Sonntag, 18. März 2018

Das Schiff in der Nacht (Vierter Tag)


Kapitel 12Die Dämmerung

Zuerst blinzelte sie. Als sie merkte, dass sie wieder aufgewacht war, riss Vivien beide Augen auf. Sie schaute erneut an ihre Zimmerdecke. Sie lag mitten in ihrem eigenen Zimmer auf dem Boden. In ihrem Kopf schwirrte nur ein Gedanke umher: Marion Letticeworth.
Marion hatte unzählige Menschen umgebracht. Schuldige und Unschuldige. Diese Menschen mussten gerächt werden, und Vivien allein war die Möglichkeit dazu gegeben worden. Sie durfte nicht untätig herumliegen. Nach der großen Uhr in der Gemäldehalle blieben ihr nur noch wenige Sekunden Zeit, um Vergeltung zu üben. Die Halle! Ich muss dorthin, Marion ist sicher in der Halle und genießt den Anblick all ihrer Opfer, dachte Vivien grimmig. Sie stand auf und ging zur Zimmertür. Wie kann ich Marion besiegen, fragte sie sich. Ich habe keine Waffen. Als sie in ihren Hosentaschen suchte, fand sie den goldenen Skarabäus, die Dokumente und Fotos, die sie mitgenommen hatte und den halben Schutzengelanhänger. Die Sachen würden ihr nicht viel nützen. Ich habe keine Zeit, mir jetzt darüber Gedanken zu machen. Das kann ich gleich immer noch herausfinden, beschloss sie, als sie ihr Zimmer verließ.
Auf dem Korridor erwartete Vivien bereits die erste Überraschung. Der Boden schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Sie stand auf schwarzem Nichts. Immer positive Gedanken, so tun, als ob der Boden unverändert wäre. Sie durfte nur nicht nach unten schauen. Dann wandte sie sich der Doppeltür zu, die zum Saal führte. Sie war zu ihrer Überraschung verschlossen. Vivien war vor den Kopf gestoßen. Was nun? Sie blickte den Flur nach links hinab, Richtung Heck. Mein Gott, das kann nicht wahr sein, dachte sie erschrocken, als sie die Pendel mit den scharfen Klingen sah, die auf dem Gang hin und her schwangen. Marion will mich umbringen. Es hämmerte immer wieder in ihrem Kopf. Dieser eine Gedanke – sie will mich töten, nein, vernichten! Und dazu das Ticken der Uhr im Saal. Wie viel Zeit war noch? Wie lange war sie ohnmächtig? Vivien lief zur Empfangshalle, um die anderen Türen auszuprobieren, die in den Saal führten. Die Tür in die Halle war offen. Vivien trat hindurch und konnte leises Zischen in der Luft hören. Sie versuchte sich zu konzentrieren und konnte sehen, wie neben dem Türrahmen, durch den sie gerade getreten war, Pfeile auf Kopfhöhe aus einer Öffnung in der Wand schossen. Sie waren ziemlich klein und mussten vergiftet sein, da sie sonst kaum eine Gefahr darstellten. Ich werde nicht als Opfer dieser hinterhältigen Fallen enden, dachte Vivien und ging in die Knie. Sie krabbelte unter den Pfeilen hindurch und voran. Als sie direkt vor der großen Tür zum Saal ankam, begann der Holzboden zu wackeln. Vivien schreckte hoch und sprang einen Satz zurück. Keine Sekunde zu früh, denn der Boden brach weg und auch hier öffnete sich ein schwarzer Abgrund. Marion, du täuschst mich nicht, schmunzelte Vivien und wollte gerade wieder auf die Tür zugehen. Als sie jedoch ins Leere trat und nach vorne stolperte, durchfuhr sie der Schrecken wie ein Blitz. Die Einsicht, dass der Abgrund hier echt war, kam zu spät, denn sie stürzte hinab.
Im letzten Moment konnte sie sich mit der linken Hand an den Holzdielen festhalten. An der Kante baumelnd schaute sie hinab. Unter ihr war überall gähnende Leere, ein unendlicher Abgrund. Mit der anderen Hand griff Vivien nach dem Boden über ihr. Durch Schaukeln versuchte sie, sich hochzuziehen. Die Panik verlieh ihr die Kraft, sich zu retten. Mit Schwung zog sie sich hinauf. Nachdem sie sich oben aufgerichtet hatte, schaute sie verzweifelt zur Tür in die Statuenhalle. Sie war nicht mehr zu erreichen. Auswege gab es keine; die Treppe ans Deck war eingestürzt. Als Vivien sich der Tür zum zweiten Korridor näherte, hörte sie wieder das Sausen in der Luft. Auch hier war die Falle mit den Pfeilen in Aktion. Vivien duckte sich erneut und schlüpfte hindurch.
Sie öffnete die Tür und ging in den anderen Flur. Hier war es unerwartet dunkel, viel dunkler als vorher. Auch schien der Boden sich zu bewegen. Vivien ging voran, bemerkte jedoch, dass sie kaum von der Stelle kam. Wie ein Laufband lief der Boden unter ihr rückwärts, während sie ging. Das Hauptproblem war, dass der Boden unter ihren Füßen wegglitt, je schneller sie versuchte, zum anderen Ende des Ganges zu gelangen. Sie rannte, so schnell sie konnte, wurde vom Laufband aber sogar noch zurückbefördert. So sehr Vivien sich abmühte, sie landete schließlich keuchend wieder an der Eingangstür. Sie brach vor Erschöpfung zusammen. Kurz wurde ihr schwarz vor Augen, bis sie sich einen Moment später zusammenriss und ihr eine Sache auffiel. Der Boden steht still. Wenn ich mich nicht bewege, steht der Boden still! Je schneller ich laufe, desto schneller werde ich zurückgetragen. Angenommen, ich würde rückwärts gehen, überlegte Vivien. Was würde dann wohl geschehen? So gut es ging setzte sie einen Fuß zurück. Wie sie vermutet hatte, trug der Boden sie ein Stück geradeaus. Sie tat einen großen Schritt rückwärts. Dadurch wurde sie ein ganzes Stück voran transportiert. So legte sie den Weg zurück bis zu der Stelle, an der sich die Tür zum Saal befand. Aber da war keine Tür. Das kann doch nicht sein. Da muss irgendwo die Tür sein. Ungeachtet des Bodens tastete Vivien sich an der Wand entlang, wurde hin und her gerüttelt und fiel hin. Sie konnte nicht mehr ausmachen, wo sich einmal die Tür in die Halle befunden hatte. Sie war verschwunden.
Was tue ich jetzt? Gibt es noch irgendeine Möglichkeit, in den Saal zu kommen? Der Boden setzte sich ohne ersichtlichen Grund von alleine in Bewegung, obwohl Vivien unbewegt an derselben Stelle stand. Sie wurde zur hinteren Halle transportiert und, da das Band nicht anhielt, durch die Tür geschleudert. Wie in einem Traum erschien ihr, was sie nun erblickte. Die sonst düstere Halle wurde von seltsamen Flimmern erleuchtet, als würde sie direkt durch das verrauschte Bild eines Fernsehers schauen. Dennoch schien sich ansonsten nichts verändert zu haben. Die Türen zu den Schatzkammern standen offen; da sie dort aber schon alles geplündert hatte, waren sie nicht mehr von Interesse. Und das Gitter zwischen den Räumen… Es sah so seltsam aus. Hatte jemand daran hantiert? Vivien ging zum Gitter im Boden und fühlte. Nichts. Das Gitter war weg. Stattdessen stand das Loch im Boden offen. Es ist mein einziger Ausweg, dachte sie und kletterte hinunter in einen riesigen Raum. Es musste der Frachtraum des Schiffes sein. Auf diversen Stapeln verschiedener Kisten, Koffer und Fässer lag eine dicke Staubschicht. Links und rechts säumten Hängematten die Halle, die an den Stützbalken festgemacht waren. Von überall her schienen kleine Lichter zu leuchten, anders als die, die Vivien zuvor auf dem Schiffsdeck gesehen hatte. Sie weiteten sich zu Visionen aus, als Vivien näher trat. Jede dieser Visionen zeigte einen Menschen, der von Marion Letticeworth umgebracht wurde.
Vivien konnte sehen, wie Mary Riley erstochen wurde und wie Daniel Baker und Victoria Norton das gleiche Schicksal fanden. Es waren nur zwei von unzähligen Szenen, die sie ansehen musste, während sie voranging. Von allen Seiten hörte sie die Schreie der Opfer. Sie hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu und ging weiter. In der Mitte des Frachtraumes befand sich eine große steinerne Säule, die vom Boden bis zur Decke führte. Langsam ging Vivien darauf zu und betrachtete sie von allen Seiten. Sie hatte an einer Seite eine Öffnung und war innen hohl, wie ein riesiger Schacht, der von oben nach unten führte. Vivien überlegte einen Moment. Ein Abzug… vielleicht von einem Kamin? Aber wieso nach unten, fragte sie sich. Ich bin sicher, dass ich im Kamin im Statuensaal herauskomme, wenn ich hochklettere. Es ist meine einzige Möglichkeit, und all diese Menschen hier – ihr Opfer kann nicht umsonst gewesen sein. Ich werde Marion besiegen, sagte sie sich tapfer, während sie sich daran machte, den Kamin zu erklimmen.
Es gestaltete sich ziemlich schwierig, in dem dunklen Kamin das obere Ende zu erreichen. Durch die obere Öffnung als auch die untere fiel ein wenig Licht in den düsteren Schacht. Die Steine waren uneben festgemauert, wodurch Vivien sich einige Punkte suchen konnte, an denen sie sich mit den Füßen abstützte. Ein paar Male rutschte sie mit den Händen ab, doch zuletzt reichte ihre Hand über die Oberkante des Kamins. Sie zog sich nach oben und kletterte aus dem Kamin. Langsam blickte sie um sich. Wieso habe ich nie darauf geachtet, dass dieser Kamin nach unten offen ist, fragte Vivien sich. Sie blickte auf die Trümmer des Kronleuchters, der beim Wellengang zuvor heruntergestürzt war. Waren diese Scherben vorher verschwunden? Doch die Scherben und der Kamin waren völlig egal. Marion Letticeworth stand mit dem Rücken zu Vivien gerichtet in der Mitte der Halle.
Die Wut stieg in Vivien auf. Dies ist die Zeit. Du wirst für das büßen, was du getan hast, dachte sie zornig und schlich sich von hinten an, als sich eine dritte Stimme aus dem Dunkel vernehmen ließ. „Halt!“ Auch Marion hatte diesen Ruf gehört und drehte sich erstaunt um. Mary Riley trat von der Seite an die Szenerie heran.
Mary!“ rief Marion erstaunt. „Was tust du hier?“ Mary ging hinüber zu Vivien. „Ich werde helfen.“ Sie wandte sich an Vivien. „Sie wollen die Verstorbenen rächen? Das ist sehr edel, zumal sie damit die auf diesem Schiff gefangenen Seelen für die Ewigkeit erlösen würden. Aber haben sie sich überlegt, wie sie Marion besiegen wollen?“ Marion lachte laut auf. „Gar nicht! Sie können es nicht, sie törichtes Wesen! Hätten sie bloß auf meinen Rat gehört und sich aus allem herausgehalten!“ Vivien war empört. „Nein! Wie könnte ich? Sie haben mich da mit hereingezogen!“ „Diese junge Frau ist anders als die anderen, die du dahingemeuchelt hast“, sagte Mary. „Ihr Geist ist stark, er lässt sich nicht von dir bezwingen. Deshalb werde ich ihr helfen!“ Sie drehte sich wieder zu Vivien. „Haben sie noch den goldenen Skarabäus, mit dem sie Marions Zimmer betreten haben?“ Marion rief erschrocken dazwischen: „Mein Anhänger? Oh, wie konnte ich ihn nur aus den Augen lassen? Er war ein Leben lang mein Schutz!“ Spöttisch merkte Mary an: „Dein Anhänger? Dein Schutz? Schwesterchen, du hättest früher merken, dass er dein Ruin war! Natürlich, dein Mann hat ihn dir geschenkt, und du hast natürlich immer daran geglaubt, dass es dich beschützen würde. Hast du dich nie gefragt, woher der Skarabäus kam?“ Verwundert blickte Marion zu Boden. „Charles sagte, es wäre ein Geschenk des Dorfältesten gewesen, als Erinnerung.“ „Charles! Er war so leicht zu beeinflussen. Zeigen sie mir den Käfer“, sagte Mary zu Vivien. Sie holte das Schmuckstück aus ihrer Hosentasche. „Dieses kleine Amulett hat dein Mann von Kuneelah aus dem Dorf bekommen. Er hat dir nichts verraten, damit du nicht eifersüchtig wurdest. Ich wusste, dass er das tun würde und auch, dass er dir den Anhänger schenken würde. Ich war es, ich habe Kuneelah den Käfer gegeben, damit er letztlich bei dir landet. Er war als Notbremse gedacht, falls du auf die schiefe Bahn geraten solltest. Und jetzt ist es geschehen.“ Vivien hatte bisher ungläubig zugehört. Jetzt meldete sie sich zu Wort. „Aber was kann ihr dieses Amulett denn antun? Von welchem Nutzen ist es?“ „Es ist nicht das Amulett direkt“, meinte Mary. „Es ist der Zauber, der damit zusammenhängt! Marion, ist dir nie die Statue aufgefallen, die dort en der Wand steht?“ Sie zeigte zu einer Figur an der rechten Wand, die sich von den anderen unterschied. Sie zeigte einen Heiligen mit einem Schwert in der Hand. Vorher war sie Vivien nie aufgefallen, aber bei zweitem Hinsehen konnte Vivien sehen, dass sie aus Ton war. „Es ist die Figur, die du selbst bei uns im Dorf gefertigt hast.“ Mary nahm Vivien den Skarabäus aus der Hand. „Und nun wirst du durch dein eigenes Werk zugrunde gerichtet.“ Mary wandte sich zu Vivien. „Meine Zeit ist vorbei, es liegt jetzt an ihnen. Führen sie all unsere Seelen aus der Hölle heraus in die Erlösung!“ Mit diesem Worten streckte sie den Arm aus. Der Skarabäus bewegte sich etwas, als würde er leben. Dann flog er hoch in die Halle und direkt auf die Tonfigur zu. Er setzte sich auf das Schwert und fing an, hell zu glühen. Das Amulett verschmolz mit dem Schwert. Es wurde gleißend hell im Saal. Vivien spürte, wie eine Veränderung mit ihr durchging. Es war so hell, sie konnte nichts mehr sehen. Auch Marion war von dem Licht geblendet worden. Als es dann wieder dunkler wurde und ihre Augen sich wieder an die Umgebung gewöhnt hatten, sah Vivien, dass Mary verschwunden war. Noch erstaunter betrachtete sie sich selbst. Ihre alten Klamotten waren verschwunden, sie trug ein prächtiges, wallendes Gewand und eine goldene Tiara auf ihrem Haupt. In ihrer rechten Hand hielt sie das Schwert, das eben noch die Tonfigur zierte. Es war reich mit Edelsteinen bestückt und ziemlich schwer, doch Vivien spürte die Kraft durch ihren Körper fließen.
Marion inzwischen hatte sich ein Schwert einer der Figuren geschnappt. Sie ging auf Vivien zu und rief: „Verraten von meiner eigenen Schwester! Sie sind daran schuld und werden dafür bezahlen. En Garde!“ Sie erhob das Schwert gegen Vivien.
Ich habe keine Wahl, dachte Vivien. Sie hob das Schwert in die Höhe und ging forschen Schrittes auf Marion zu. Dabei fühlte sie immer wieder den abgrundtiefen Hass gegen diesen Menschen. Gegen dieses Wesen! Beide holten aus. Die Schwerter klirrten in der Luft. Vivien versuchte, Marions Hieben so gut sie konnte auszuweichen. Marion war eindeutig flinker. Vivien behinderte die Last des weiten Kleides, das sie trug. Dennoch gelang es ihr, mit einem Schwerthieb Marion zu entwaffnen. „Ah! Soll sie der Teufel holen, mich kriegen sie nie. Die Zeit ist bald abgelaufen!“ rief Marion und rannte zur Haupthalle hinaus. Vivien lief hinterher, das Schwert in der Hand. Sie musste sie erwischen, bevor die Uhr zwölf schlug. Sonst wären alle Bemühungen umsonst gewesen.
Das Loch vor der Tür in der Empfangshalle war verschwunden. Die Treppe nach oben lag jedoch noch immer in Trümmern. Vivien meinte überlegen: „Geben sie es auf, Marion. Sie sind gefangen. Sie ergeben sich besser.“ „Das glauben sie“, konterte Marion. „Sie haben es eben noch nicht verstanden, was es heißt, ein Geist zu sein!“ Mit diesen Worten schien sie sich in Luft aufzulösen. Sie war nach oben durch die Decke verschwunden. Ich habe das noch nie geschafft, dachte Vivien. Aber ich kann etwas anderes! Sie stellte sich direkt vor die zerstörte Treppe und konzentrierte sich. Ihr Blick wurde unscharf, langsam fiel sie in Trance. War es eine Treppe oder waren es zwei? Das Bild wurde derart verschwommen, dass Vivien nur noch eine intakte Treppe vor sich sah. Langsam wandelte sie eine Stufe nach der anderen hinauf, bis sie wieder vor der Tür zum Oberdeck stand. Sie versuchte wieder, klar zu werden und besinnte sich auf das, was vor ihr lag. Sie öffnete die Tür und betrat die Eingangshalle von Schloss Letticeworth, in der Marion stand und lauerte.
Vivien rief triumphierend: „Sie glauben, sie könnten alles. Sie denken, sie seien Gott, oder wie soll ich sie verstehen? Es wird Zeit, dass sie jemand auf den Boden der Tatsachen zurückholt!“ „Niemals! Das ist mein Schloss, sie dürfen mich hier nicht… Das würden sie doch nie tun! Es ist meine Heimat! Können sie denn nicht mit mir fühlen?“ „Konnten sie jemals mit den Menschen fühlen, die sie kaltblütig ermordet haben? Das kann es nicht gewesen sein, was ihr Sohn gewollt hat. Dass sie mit dieser Schuld noch nicht längst in der Hölle gelandet sind, wundert mich!“ Bei jedem dieser flammenden Worte kam Vivien einen Schritt auf Marion zu. „Hexe! Wie konnte ich nur so blind sein; ich hätte sie nie auf dieses Schiff gelangen lassen dürfen!“ So schnell, wie Marion dies gesagt hatte, drehte sie sich um und lief zur Freitreppe. Vivien hastete hinterher.
Marion flüchtet zum Turm, dachte sie. Dort gibt es keinen Ausweg mehr, dann habe ich sie!
Es war ein anderes Turmzimmer als zuvor, das Vivien schließlich erreichte. Dennoch schien es ebenfalls eine Leiter an der Außenseite zu geben, denn Vivien sah gerade noch, wie Marions Fuß vor dem Fenster baumelte. Sie lief zum Fenster. Das Schwert bewies sich beim Hinausklettern als sehr hinderlich. Dennoch schaffte sie es, die Waffe mit auf die Zinne zu schleppen. Dort stand sie Marion gegenüber. „Sie haben soviel Mut bewiesen“, sagte Marion. „Wofür tun sie das alles? Weshalb riskieren sie soviel? Mein Werk in der Welt ist bereits beendet, was veranlasste sie, sich dennoch auf meine Spur zu begeben?“ Sie klang sehr erschöpft und müde. Vivien antwortete: „Sie haben diese Menschen ermordet, ebenso wie mich. Ich weiß, was uns alle erwartet, wenn ich nichts unternommen hätte. All diese Seelen müssten in der Hölle landen. Ich habe die Qualen erlebt, die dieses Fegefeuer mir hier schon beschert hat. Es war so schrecklich, dass ich gar nicht daran denken darf, wie die Hölle ist. Ich möchte nur noch eines: Meine eigene Seele wie auch die anderen gefangenen in die Freiheit führen. Wenn ich ihnen schon das Leben nicht zurückgeben kann, so will ich doch zumindest verhindern, dass ihr Fluch, Marion, bis in alle Ewigkeit lastet.“ „Das ehrt sie“, sagte Marion. Sie schloss die Augen. „Ich bewundere ihren Mut, ebenso wie ihre Willensstärke. Sie sind ein starker Mensch. Wer weiß, wenn ich diese Kraft besessen hätte, vielleicht wäre das alles damals vor hundert Jahren nie passiert. Sie waren immer bereit, alles, was da harrte, auf sich zu nehmen. Damals, als sie auf diesem Turm standen, habe ich Eines von ihnen gelernt. Wenn es keinen Weg zurück gibt, nützt es nichts, sich zu verstecken. Man muss vorwärts schauen. Ich danke ihnen für diese Lektion!“ Mit diesen Worten Sprang Marion vom Turm in die neblige Tiefe. „Sie können nicht fliehen“, rief Vivien und sprang hinterher. Der Sturz schien endlos zu sein. Langsam lichtete sich der Nebel und die dunkle Nacht umhüllte Vivien. Ihre Silhouette zeichnete sich zauberhaft vor dem hellen Mond ab, das Kleid wallte durch die Luft. Sie landete auf dem Deck des Schiffes, ebenso wie Marion kurz zuvor. Marion lag wimmernd am Boden. Scheinbar war ihr Fall nicht so glatt verlaufen. Vivien ging zu ihr und richtete das Schwert auf sie.
Marion Letticeworth, sie haben verloren!“ Marion keuchte. „Ich gebe auf.“ In diesem Moment begann das Schiff, sich langsam aber sicher aufzulösen. „Die Zeit ist um“, stöhnte Marion. „Sie haben erreicht, was sie wollten. Ich hoffe, sie sind nun zufrieden. Ich war es nie.“ Ein seltsames Gefühl ging durch Vivien. Das Schiff begann, unscharf zu werden. Vivien merkte, wie sie selbst sich unwohl fühlte. Sie würde nun auch in die Ewigkeit verschwinden. „Sie waren nie zufrieden. Ein letztes Mal haben sie die Chance, das zu ändern. Eines habe ich auch von ihnen gelernt. Ein Leben für ein Leben. Der Tausch der Seelen! Ich werde dafür sorgen, dass auch sie ihren Frieden finden!“ Vivien ging zur Schiffsbrücke. Marion humpelte hinterher. Vivien stellte sich ans Steuerrad. „Wir werden tauschen. Ihren Körper gegen meine Seele. Ich werde Leben und sie endlich ihren Frieden haben. Das schwöre ich!“ Doch das Steuerrad ließ sich nicht bewegen, als Vivien es drehen wollte. „Und wie wollen sie meinen Körper finden? Dieses Schiff ist ein Wrack, es wird sich bald ins Nichts aufgelöst haben und sie gleich mit!“ meinte Marion. „Nein! Mary hat mich nicht umsonst unterstützt! Ich habe eine Macht erhalten, das ist mir bewusst geworden. Ich hätte es merken müssen, in dem Moment, als ich mein Bild verschwommen in der Galerie sah! Nun ist der Zeitpunkt gekommen, an dem ich diese Macht nutze.“ Vivien ging hinaus aufs Schiffdeck und zum Bug. Sie stellte sich an die Spitze des Schiffes und schaute aufs weite Meer hinaus. Dann schloss sie die Augen. Sie fühlte, dass sie den Anhänger von Charles Letticeworth um den Hals trug. Seine Hälfte des Anhängers. Die andere Hälfte hat Marion. Marions Körper. Ich werde ihn finden! Vivien öffnete die Augen, ließ den Blick über die See schweifen und konzentrierte sich.
Von Geisterhand erhob sich das Schiff in die Luft. Es leuchtete schwach und würde sich nicht mehr lange halten. Sie spürte, wie sie eins mit dem Schiff wurde. In der Luft drehte sich das Schiff und machte Fahrt. Vivien spürte, wie sie das Schiff steuerte, ohne dass ihre Hände das Steuer berührten. Sie stand allein an der Spitze der Letitia, die ihre letzte Fahrt vor dem gleißenden Mondlicht unternahm. Das lange Kleid wehte im Fahrtwind, während Vivien spürte, dass sie ihrem Ziel immer näher kam. Sie fühlte, dass es nicht mehr weit war. Marion kam langsam an die Spitze des Schiffes gekrochen. Sie sah, wie sich die Küste näherte. An einer Stelle konnte sie ein rotes Leuchten sehen. Auch Vivien vernahm es. Dort muss ich hin, spürte sie. Nach und nach versammelten sich auf dem Schiffsdeck alle Seelen der Opfer. Vivien brachte das Schiff in der Luft vor der Küste zum Stillstand. Alle konnten den riesigen Ring aus roten Flammen sehen, der den Körper Marions umgab. Vivien stieg vom Schiff in das Feuer hinab. Gleichzeitig trat Marion vor ihr geistiges Ich. Die beiden verschmolzen zu einem Geist wie alle anderen auf dem Schiff. Vivien drehte sich um und schaute zum Schiff. Bald würde es verschwunden sein. Sie blickte auf alle Seelen, die versammelt an Deck standen. Danke, dachte sie. Danke für eure Hilfe! Das Schiff drehte langsam ab. Noch immer umgab das Feuer Vivien. Ich wünsche euch Frieden, sagte Vivien in die Nachtluft und merkte, wie eine Träne über ihre Wange rollte. Sie schaute dem Schiff nach, das in Richtung Mondlicht flog. Es leuchtete immer schwächer.
Sie blieb stehen, bis sie nichts mehr sehen konnte. Dann drehte sie sich um.



Kapitel 13Epilog

Die Bewohner des kleinen Dorfes, dessen Namen sie nicht einmal aussprechen konnte, hatten so etwas noch nie gesehen. Natürlich waren alle sofort, als sie das seltsame Leuchten an der Küste sahen, herbeigeeilt. Aber sie hätten nie gedacht, dass jemand mitten aus diesem Feuer erscheinen würde. Vivien wirkte auf alle Anwesenden wie ein Geist, obwohl sie diesen Zustand hinter sich gelassen hatte. Sie war wieder Mensch, wieder zurück zu den Lebenden gekehrt. Weit am Horizont ging die Sonne auf und tauchte das Land in zauberhaftes Licht.
Nie werde ich vergessen, was an diesem Ort geschehen ist. Die Dorfbewohner werden es auch für immer in Erinnerung behalten. Ein altes Unrecht ist nun aufgeklärt und vernichtet worden. Die seltsamen Erscheinungen an der Westküste Englands werden ein Ende haben. Ich habe viel gelernt, in der Zeit, als ich tot war. Ich weiß nun, dass das Ende nicht, wie viele sagen, irgendwo geschrieben steht. Wer dieses Wissen in sich trägt, besitzt die Macht, seinen Weg selbst zu bestimmen. Ich hoffe, Marion hat ebensoviel von mir lernen können. Sie und all die anderen Toten haben nun endlich das Ziel erreicht, das sie ersehnten. Ihre Seelen sind in den Himmel aufgefahren. Schlussendlich bin ich froh, dass ich diese Erfahrung machen durfte. Ich habe etwas über mich, das Leben und die Ewigkeit erfahren. Ethan, Betsy und Jake werden lachen, wenn sie das hören, aber es ist wahr: Ich habe eine Lehre mitgenommen, die ihnen ewig vorbehalten bleiben wird.“ Vivien überlegte, bevor sie den Stift wieder ansetzte. „Aber vielleicht ist das alles auch nur Einbildung.“


Ende

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