien an die hämmernden Schläge der großen Uhr.
Sie
verließ ihre Kabine. Draußen auf dem Korridor überlegte sie – wo
fange ich an? Ich werde zuerst das Deck und die Brücke untersuchen.
Dann mache ich einen Rundgang über das Unterdeck. Vivien ging zur
Empfangshalle. Sie blickte sich um. Alle Schrecken der letzten
Stunden schienen vergessen zu sein. Nichts deutete darauf hin, dass
eventuell ein anderes Schiff die Letitia gerammt haben könnte oder
dass ein Feuer ausgebrochen wäre. Es war alles so wie bei ihrer
Ankunft. Vivien genoss das Gefühl, wieder sicher gehen zu können.
Auch die Kopfschmerzen waren verschwunden. Mit Entsetzen dachte sie
im selben Moment daran, dass all die armen Seelen, die dieses Schiff
bevölkerten, seit Jahren dieses Spiel mitmachen mussten.
Höllenqualen, nur um danach zu sehen, dass alles wieder normal war.
Vivien
ging um die Haupttreppe herum. Tatsächlich, die Tür zum Funkraum
war noch immer da. Die Tür an der gegenüberliegenden Wand war
allerdings verschwunden. Sie war also nur Illusion gewesen. Langsam
ging Vivien die Treppe hinauf. Oben angekommen musste sie allerdings
zu ihrer Überraschung feststellen, dass die Tür aufs Deck
verschlossen war. Sie hatte sich auch sehr verändert. Wo vorher eine
schlichte Holztür war, versperrte nun eine massive Eichentür mit
Eisenbeschlägen den Durchgang. Ein großes Schlüsselloch ließ
keinen Zweifel daran, dass irgendwo ein Schlüssel zu finden war. Nur
wo?
Kapitel
10
– Klarheit?
Resignierend
stieg Vivien die Treppe wieder hinab. Ihre Nachforschungen mussten
also unten beginnen. Sie nahm sich vor, zuerst den linken Korridor
hinabzugehen. In der Empfangshalle fand sich nichts, was Aufschluss
über eine Mordserie hätte geben können. Unberührt und unversehrt
standen alle Tische und Stühle dort, als warteten sie auf den großen
Besucheransturm. Vivien öffnete die Tür zum Flur.
Auf
geht’s, dachte sie, während sie die erste Tür zu ihrer Linken
öffnete. Dies schien der einzige Raum zu sein, der sich nie
veränderte. Noch immer stand er bis oben hin vollgestopft mit
Koffern und Taschen. Es wird Stunden dauern, das alles durchzusehen.
Ich schaue erst in den anderen Räumen nach, ob ich etwas finde.
Dieses Zimmer wird dann die letzte Möglichkeit sein. Sie musste
wieder niesen. Außerdem hasse ich den Staub! Mit diesen Gedanken zog
sie die Tür hinter sich etwas schwungvoller zu, als sie es
eigentlich gewollt hatte. Sie schritt den Gang hinab. Als sie an der
Stelle vorbeikam, an der einst die Tür zur Kapitänskajüte ihren
Platz hatte, klopfte sie die Wand ab. Nichts war zu hören, der Raum
war verschwunden. Im Notfall könnte sie ja den Spiegel wieder
zurückhängen. An ihrer eigenen Kabine ging sie vorbei, nicht ohne
einen verächtlichen Blick auf das Messingschild zu werfen. „Vivien
Gloom, Reisende“ Pah, von wegen Reisende. Ich werde hier gereist!
Von meinem Zimmer habe ich erst einmal genug! Beim Weitergehen fiel
ihr auf, dass sie noch nie das nächste Zimmer in Augenschein
genommen hatte. War es verschlossen? Weshalb konnte sie es damals
nicht betreten? Die Tür schien einladend, sie war ein wenig nach
innen aufgeschwungen. Natürlich! Hier hingen vorher unendlich viele
Vorhänge. Vivien schaute an die Tür. „Kabine 4b, Mary Riley,
Klägerin“ Nachdem Vivien die Kabine betreten hatte, baute sich vor
ihr eine Rauchwolke auf. Darin erschien ein weiterer Geist, eine Frau
mittleren Alters, die Marion Letticeworth nicht unähnlich war.
„Marion, sind sie das?“ fragte Vivien.
„Nein,
sie Dummchen. Wer sollte wohl in diesem Zimmer hausen? Ich bin es,
Mary Riley.“ Als sie diesen Namen hörte, fing Vivien an zu rasen.
Mit Mühe und Not hielt sie ihre Stimme im Zaum, als sie sagte: „Aha,
sie waren es also, die Mrs Letticeworth des Mordes an Victoria Norton
und Daniel Baker beschuldigt hat! Was haben sie sich dabei gedacht?
Und woher haben sie von dem Unfall wissen können, es war doch alles
geheim?“ Mary Riley schien verwirrt. „Meine Beste, ich bin mir
nicht im Klaren, wie sie ihre Schlüsse ziehen. Dennoch würde ich
gerne versuchen, ihnen zu erläutern, was am 7. Oktober 1902 passiert
ist. Das ist es doch, worauf sie hinauswollen, oder?“ Vivien
reagierte empört. „Halten sie mich nicht für dumm. Am 7. Oktober
wurden Baker und Norton ermordet. Einen Monat nach Letticeworth.
Soviel weiß ich bereits.“
Mary
lächelte süffisant. „Was sind sie doch unkonzentriert. Sind sie
etwa so wütend auf mich? Was habe ich denn getan? Ich meinte den 7.
Oktober 1902, nicht 1903. Genau ein Jahr vorher. Der Kapitän befand
sich auf der Rückreise aus Afrika. An Bord des Schiffes befanden
sich sein Sohn Cedric, das Liebespärchen, die Crew und... ich.“
Vivien wusste nicht, was sie sagen sollte. Mary fuhr fort. „Und
gerade deshalb kann ich ihnen sagen, was geschehen ist, bevor sie als
Außenstehende mit blinden Vermutungen um sich werfen.“ Vivien warf
hastig ein: „Sie bezeichnen mich also als Außenstehende? Ich bin,
falls sie es nicht bemerkt haben, ebenfalls ermordet worden. Damit
stecke ich ja wohl genau so tief in der Sache drin wie sie. Ich will
ihnen mal was sagen. Ich habe mit Victoria Nortons Geist gesprochen.
Sie sagte mir, dass ich das Rätsel um dieses Schiff lösen könnte.
Deshalb bin ich jetzt auf der Suche nach dem wahren Mörder und habe
bereits ein paar Spuren.“ Wieder war es Mary, die bemitleidend
lächelte. „Sie denken wohl, das bisschen Papier, das sie hier auf
dem Schiff finden, seien Anhaltspunkte? Ich bitte sie! Hören sie mir
zu, was ich sage, ist die Wahrheit und nicht so ein Geschwafel, was
sie lesen. Sie scheinen also zu wissen, dass Cedric ertrunken ist.
Victoria und Daniel haben nicht auf ihn aufgepasst und damit eine
Straftat begangen. Ein Jahr später werden sie ermordet. Klarer Fall
für uns, aber die Polizei wusste ja nichts von Cedrics Unglück. Da
vorher noch Charles Letticeworth starb, ergab sich für die Polizei
ein schwieriges Rätsel. Ich habe die Behörden auf die Spur des
Unfalls gebracht und damit auf Marion Letticeworths Fährte
angesetzt. Soll ich ihnen sagen, warum? Aus reinem Mitgefühl!“
Vivien
schwieg. Das alles erschien ihr wenig glaubwürdig. „Es ist
vielleicht schwer für sie, das zu glauben. Sie lebten im 21.
Jahrhundert, da herrschen andere Sitten. Aber ich will sie mal auf
Marion Letticeworth am 10. Oktober 1902 aufmerksam machen. Sie war
ein nervliches Wrack, als ihr Mann ihr mitgeteilt hatte, dass ihr
einziger geliebter Sohn gestorben war. Das Familienglück war dahin!“
Vivien dachte an die Notizen der Letticeworths. Es war grauenhaft,
dass dieses tragische Unglück die Familie derart ruiniert hatte.
Keine Spur von Freude war mehr zu finden. Vivien zog Charles´ Notiz
aus ihrer Tasche und überflog sie. „Ich will unsere gemeinsame
Zeit in Afrika niemals vergessen, sie ist das Einzige, das mir noch
bleibt… Dies ist mein letzter Wunsch, damit ich all diese
schrecklichen Ereignisse endlich hinter mir lassen kann.“ Mary
meldete sich zu Wort. „Sie sehen, dass es die Familie zerstört
hat. Mann und Frau lebten sich immer weiter auseinander. Stellen sie
sich dann Marion vor, nachdem auch noch ihr Ehemann gestorben war!
Und nun überlegen sie, was aus der Frau geworden wäre, wenn auch
noch der Mob hinter ihr her gewesen wäre! Man hätte Nachforschungen
angestellt, alles, was Marion lieb und teuer war, auf den Kopf
gestellt und in ihrer Vergangenheit herumgewühlt. Es hätte sie
vollends zerstört. Ich habe der Polizei den Tipp gegeben, damit
Marion all diese Qualen nicht erleiden musste, sondern ihren ewigen
Frieden hatte.“ Vivien wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel
und sagte: „Und durch ihre Aussage ist Marion hingerichtet worden.
Zu Unrecht, während der wahre Mörder noch herumläuft. Sie sind
Schuld, dass wir auf diesem verfluchten Schiff gefangen sind.
Vielleicht für ewig.“
Mary
senkte den Blick. „Nicht für ewig, wie sie vielleicht schon
gesehen haben. Nicht mehr lange, und unser Schicksal ist besiegelt.
Sie müssen den Täter finden. Ich kann ihnen nur sagen, dass Marion
es nicht war. Ich habe sie beschuldigt, um sie zu befreien. Ich
konnte nicht wissen, welch Auswirkungen mein Handeln haben würde.
Halten sie mich nicht für eine schlechte Person, ich bitte sie!
Versuchen sie zu verstehen, was ich getan habe!“ „Ich kann nicht
verstehen, weshalb sie sich solche Sorgen um eine Fremde gemacht
haben.“ „Eine Fremde? Haben sie sich eigentlich schon einmal
gefragt, wieso ich überhaupt auf der Überfahrt nach England war?
Sind sie nicht stutzig geworden, als ich ihnen sagte, dass auch ich
auf dem Schiff war? Marion Letticeworth war nicht irgendeine Fremde.
Das hätten sie sich auch denken…“ Noch bevor Mary den Satz
beenden konnte, wurde sie hinfort gezogen. Mit einem Rauschen
verschwand ihr Geist und wirbelte eine dicke Staubschicht vom Boden
auf. Ein Blatt Papier wurde von einem Tisch geweht und flog Vivien
direkt in die Arme. Von den jüngsten Enthüllungen total überrannt
ließ sie den Blick über das Blatt wandern.
„An
den unbekannten Leser dieses Briefes! Sie haben großes Glück, dass
Sie diese Nachricht erhalten haben, denn ich habe sie bereits als
Geist geschrieben, und so wie das Zusammentreffen von Geistern
unwahrscheinlich ist, gilt das auch für die Besitztümer der
Geister. Mein Name ist Mary Riley. Ich will nicht viel Wirbel um
meine Person machen. Ich wurde am 24. Juni 1909 ermordet.
Hinterrücks, wie es wohl auch bei Ihnen der Fall war. Dieses Schiff
war ein ziemlicher Schock für mich. Ich habe zwar herausgefunden,
dass der Fluch gehoben werden kann, indem das Rätsel um die
Mordserie gelöst wird, doch was nützt es mir? Ich weiß nicht, wer
die Morde verübt hat. Falls sie nicht wissen, wovon ich rede, suchen
sie die Kajüten von Kapitän Letticeworth und seiner Frau auf. Dort
befinden sich Dokumente, die von der Vergangenheit erzählen. Sie
können sie garantiert lesen, denn sie wurden zu Lebzeiten der beiden
geschrieben. Falls sie den Verstand haben, die Angelegenheit
aufzuklären, habe ich eine Hilfe für sie. Egal, was sie auch hören:
Marion Letticeworth ist zu Unrecht hingerichtet worden, sie hat
Victoria Norton und Daniel Baker nicht ermordet. Der Tod des Kapitäns
war kein Selbstmord. Sie werden schon noch herausfinden, warum. Viel
wichtiger ist, dass sie den wahren Täter finden. Die Zeit läuft,
das sehe ich an der großen Uhr in der Halle. Sie läuft unendlich
langsam, aber vielleicht in ein paar Jahrzehnten wird die Stunde
Zwölf schlagen. Dann ist das Schicksal dieses Schiffes besiegelt.
Bis dahin haben Sie Zeit. Ich habe einen Verdacht. Die Zeitungen
waren damals bereits sensationslüstern, das hat sich nie geändert.
Vielleicht haben sie schon ein paar Artikel gefunden, die sich auf
die Morde beziehen. Wenn nicht, sollten sie mal im Tresor des
Schiffes nachschauen. Achten sie vor allem darauf, wer diese Artikel
verfasst hat und dafür vermutlich eine ziemliche Summe Geld bekommen
hat: John Waters. Ich habe ihn hier auf dem Schiff noch nicht
gesehen, er hat auch keine Kabine hier. Vielleicht wird es Sie
interessieren, dass John Waters nicht sein richtiger Name ist. Er
wurde auf den Namen Jonathan Letticeworth getauft. Glauben Sie mir,
ich muss es wissen. Es ist der Bruder des Kapitäns. Ich kann mir
nicht vorstellen, dass er Charles getötet hat, aber es ist gut
möglich, dass er die Serie am Laufen hielt, um weiterhin mörderisch
gute Stories zu bekommen. Überlegen Sie nur, welch Aufsehen der
Prozess gegen Marion erregt hat; die Zeitungen waren voll davon. Auch
für die Hinrichtung Marions trägt nicht Jonathan die Schuld. Das
müssen Sie mir glauben. Dennoch kann es sein, dass Jonathan Baker
und Norton umgebracht hat, um die ganze Angelegenheit ins Rollen zu
bringen. Ich weiß nicht, wann Sie diese Nachricht lesen, es kann
sein, dass es bereits über ein halbes Jahrhundert später ist.
Vielleicht lebt John Waters inzwischen gar nicht mehr und die
Angelegenheit hat sich geklärt. Dann allerdings wäre es schon
seltsam, dass Sie sich noch immer auf diesem Schiff befinden, oder?
Denken Sie darüber nach. Mary Riley, 13. April 1916“
Damit
hatte Vivien nicht gerechnet. Dass ausgerechnet der unscheinbare
Reporter hinter den Morden stecken sollte? Aber was Mary geschrieben
hatte, klang plausibel. Zumindest nach Allem, was Vivien selbst
bisher entdeckt hatte. Ich fasse es nicht, dass alles so abgelaufen
sein soll, dachte sie. Ich muss noch einmal in Waters´ Kabine. Bevor
sie jedoch das Zimmer verließ, schaute sie sich nochmals genau um.
Der Schreibtisch, das einfache Bett, die Lampe an der Decke –
nichts gab weiteren Aufschluss. Vivien öffnete die Tür zum Flur und
ging zum nächsten Zimmer. Kabine 1a, John Waters. Sie trat ein. Noch
immer waren die Spuren des Sturmes zu erkennen, bei dem Vivien die
Akte Letticeworth verloren hatte. Das Fenster stand offen und es
waren noch immer Wasserlachen auf dem Fußboden. Die See war
inzwischen, auch nach dem zweiten Sturm, wieder friedlich geworden.
Vivien schloss das Fenster und setzte sich wieder an den
Schreibtisch. Obwohl sie damit rechnete, in den Schubladen erneut
nichts zu finden, öffnete sie eine nach der anderen. Schließlich
ist hier sowieso nichts normal, sagte sie sich. Leider waren die
Schubladen leer. Plötzlich schaute Vivien auf. Der Haken! Sie setzte
sich kerzengerade auf. Es war ein Haken an der ganzen Geschichte.
John Waters, oder besser: Jonathan Letticeworth konnte nicht der
Mörder sein. Dafür gab es mehrere Indizien. Zuerst bliebe dadurch
ungeklärt, wer Charles Letticeworth ermordet hatte, da Selbstmord
inzwischen ausgeschlossen war. Außerdem hat Jonathan auf diesem
Schiff eine eigene Kabine. Damals hat Mary das sicherlich nicht
wissen können. Auf diesem Schiff haben nur die Reisenden von damals
und einige derer, die im Bezug mit dem Mörder ums Leben gekommen
sind eine Kabine. Jonathan musste ebenfalls getötet worden sein, und
zwar nach dem 13. April 1916. Er kann nicht der Täter sein.
Das
änderte nichts an der Tatsache, dass John Waters der Bruder von
Charles Letticeworth war. Aber er war noch nie erwähnt worden, oder
habe ich da etwas übergangen? Es bleiben ziemlich viele Fragen
offen. Was sagt mir die Tatsche, dass die beiden Brüder waren? Und
wer war Mary Riley? Woher wusste sie so viel über John Waters? Warum
sorgte sie sich derart um Marion? Ziemlich verwirrt stand Vivien auf
und ging auf die Tür zu. Sie dachte an ihre Wahnvorstellungen. Jedes
der Opfer hatte einen Teil des Mörders gesehen. Sie erinnerte sich
gut, wie sie über dem Meer schwebend die Silhouette des Täters
gesehen hatte. Wenn der Kontakt zwischen den Geistern doch nur nicht
so schwer wäre, dann könnte man ein Phantombild erstellen. Welche
anderen Möglichkeiten hatte sie denn, um den Mörder zu entlarven?
Ein wenig betrübt von den geringen Erfolgschancen ging sie wieder
hinaus auf den Korridor.
Sie
verließ den Flur durch die Tür zu ihrer Linken und betrat wieder
die hintere Halle. Die beiden Schatzkammern. Eine hatte sie bereits
geöffnet. Was hatte Marion noch über die andere Kammer geschrieben?
Sie suchte in ihrer Hosentasche nach der herausgerissenen Seite. „Der
Glaube daran, dass es gelingt, muss sehr stark sein. Erst wenn die
Tür sich vor den Augen des Betrachters teilt, ist sie wirklich
offen.“ Vivien stellte sich vor die rechte Tür. Das Mondlicht
erhellte die Halle ein wenig. Sie konnte sehen, dass sich die
Intarsien auf der Tür verändert hatten. Sie zeigten keine
Sternenkonstellation, sondern allein ein großes Auge. Ich glaube
gang fest daran, dass diese Tür offen ist. Ich kann sie
durchschreiten, sagte sie sich und ging mit ausgestreckten Armen
drauf zu. Sie stieß gegen die Tür; diese jedoch rührte sich keinen
Millimeter. Vivien seufzte. Ich hasse Türen. Dann erinnerte sie sich
der vielen Türen in ihrer Kabine, nachdem sie aufgewacht war. Waren
sie nicht vor ihren Augen verschwommen? Hatten sie sich nicht vor den
Augen des Betrachters geteilt? Das könnte funktionieren. Wenn ich
ein wenig schiele, sieht es aus, als hätte ich zwei Türen vor mir.
Dann muss ich nur noch dazwischen hindurchgehen.
Sie
blickte auf die Tür. Ihr Blick war zuerst verkrampft, schließlich
entspannten sich ihre Augen aber. Sie schielte etwas und versuchte,
durch die Tür hindurchzusehen, auf etwas, das sich vielleicht hinter
der Tür befand. Dann geschah es – das Bild der Tür teilte sich.
Eine Tür wanderte nach links, die andere nach rechts. Vivien atmete
auf und ging auf die Türen zu. In dem Moment der Erleichterung
fixierte sich ihr Blick aber wieder auf die Tür, wodurch diese im
letzten Moment erneut scharf in ihr Blickfeld rückte. Sie stieß mit
der Stirn gegen die Wand. Es hatte nicht funktioniert. Ich darf mich
nicht auf die Tür konzentrieren. Ich muss in Trance bleiben, während
ich auf die Tür zugehe. Vivien probierte es erneut. Wieder
entspannte sie sich und wankte auf die Tür zu. Sie teilte sich
erneut vor ihren Augen. Langsam trat sie an die Wand heran. Schritt
für Schritt. Sie streckte den Arm aus, wollte die Wand berühren,
doch der Arm glitt hindurch. Vivien stockte vor Verwunderung der
Atem. Sie blickte auf ihren Arm, der in der Wand steckte. Ihr Blick
war wieder gespannt, die Türen fügten sich zusammen und ein
stechender Schmerz fuhr durch ihren Körper. Ängstlich starrte
Vivien auf ihren Arm. Er steckte in der massiven Holztür fest. Sie
zog, so fest es ihr möglich war, aber der Schmerz war so groß, dass
sie es bald aufgab. Ich komme hier nur frei, wenn ich wieder die
Türen teile und dann durch die Wand gehe, glaubte sie. Ungeachtet
der Tatsache, dass ihr Arm auf einem Geisterschiff in einer Holzwand
feststeckte, versuchte Vivien, sich zu entspannen. Sie ließ die
Augenlider langsam sinken, bis ihr Blick verschwamm. Einen Moment
später war ihr Arm frei. Sie ging schnell vorwärts. Ihr Körper
versank in der Wand. Vivien spürte ein Kribbeln durch ihren Körper
wandern. Das Gefühl war schnell vorüber, und in der Hoffnung,
endlich durch die Tür gegangen zu sein, konzentrierte sie sich
wieder auf ihre Umgebung.
Der
Raum erschien ihr langsam schärfer. Er sah genauso aus wie die
andere Schatzkammer, in der sie den Skarabäus gefunden hatte. Auf
einem Pult lag ein großer, verzierter Schlüssel. Eine Laterne an
der Decke spendete ein wenig Licht. Im Gegensatz zur anderen Kammer
befand sich an diesem Pult jedoch keine Beschreibung zum Schlüssel.
Vivien nahm ihn an sich. Ich kann mir schon denken, wohin der gehört.
Er ist ebenso reich verziert wie die Tür, die aufs Deck führt. Ich
werde ihn nachher gleich ausprobieren. Erst jedoch werde ich noch den
anderen Flur absuchen. Sie drehte sich um. Von innen besaß die Tür
einen Knauf. Vivien öffnete die Tür und ging wieder in die hintere
Halle. Sie blickte um sich. Die Schatzkammern hatte sie also
entdeckt. Im Boden befand sich ganz hinten noch immer das runde
Gitter. Wohin kann es denn nur führen? Vivien versuchte wieder, das
Gitter anzuheben. Mit Leibeskräften zog sie daran, doch es gelang
ihr nicht, es auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Das schaffe ich
niemals, beschloss sie und ging auf die Tür zu, die in den zweiten
Korridor führte.
Die
Tür mit den drei Totenschädeln jagte Vivien erneut einen Schauer
über den Rücken. Das seltsame Licht, das von ihnen ausging, hielt
die mysteriöse Atmosphäre auf dem Unterdeck aufrecht. Vivien ging
in das afrikanische Zimmer. Jetzt, wo sie das ganze Unrecht kannte
und über das Schicksal der Familie Letticeworth im Klaren war,
erschienen ihr alle Erinnerungen an das Paradies auf Erden unendlich
traurig. All dies war nun für immer verloren. Jetzt konnte sie
verstehen, wie sich der Kapitän gefühlt haben musste, als er seine
Notizen niederschrieb. Als Vivien das Bild von Charles und Marion mit
dem Baby im Arm im Eingeborenendorf sah, konnte sie den Tränen nicht
lange standhalten. Sie setzte sich in einen Korbsessel und
betrachtete eine kleine Spieluhr, die von einem Tisch zu Boden
gefallen war. Der Schlüssel zum Aufziehen steckte noch immer an der
Seite; nachdem Vivien die Spieluhr auf den Tisch zurückgestellt
hatte, zog sie sie auf.
Sie
spielte eine sehr traurige und düstere Melodie, die von unendlicher
Einsamkeit zeugte. Der Deckel des Kästchens öffnete sich. Zu sehen
war ein kleines Bild von Charles und Marion, die auf einer Bank unter
Bäumen saßen, zweifellos in Afrika. Neben dem Bild war ein kleiner
Knauf eingearbeitet, der genauso aussah wie der an der Tür zu
Cedrics Zimmer. Auf ihm war eine Sonne abgebildet. Langsam drehte
sich dieser Knauf nach oben, ganz langsam wechselte das Bild in der
linken Hälfte der Spieluhr. Zum Vorschein kam ein Foto von Cedric,
der mit einem kleinen Affen spielte. Der Knauf drehte sich weiter,
verschwand dabei in der Spieluhr. Der zweite Knauf mit dem Halbmond
kam zum Vorschein. Das Lied war noch nicht zu Ende. Das Bild
verschwand langsam. Ein drittes Foto erschien. Es war komplett
schwarz, nichts darauf zu erkennen. Am interessantesten erschien
Vivien jedoch der kleine Messingknauf, der sich ein weiteres Mal
drehte. Nur ein kleines Stück weiter, dann kam ein dritter Knauf an
die Oberfläche. Auf ihm war ein Stern abgebildet. Langsam lief die
Feder der Spieluhr ab, das Lied erstarb und die Uhr kam zum
Stillstand. Vivien war in Gedanken versunken. Sie dachte wehmütig
daran, wie schön alles war, und wie traurig und allein alles
geworden war. Mensch Mädel, nun lass dich nicht hängen, versuchte
sie, sich selbst aufzubauen. Schau dir mal den Griff an, es muss da
noch einen dritten geben! Ich sollte mal zu Cedrics Zimmer gehen,
nahm sie sich vor. Als sie aufstand, wurde ihr bewusst, dass der
Besuch in diesem Zimmer nichts gebracht hatte. Sie war mit ihren
Ermittlungen kein Stück weitergekommen, hatte nur ein weiteres
Zeitzeugnis entdeckt. Von solchen Sachen durfte sie sich nicht
ablenken lassen. Vivien wandte sich der Tür zu, die direkt zu
Marions Kabine führen sollte. Hier war sie noch gar nicht
hindurchgegangen. Falls sie sich jedoch Hoffnungen gemacht hatte, ein
weiteres Geheimnis dieses Schiffes zu entdecken, musste sie eine
herbe Enttäuschung einstecken. Tatsächlich führte die Tür nur in
Marions Zimmer und nicht in irgendwelche geheimen Kammern. Das Zimmer
hatte sich auch nicht verändert. Auf dem Boden verteilt lagen noch
immer die Glasscherben des zersprungenen Spiegels. Nach einem kurzen
Moment setzte jedoch plötzlich wieder das Rauschen ein, das Vivien
damals so neugierig auf diese Kammer gemacht hatte. Woher kann das
kommen? Der Spiegel ist doch zerstört? Vivien suchte den
Schreibtisch ab und schaute sich das Bett ganz genau an; die Quelle
des unheimlichen Geräusches konnte sie aber nicht ausmachen. Sie
entschied sich, das Rauschen zu ignorieren und zuerst
weiterzuschauen. Sie verließ die Kabine Richtung Flur und wandte
sich nach links. Sie stand wieder vor Kabine 8c. Ein weiteres Mal
hatte der Besitzer gewechselt. Nach Daniel Baker und Victoria Norton
stand hier nun: „Kabine 8c, Louis Nounes, Matrose“ Vivien dachte
scharf nach, konnte sich aber nicht daran erinnern, den Namen Nounes
schon einmal ge… Moment! Die Akte Letticeworth in John Waters´
Kabine – da war eine Zeugenaussage von Nounes. Das könnte
interessant werden, meinte Vivien und öffnete die Tür.
Die
Kabine des Matrosen war sehr spartanisch eingerichtet. Eine schäbige
Matratze lag mitten im Raum. Auf ihr waren Flecken zu sehen, auch war
sie an einem Ende aufgerissen. Ein großer Koffer, fast schon eine
Truhe, stand an einer Seite der Kabine. Der Deckel war geöffnet und
der Koffer bis zum Rand mit alten Klamotten vollgestopft. Von ihnen
ging ein modriger Geruch aus, deshalb beschloss Vivien, nicht darin
herumzuwühlen. An einer Wand hingen drei kleine Bilder von einem
jungen Mädchen, das Vivien noch nie zuvor gesehen hatte. Es musste
die Freundin oder vielleicht sogar Verlobte des Matrosen sein. Sie
hatte es bestimmt auch nicht einfach, wenn ihr Liebster dauernd auf
hoher See war, dachte sie mit Gedanken an Marion Letticeworth, deren
Mann auch oft gereist ist, während sie allein zuhause blieb. Vivien
dachte an den Brief von Cedric an seine Mutter zurück. Scheinbar
hatte sie nie gewollt, dass ihr Sohn auf diese Schiffsreisen ging.
Das nenne ich die Liebe einer Mutter, immer um den Sohn besorgt,
dachte sie. Als sie die Wand entlang ging, rutschte sie fast auf
einem Gegenstand aus. Vivien beugte sich nach unten. Es war ein Buch.
Eine Art Tagebuch, es waren viele Einträge darin. Ach, du dumme
Gans, wärst du doch bloß nicht draufgetreten. Jetzt ist die erste
Seite herausgerissen, ich kann gar nichts mehr erkennen, tadelte sie
sich selbst. Sie nahm das Buch und setzte sich auf den Fußboden.
„…ich
das alles schreibe. Nur für den Fall, dass der Nachwelt ein Rätsel
übrig bleibt.
27.
Januar 1903: Tja, ich denke mal, das war es dann. Der Kleine ist hin
und Schluss. Ich vermute mal, der Kapitän hat das mit seiner Frau
irgendwie ausgemacht. Ich frage mich nur, warum dieses Pärchen
einfach so davonkommt. Die hätten auf den Jungen aufpassen sollen.
Verstehe das, wer will.
14.
März 1903: Ich glaube das einfach nicht. Heute habe ich einen Brief
bekommen. Einen Drohbrief! Natürlich von einem Unbekannten. Er
schreibt, wenn ich auspacke, geht es mir an den Kragen. Wovon redet
der? Ich werde mich einen Dreck darum kümmern, solange Felice in
Sicherheit ist. Die Kleine vermisst mich ganz schön, aber als
Matrose ist man halt viel unterwegs.
9.
April 1903: Bin von meiner Mittelmeerfahrt zurück. Zuhause hat
wieder so ein Brief auf mich gewartet. Der Unbekannte wurde etwas
deutlicher. Wenn ich irgendjemandem sage, was damals auf dem Schiff
geschehen ist, bringt er mich zum Schweigen. Der spielt bestimmt auf
den Unfall von letztem Oktober an. Woher weiß er, dass ich das
gesehen habe? Wer ist dieser Unbekannte?
16.
August 1903: Ziemlich lange nichts mehr von dem mysteriösen
Unbekannten gehört. Liegt wohl daran, dass ich meine Klappe halte.
Warum sollte ich auch plaudern? Würde das glückliche Pärchen doch
nur in den Ruin stürzen. Ich bin ja kein Unmensch.
10.
September 1903: Schau mal einer an, der alte Letticeworth ist tot.
Keiner weiß, was geschehen ist. Kann mir aber auch egal sein.
Wichtiger ist, dass ich eine ziemlich harte Reise vor mir habe. Im
November soll es nach Norwegen gehen, das wird heftig. Kann auch
ziemlich lange dauern. Ich hoffe, Felice, du verzeihst mir.
27.
September 1903: Seltsam. Ich habe einen Brief bekommen. Darin lag ein
völlig leerer Zettel. Ohne Absender. Nur auf dem Umschlag war ein
großes Ausrufezeichen geschrieben. Was soll denn das bedeuten?
8.
Oktober 1903: Die Zeitungen sind wirklich schnell. Gestern ist das
Liebespärchen ermordet worden, das auf der Reise von Afrika nach
England dabei war. Ich habe langsam etwas Angst. Ich meine, warum hat
mir dieser Verrückte damals diese Briefe geschrieben?
9.
Oktober 1903: Heute hat jemand einen Brief unter meiner Tür
durchgeschoben. Er war wieder von diesem Unbekannten. Die Polizei
wird mich befragen, hieß es dort. Wenn ich irgendwas ausplaudere,
würde Schreckliches geschehen. Drunter stand diesmal sogar ein Name:
Riley. Ich frage mich, wer dieser Riley ist.
10.
Oktober 1903: Die Polizei war da. Ich habe denen nur gesagt, dass
vielleicht alle Fälle mit der Schiffsfahrt zu tun hätten. Mehr
nicht. Das kann doch nicht zuviel gewesen sein.
24.
Oktober 1903: Meine Felice! Sie ist ermordet worden! Ich wette, es
war der Unbekannte! Ich habe Angst, was soll ich tun? Ich habe doch
nichts Böses gemacht! Heute kam ein Brief: Sie wollten es ja so. Als
nächstes sind sie dran! Ich will nicht sterben!“ Hier endeten die
Einträge.
Schon
wieder Mary Riley. Konnte sie es denn gewesen sein, die die
Drohbriefe geschrieben hatte? Das würde ja bedeuten, dass Mary
Daniel und Victoria getötet hat. Das widerspricht aber doch der
Theorie, dass Mary Marion schützen wollte. Es sei denn, das war
alles nur eine Ausrede von ihr. Vielleicht hatte sie Vivien alles nur
vorgeflunkert, um den Verdacht von sich selbst abzulenken? Nein, das
darf nicht sein. Wem kann ich denn überhaupt noch trauen, fragte sie
sich. Wahrscheinlich war es irgendein anderer Riley, der Name ist ja
nicht gerade selten. Ich muss hier raus, sonst verliere ich den
Verstand. Vivien nahm den Bleistift mit, der im Tagebuch steckte.
Zurück auf dem Korridor holte sie die Notiz des Kapitäns aus ihrer
Tasche, setzte sich auf den Boden und schrieb alle Verdächtigen
dieser Mordserie auf, ungeachtet der Tatsache, ob sie tot oder
lebendig waren. Auf solche Kleinigkeiten durfte man auf einem
Geisterschiff keine Rücksicht nehmen. Sie schrieb:
„Verdächtige
im Fall Letticeworth:
Mary
Riley – Wer ist sie wirklich? Weiß sehr gut über Marion
Letticeworth und John Waters Bescheid. Warum war Mary Riley damals
auf der Schiffsreise dabei? Sehr verdächtig, ich glaube aber nicht,
dass sie es war.
John
Waters – Ist laut Mary Riley der Bruder von Charles Letticeworth.
Riley gibt als mögliches Motiv Sensationsgier an. Unwahrscheinlich.
Daniel
Baker – Selbstmord unwahrscheinlich.
Victoria
Norton – Möglich, da sie von Schuldgefühlen geplagt wurde. Machte
sich für den Tod von Cedric verantwortlich. Hatte jedoch vor, Baker
zu heiraten, daher unwahrscheinlich.
Louis
Nounes – Möglich. Wusste, was damals auf dem Schiff passiert ist.
Dennoch unwahrscheinlich, da er mit dem Wissen eher erpresst hätte.
Ist selbst Opfer eines Unbekannten mit dem Namen Riley geworden.
Charles
Letticeworth – Wird wohl kaum alle anderen umgebracht haben,
nachdem er selbst ermordet wurde. Polizei gab Selbstmord an, kein
plausibles Motiv. (Schuldgefühle?)
Marion
Letticeworth – Für ihre angeblichen taten wurde sie hingerichtet.
Das Morden ging weiter, Brief an Victoria Norton verwischt Motiv,
daher unwahrscheinlich.“
Sie
überlegte einen Moment. Bis auf Mary Riley hatte sie bei allen
Verdächtigen „unwahrscheinlich“ niedergeschrieben. Sie fügte
ihrer Liste einen weiteren Eintrag hinzu.
„???
– Ein Unbekannter, der mit der fatalen Schiffsreise in Verbindung
steht. Muss Bedrohung durch Nounes gefürchtet haben, wollte damit
vielleicht Riley belasten. Motiv unklar.“
Ich
brauche unbedingt weitere Hinweise, meinte Vivien. Sie steckte das
Papier und den Stift in ihre Hosentasche und stand auf. Als sie sich
auf ihr rechtes Bein stützte, spürte sie wieder diesen Schmerz. Sie
hatte ihre Wunde von vorher ganz vergessen. Ein langer Schnitt zierte
ihr Bein; das Blut war mittlerweile getrocknet. Dennoch brannte die
Stelle unglaublich. Vivien biss die Zähne zusammen und ging zur
nächsten Tür. Es war das Zimmer von Cedric. Sie betrachtete den
Knauf und drehte ihn, ohne lange zu zögern, weiter nach oben. Wie in
der Spieluhr kam ein dritter Knauf zum Vorschein, der mit einem Stern
verziert war. Sie drehte ihn herum und betrat das Zimmer.
Vivien
stand auf einem offenen Feld an einer Küste. Der Himmel war stark
bewölkt. Ein Pfarrer stand an einem rechteckigen Loch und hielt ein
Gebetbuch in der Hand. Um das Loch herum standen einige Menschen in
schwarz gekleidet. Vivien erkannte Marion und Charles, die der
Beerdigung ihres Sohnes beiwohnten. Der Pfarrer hielt eine
mitreißende Rede, Marion hatte sich nicht mehr unter Kontrolle und
verbarg ihr Gesicht hinter einem Taschentuch. Charles nahm sie in den
Arm. Langsam zogen dunklere Wolken auf. Es begann zu regnen, doch
davon ließen sich die Trauergäste nicht beirren. Nur eine Frau ging
davon. Es war Mary Riley. Sie verließ die Beerdigung schnellen
Schrittes. Die anderen gingen nacheinander gesenkten Hauptes an das
Grab heran. Obwohl Cedric ertrunken war, hatte Marion wohl eine
Beerdigung gewünscht. Das war sehr vernünftig, da sie nun einen Ort
hatte, an den sie gehen konnte, wenn sie ihrer Trauer freien Lauf
lassen wollte. Der Pfarrer klappte das Buch zu und legte es beiseite.
Er breitete seine Arme aus und sprach den Segen über die Anwesenden.
Marion ging daraufhin zum Grab ihres Sohnes und nahm eine Blume aus
dem Kranz, der auf dem Sarg lag. Sie ging damit zur Klippe und warf
sie ins Meer. Es regnete inzwischen ziemlich stark, doch Marion
schien es nicht zu bemerken. Ihr Gesicht war tränenüberströmt, als
sie von der Klippe zurückkehrte. Vier ältere Herren ließen den
Sarg ins Grab hinab. Jeder der Anwesenden warf eine Schaufel voll
Sand ins Loch, sprach ein paar Abschiedsworte oder bekreuzigte sich.
Dann ging die Trauergemeinde in einer Gruppe zurück zur Kirche. Auf
halbem Wege riss Marion sich los und lief zum Grab zurück. Charles
wollte sie zurückrufen, doch der Pfarrer legte eine Hand auf seine
Schulter und hielt ihn zurück. Sie gingen weg, während Marion vor
dem Grab auf die Knie fiel und bitter weinte. Sie faltete ihre Hände
und schickte ein Gebet zum Himmel. In diesem Moment flog eine Taube
vorbei. Eine weiße Feder schwebte sanft vom Himmel und fiel uns
Grab. Dann wurde die Umgebung um Vivien schwarz. Sie befand sich
wieder in Cedrics Zimmer.
Es
war alles umgestaltet worden nach Cedrics Tod. Das Bett war mit
schwarzem Samt bezogen und ein großer Kranz lag darauf. An einer
Wand hing ein großes Kreuz, darunter eine Plakette mit Cedrics
Geburts- und Todestag und einem rührenden Abschiedswort. Vivien
spürte die Tränen in ihren Augen. Wozu dagegen ankämpfen? Es war
ein Drama, das sich um die Familie Letticeworth rankte. Rosen hingen
von der Decke, noch mehr Bilder zierten die Wände. Bilder vom
Himmel, von Engeln mit großen Flügeln. Eine sanfte Stimme meldete
sich aus dem Dunkel.
„Jetzt
wissen sie, wie es damals war. Wie wir uns gefühlt haben. Dieses
Schiff entwickelt sich immer weiter. Wie es erscheint, hängt von der
Perspektive des Betrachters ab. Nun, da sie unsere Gefühle von
damals nachvollziehen können, brauchen sie die Erinnerung an damals
nicht mehr. Sie können sich nun ihrer eigentlichen Aufgabe
zuwenden.“ Abrupt endete die Stimme.
Vivien
hatte sie nie zuvor gehört. Wahrscheinlich war es die Stimme eines
der Trauergäste. In jedem Falle hatte sie Recht. Sie hat die
Gefühle, die durch die Spieluhr ausgedrückt wurden, versucht zu
ignorieren. Daher war sie in dieses Zimmer geführt worden. Nun war
alles glasklar. Das Schiff lenkt mich zur Wahrheit. Ich muss sie nur
finden wollen, dachte Vivien. Sie schaute sich noch einmal im Zimmer
um, bevor sie es verließ. Wahrscheinlich würde sie es nie wieder in
diesem Zustand betreten. Dann trocknete sie ihre Tränen mit dem
Ärmel und ging hinaus auf den Flur. Der Tresor im nächsten Raum bot
keine Aufschlüsse. Schließlich waren alle Fächer verschlossen, bis
auf das von John Waters. Das hatte sie ja bereits ausgeräumt. Vivien
überzeugte sich zur Sicherheit nochmals davon und ging zurück in
die Eingangshalle. Bevor ich nach oben gehe, werde ich mir ein
letztes Mal die Halle anschauen. Vivien öffnete die Doppeltür
gegenüber der Haupttreppe mit einem Quietschen. Scheinbar unendlich
lang erstreckte sich vor ihre die Galerie der Statuen und Gemälde.
Sie ging zu ihrem eigenen Bild. Es war noch immer verschwommen. Gut,
dachte Vivien, damit habe ich mein Schicksal noch immer in der Hand.
Sie ging zum Kamin am Ende der Halle. Ob er wohl schon immer
erloschen war? Die Uhr darüber tickte langsam weiter. Es würde
nicht mehr lange dauern, bis die zwölfte Stunde schlägt. Der
kleinste der sieben Zeiger der Uhr deutete auf die Acht, alle anderen
Zeiger standen scheinbar still kurz vor der Zwölf. Wenn der kleinste
dort ankommt, ist meine Zeit abgelaufen. Ich darf es nicht zulassen,
dass der Mörder sein Werk vollbringt, dachte Vivien und verließ die
Halle. Sie ging die Haupttreppe hinauf und stand wieder vor der
großen Eichentür, die zum Oberdeck führte. Aus ihrer Hosentasche
holte sie den Schlüssel, den sie in der zweiten Schatzkammer
gefunden hatte. Sie steckte ihn ins Schloss und drehte ihn zweimal
herum, bis sie ein Einrasten des Schlosses hörte. Sie konnte die
Pforte nun öffnen.
Vivien
trat jedoch zu ihrer großen Überraschung nicht aufs Schiffsdeck,
sondern in eine große Halle. Hinter ihr fiel die Tür krachend ins
Schloss. Ihre Umgebung ließ sie vermuten, dass sie sich in einem
Schloss befand. Die Steinmauern, die den Saal begrenzten, waren mit
bunten Wandbehängen verziert. Am Ende der Halle führte eine
Freitreppe nach oben in einen Flur. Vivien ging weiter in die Halle
und schaute sich ungläubig um. Dann vernahm sie eine Stimme.
„Willkommen auf Letticeworth Castle!“ Ein weiter Ring aus Nebel
erschien um sie herum. Jetzt erscheint bestimmt wieder irgendein
Geist, dachte Vivien. Sie hatte dieses Szenario des Nebels auf dem
Schiff schon genügend ausgekostet.
Langsam
verdichtete sich der Nebel. Es erschienen viele Gestalten um sie
herum. Männer und Frauen verschiedenen Alters, alle in
altertümlichen Gewändern, wie für einen Ball gekleidet. Vivien
schaute sich um. Es mussten bestimmt über hundert Geister sein, die
sich in der riesigen Halle trafen. Aus dem Nichts hörte Vivien
Musik. Schnell bildeten sich Tanzpaare. Sie wollte nicht allein in
der Mitte des Ganzen stehen. Sie ging forschen Schrittes zu einem
jungen Mann und bat ihn zum Tanz. Er willigte ein und reichte Vivien
die Hand. Aus dem Flur im oberen Stockwerk trat Charles Letticeworth.
Alle schauten zu ihm auf. Er nickte mit dem Kopf. Das war das Zeichen
für den Tanz. Mit unglaublicher Präzision schwangen sich alle Paare
synchron in die erste Drehung. Vivien wurde geführt und schaute sich
staunend um. Die Musik hatte ein forsches Tempo; sie konnte kaum die
Gesichter der anderen erkennen. Sie meinte jedoch, sehen zu können,
wie Daniel Baker und Victoria Norton miteinander tanzten, ebenso wie
Tim und Sally, ihre Nachbarn. Auch Mary Riley sah sie unter den
Tanzgästen. Es waren viele unbekannte Geister dabei. Sie alle müssen
Opfer des Serienmörders geworden sein, dachte Vivien. Um sich nichts
anmerken zu lassen, schaute sie ihrem Partner wieder in die Augen. Er
lächelte sie an, während sie über die Tanzfläche glitten. Er ist
ein sehr guter Tänzer, musste Vivien zugeben. Dann ließ er sie los.
Sie taumelte ein paar Schritte und wollte sich empört zeigen, doch
sie sah, dass alle Paare genau das Gleiche machten. Die Damen gingen
zur einen Seite der Halle, die Herren zur anderen. Die beiden neu
entstandenen Gruppen tanzten weiter. Vivien konnte nicht anders, als
mitzutanzen. Obwohl sie die Choreographie gar nicht kannte, wurde sie
mitgerissen und machte alles genauso wie die anderen. Dabei überlegte
sie. Ob das vielleicht ein Ball ist, der hier regelmäßig abgehalten
wird? Das ist ja super, denn endlich habe ich alle Opfer beisammen.
Jetzt kann ich das Bild des Täters zusammenfügen. Ich werde mich
gleich nach dem Tanz darum kümmern, nahm sie sich vor. Die beiden
Gruppen wurden wieder zusammengefügt, es bildeten sich wieder Paare.
Dieses Mal bekam Vivien keinen Partner. Sie stand allein in der
Mitte, während alle anderen elegant im Kreis um sie herumtanzten.
Dabei wurden ihre Silhouetten langsam undeutlicher, die Bilder
verschwammen und lösten sich ebenso schnell, wie sie gekommen waren,
wieder in Rauch. Damit hatte Vivien nicht gerechnet.
„Wartet! Geht nicht“, rief sie in die leere Halle.
Es war zu spät. Das Schloss war verlassen. Die letzten Rauchschwaden
verzogen sich schnell. Das war vielleicht meine letzte Chance, dachte
Vivien verzweifelt. Sie fürchtete, dass sie nun niemals den Mörder
entlarven könnte. Was gab es nun noch zu tun? Langsamen Schrittes
ging sie zur Eingangstür zurück. Sie wollte wieder zurück aufs
Schiff, doch dabei stellte sich ihr ein Problem in den Weg. Die Tür
nach draußen war verschlossen. Sie hatte den Schlüssel nicht mehr
und einen anderen Ausweg schien es nicht zu geben.
Kapitel
11
– Die
Ganze
Wahrheit
Ich
muss weiter, die Zeit läuft, dachte Vivien bei sich und sah sich um.
Ihr Blick wanderte zu dem Balkon, von dem aus der Kapitän das
Zeichen zum Tanz gegeben hatte. Er stand wieder dort und hatte sie
beobachtet. Vivien rief: „Halt!“ und rannte die Freitreppe
hinauf. Mit dem linken Fuß blieb sie hinter einer Stufe hängen und
stolperte, doch zu ihrem Glück war die Treppe mit einem roten,
weichen Teppich bedeckt. Vivien rappelte sich wieder auf und lief
nach oben zum Korridor. Sie konnte noch eben erkennen, wie Charles
Letticeworth in der letzten Tür auf der linken Seite verschwand. Im
Vorbeilaufen schaute sie flüchtig auf die Galerie an der rechten
Wand. Dort hingen viele Gemälde der verschiedensten Künstler.
Vivien erkannte eine Kopie der Mona Lisa und der Ansicht von Delft.
Dafür habe ich jetzt keine Zeit, dachte sie und sprintete zur
letzten Tür. Sie öffnete sie und sah erschrocken, wie der Kapitän
etwas aus dem geöffneten Fenster warf. Es schien ein Stapel mit
Dokumenten und Büchern zu sein. Er selbst sprang hinterher. Vivien
hastete zum Fenster. Sie schaute nach unter in den nächtlichen
Innenhof des Schlosses. Dort auf dem Boden sah sie viele Zettel
umherliegen, einige flatterten noch durch die Luft. Es schien, als
wollten sie über die hohen Schlossmauern fliehen. Der Geist des
Kapitäns war verschwunden. Über ihr schlechtes Timing enttäuscht
ging Vivien zurück ins Zimmer. Es war ein richtiges Kaminzimmer,
gemütlich ausgestattet mit zwei Sessel und einem Sofa, einem
Schreibtisch mit Stuhl davor. Im Kamin befand sich nur noch die Asche
des letzten Feuers. Die Wände waren auch hier mit Bildern
geschmückt, sie waren jedoch von Kinderhand gemalt. Das hier ist das
Arbeitszimmer des Kapitäns, da bin ich mir ganz sicher, meinte
Vivien. Sie setzte sich an den Schreibtisch und öffnete eine
Schublade. Neben verschiedenen Schreibfedern befanden sich hier ein
versiegelter Brief und eine Geburtsurkunde. Auf dem Brief stand
geschrieben: „Charles Letticeworth, letzter Wille“; es war sein
Testament. Es ist zwar ein wenig taktlos, aber da er jetzt sowieso
tot ist, kann ich den Brief auch öffnen, sagte Vivien sich und brach
das Wachssiegel auf.
„Im
vollen Besitz meiner geistigen Kräfte vermache ich, Charles
Letticeworth, mein gesamtes Hab und Gut meiner Frau Marion
Letticeworth. Sollte meine geliebte Ehefrau vor mir verschieden sein,
so erbt mein Sohn Cedric. Falls er die Volljährigkeit noch nicht
erreicht hat, so übergebe ich ihn in die treusorgenden Hände meiner
Schwägerin, Mary Riley. Charles Letticeworth, 23. November 1899“
Vivien
musste schlucken. Schwägerin? Zögernd betrachtete sie die
Geburtsurkunde, die in der Schublade lag. Sie bestätigte, dass
Marion Letticeworth auf den Namen Marion Riley getauft worden war.
Marion und Mary waren Schwestern? Das erklärt so manches, unter
anderem, warum Mary so besorgt um die Gemütswelt Marions war. Es
ging also um ihre Schwester! Welch Qual muss es dann für sie gewesen
sein, ihre eigene Schwester hinrichten zu lassen? Vivien schauderte.
Nein, so darf ich nicht denken! Sie hat sie nicht hinrichten lassen,
sie wollte immer nur das Beste für sie! Oder etwa nicht?
Sie
legte die Dokumente zurück in den Schreibtisch und schloss die
Schublade. Dann ließ sie den Blick durchs Zimmer wandern. Unter dem
Fenster lag auf dem Boden noch ein Buch. Es musste heruntergefallen
sein, als Charles all diese Sachen aus dem Fenster werfen wollte.
Vivien stand auf und nahm das Buch an sich. „Meine Aufzeichnungen“
stand darauf geschrieben. Sie setzte sich mit dem Buch in einen der
Sessel und schlug es auf. Auf der ersten Seite stand der Name Charles
Letticeworth“, die ersten acht Seiten waren jedoch unbeschriftet.
Vivien blätterte, bis ihr der erste Text ins Auge fiel. Sie lehnte
sich entspannt zurück und begann zu lesen. Innerlich war sie jedoch
aufgeregt, welche Geheimnisse diese Aufzeichnungen zu Tage bringen
würden.
„So
fühle ich mich. Wie die ersten Seiten dieses Buches. Total leer,
mein Geist ist vollkommen leer. Keine Inspirationen mehr, keine
traurigen Gefühle mehr, aber auch keine schönen. Ich will nicht
Tagebuch führen, deswegen habe ich nur „Aufzeichnungen“ drauf
geschrieben. Wenn je jemand dieses Buch findet und denkt, ich hätte
Tagebuch geführt – das würde meinem Ruf schaden. Deswegen
schreibe ich hier nur so rein, was mit gerade einfällt. Damit ich
meinen Kopf wieder mit Ideen füllen kann.
Wir
schreiben das Jahr 1894. Meinem Vater geht es sehr schlecht. Die
Ärzte geben ihm noch zwei Wochen. Ich besuche ihn täglich, das tue
ich, damit er nicht so alleine ist. Jonathan kümmert sich kaum um
ihn. Ich habe meinen Bruder ewig nicht gesehen. Wie kann er seine
Familie nur so im Stich lassen? Die Besuche bei Vater sind sehr
anstrengend. Er redet immer über den Tod. Ich will nicht über den
Tod reden, schließlich bin ich noch jung. Ich will noch etwas vom
Leben haben! Vielleicht ist das die Einstellung, die ich brauche,
damit ich wieder ein Ziel im Leben habe.
Vater
ist gestorben. Gestern Nacht ist er eingeschlafen. Das war das Beste
für ihn, er hat sehr leiden müssen. Er hat mir erzählt, dass er
mir sein Schiff vermachen würde. Ist das nicht toll? Der Anwalt wird
sich zwar erst morgen melden, aber das wäre so schön! Ich bin
früher, als ich klein war, immer so gerne mit dem Schiff
mitgefahren, als Vater noch seine Geschäftsreisen machte. Dass ich
mich nun endlich selber um das Schiff kümmern sollte, hätte ich nie
gedacht.
Der
Anwalt war da und hat mir Vaters Testament gezeigt. Ich habe das
Schiff bekommen. (Und einen Teil seines Geldes für meine Versorgung,
wie er es nannte.) Ich werde das Dokument kopieren und eine Kopie auf
der Letitia verstecken. Er hat sehr an ihr gehangen, es ist
vielleicht richtig so. Jonathan erhält das Schloss. So stand es im
Testament. Ich weiß nicht, was Vater sich dabei gedacht hat! Mein
Bruder hat sich einen Dreck um ihn gekümmert; ich muss noch einmal
mit dem Anwalt reden.
Das
Schloss gehört meinem Bruder, dabei bleibt es. Der Anwalt hat aber
gesagt, dass ich das Anwesen, da Jonathan nun nicht da ist, verwalten
und rechtmäßig in dieser Aufgabe als Verwalter bewohnen darf.
Schön!
Ich
will auf dem Schloss nicht verschimmeln. Ich habe für Jonathan,
sollte er je zurückkommen, einen Brief in Vaters Arbeitszimmer
hinterlassen. Ich will auf Reisen gehen, das wird die Leere in meinem
Kopf vertreiben. Nach Afrika! Ich freue mich schon so. Ich werde
nächste Woche fahren. Meine Aufzeichnungen nehme ich mit.
Der
letzte Eintrag ist ungefähr ein Jahr her. Ich bin in Afrika
gelandet, in einem Eingeborenendorf. Der Name ist ganz komisch, die
Leute hier sprechen ihn mit so einem komischen Schnalzen der Zunge
aus. Das kann ich nicht. Ist auch nicht wichtig. Ich fühle mich hier
sehr wohl. Die Reise ist problemlos verlaufen. Hier ist es einfach
wunderschön und ich entdecke jeden Tag neue Wunder dieses Landes.
Ich werde von der Flut an Eindrücken fast überrollt. Ich genieße
dieses Gefühl.
Heute
habe ich ein junges Mädchen kennen gelernt. Sie ist sehr
geheimnisvoll. Ich weiß nicht, ob sie eine Eingeborene ist oder
zugereist. Sie ist weiß. Und wunderhübsch. Ihren Namen hat sie mir
aber noch nicht verraten. Afrika. Ich will hier nie wieder weg.
Sie
hat mich in ihre Künstlerstube geführt. In einer romantischen
kleinen Höhle hinter einem Wasserfall. Sie töpfert, ganz reizende
kleine Figuren. Sie ist unglaublich geschickt mit dem Ton, ich habe
es auch mal probiert, bin aber kläglich gescheitert. Sie heißt
Marion.
Ein
Monat muss vergangen sein. Marion hat mir die kleinen Geheimnisse des
Dorfes gezeigt. Wo die schönsten Früchte wachsen, wo die ruhigsten
Plätze sind… Ich bin mit ihr auf einem Elefanten geritten. Ein
komisches Gefühl. Der Elefant gehört Marions Schwester. Sie hat nur
eine Schwester und keine Brüder. Wer nennt seine Töchter denn
Marion und Mary?
Mary
ist sehr nett. Manchmal glaube ich, sie ist ein wenig eifersüchtig
auf Marion, weil sie immer mit mir herumgeht. Ich mag Marion sehr,
sie ist bildhübsch und voller Fantasie. Ihre Kreationen gefallen
mir. Sie hat einen kleinen Berg aus Ton gemacht mit einem Wasserfall,
so wie der, hinter dem ihr Atelier sich befindet. Zwei große Flügel
wachen über diesen Berg.
Afrika.
Die Faszination, die es auf mich ausübt, ist gewaltig. Noch
gewaltiger ist die Aura, die Marion ausstrahlt. Wir haben geheiratet,
mit einer sehr schönen Zeremonie der Dorfbewohner. Der Älteste hat
die Predigt gehalten. Ich liebe Marion von ganzem Herzen. Mary hat
sich so für uns gefreut. War alles nur gespielt? Ich kann mir nicht
vorstellen, dass sie eifersüchtig ist.
Ich
dachte, es könnte nicht mehr besser werden. Ich habe mich geirrt. Es
ist alles perfekt. Marion ist schwanger. Wenn es ein Junge wird,
nennen wir ihn Cedric. Wird es ein Mädchen, wird es Cecilia heißen.
Ich bin so glücklich! Mary hat sich inzwischen verlobt. Sie strahlt
immer über das ganze Gesicht, wenn sie mit ihrem Liebsten durch das
Dorf geht. Es ist der Enkel des Ältesten. Netter junger Mann, genau
der Richtige für Mary, möchte man meinen.
Cedric
ist jetzt fünf Jahre alt. Meine Güte, ich habe ewig nichts in
dieses Buch geschrieben. Warum auch? Ich habe gefunden, was ich
suchte. Dieses Buch sollte nur Unterstützung bei meiner Suche sein.
Ich werde Marion vorschlagen, dass wir eines Tages nach England
zurückreisen. Ich frage mich, was aus dem Schloss geworden ist. Ob
Jonathan inzwischen dort ist?
Wir
haben beschlossen, zu fahren. Mit der Letitia. Sie hat ewig im Hafen
gelegen, die alte Dame muss jetzt erst mal generalüberholt werden.
Dann werden wir unsere Sachen hier packen. Damit lassen wir uns aber
viel Zeit, damit es nicht so ein schmerzhafter Abschied wird.
Cedric
erwartet eine neue Welt. Ich bin gespannt, wie er den Wandel
auffassen wird. Es wird wohl kein Problem darstellen, wenn wir ins
Schloss einziehen, es ist ja groß genug. Wir werden Jonathan
überraschen. Ich glaube nicht, dass er sich seine Erbschaft hat
entgehen lassen. Nun, was er wohl aus sich gemacht hat? Ich habe eine
Familie. Ich bin vollkommen zufrieden.
Es
ist schon wieder eine lange Zeit vergangen. Wir sitzen noch immer
hier im Dorf. Nächste Woche geht es los. Alle Andenken sind bereits
sicher verstaut. Cedric hat jetzt auch verstanden, dass er seine
Heimat verlassen wird. Er kommt damit zurecht, dass er seine Freunde
verlassen muss. In England wird er neue Freunde finden. Sollte es uns
dort nicht gefallen, können wir eine neue Reise unternehmen. Ich
glaube aber nicht, dass Marion viel Spaß daran hätte. Sie reist
nicht gerne mit dem Schiff, glaube ich.
Sie
will es nicht zeigen, aber Marion ist bedrückt. Sie fürchtet sich
vor der Abreise morgen. Ich habe auch ein wenig Angst, aber Marion
hat Angst vor der See, vor den Wellen. Sie hat Angst, dass wir einen
Unfall auf der Überfahrt haben könnten. Dabei wird schon nichts
passieren. Ich dagegen habe Angst vor dem, was mich in England
erwartet. Damals, als ich hierher kam, war ich gespannt, wie Afrika
wird. Nun habe ich Angst, bei der Rückkehr in meine Heimat
Enttäuschungen zu erleben. Vielleicht ist das auch alles nur
Gewäsch.
Unser
erster Tag auf See. Marion ist die ganze Zeit noch nicht einmal an
Deck gewesen. Immer sitzt sie in ihrer Kabine, sie sagt, da machen
ihr die Wellen am wenigsten aus. Wenn sie das so meint… Die Kajüte,
die ich für Cedric eingerichtet habe, ist richtig hübsch geworden
(ich will ihn später mal auf Reisen mitnehmen). Er fühlt sich dort
genauso wohl wie hier oben an Deck. Am liebsten ist er aber noch
immer bei seiner Mutter.
Jahrhundertwende,
was bedeutet das schon? Neue Kriege, neue Krankheiten. Neue soziale
Probleme. Und alle reden vom Aufbruch, alles soll besser werden. Ich
kann nicht recht daran glauben. Eben stand ich an Deck und habe auf
die weite See geschaut. Die unendliche Ferne reizt mich. Ich will
irgendwann einmal um die ganze Welt reisen. Mit meiner Letitia. Und
mit Cedric. Weit weg von allem Gerede, von allen Krankheiten und
Sorgen.
Endlich
habe ich meine „Aufzeichnungen“ wiedergefunden. Ich hatte sie in
den Koffer gesteckt und vergessen. Jetzt sind wir in England. Genauer
gesagt, auf unserem Schloss. Es ist leer. Ich hätte nie gedacht,
dass Jonathan dieses Anwesen verkommen lässt. Es wird Zeit, dass wir
es wieder auf Vordermann bringen. Der Schlüssel war noch immer bei
dem Anwalt. Er hat ihn all die Jahre lang aufgehoben.
Ich
kann es gar nicht glauben! Ich habe einen Auftrag von der Königin
bekommen, ich soll für sie einen Transport ausführen. Wie komme ich
zu der Ehre? Sie hat mir eine unglaubliche Belohnung angeboten, damit
hätte ich für den Rest meines Lebens ausgesorgt. Das kann ich nicht
ausschlagen, ich werde den Auftrag annehmen. Ich wüsste nur zu
gerne, wer der Wohltäter war, der mich der Queen empfohlen hat.
In
drei Tagen beginnt die große Reise. Es soll wieder nach Afrika
gehen. Von dort soll ich einen Schatz holen und nach England bringen.
Ich habe vor, meine „Aufzeichnungen“ zu beenden. Stattdessen
werde ich ein Logbuch für die Letitia anfertigen. Ich fange noch in
diesem Büchlein an, obwohl nicht mehr viel Platz ist. Dann nehme ich
danach halt ein neues Buch.
Logbuch
der Letitia, 12. September 1902: Nicht mehr lange, dann kommen wir in
Afrika an. Marion wollte es zwar nicht, aber ich habe Cedric
mitgenommen. Warum auch nicht? Das Reisen macht ihm viel Spaß. Gut,
unter der Auflage, dass wir zwei Aufsichtspersonen mitgenommen haben,
hat sie ihn gehen lassen. Ein junges Pärchen, Victoria Norton und
Daniel Baker. Ist zwar nicht nötig, aber wenn Marion es denn so
will. Sei mir alles egal.
Logbuch
der Letitia, 25. September 1902: Wir sind abgereist. Aus Afrika.
Heute ist der zweite Tag der Rückreise. Ankunft in Afrika war mit
Überraschungen verbunden. Wir wurden von Mary, meiner Schwägerin
begrüßt. Sie war allein. Nachdem wir abgereist waren, hat ihre
Beziehung nur noch ein paar Wochen gehalten. Sie war verlobt, aber
zur Heirat hat es nicht gereicht. Arme Mary! Sie sagte, sie will mit
uns mitkommen. Einen Neuanfang in England starten. Ich habe ihr
gesagt, dass das alles kein Problem sei. Sie ist jetzt an Bord. Es
sind noch ein paar zahlende Passagiere dabei.
Logbuch
der Letitia, 1. Oktober 1902: Wir haben Glück mit der Witterung.
Keine Stürme bis jetzt, im Gegensatz zu den Warnungen, die wir
gehört haben. Mary sagt, ich habe mich sehr verändert. Ich sei
älter geworden in den paar Monaten unserer Abwesenheit. Sie kann das
wohl besser beurteilen. Ich fühle mich jedenfalls bestens. Ich freue
mich auf zuhause, auf Marion.“
Hier
war das Buch zu Ende. Vivien schlug es zu. Jetzt hatte sie endlich
einen Einblick in das Leben von Charles Letticeworth erhalten. Hätte
sie dieses Buch früher gefunden, wäre alles klar gewesen. Nun, das
Buch endet dort, wo das Logbuch auf dem Schiff begonnen hatte. Ich
weiß jetzt also ganz genau, was vor dem 3. Oktober 1902 geschehen
ist. Ich muss herausfinden, was danach geschah, dachte Vivien. Ein
seltsamer Lärm aus dem Innenhof ließ sie aufschauen. Was soll das,
was ist da los? Wieder hörte sie eine Stimme von irgendwoher. „Sie
hätten die Vergangenheit besser ruhen lassen. Dieses Schloss wird
ihr Untergang sein!“ Vivien stürzte zum Fenster. Sie sah, wie das
Schloss zusammenbrach.
Es
schien, als ob der Erdboden sich in Luft aufgelöst hatte. Das
Schloss schwebte in einem dichten Nebel und zerbrach langsam vom
Keller her in Einzelteile. Vivien sah die untersten Steine ins Nichts
fallen. Flucht war jetzt höchstes Gebot. Vivien schnappte sich das
Buch und rannte hinaus auf den Flur. Zu ihrer linken waren mehrere
Türen. Sie waren verschlossen, erst die vierte Tür ließ sich
öffnen. Sie führte zu einer Wendeltreppe, die Vivien schnell
herablief. Nach wenigen Schritten stolperte sie und fiel die letzten
Stufen hinab. Nachdem sie sich erholt hatte, riss sie die Tür auf,
die sich ihr darbot. Sie führte in den unteren Flur. Von rechts
löste sich der Flur auf, daher sprintete sie nach links. Vivien
konnte gar nicht schnell genug durch die nächste Tür hasten. Sie
landete in einem alten Saal. An der Wand hing ein Wappen, darunter
sollten wohl einst zwei Lanzen gekreuzt hängen. Es war nur noch eine
dort, statt der anderen war ein weißer Fleck an der Wand zu sehen.
Dafür konnte Vivien sich keine Zeit mehr nehmen. Der Raum hatte
keine weiteren Türen, aber eine Wand war zum Teil eingestürzt. Ohne
weiter nachzudenken hechtete Vivien durch das Loch und landete wieder
in der Eingangshalle. Die Freitreppe war eingestürzt, das Nichts
fraß sich immer weiter durch das Schloss. In der Halle war es sehr
staubig und es stürzten immer wieder Mauersteine von der Decke. Der
Nebel, der das Schloss zerstörte, war direkt hinter Vivien. Sie
rannte zur Ruine der Treppe und wollte den Trümmerhaufen
hinaufklettern, als sie hinter den Steinen einen Durchgang erkannte.
Er war zwar ziemlich schmal, doch Vivien nahm darauf keine Rücksicht.
Sie ging geduckt den Gang herab. Er führte immer weiter abwärts und
Vivien hatte Angst, dass das Nichts plötzlich durch den Boden
dringen würde. Es war noch immer erbarmungslos hinter ihr her. Der
ohrenbetäubende Lärm von den einstürzenden Steinen machte Vivien
ganz konfus. Sie rannte und stolperte bis ans Ende des Ganges. Eine
schwere Kerkertür verschloss den Durchgang. Vivien mühte sich in
Panik ab und drückte aus Leibeskräften gegen die Tür. Sie öffnete
sich schwerfällig. In der nächsten Kammer blickte Vivien sich um.
Es war nicht, wie sie erwartet hatte, eine Folterkammer oder ein
Gefängnis, sondern musste der Aufgang zu einem der Ecktürme sein.
Eine Wendeltreppe führte nach oben. Windung um Windung lief Vivien
nach oben, bis ihr schwindelig wurde. Sie klammerte sich an die
massive Mittelsäule und verschnaufte. Als sie jedoch bei einem Blick
nach unten den Nebel aufsteigen sah, rannte sie weiter. Durch eine
Holzluke erreichte sie schließlich das Turmzimmer. Es blieb ihr
keine Wahl, sie musste aus dem Fenster steigen. Sie kletterte mit dem
rechten Bein zuerst über das Sims. Die Wunde schmerzte fürchterlich.
Vivien zog das linke Bein nach und stand mit wackeligen Beinen auf
dem Giebel des Schlosses. Der einzige Weg führte über das First zum
nächsten Turm. Sie ging in die Knie und kletterte vorsichtig zum
anderen Turm hinüber. Dort angekommen ergriff sie die Verzweiflung.
Die Zerstörung war gewaltig fortgeschritten. Es gab nur eine
Rettung; sie musste immer weiter nach oben. Eine Eisenleiter führte
an der Außenseite des Turms nach oben. Eine Stufe nach der anderen
erklomm Vivien, bis sie zuletzt auf der Zinne des letzten Turmes
stand. Nun saß sie endgültig in der Falle. Der Mörder hatte seine
Rache an ihr vollübt. Nein, dachte Vivien. Nicht, wenn ich die
Initiative ergreife! Sie schaute nach unten. Da es keinen Weg zurück
gibt, werde ich nach vorne sehen. Sie stieß sich mit beiden Beinen
von den Ziegeln ab und sprang ins Nichts.
Sie
fiel in den Nebel, der kein Ende zu haben schien. Alles um sie herum
war weiß. Dann endlich, noch während sie weiter hinabstürzte,
wurde es klarer. Und dunkler, denn der Nebel löste sich auf. Es
wurde Nacht um sie herum. Vivien blickte nach unten und sah, wie sie
genau auf ein Schiff mitten im Meer zusteuerte. Sie schloss die
Augen. Obwohl sie eine harte Landung erwartet hatte, saß sie, ohne
dass sie es bemerkt hatte, plötzlich mitten auf dem Oberdeck der
Letitia. War alles nur eine Illusion? Vivien fühlte das Notizbuch in
ihrer Hand. Nein, ich war wirklich auf dem Schloss. Um sie herum
begann ein wundersames Leuchten.
Ein
leichter Wind kam auf. Um das Schiff herum erschien Licht in allen
Spektralfarben. Es kam von allen Seiten, auch aus dem Himmel und
drängte sich an Vivien heran. Wie unendlich viele Nordlichter
strahlte es um sie herum. Zuerst noch schwach, dann immer stärker,
mit immenser Kraft wirkte das Leuchten auf Vivien. Sie fühlte sich
geborgen inmitten dieses Lichtes. Bald war das ganze Schiff von den
Lichtern erhellt. Dazu kamen leise Stimmchen, unendlich viele. Vivien
schaute genau ins Licht. Als sich ihre Augen daran gewöhnt hatten,
konnte sie nach und nach Gesichter erkennen. Erst eines, dann viele.
Dann die Körper. Es waren Geister. Unzählige Geister hatten sich um
sie herum auf dem Schiff versammelt. Sie alle schauten Vivien
freundlich an. Sie konnte Mary Riley und Victoria Norton inmitten der
Menge erkennen. Das mussten die Opfer sein. Unglaublich, sie sind
alle versammelt. Das Licht ballte sich zu einer Masse, es schwirrte
umher und leuchtete in die Nacht. Dann teilte es sich plötzlich in
viele kleine Lichter, die wie Glühwürmchen aussahen. Sie bildeten
einen Pfad, der zur Brücke führte. Vivien stand staunend auf und
folgte dem Weg des Lichtes.
An
der Brücke angekommen, sah sie, wie die Lichter zur Treppe nach
unten schwebten. Sie ging die Treppe hinunter. In der Empfangshalle
schwirrten die kleinen Flammen wieder wild umher. Vivien drehte sich
herum. Wohin nun? Zeigt es mir, dachte sie. Sie spürte, dass die
Geister ihre Gedanken verstehen konnten. Sagt es mir, dachte sie, wer
ist der Mörder? Wo ist er? Die Lichter schwebten in die große Halle
mit den Statuen. Sie flogen direkt auf ein Gemälde zu. Es war das
Bild einer Frau. Alle kleinen Lichter versammelten sich dort und
erleuchteten es. Das Gesicht strahlte Vivien entgegen. Ich habe es
schon einmal gesehen, dachte sie. Auf den Fotos von Daniel. Und… im
afrikanischen Zimmer. Diese Frau war…
„Natürlich war ich es. Hätten sie sich doch denken
können“, erschallte es hinter Vivien. Mit einem Mal war das Licht
verschwunden, jegliche Atmosphäre von Geborgenheit hatte Vivien
verlassen. Sie drehte sich um. Marion Letticeworth stand in der Tür.
Sie
kam langsam auf Vivien zu. „Ich habe ihnen gesagt, sie sollen sich
nicht in Sachen einmischen, die sie nichts angehen. Ich habe ihnen
gleich bei ihrer Ankunft gesagt, dass sie alles in Ruhe lassen
sollten. Warum konnten sie nicht wie alle anderen sein und ihre Seele
schlafen legen? Mit welcher Impertinenz sie mir auf der Spur
geblieben sind, ist unglaublich.“ Vivien war geschockt. „Marion?
Sie haben die Morde begangen? Aber wieso? Warum das alles?“ Marions
Stimme war bitter, als sie zu sprechen begann.
„Sie
haben doch fast alles gesehen. Fast alles gelesen, was sich auf
diesem Schiff befindet. Hat ihnen das keinen Aufschluss gegeben? Ich
habe alles verloren. Jemand sollte dafür büßen. Ich habe sie alle
umgebracht. Nur meinen Mann nicht. Es war der Beginn des Dramas…
Doch sie sollten wissen, dass die Geschichte vor über hundert Jahren
in Afrika begonnen hat.
Ich
war ein glückliches junges Mädchen, lebte mit meiner Schwester in
einem Eingeborenendorf und hatte keine Sorgen. Es war ein schönes
Leben, das ich geführt habe! Bis eines Tages aus heiterem Himmel ein
junger Mann zu uns in Dorf kam. Charles. Ich war sofort von seinen
Augen fasziniert. Sie haben mir alles über ihn verraten. Sie waren
leer, dennoch traurig, am Tag seiner Ankunft. Er schien, als würde
in seinem Leben etwas fehlen. Er sagte, ermache Urlaub und wollte nur
mal ein wenig ausspannen. Ich wollte es nicht glauben. Dennoch hielt
ich mich lange Zeit zurück. Über ein Jahr habe ich diesen Mann
beobachtet und ihn schätzen gelernt, bis ich dann eines Tages auf
ihn zugegangen bin. Sein Wesen hatte mich sofort fasziniert. Ich war
beeindruckt von der Stärke seines Geistes. Er ließ sich nichts
anmerken von den Schmerzen, die auf seiner Seele lasteten. Damals
dachte ich, dass es Schmerzen seien. Es war jedoch etwas mir total
Fremdes. Eine Leere hatte ihn ergriffen, etwas fehlte in seinem
Leben, das er selbst nicht kannte. Er war auf der Suche nach etwas,
wusste aber nicht, was es war. Er hoffte, es in Afrika finden zu
können. Und wie die Geschichte zwischen uns beiden dann
weitergegangen ist, das wissen sie ja“, sagte Marion mit einem
Blick auf das Buch, das Vivien noch immer in der Hand hielt.
„Ich
mache vielleicht weiter an dem Tag, als Charles unseren Cedric mit
auf die Reise genommen hat. Die Sache mit dem Schatz. Ich war
dagegen, dass der Junge mitfährt. Ich hatte Angst um ihn, ich wollte
nicht mein Ein und Alles verlieren. Dennoch ließ Charles sich nicht
davon abhalten, ihn mitzunehmen. Auf die Reise habe ich dann noch
dieses Pärchen geschickt, damit sie auf ihn aufpassen. Das war ein
Fehler, den ich mir nie verzeihen werde. Und denen auch nicht.“
Ihre Stimme war zornerfüllt. „Daniel Baker und Victoria Norton.
Sie sind Schuld am Tode meines Sohnes. Wenn sie auf Cedric aufgepasst
hätten, wäre er nie ertrunken. Damit hat alles angefangen! Nachdem
mein Mann von der Reise zurückgekommen war, hat er mir unter Tränen
gestanden, was passiert ist. Ich habe mich in mein Zimmer
eingeschlossen und geweint. Ich habe meinen Sohn geliebt, verstehen
sie? Geliebt, er war mein Schatz! Deswegen habe ich mir solche Sorgen
um ihn gemacht. Mein Cedric war mein ganzer Stolz! Ich wollte nicht
mit auf Charles´ törichte reisen, ich wollte stattdessen zusammen
mit Cedric bleiben und auf ihn warten können. Können sie sich nicht
vorstellen, wie es für eine Mutter ist, von ihrem Sohn getrennt zu
sein?“ Vivien musste schlucken. Sie fragte: „Und was ist danach
geschehen? Sie haben in ihrem Zimmer gesessen und geweint. Aber
danach?“
„Danach,
danach! Sie wollen doch nur wissen, warum ich alle umgebracht habe.
Ich lasse mich nicht hetzen. Sie sollen verstehen, warum ich das
alles getan habe. Ich will, dass sie zur Einsicht kommen, dass sie an
meiner Stelle ebenso gehandelt hätten.“ Verbittert ging sie zum
Kamin und sprach zur Wand. „Wir haben uns wochenlang nur
angeschwiegen. Ich war zu betäubt von dem Schock, als dass ich klare
Gedanken hätte fassen können. Charles hat sich die Schuld an der
Tat gegeben. Er schwor sich, nie mehr eine Seereise zu machen. Ich
habe Tag und Nacht nur aus meinem Fenster gestarrt. Er wollte das
Schiff als Mahnmal für das Unglück herrichten und dann symbolisch
versenken, um der Angelegenheit ein Ende zu machen. Der Arme muss
schwer mit sich gekämpft haben. Ich war traumatisiert damals. Ich
wurde erst wieder klar im Kopf, als ich meinen Mann tot in dem alten
Saal des Schlosses gefunden hatte. Das war fast ein Jahr nach dem
Unglück. Damit war für mich alles aus.
Charles
hatte Selbstmord begangen. Er hatte die alte Lanze von der Wand
genommen und mit der Spitze nach oben zwischen die Steine im Boden
geklemmt. Dann hat er sich rückwärts drauffallen lassen. Das war
nicht nur sein, sondern auch mein Ende. Ich hatte keinen Halt im
Leben mehr. Mein Sohn war tot, und nun hatte ich auch noch meinen
Mann verloren.
Ich
begann, meine Chancen zu überdenken. Was hatte ich noch? Nichts.
Nachdem ich zuerst mich für den Tod meines Sohnes verantwortlich
gemacht hatte – denn ich hätte ihn nie auf die Reise gehen lassen
dürfen – kam ich zur Einsicht, dass dieses verfluchte Pärchen die
gesamte Schuld trug. Ich wollte meine Familie rächen. Sie mussten
sterben. Ich nahm die Lanze, auf der mein Mann sich aufgespießt
hatte, und räumte die beiden aus dem Weg. Glauben sie mir, es fiel
mir nicht schwer. Ich spürte sogar eine große Erleichterung.
Endlich, dachte ich, könnte ich die Angelegenheit ruhen lassen. Ich
war mit allem im Reinen. Wenn Charles damals nicht meine Schwester
mitgebracht hätte. Die gute Mary. Sie hat mich bei der Polizei
angeschwärzt, um mir zu helfen. Das hat sie doch zu ihnen gesagt,
oder? Sie war überzeugt, dass ich Charles umgebracht habe. Sie war
felsenfest von meinem Motiv überzeugt, ich kann ihr das nicht mal
übel nehmen.
Sie
müssen wissen, dass wir von unseren Eltern in Afrika ausgesetzt
wurden. Wir haben sie nie kennen gelernt. Die überaus freundlichen
Dorfbewohner haben uns dann großgezogen. Wir waren die einzige
beiden weißen Mädchen im Dorf. Ich denke, das hat Charles damals
auf uns aufmerksam gemacht“, sagte Marion mehr zu sich als zu
Vivien. Diese wiederum drängte darauf, die Wahrheit zu erfahren.
„Was hat das alles mit ihrem sogenannten Motiv zu tun? Warum konnte
Mary daraus schließen, dass sie ihren Mann ermordet haben?“ „Wir
beide waren ohne Eltern. Ich wollte, dass Cedric niemals dieses
Schicksal widerfährt. Mary dachte, dass ich Charles beschuldigt
hätte, mir meinen Sohn entreißen zu wollen. So war es aber nie!
Daraus hat sie dann geschlossen, dass seine Abreise mit meinem Jungen
und sein tragischer Tod in mir dann ein Feindbild von meinem Mann
erzeugt hätten. Diese blöde Kuh! Wegen ihrer Geschichte wurde ich
hingerichtet. Und das, obwohl mein Mann doch Selbstmord begangen
hatte! Dann wurde ich erst richtig böse. Und darüber hinaus verlor
ich die Fähigkeit, Schuldige von Unschuldigen zu unterscheiden. Ich
fühlte mich zu Unrecht hingerichtet und hatte das unglaublich starke
Gefühl, noch etwas erledigen zu müssen. Ich habe mich mit meiner
Seele auf diesem Schiff wiedergefunden, während mein Körper noch an
Englands Küsten umherwandert. Das dürfen sie gerne glauben,
schließlich haben sie ihre eigene Ermordung angesehen!
Zuerst
war Mary dran. Ich habe sie umgebracht, um mich für das zu rächen,
was sie mir angetan hat. Dann mussten die Leute beseitigt werden, die
damals auf der Schiffsreise dabei waren. Zum Glück hatte mein Mann
in seinen Alben genügend Fotos von damals. Sie alle habe ich über
den Jordan geschickt, ohne auch nur ein bisschen Reue zu fühlen.
Dann natürlich alle Anwesenden der Gerichtsverhandlung damals. Sie
mussten sterben, damit nichts von damals erzählt werden konnte.
Irgendwann merkte ich, wie die Angelegenheit totgeschwiegen wurde.
Dann begannen meine Qualen. Das nötige war erledigt. Was sollte ich
nun tun? Ich konnte nicht noch mehr unschuldige Menschen umbringen?
Dennoch war ich dazu verdammt, eine Ewigkeit af diesem Schiff zu
verbringen? Niemals, dachte ich. Dann entdeckte ich die Uhr.“ Sie
blickte hinauf zu der großen Uhr über dem Kamin.
„Ich
wusste sofort, wenn diese Uhr abgelaufen ist, würde alles vorbei
sein. Bis dahin war es aber noch ein langer Weg. Das Schiff trieb
orientierungslos vor Englands Küste auf und ab. Selten hat ein
Mensch die Letitia zu Gesicht bekommen, und wenn doch, so musste er
durch meine Hand sterben, damit er nichts von seiner Entdeckung
erzählen konnte. Es waren so wenige Opfer, dass die Behörden sich
nicht weiter interessiert haben. Nur immer die Warnungen: Gehen sie
nachts nicht an die Küsten, es besteht Sturzgefahr und so weiter. Es
wurden alle möglichen Ausreden gefunden für das Verschwinden von
ein paar Leuten. Sind sie nun zufrieden? Wissen sie, was sie wissen
wollen? Können sie verstehen, wie ich mich als Mutter wie auch als
liebende Ehefrau gefühlt habe?“
„Sie
sind wahnsinnig“, sagte Vivien. „Ich kann vielleicht
nachvollziehen, wie sie sich gefühlt haben, aber derartige
Vergeltungsgedanken? Ich verstehe einiges noch nicht. Zum Beispiel
sollten sie mir mal erklären, wieso sie diesen Brief an Victoria
Norton geschrieben haben, in dem sie ihr sagen, dass sie beide quitt
sind und sie sich keine Vorwürfe mehr machen soll. Wir beiden
wissen, dass sie auf keinen Fall quitt waren und sie sich ihre
Genugtuung mit fatalen Folgen für das junge Pärchen verschafft
haben!“
„Wissen
sie, wann ich den Brief geschrieben hatte? Jedenfalls war es, bevor
mein Mann gestorben war. Ich befand mich in meiner Phantasiewelt, in
der ich alleine durch einen Wald ging und nicht wusste, was ich tun
sollte. Damals gab ich dem Pärchen nicht die Schuld. Damals war ich
ja gar nicht in der Lage dazu. Erst, als Charles sich das leben nahm,
war mir klar: Er hat es nur getan, weil sie meinen Sohn ermordet
haben! Dafür mussten sie büßen!“ Vivien zögerte. „Sagen sie
mir doch bitte, wie sie ihre eigene Schwester ermorden konnten.
Bedeutet ihnen die Familie denn gar nichts?“ Marion war erbost.
„Sie
sind eine unglaublich ignorante Person. Was glauben sie denn, wie
viel mir mein Mann und mein Sohn gegeben haben? Und dann behaupten
sie, Familie bedeute mir nichts? Mary hat mich zerstört. Alles hätte
friedlich sein können, die hätten doch nie herausgefunden, wer
Baker und Norton erledigt hat. Ich war wieder ich selbst und hätte
ein neues Leben anfangen können. Und dann kam Mary mir in die Quere
und lieferte mich ans Messer.“ Vivien schüttelte den Kopf. Das
alles erschien ihr bar jeder Logik. „Warum haben sie ihren Schwager
umgebracht? Hat er auch das Schiff gesehen, oder wieso musste er
sterben?“
„Nein,
er hat dieses Schiff als Lebender nie gesehen. Genauso wenig, wie er
Schloss Letticeworth, seine Erbschaft je gesehen hatte. Er ließ das
Anwesen verkommen, das ihm sein Vater so großzügig vermacht hatte.
Er sollte für diese Pietätlosigkeit bezahlen. Ich schwang ein
weiteres Mal die Lanze.“
Marion
drehte sich vom Kamin weg und ging zu Mitte der Halle. Vivien stand
noch immer vor der Tür zur Empfangshalle. Eine Sache wollte sie von
Marion noch wissen. „Sagen sie mir, was passiert, wenn die Uhr
abgelaufen ist.“ Marion schmunzelte. „Dann wird sich dieses
Schiff in Luft auflösen und all seine Passagiere, alle Seelen mit
sich in die Hölle reißen. Sie können nichts tun, um das zu
verhindern. Dann werde ich endlich die Genugtuung haben, die mir
gebührt, und keiner wird sie mir wieder nehmen können!“ Viviens
Augen funkelten. „Ich werde das zu verhindern wissen. Sie werden
für ihre Morde bezahlen. Es darf nicht sein, dass all diese Menschen
umsonst gestorben sind!“ Marion senkte ihre Stimme. Sie sagte in
einem leichten, seltsam verträumten Ton: „Keiner dieser Menschen
ist umsonst gestorben. Niemand stirbt umsonst, wie sie es nennen. Ein
Leben für ein Leben. Ihre Seelen landen auf diesem Schiff, dafür
gelangen andere, längst verlorene Geister wieder in lebendige
Körper. Ein Teil stirbt, ein anderer gedeiht. Ein reger Tausch, wenn
sie es so wollen.“ Abrupt änderte sie den Tonfall. „Und sie
werden hier enden. Ihre Seele wird in der Hölle landen und dort auf
ewig schmoren!“ Marion breitete ihre Arme aus. Eine Druckwelle ging
von ihrem Körper aus, die Vivien erfasste und aus dem Saal in die
Empfangshalle schleuderte. Sie wurde gegen das Treppengeländer
geschmettert. Mit einem lauten Knallen flogen die Türen zur
Statuenhalle ins Schloss. Vivien konnte noch Marions lautes Lachen
hören, bevor sie in Ohnmacht fiel.
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