Kapitel
12
– Die
Dämmerung
Zuerst
blinzelte sie. Als sie merkte, dass sie wieder aufgewacht war, riss
Vivien beide Augen auf. Sie schaute erneut an ihre Zimmerdecke. Sie
lag mitten in ihrem eigenen Zimmer auf dem Boden. In ihrem Kopf
schwirrte nur ein Gedanke umher: Marion Letticeworth.
Marion
hatte unzählige Menschen umgebracht. Schuldige und Unschuldige.
Diese Menschen mussten gerächt werden, und Vivien allein war die
Möglichkeit dazu gegeben worden. Sie durfte nicht untätig
herumliegen. Nach der großen Uhr in der Gemäldehalle blieben ihr
nur noch wenige Sekunden Zeit, um Vergeltung zu üben. Die Halle! Ich
muss dorthin, Marion ist sicher in der Halle und genießt den Anblick
all ihrer Opfer, dachte Vivien grimmig. Sie stand auf und ging zur
Zimmertür. Wie kann ich Marion besiegen, fragte sie sich. Ich habe
keine Waffen. Als sie in ihren Hosentaschen suchte, fand sie den
goldenen Skarabäus, die Dokumente und Fotos, die sie mitgenommen
hatte und den halben Schutzengelanhänger. Die Sachen würden ihr
nicht viel nützen. Ich habe keine Zeit, mir jetzt darüber Gedanken
zu machen. Das kann ich gleich immer noch herausfinden, beschloss
sie, als sie ihr Zimmer verließ.
Auf
dem Korridor erwartete Vivien bereits die erste Überraschung. Der
Boden schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Sie stand auf
schwarzem Nichts. Immer positive Gedanken, so tun, als ob der Boden
unverändert wäre. Sie durfte nur nicht nach unten schauen. Dann
wandte sie sich der Doppeltür zu, die zum Saal führte. Sie war zu
ihrer Überraschung verschlossen. Vivien war vor den Kopf gestoßen.
Was nun? Sie blickte den Flur nach links hinab, Richtung Heck. Mein
Gott, das kann nicht wahr sein, dachte sie erschrocken, als sie die
Pendel mit den scharfen Klingen sah, die auf dem Gang hin und her
schwangen. Marion will mich umbringen. Es hämmerte immer wieder in
ihrem Kopf. Dieser eine Gedanke – sie will mich töten, nein,
vernichten! Und dazu das Ticken der Uhr im Saal. Wie viel Zeit war
noch? Wie lange war sie ohnmächtig? Vivien lief zur Empfangshalle,
um die anderen Türen auszuprobieren, die in den Saal führten. Die
Tür in die Halle war offen. Vivien trat hindurch und konnte leises
Zischen in der Luft hören. Sie versuchte sich zu konzentrieren und
konnte sehen, wie neben dem Türrahmen, durch den sie gerade getreten
war, Pfeile auf Kopfhöhe aus einer Öffnung in der Wand schossen.
Sie waren ziemlich klein und mussten vergiftet sein, da sie sonst
kaum eine Gefahr darstellten. Ich werde nicht als Opfer dieser
hinterhältigen Fallen enden, dachte Vivien und ging in die Knie. Sie
krabbelte unter den Pfeilen hindurch und voran. Als sie direkt vor
der großen Tür zum Saal ankam, begann der Holzboden zu wackeln.
Vivien schreckte hoch und sprang einen Satz zurück. Keine Sekunde zu
früh, denn der Boden brach weg und auch hier öffnete sich ein
schwarzer Abgrund. Marion, du täuschst mich nicht, schmunzelte
Vivien und wollte gerade wieder auf die Tür zugehen. Als sie jedoch
ins Leere trat und nach vorne stolperte, durchfuhr sie der Schrecken
wie ein Blitz. Die Einsicht, dass der Abgrund hier echt war, kam zu
spät, denn sie stürzte hinab.
Im
letzten Moment konnte sie sich mit der linken Hand an den Holzdielen
festhalten. An der Kante baumelnd schaute sie hinab. Unter ihr war
überall gähnende Leere, ein unendlicher Abgrund. Mit der anderen
Hand griff Vivien nach dem Boden über ihr. Durch Schaukeln versuchte
sie, sich hochzuziehen. Die Panik verlieh ihr die Kraft, sich zu
retten. Mit Schwung zog sie sich hinauf. Nachdem sie sich oben
aufgerichtet hatte, schaute sie verzweifelt zur Tür in die
Statuenhalle. Sie war nicht mehr zu erreichen. Auswege gab es keine;
die Treppe ans Deck war eingestürzt. Als Vivien sich der Tür zum
zweiten Korridor näherte, hörte sie wieder das Sausen in der Luft.
Auch hier war die Falle mit den Pfeilen in Aktion. Vivien duckte sich
erneut und schlüpfte hindurch.
Sie
öffnete die Tür und ging in den anderen Flur. Hier war es
unerwartet dunkel, viel dunkler als vorher. Auch schien der Boden
sich zu bewegen. Vivien ging voran, bemerkte jedoch, dass sie kaum
von der Stelle kam. Wie ein Laufband lief der Boden unter ihr
rückwärts, während sie ging. Das Hauptproblem war, dass der Boden
unter ihren Füßen wegglitt, je schneller sie versuchte, zum anderen
Ende des Ganges zu gelangen. Sie rannte, so schnell sie konnte, wurde
vom Laufband aber sogar noch zurückbefördert. So sehr Vivien sich
abmühte, sie landete schließlich keuchend wieder an der
Eingangstür. Sie brach vor Erschöpfung zusammen. Kurz wurde ihr
schwarz vor Augen, bis sie sich einen Moment später zusammenriss und
ihr eine Sache auffiel. Der Boden steht still. Wenn ich mich nicht
bewege, steht der Boden still! Je schneller ich laufe, desto
schneller werde ich zurückgetragen. Angenommen, ich würde rückwärts
gehen, überlegte Vivien. Was würde dann wohl geschehen? So gut es
ging setzte sie einen Fuß zurück. Wie sie vermutet hatte, trug der
Boden sie ein Stück geradeaus. Sie tat einen großen Schritt
rückwärts. Dadurch wurde sie ein ganzes Stück voran transportiert.
So legte sie den Weg zurück bis zu der Stelle, an der sich die Tür
zum Saal befand. Aber da war keine Tür. Das kann doch nicht sein. Da
muss irgendwo die Tür sein. Ungeachtet des Bodens tastete Vivien
sich an der Wand entlang, wurde hin und her gerüttelt und fiel hin.
Sie konnte nicht mehr ausmachen, wo sich einmal die Tür in die Halle
befunden hatte. Sie war verschwunden.
Was
tue ich jetzt? Gibt es noch irgendeine Möglichkeit, in den Saal zu
kommen? Der Boden setzte sich ohne ersichtlichen Grund von alleine in
Bewegung, obwohl Vivien unbewegt an derselben Stelle stand. Sie wurde
zur hinteren Halle transportiert und, da das Band nicht anhielt,
durch die Tür geschleudert. Wie in einem Traum erschien ihr, was sie
nun erblickte. Die sonst düstere Halle wurde von seltsamen Flimmern
erleuchtet, als würde sie direkt durch das verrauschte Bild eines
Fernsehers schauen. Dennoch schien sich ansonsten nichts verändert
zu haben. Die Türen zu den Schatzkammern standen offen; da sie dort
aber schon alles geplündert hatte, waren sie nicht mehr von
Interesse. Und das Gitter zwischen den Räumen… Es sah so seltsam
aus. Hatte jemand daran hantiert? Vivien ging zum Gitter im Boden und
fühlte. Nichts. Das Gitter war weg. Stattdessen stand das Loch im
Boden offen. Es ist mein einziger Ausweg, dachte sie und kletterte
hinunter in einen riesigen Raum. Es musste der Frachtraum des
Schiffes sein. Auf diversen Stapeln verschiedener Kisten, Koffer und
Fässer lag eine dicke Staubschicht. Links und rechts säumten
Hängematten die Halle, die an den Stützbalken festgemacht waren.
Von überall her schienen kleine Lichter zu leuchten, anders als die,
die Vivien zuvor auf dem Schiffsdeck gesehen hatte. Sie weiteten sich
zu Visionen aus, als Vivien näher trat. Jede dieser Visionen zeigte
einen Menschen, der von Marion Letticeworth umgebracht wurde.
Vivien
konnte sehen, wie Mary Riley erstochen wurde und wie Daniel Baker und
Victoria Norton das gleiche Schicksal fanden. Es waren nur zwei von
unzähligen Szenen, die sie ansehen musste, während sie voranging.
Von allen Seiten hörte sie die Schreie der Opfer. Sie hielt sich mit
beiden Händen die Ohren zu und ging weiter. In der Mitte des
Frachtraumes befand sich eine große steinerne Säule, die vom Boden
bis zur Decke führte. Langsam ging Vivien darauf zu und betrachtete
sie von allen Seiten. Sie hatte an einer Seite eine Öffnung und war
innen hohl, wie ein riesiger Schacht, der von oben nach unten führte.
Vivien überlegte einen Moment. Ein Abzug… vielleicht von einem
Kamin? Aber wieso nach unten, fragte sie sich. Ich bin sicher, dass
ich im Kamin im Statuensaal herauskomme, wenn ich hochklettere. Es
ist meine einzige Möglichkeit, und all diese Menschen hier – ihr
Opfer kann nicht umsonst gewesen sein. Ich werde Marion besiegen,
sagte sie sich tapfer, während sie sich daran machte, den Kamin zu
erklimmen.
Es
gestaltete sich ziemlich schwierig, in dem dunklen Kamin das obere
Ende zu erreichen. Durch die obere Öffnung als auch die untere fiel
ein wenig Licht in den düsteren Schacht. Die Steine waren uneben
festgemauert, wodurch Vivien sich einige Punkte suchen konnte, an
denen sie sich mit den Füßen abstützte. Ein paar Male rutschte sie
mit den Händen ab, doch zuletzt reichte ihre Hand über die
Oberkante des Kamins. Sie zog sich nach oben und kletterte aus dem
Kamin. Langsam blickte sie um sich. Wieso habe ich nie darauf
geachtet, dass dieser Kamin nach unten offen ist, fragte Vivien sich.
Sie blickte auf die Trümmer des Kronleuchters, der beim Wellengang
zuvor heruntergestürzt war. Waren diese Scherben vorher
verschwunden? Doch die Scherben und der Kamin waren völlig egal.
Marion Letticeworth stand mit dem Rücken zu Vivien gerichtet in der
Mitte der Halle.
Die
Wut stieg in Vivien auf. Dies ist die Zeit. Du wirst für das büßen,
was du getan hast, dachte sie zornig und schlich sich von hinten an,
als sich eine dritte Stimme aus dem Dunkel vernehmen ließ. „Halt!“
Auch Marion hatte diesen Ruf gehört und drehte sich erstaunt um.
Mary Riley trat von der Seite an die Szenerie heran.
„Mary!“
rief Marion erstaunt. „Was tust du hier?“ Mary ging hinüber zu
Vivien. „Ich werde helfen.“ Sie wandte sich an Vivien. „Sie
wollen die Verstorbenen rächen? Das ist sehr edel, zumal sie damit
die auf diesem Schiff gefangenen Seelen für die Ewigkeit erlösen
würden. Aber haben sie sich überlegt, wie sie Marion besiegen
wollen?“ Marion lachte laut auf. „Gar nicht! Sie können es
nicht, sie törichtes Wesen! Hätten sie bloß auf meinen Rat gehört
und sich aus allem herausgehalten!“ Vivien war empört. „Nein!
Wie könnte ich? Sie haben mich da mit hereingezogen!“ „Diese
junge Frau ist anders als die anderen, die du dahingemeuchelt hast“,
sagte Mary. „Ihr Geist ist stark, er lässt sich nicht von dir
bezwingen. Deshalb werde ich ihr helfen!“ Sie drehte sich wieder zu
Vivien. „Haben sie noch den goldenen Skarabäus, mit dem sie
Marions Zimmer betreten haben?“ Marion rief erschrocken dazwischen:
„Mein Anhänger? Oh, wie konnte ich ihn nur aus den Augen lassen?
Er war ein Leben lang mein Schutz!“ Spöttisch merkte Mary an:
„Dein Anhänger? Dein Schutz? Schwesterchen, du hättest früher
merken, dass er dein Ruin war! Natürlich, dein Mann hat ihn dir
geschenkt, und du hast natürlich immer daran geglaubt, dass es dich
beschützen würde. Hast du dich nie gefragt, woher der Skarabäus
kam?“ Verwundert blickte Marion zu Boden. „Charles sagte, es wäre
ein Geschenk des Dorfältesten gewesen, als Erinnerung.“ „Charles!
Er war so leicht zu beeinflussen. Zeigen sie mir den Käfer“, sagte
Mary zu Vivien. Sie holte das Schmuckstück aus ihrer Hosentasche.
„Dieses kleine Amulett hat dein Mann von Kuneelah aus dem Dorf
bekommen. Er hat dir nichts verraten, damit du nicht eifersüchtig
wurdest. Ich wusste, dass er das tun würde und auch, dass er dir den
Anhänger schenken würde. Ich war es, ich habe Kuneelah den Käfer
gegeben, damit er letztlich bei dir landet. Er war als Notbremse
gedacht, falls du auf die schiefe Bahn geraten solltest. Und jetzt
ist es geschehen.“ Vivien hatte bisher ungläubig zugehört. Jetzt
meldete sie sich zu Wort. „Aber was kann ihr dieses Amulett denn
antun? Von welchem Nutzen ist es?“ „Es ist nicht das Amulett
direkt“, meinte Mary. „Es ist der Zauber, der damit
zusammenhängt! Marion, ist dir nie die Statue aufgefallen, die dort
en der Wand steht?“ Sie zeigte zu einer Figur an der rechten Wand,
die sich von den anderen unterschied. Sie zeigte einen Heiligen mit
einem Schwert in der Hand. Vorher war sie Vivien nie aufgefallen,
aber bei zweitem Hinsehen konnte Vivien sehen, dass sie aus Ton war.
„Es ist die Figur, die du selbst bei uns im Dorf gefertigt hast.“
Mary nahm Vivien den Skarabäus aus der Hand. „Und nun wirst du
durch dein eigenes Werk zugrunde gerichtet.“ Mary wandte sich zu
Vivien. „Meine Zeit ist vorbei, es liegt jetzt an ihnen. Führen
sie all unsere Seelen aus der Hölle heraus in die Erlösung!“ Mit
diesem Worten streckte sie den Arm aus. Der Skarabäus bewegte sich
etwas, als würde er leben. Dann flog er hoch in die Halle und direkt
auf die Tonfigur zu. Er setzte sich auf das Schwert und fing an, hell
zu glühen. Das Amulett verschmolz mit dem Schwert. Es wurde gleißend
hell im Saal. Vivien spürte, wie eine Veränderung mit ihr
durchging. Es war so hell, sie konnte nichts mehr sehen. Auch Marion
war von dem Licht geblendet worden. Als es dann wieder dunkler wurde
und ihre Augen sich wieder an die Umgebung gewöhnt hatten, sah
Vivien, dass Mary verschwunden war. Noch erstaunter betrachtete sie
sich selbst. Ihre alten Klamotten waren verschwunden, sie trug ein
prächtiges, wallendes Gewand und eine goldene Tiara auf ihrem Haupt.
In ihrer rechten Hand hielt sie das Schwert, das eben noch die
Tonfigur zierte. Es war reich mit Edelsteinen bestückt und ziemlich
schwer, doch Vivien spürte die Kraft durch ihren Körper fließen.
Marion
inzwischen hatte sich ein Schwert einer der Figuren geschnappt. Sie
ging auf Vivien zu und rief: „Verraten von meiner eigenen
Schwester! Sie sind daran schuld und werden dafür bezahlen. En
Garde!“ Sie erhob das Schwert gegen Vivien.
Ich
habe keine Wahl, dachte Vivien. Sie hob das Schwert in die Höhe und
ging forschen Schrittes auf Marion zu. Dabei fühlte sie immer wieder
den abgrundtiefen Hass gegen diesen Menschen. Gegen dieses Wesen!
Beide holten aus. Die Schwerter klirrten in der Luft. Vivien
versuchte, Marions Hieben so gut sie konnte auszuweichen. Marion war
eindeutig flinker. Vivien behinderte die Last des weiten Kleides, das
sie trug. Dennoch gelang es ihr, mit einem Schwerthieb Marion zu
entwaffnen. „Ah! Soll sie der Teufel holen, mich kriegen sie nie.
Die Zeit ist bald abgelaufen!“ rief Marion und rannte zur
Haupthalle hinaus. Vivien lief hinterher, das Schwert in der Hand.
Sie musste sie erwischen, bevor die Uhr zwölf schlug. Sonst wären
alle Bemühungen umsonst gewesen.
Das
Loch vor der Tür in der Empfangshalle war verschwunden. Die Treppe
nach oben lag jedoch noch immer in Trümmern. Vivien meinte
überlegen: „Geben sie es auf, Marion. Sie sind gefangen. Sie
ergeben sich besser.“ „Das glauben sie“, konterte Marion. „Sie
haben es eben noch nicht verstanden, was es heißt, ein Geist zu
sein!“ Mit diesen Worten schien sie sich in Luft aufzulösen. Sie
war nach oben durch die Decke verschwunden. Ich habe das noch nie
geschafft, dachte Vivien. Aber ich kann etwas anderes! Sie stellte
sich direkt vor die zerstörte Treppe und konzentrierte sich. Ihr
Blick wurde unscharf, langsam fiel sie in Trance. War es eine Treppe
oder waren es zwei? Das Bild wurde derart verschwommen, dass Vivien
nur noch eine intakte Treppe vor sich sah. Langsam wandelte sie eine
Stufe nach der anderen hinauf, bis sie wieder vor der Tür zum
Oberdeck stand. Sie versuchte wieder, klar zu werden und besinnte
sich auf das, was vor ihr lag. Sie öffnete die Tür und betrat die
Eingangshalle von Schloss Letticeworth, in der Marion stand und
lauerte.
Vivien
rief triumphierend: „Sie glauben, sie könnten alles. Sie denken,
sie seien Gott, oder wie soll ich sie verstehen? Es wird Zeit, dass
sie jemand auf den Boden der Tatsachen zurückholt!“ „Niemals!
Das ist mein Schloss, sie dürfen mich hier nicht… Das würden sie
doch nie tun! Es ist meine Heimat! Können sie denn nicht mit mir
fühlen?“ „Konnten sie jemals mit den Menschen fühlen, die sie
kaltblütig ermordet haben? Das kann es nicht gewesen sein, was ihr
Sohn gewollt hat. Dass sie mit dieser Schuld noch nicht längst in
der Hölle gelandet sind, wundert mich!“ Bei jedem dieser
flammenden Worte kam Vivien einen Schritt auf Marion zu. „Hexe! Wie
konnte ich nur so blind sein; ich hätte sie nie auf dieses Schiff
gelangen lassen dürfen!“ So schnell, wie Marion dies gesagt hatte,
drehte sie sich um und lief zur Freitreppe. Vivien hastete hinterher.
Marion
flüchtet zum Turm, dachte sie. Dort gibt es keinen Ausweg mehr, dann
habe ich sie!
Es
war ein anderes Turmzimmer als zuvor, das Vivien schließlich
erreichte. Dennoch schien es ebenfalls eine Leiter an der Außenseite
zu geben, denn Vivien sah gerade noch, wie Marions Fuß vor dem
Fenster baumelte. Sie lief zum Fenster. Das Schwert bewies sich beim
Hinausklettern als sehr hinderlich. Dennoch schaffte sie es, die
Waffe mit auf die Zinne zu schleppen. Dort stand sie Marion
gegenüber. „Sie haben soviel Mut bewiesen“, sagte Marion. „Wofür
tun sie das alles? Weshalb riskieren sie soviel? Mein Werk in der
Welt ist bereits beendet, was veranlasste sie, sich dennoch auf meine
Spur zu begeben?“ Sie klang sehr erschöpft und müde. Vivien
antwortete: „Sie haben diese Menschen ermordet, ebenso wie mich.
Ich weiß, was uns alle erwartet, wenn ich nichts unternommen hätte.
All diese Seelen müssten in der Hölle landen. Ich habe die Qualen
erlebt, die dieses Fegefeuer mir hier schon beschert hat. Es war so
schrecklich, dass ich gar nicht daran denken darf, wie die Hölle
ist. Ich möchte nur noch eines: Meine eigene Seele wie auch die
anderen gefangenen in die Freiheit führen. Wenn ich ihnen schon das
Leben nicht zurückgeben kann, so will ich doch zumindest verhindern,
dass ihr Fluch, Marion, bis in alle Ewigkeit lastet.“ „Das ehrt
sie“, sagte Marion. Sie schloss die Augen. „Ich bewundere ihren
Mut, ebenso wie ihre Willensstärke. Sie sind ein starker Mensch. Wer
weiß, wenn ich diese Kraft besessen hätte, vielleicht wäre das
alles damals vor hundert Jahren nie passiert. Sie waren immer bereit,
alles, was da harrte, auf sich zu nehmen. Damals, als sie auf diesem
Turm standen, habe ich Eines von ihnen gelernt. Wenn es keinen Weg
zurück gibt, nützt es nichts, sich zu verstecken. Man muss vorwärts
schauen. Ich danke ihnen für diese Lektion!“ Mit diesen Worten
Sprang Marion vom Turm in die neblige Tiefe. „Sie können nicht
fliehen“, rief Vivien und sprang hinterher. Der Sturz schien endlos
zu sein. Langsam lichtete sich der Nebel und die dunkle Nacht
umhüllte Vivien. Ihre Silhouette zeichnete sich zauberhaft vor dem
hellen Mond ab, das Kleid wallte durch die Luft. Sie landete auf dem
Deck des Schiffes, ebenso wie Marion kurz zuvor. Marion lag wimmernd
am Boden. Scheinbar war ihr Fall nicht so glatt verlaufen. Vivien
ging zu ihr und richtete das Schwert auf sie.
„Marion
Letticeworth, sie haben verloren!“ Marion keuchte. „Ich gebe
auf.“ In diesem Moment begann das Schiff, sich langsam aber sicher
aufzulösen. „Die Zeit ist um“, stöhnte Marion. „Sie haben
erreicht, was sie wollten. Ich hoffe, sie sind nun zufrieden. Ich war
es nie.“ Ein seltsames Gefühl ging durch Vivien. Das Schiff
begann, unscharf zu werden. Vivien merkte, wie sie selbst sich unwohl
fühlte. Sie würde nun auch in die Ewigkeit verschwinden. „Sie
waren nie zufrieden. Ein letztes Mal haben sie die Chance, das zu
ändern. Eines habe ich auch von ihnen gelernt. Ein Leben für ein
Leben. Der Tausch der Seelen! Ich werde dafür sorgen, dass auch sie
ihren Frieden finden!“ Vivien ging zur Schiffsbrücke. Marion
humpelte hinterher. Vivien stellte sich ans Steuerrad. „Wir werden
tauschen. Ihren Körper gegen meine Seele. Ich werde Leben und sie
endlich ihren Frieden haben. Das schwöre ich!“ Doch das Steuerrad
ließ sich nicht bewegen, als Vivien es drehen wollte. „Und wie
wollen sie meinen Körper finden? Dieses Schiff ist ein Wrack, es
wird sich bald ins Nichts aufgelöst haben und sie gleich mit!“
meinte Marion. „Nein! Mary hat mich nicht umsonst unterstützt! Ich
habe eine Macht erhalten, das ist mir bewusst geworden. Ich hätte es
merken müssen, in dem Moment, als ich mein Bild verschwommen in der
Galerie sah! Nun ist der Zeitpunkt gekommen, an dem ich diese Macht
nutze.“ Vivien ging hinaus aufs Schiffdeck und zum Bug. Sie stellte
sich an die Spitze des Schiffes und schaute aufs weite Meer hinaus.
Dann schloss sie die Augen. Sie fühlte, dass sie den Anhänger von
Charles Letticeworth um den Hals trug. Seine Hälfte des Anhängers.
Die andere Hälfte hat Marion. Marions Körper. Ich werde ihn finden!
Vivien öffnete die Augen, ließ den Blick über die See schweifen
und konzentrierte sich.
Von
Geisterhand erhob sich das Schiff in die Luft. Es leuchtete schwach
und würde sich nicht mehr lange halten. Sie spürte, wie sie eins
mit dem Schiff wurde. In der Luft drehte sich das Schiff und machte
Fahrt. Vivien spürte, wie sie das Schiff steuerte, ohne dass ihre
Hände das Steuer berührten. Sie stand allein an der Spitze der
Letitia, die ihre letzte Fahrt vor dem gleißenden Mondlicht
unternahm. Das lange Kleid wehte im Fahrtwind, während Vivien
spürte, dass sie ihrem Ziel immer näher kam. Sie fühlte, dass es
nicht mehr weit war. Marion kam langsam an die Spitze des Schiffes
gekrochen. Sie sah, wie sich die Küste näherte. An einer Stelle
konnte sie ein rotes Leuchten sehen. Auch Vivien vernahm es. Dort
muss ich hin, spürte sie. Nach und nach versammelten sich auf dem
Schiffsdeck alle Seelen der Opfer. Vivien brachte das Schiff in der
Luft vor der Küste zum Stillstand. Alle konnten den riesigen Ring
aus roten Flammen sehen, der den Körper Marions umgab. Vivien stieg
vom Schiff in das Feuer hinab. Gleichzeitig trat Marion vor ihr
geistiges Ich. Die beiden verschmolzen zu einem Geist wie alle
anderen auf dem Schiff. Vivien drehte sich um und schaute zum Schiff.
Bald würde es verschwunden sein. Sie blickte auf alle Seelen, die
versammelt an Deck standen. Danke, dachte sie. Danke für eure Hilfe!
Das Schiff drehte langsam ab. Noch immer umgab das Feuer Vivien. Ich
wünsche euch Frieden, sagte Vivien in die Nachtluft und merkte, wie
eine Träne über ihre Wange rollte. Sie schaute dem Schiff nach, das
in Richtung Mondlicht flog. Es leuchtete immer schwächer.
Sie
blieb stehen, bis sie nichts mehr sehen konnte. Dann drehte sie sich
um.
Kapitel
13
– Epilog
Die
Bewohner des kleinen Dorfes, dessen Namen sie nicht einmal
aussprechen konnte, hatten so etwas noch nie gesehen. Natürlich
waren alle sofort, als sie das seltsame Leuchten an der Küste sahen,
herbeigeeilt. Aber sie hätten nie gedacht, dass jemand mitten aus
diesem Feuer erscheinen würde. Vivien wirkte auf alle Anwesenden wie
ein Geist, obwohl sie diesen Zustand hinter sich gelassen hatte. Sie
war wieder Mensch, wieder zurück zu den Lebenden gekehrt. Weit am
Horizont ging die Sonne auf und tauchte das Land in zauberhaftes
Licht.
„Nie
werde ich vergessen, was an diesem Ort geschehen ist. Die
Dorfbewohner werden es auch für immer in Erinnerung behalten. Ein
altes Unrecht ist nun aufgeklärt und vernichtet worden. Die
seltsamen Erscheinungen an der Westküste Englands werden ein Ende
haben. Ich habe viel gelernt, in der Zeit, als ich tot war. Ich weiß
nun, dass das Ende nicht, wie viele sagen, irgendwo geschrieben
steht. Wer dieses Wissen in sich trägt, besitzt die Macht, seinen
Weg selbst zu bestimmen. Ich hoffe, Marion hat ebensoviel von mir
lernen können. Sie und all die anderen Toten haben nun endlich das
Ziel erreicht, das sie ersehnten. Ihre Seelen sind in den Himmel
aufgefahren. Schlussendlich bin ich froh, dass ich diese Erfahrung
machen durfte. Ich habe etwas über mich, das Leben und die Ewigkeit
erfahren. Ethan, Betsy und Jake werden lachen, wenn sie das hören,
aber es ist wahr: Ich habe eine Lehre mitgenommen, die ihnen ewig
vorbehalten bleiben wird.“ Vivien überlegte, bevor sie den Stift
wieder ansetzte. „Aber vielleicht ist das alles auch nur
Einbildung.“
Ende
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