Kapitel
6 – Düsteres
Erwachen
Vivien
döste vor sich hin. Der Schlaf war vorbei, irgendetwas drückte sie
derart schwer auf der Brust, dass ihr das Atmen schwerfiel. So konnte
kein Mensch einen ruhigen Schlaf finden. Langsam öffnete sie die
Augen. Es war noch immer stockduster in ihrem Zimmer. Sie wollte aus
dem Bullauge schauen, um zu sehen, ob es inzwischen Tag war, doch sie
konnte das Bullauge nicht entdecken. Vivien musste husten. Der Druck
auf ihrer Lunge war unerträglich. Sie wollte die Hand auflegen, um
zu fühlen, ob alles normal war. Als ihre Hand jedoch auf ihrer Brust
zu liegen kam, merkte Vivien, dass ein Gegenstand auf ihr lag und ihr
das Atmen erschwerte. Es war ein hölzerner Gegenstand. Noch etwas
schlaftrunken nahm Vivien ihn in die Hand und versuchte, durch Fühlen
zu erkennen, was es war. Als hätte jemand ihre Gedanken gelesen,
flammten die Leuchter an den Wänden langsam wieder auf, doch sie
schienen längst nicht so hell wie zuvor. Dämmerlicht erfüllte die
Kabine. Vivien stand auf und erstarrte vor Schreck, als sie sah, was
sie da in der Hand hielt. Es war eine große, schwere Axt mit einem
hölzernen Griff. An der Klinge glänzte Blut. Vivien ließ die Axt
fallen. Mit einem dumpfen Ton schlug sie auf dem Teppich auf. Nun
erst erkannte Vivien, dass mit ihrem Zimmer einiges nicht stimmte. Es
war wieder in seinen ursprünglichen Zustand zurückverfallen. Der
Teppich auf dem Boden war vermodert, das Bett schwarz und verfault
und Moos bildete sich auf den Dielen. Und noch etwas war seltsam: Wo
vorher das Bullauge war, befand sich jetzt eine Tür. Wie kann denn
das sein, fragte sich Vivien. Diese Tür müsste doch theoretisch
mitten aufs Meer führen. Und wo ist überhaupt die Ausgangstür?
Tatsächlich. Der Ausgang war verschwunden. Dort hing jetzt ein Bild,
an dem schon die Farbe verlaufen war.
Vivien
schaute an sich herab. Ihre Kleidung war zum Glück getrocknet, aber
sie mochte sich nicht wohlfühlen. Dann sah sie zu ihren Füßen
wieder die blutige Axt liegen. Plötzlich bildete sich von der Axt
ausgehend eine Spur aus Blutflecken, die zu der neu erschienenen Tür
führte. Einer Vorahnung folgend, nahm Vivien die Axt in die Hand und
ging auf die Tür zu. Noch immer fürchtete sie, dass die Tür sie
ins Freie führte. Daher öffnete sie die Tür vorsichtig. Ihre
Hoffnung hatte getrogen. Vivien blickte in einen schmalen Gang, der
gleich nach der Tür rechts abzweigte. Sie trat ein. Der Gang war
sehr eng, Vivien musste aufpassen, dass sie nicht ihre Kleidung an
dem groben Holz und den hervorstehenden Nägeln zerriss. An der
linken Seite des Ganges befanden sich drei Bullaugen. Durch sie
erkannte Vivien, dass es immer noch Nacht war. Oder ist es schon
wieder Nacht? Ich habe jegliches Zeitgefühl verloren. Warum spielt
jemand solche Streiche mit mir?
Die
Blutspur zog sich weiter den Gang hinunter. Vivien erschauderte bei
dem Gedanken, wo sie wohl hinführen mochte. Sie glaubte, aus der
Ferne Schreie zu hören. Am liebsten wäre sie umgekehrt, aber es gab
keinen Weg zurück. Dieser Gang war ihre einzige Möglichkeit,
vielleicht wieder auf das Schiffsdeck zurückzukommen. Endlich kam
sie ans Ende des Ganges. Dort führte eine ebenso schmale wie steile
Treppe nach unten. Sie schien direkt ins Meer zu führen; sie war
viel zu lang für ein normales Schiff, doch was heißt „normal“?
Vivien stand vor einer Tür. Die Blutspur schien hier zu enden. Ich
will das nicht, sagte Vivien zu sich, doch widerwillig drehte sie den
Knauf der Tür. Sie war nicht verschlossen und schwang mit einem
entsetzlichen Quietschen nach außen auf.
Vivien
wurden die Knie weich. Aus der Kammer, die sich ihr öffnete, fielen
ihr zwei Körper entgegen. Ohne Kopf. Vor lauter Ekel warf Vivien die
Axt hin und schüttelte sich. Dann erhellte eine Deckenleuchte die
kleine Kammer. Vivien sah auf einem Regal die beiden Köpfe der
Leichen liegen. Ihr wurde ganz schlecht – es waren die Köpfe von
Tim und Sally, ihren beiden Zimmernachbarn. Die Deckenlampe strahlte
immer heller, Vivien konnte bald nichts mehr sehen, aber das wollte
sie auch gar nicht mehr. Angewidert rannte sie zurück zu ihrer
Kabine. Der Gang schien unendlich zu sein, auch glaubte Vivien zu
bemerken, wie er immer schmaler wurde. Zwischen den Holzbrettern
quoll eine schwarze Flüssigkeit hervor, die Vivien ins Rutschen
brachte, doch sie lief unbeirrt weiter. Dann endlich sah sie das
Licht aus ihrer Kabine und hastete hinein. Ihr erster Blick fiel auf
die Ausgangstür, die wieder an ihrem alten Platz war. Sie drehte
sich um. Die Flurtür war verschwunden, an ihrer Stelle befand sich
wieder das Bullauge in der Wand. Draußen konnte Vivien das
Wetterleuchten sehen. Auch ansonsten war alles in der Kabine wieder
normal. Es war warm und hell hier drin, nichts mehr war verfault oder
kaputt. Warum dieser Horror? Will mich jemand von hier vertreiben?
Ich würde ja gerne von diesem höllischen Schiff verschwinden, aber
wie? Und was hatte das Erlebnis in dem Gang zu bedeuten? Hat es jetzt
auch Tim und Sally erwischt? Die beiden hatten doch nichts Böses
getan! Vivien betrachtete das Grammophon. Ihre Erinnerung kehrte an
den Vorabend und Mary Riley zurück. Mord. Überall auf diesem Schiff
dreht sich alles nur um Mord. Egal, ob vor einhundert Jahren oder
jetzt. Ein wahnsinniger Mörder treibt irgendwo sein Unwesen. Und
versucht er, mich in den Wahnsinn zu treiben, indem er mir weismacht,
ich habe meine Freunde auf dem Gewissen. Nichts da, ich werde mich
wehren, nahm Vivien sich vor. Fest entschlossen, einen Mörder zu
entlarven, verließ Vivien ihre Kabine.
Kapitel
7 –Der
Fall
Letticeworth
Sie
stand wieder auf dem Flur. Ihre Augen hatten sich mittlerweile
ziemlich gut an das Dämmerlicht der Kerzen gewöhnt. Daher fiel ihr
ein Leuchten zu ihrer Rechten sofort auf. Ein blaues Licht ging von
dem Gemälde aus, das sie bereits vorher betrachtet hatte. Vivien
schaute auf den Jungen, der mit seinen Eltern in dem Säulengang
spielte. Der Schriftzug auf dem Bild leuchtete hell auf. Was hat das
zu bedeuten? Vivien berührte die Buchstaben. Ein warmes Gefühl ging
durch ihren Körper. Einer der Buchstaben schien sich zu verformen.
Vivien spürte, dass sie es war, die die Schrift verwandelte. Aber
wie ist das möglich? Wie kann ich die Schrift verändern? Und woher
soll ich wissen, was dort erscheinen soll? Sie war ratlos. Ihr
Unterbewusstsein musste den Vorgang steuern. Sie legte beide Hände
auf die Schrift am Bildrand. Der Satz veränderte sich. Nicht mehr
„Amor filii non moritur.“ war dort zu lesen. Stattdessen prangte
ein großes „Patris culpa non moritur – Die Schuld des Vaters
vergeht nie“ auf dem Bild. Auch das Bild selbst hatte sich
gewandelt: Während die Eltern sich von dem Kind weggewandt hatten,
war der Junge auf dem Boden zusammengesunken. Wahnsinn, ich sehe
immer wieder dieses Bild von den Eltern, die sich abwenden und dem
sterbenden Kind, genau wie in meinen Träumen, dachte Vivien
verwundert. Mehr Zeit für Gedanken blieb ihr aber nicht. Das Bild
gab nach, während sie mit den Händen dagegen drückte, und fiel in
den dahinter gelegenen Raum. Vivien stolperte hinterher. Sie stand in
einer ihr völlig unbekannten Kajüte. Dies muss der Raum sein,
dessen Tür sich in das Bild verwandelt hatte, dachte sie verwirrt
und drehte sich um. Das Loch in der Wand war verschwunden, das Bild
ebenso. In der Wand befand sich nun eine ganz normale Tür.
Vivien
betrachtete das Zimmer genauer. Es war eine luxuriös ausgestattete
Kabine mit vielen Bildern und Andenken an den Wänden und in Regalen.
Auf einem Schreibtisch stand eine Sturmlampe, deren Lichtschein das
auf der Arbeitsfläche zurückgebliebene Dokument erleuchtete. Davon
magisch angezogen ließ Vivien ihren Blick über den Text wandern.
Charles Letticeworth hatte ihn verfasst. Vivien blickte auf. Ist dies
die Kabine des Kapitäns? Sie schaute sich schnell um. Hatte sie
nicht eben ein Geräusch gehört? War der Geist zurückgekehrt, den
sie damals auf der Brücke gesehen hatte? Sie fühlte sich unwohl und
setzte sich mit dem Papier in einen Sessel, der mitten im Raum stand.
„Dieses
Schiff ist nicht mehr das, was es einst war. Früher strahlte es die
Glorie der Familie Letticeworth aus, jetzt ist es nur noch ein Wrack,
behaftet mit all den schrecklichen Geschichten, die sich ereignet
haben. Ich möchte die glückliche Geschichte meines Schiffes
wiederbeleben. Ich werde es wieder so herrichten, wie es einst war,
damals, als ich meine Marion kennen gelernt habe. Der Spiegel – er
muss wieder in den anderen Flur. Ans Ende zum Heck hin. Ich hätte
wissen müssen, dass es Unglück bringt, vor der eigenen Tür einen
Spiegel aufzuhängen.“ Vivien stutzte. Sie ging zur Tür und
schaute auf den Flur. Tatsächlich hing genau gegenüber der Tür zur
Kabine ein großer Spiegel an der Wand. Wie kommt der dahin? Habe ich
den vorher denn nicht bemerkt, fragte sie sich. Unsinn, vorher war da
kein Spiegel. Ich habe doch hier gesessen und die Wand angestarrt.
Sie war leer, da bin ich ganz sicher. Egal, jetzt hängt er dort.
Kann mir auch egal sein. Sie ging zurück in die Kabine und las
weiter. „Dort wird er dann wieder das Leben, das ich damals als
junger Mann geführt habe, widerspiegeln und neu erstrahlen lassen.
Ich will niemals unsere gemeinsame Zeit in Afrika vergessen, sie ist
das Einzige, das mir noch bleibt. Ich habe die beiden Andenken an
meine Frau sicher weggeschlossen. Es war schließlich nicht leicht,
auf den langen Reisen ohne sie auszukommen. Ich komme nur nicht an
die beiden Schätze heran, und ich möchte nicht, dass sie auf dem
Schiff bleiben. Ich will sie Marion zurückgeben. Der raffinierte
Mechanismus an den beiden Türen der Schatzkammern lässt sich aber
nur zu einer bestimmten Sternenkonstellation öffnen. Die Sterne, die
das Pentagramm bilden, müssen durch das Steuerbordfenster leuchten,
um den ersten Raum zu öffnen. Wie der zweite Raum geöffnet wird,
weiß nur Marion. Ich muss sie fragen, wie es funktioniert. Dann ist
das Schiff bald in seinem Urzustand, so soll es dann auch bleiben.
Das ist mein letzter Wunsch, damit ich all die schrecklichen
Ereignisse endlich hinter mir lassen kann. 16. Januar 1903, Charles
Letticeworth“
Vivien
legte das Dokument beiseite. Es war etwas mehr als ein halbes Jahr
geschrieben worden, bevor Letticeworth starb. Der Kapitän hatte es
offensichtlich nicht geschafft, das Schiff wieder herzurichten. Der
Spiegel hing an altem Ort und Stelle – wahrscheinlich waren auch
noch die Schätze in den Räumen. Es musste sich um die Kammern am
Heck des Schiffes handeln, deren Türen mit den seltsamen Zeichen
versehen waren. Sollte sie versuchen, alles an seinen Platz zu
räumen? Sonst hatte sie schließlich nichts zu tun. Zweifelnd stand
Vivien auf. Das Papier faltete sie mehrmals und steckte es in die
Hosentasche. Dabei bemerkte sie, dass aus irgendeinem Grund beide
Taschen intakt waren. Aber ich habe doch heute – oder war es
gestern? Ich habe doch meinen Schlüssel durch ein Loch verloren, und
jetzt ist plötzlich alles in Ordnung? Sich weiter darüber Gedanken
zu machen hielt Vivien für unsinnig. Sie verließ die Kabine. Ich
denke, ich fange mit dem Spiegel an. Es lief unerwartet gut, ohne
große Umstände hielt Vivien den Spiegel in beiden Händen. Er war
nicht einmal besonders schwer. Als Vivien jetzt aber in Richtung
Halle gehen wollte, fiel ihr auf, dass die Tür zur Kajüte des
Kapitäns verschwunden war. Davon ziemlich verwirrt hing sie den
Spiegel wieder an die Wand. Als wäre nichts geschehen, spiegelte
sich dort wieder die Tür. Ungläubig drehte Vivien sich um. Sie
öffnete die Tür und betrat das Zimmer von Charles Letticeworth.
Beim Hinausgehen betrachtete sie sich selbst im Spiegel. Kann es
sein, dass die Tür nur erscheint, wenn der Spiegel hängt? Ich werde
den Spiegel jetzt in den anderen Korridor bringen. Mit dem Fuß stieß
sie die Tür zur Haupthalle auf. Dort erhellten die Kerzenleuchter
wieder die Atmosphäre.
Vivien
passte auf, dass sie mit den Füßen nicht gegen einen der vielen
Stühle stieß, die in der Empfangshalle herumstanden. Was wäre
bloß, wenn der Spiegel herunterfiele und zerbrach? Dann könnte ich
nicht mehr in die Kabine des Kapitäns zurück… Aber ich könnte
doch bestimmt die Wand mit irgendetwas einschlagen, ist ja nur Holz.
Zu dumm, dass meine Magie in dieser Welt nicht wirkt. Das würde
vieles erleichtern. Noch während Vivien darüber nachdachte, kam zur
anderen Flurtür. Sie setzte den Spiegel ab und bewahrte ihn mit
einer Hand vor dem Umfallen. Mit der anderen öffnete sie die Tür.
Dann nahm sie den Spiegel wieder auf und betrat den Korridor. So, wo
kommt jetzt der Spiegel hin, fragte Vivien sich. Sie lehnte ihn an
die Wand und zog das Papier aus ihrer Tasche. „Ans Ende zum Heck
hin.“ Stand dort geschrieben. Welches Ende war denn das Heck?
Natürlich! Die Empfangshalle lag fast direkt unter der Brücke, das
musste der Bug sein. Also muss ich ans andere Ende. Vivien nahm den
Spiegel in beide Hände und ging den Flur hinunter. An der hinteren
Tür angekommen überlegte sie, wo der Spiegel denn nun aufzuhängen
sei. Sie suchte die Wände nach einem Haken oder ähnlichem ab. Fast
ganz am Ende, auf der Seite, an der sich nur die Doppeltür befand,
waren zwei Aufhänger angebracht. Mühsam wuchtete Vivien den Spiegel
hinauf. Schon beim Aufhängen konnte sie sehen, wie sich etwas im
Spiegelbild zeigte. Mit einem Male zierten drei Totenköpfe die
gegenüberliegende Wand, die bis zu diesem Zeitpunkt noch unscheinbar
gewesen war. Erst durch die Reflektion wurden die Totenköpfe
sichtbar. Vivien betrachtete sie. Drei Schädel, nebeneinander an der
Wand angebracht. Der mittlere hatte seine Kiefer auseinandergeklappt.
Es war nicht schwer zu erraten, was hier geschehen musste. Trotzdem
zögerte Vivien. Sollte sie ihre Hand dort hineinstecken? Ihr war
sehr mulmig zumute. Das leise Rauschen und der Windhauch aus Kabine
5b nebenan beruhigten sie nicht gerade. Was kann mir denn noch groß
passieren? Sie steckte die Hand in den Mund des mittleren Schädels.
Dort befand sich in der Wand ein Knauf. Vivien drehte ihn langsam
herum. Um die Schädel herum zeichnete sich eine Tür ab, die sich
nun nach innen öffnete. Vivien betrat das geheime Zimmer und wurde
von dem kommenden Spektakel überwältigt.
Sie
trat in einen dunklen Raum. Um sie herum wurde es auf einmal lebhaft.
Visionen zeichneten sich an den Wänden ab. Sie zeigten Afrika.
Wüste, dann wieder Dschungel und Berge, wilde Tiere, die umherzogen,
weite Ebenen und Felder, endlose Wildnis. Dann ein Eingeborenendorf.
Vivien spürte direkt die Gluthitze, die von der strahlenden Sonne
ausging. Mehrere Eingeborene standen auf einem Platz im Dorf um einen
Brunnen herum. Ein sehr alter Mann stand im Brunnen und hielt eine
Ansprache. Dann wechselte das Bild. Vivien fand sich in einer Hütte
wieder. Dort saß ein junger Mann an einem Tisch und schrieb Sachen
in ein Buch. Es war ein weißer Mann. Er schloss das Buch und verließ
die Hütte. Vivien erkannte Charles Letticeworth´s Tagebuch. Das
musste der junge Letticeworth auf seiner Reise durch Afrika sein, von
der er geschrieben hatte. Das Bild änderte sich. Letticeworth befand
sich auf einer Safari durch einen Dschungel. Sie führte vorbei an
wunderschönen Pflanzen und seltenen Tieren, bis zu einem riesigen,
malerischen Wasserfall.
Letticeworth
sprang kopfüber in einen See und tauchte ab. Er war verschwunden und
Vivien fand sich in einer Höhle wieder. Viele Malereien zierten die
Wände, von oben drang helles Licht herein. Eine junge Frau saß an
einem kleinen Altar und formte eine Tonskulptur. Letticeworth betrat
die Höhle und bewunderte die Arbeit der Eingeborenen. Sie führte
ihn hinaus, zurück ins Dorf. Zusammen mit den beiden betrat Vivien
die Hütte des Mädchens. Dort waren auf einem Regal viele solcher
Tonfiguren gesammelt. Das Mädchen schien sehr stolz darauf zu sein.
Bewundernd schaute Letticeworth die Figuren an. Er schien von ihnen
sehr angetan zu sein. Jedoch war er auch dem Mädchen nicht
abgeneigt. Sie schien ebenfalls Zuneigung zu ihm zu empfinden. Sie
blickten sich tief in die Augen. Die Umgebung änderte sich wieder.
Letticeworth und die junge Frau saßen auf dem Rücken eines
Elefanten und ritten über ein weites Feld, die wunderschöne
Landschaft und eine majestätische Bergkette in ihrem Rücken. Vivien
wünschte, sie wäre wirklich dort. Es fühlte sich alles so echt an.
Wieder
im Dorf erkannte Vivien, dass sie in einer Art Kapelle standen.
Letticeworth stand mit der jungen Frau vor einem Bambusaltar und ein
Priester sprach seinen Segen über die beiden aus. Er nahm ein
kleines Kästchen, auf dem in vergoldeten Buchstaben stand: „Charles
& Marion Letticeworth“ Das war es also, was der Kapitän mit
der schönen Zeit damals in Afrika meinte. Deshalb sollte der Spiegel
wieder an der Wand hängen. Damit Jeder sehen konnte, wie glücklich
die Letticeworths in Afrika waren, als sie sich kennen gelernt
hatten! Aber dann ist etwas passiert, was das Familienglück getrübt
hatte. Aber was?
Im
nächsten Moment stand Vivien mit dem frisch verheirateten Paar an
einem Strand in einer himmelblauen Lagune. Die beiden liefen ins Meer
und badeten vergnügt, spritzten sich nass und tauchten sich
gegenseitig unter Wasser. Dann eine Szene zurück im
Eingeborenendorf. Marion lag im Bett und hatte ein rotes Gesicht.
Charles kniete bei ihr. Es schien ihr sehr schlecht zu gehen. Ob eine
Krankheit sie niedergestreckt hatte? Ein Medizinmann gab ihr eine
Flüssigkeit aus einer Kokosnussschale zu trinken. Dann schloss
Marion die Augen. Um Vivien herum wurde es schwarz. Dann hellte sich
das Bild wieder auf. Noch immer waren sie in der Hütte – oder
schon wieder? Marion sah jetzt sehr gesund aus und hielt in ihren
Armen ein kleines weißes Bündel Stoff. Liebevoll drückte sie ihr
Kind an sich. Charles gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Beide sahen
überglücklich aus. In diesem Moment verschwand die Vision.
Vivien
fand sich in dem Zimmer wieder und erkannte jetzt die Einrichtung. An
den Wänden hingen mehrere Schädel, in denen Kerzen leuchteten.
Speere und Schilde der Eingeborenen zierten die Wände. Ein Bastrock
und verschiedene andere Andenken waren im ganzen Zimmer verteilt. Es
gab keine Stühle oder Tische. Dieses Zimmer war offensichtlich nur
zur Erinnerung an die Afrikareise gedacht. Der Boden wurde von einer
Bambusmatte bedeckt. Eine Tür führte nach rechts aus dem Zimmer
hinaus, doch als Vivien die Klinke drückte, erwies sich auch diese
Tür als verschlossen. Sie musste in das Zimmer nebenan führen.
Leider waren alle Eingänge in die Kabine offensichtlich versperrt.
Sie blickte sich um. Bilder an den Wänden zeigten Marion und Charles
auf vielen ihrer ausgedehnten Spaziergänge durch die afrikanische
Wildnis. Auf vielen Bildern waren sie mit ihrem Sohn zu sehen. Mal
erkannte Vivien ihn als kleinen Jungen, auf anderen Bildern mochte er
gut acht Jahre alt sein. Die Familie Letticeworth hatte eine lange
und sehr schöne Zeit in Afrika verbracht. Wiederum auf anderen
Bildern war die Abreise aus Afrika zu sehen. Mehrere Bilder der
„Letitia“ in einem Hafen waren in einem Rahmen untergebracht.
Viele Dorfbewohner standen dabei und winkten zum Abschied. Dann war
Charles mit seinem Sohn auf einem Foto abgebildet. Es zeigte einen
der Räume auf dem Schiff, genauer gesagt, die Tür davon. Vivien
nahm das Bild von der Wand und hielt es an eine der Lampen, um
Genaueres erkennen zu können. Letticeworth drehte den Knauf der Tür
nach oben und brachte dadurch einen zweiten Knauf zum Vorschein. Das
war sehr interessant, das könnte das Rätsel der ganzen
verschlossenen Türen lüften. Naja, zumindest eine Tür müsste ich
so öffnen können, sagte Vivien zu sich. Ich müsste nur noch
wissen, welche Tür das ist. Irgendetwas ist da auf dem Griff zu
sehen, eine Zeichnung oder ein Relief… kann das… eine Sonne sein?
Natürlich! Das ist eines der Zimmer auf dieser Seite! Die Kabine mit
der Sonne auf dem Knauf. Das war doch gleich neben dem Tresor, glaube
ich. Dort muss ich hin. Vielleicht finde ich dann heraus, was damals
passiert ist, hoffte Vivien insgeheim.
Vivien
verließ das afrikanische Zimmer und ging den Korridor hinab. Bei der
vorletzten Tür zu ihrer Linken blieb sie stehen. Hier bin ich
richtig. Diese Tür hat das Sonnenmotiv auf dem Knauf. Es nützt also
nichts, wenn ich den Knauf nach links oder rechts drehe. Dann werde
ich ihn mal nach oben drehen. Gesagt, getan. Durch die Drehung nach
oben kam, genau wie vorher auf dem Bild dargestellt, ein weiterer
Knauf zum Vorschein. Ihn zierte ein Sichelmond. Plötzlich ging ein
gewaltiger Ruck durch das Schiff. Es begann, leicht zu schwanken.
Vivien lief in die Empfangshalle und die Treppe hinauf aufs Deck. Das
Schiff machte langsam wieder Fahrt, die zwei Segel waren unversehrt
und gespannt und brachten Schwung in das Schiff. Dennoch konnte sie
nicht erkennen, wo es hingehen sollte. Die Nacht war wieder
sternenklar, aber nirgendwo war Land zu erkennen. Ein frischer Wind
umschmeichelte ihre Beine, wie es auch bei ihrer Ankunft auf dem
Geisterschiff der Fall gewesen war. Vivien betrat die Brücke. Dort
hatte sich seither nichts verändert. Niemand stand am Steuer,
niemand hatte die Bausteine zur Seite geräumt. Enttäuscht verließ
sie die Brücke wieder. Sie hatte gehofft, dass der Geist des
Kapitäns vielleicht wiedergekehrt sei und sie ihn um Hilfe bitten
könnte, aber wie er es schon gesagt hatte, war eine Begegnung mit
anderen Geistern extrem selten. Nachdem sie sich vergewissert hatte,
dass nichts Außergewöhnliches passiert war, ging Vivien wieder
unter Deck. In der Empfangshalle schien es ihr für einen Moment, als
wäre sie voller Menschen. Sie meinte, Stimmen zu hören, die sich
unterhielten. In den hinteren Stühlen glaubte sie sogar, Geister
erkennen zu können. Die Trugbilder verschwanden jedoch noch bevor
Vivien näher kommen konnte. Sie ging wieder in den rechten Flur und
zur Tür mit dem Mondknauf. Vivien drehte ihn rechtsherum und die Tür
sprang auf.
Es
bestand kein Zweifel: Dies musste Cedrics Kinderzimmer sein. Es war
das Zimmer, das der Kapitän seinem Sohn auf dem Bild so stolz
gezeigt hatte. Es war wohl extra für die Reise aus Afrika für ihn
eingerichtet worden. Ein kleines Bett stand in einer Ecke, ein
Tischchen an einer Wand mit einem Stuhl davor, in einer Ecke waren
viele Kissen zu einem Berg aufgetürmt, Spielsachen lagen auf dem
Boden verstreut. Verschiedene Mobiles baumelten von der Decke. Bunte
Bilder schmückten die Wände. Cedric hatte sie selbst gemalt und mit
ungelenken Buchstaben seinen Namen darunter gekritzelt.
In
ein Schränkchen mit vielen Schubladen waren diverse Kleidungsstücke
wild hineingestopft, einige hingen noch aus einer Schublade heraus.
Dazwischen lag ein Zettel, vielleicht eine Notiz oder ein Brief. Was
macht der denn zwischen den Sachen? Vielleicht wollte Cedric nicht,
dass jemand diesen Zettel liest. Naja, der Junge wird mittlerweile
tot sein, es dürfte ihn also kaum stören, wenn ich ihn lese, dachte
Vivien bei sich und nahm den Zettel.
„Liebe
Mutter! Die Fahrt auf dem Schiff ist toll, das macht viel Spaß.
Schön, dass Vater mich auf diese Reise mitgenommen hat. Es erinnert
mich an die Fahrt von Afrika nach England. Ich werde Afrika
vermissen. Wenn ich mal größer bin, fahre ich selbst dorthin. Bald
sind wir wieder bei Dir, es kann nicht mehr lange dauern. Wir hatten
noch keines der schlimmen Unwetter, von denen Du mir immer erzählt
hast. Du machst Dir viel zu viele Sorgen. Schiff fahren ist gar nicht
so schlimm, wie Du immer sagst. Ich möchte noch viele Reisen machen.
Ich bin stolz auf Vater und auf seinen Beruf. Vielleicht werde ich
auch einmal Seemann. Dann lerne ich die ganze Welt kennen. Warum
kommst Du nicht auch einmal auf eine Reise mit? Es ist wirklich nicht
gefährlich und das Schiff ist ganz toll. Vater kann Dir ein schönes
Zimmer einrichten, er sagt, dass wir mit unserer Reise dieses Mal
eine Menge Geld verdienen. Komm doch einfach mal mit, dann siehst Du
auch was von der Welt. Ich verspreche Dir, wir sind bald wieder da.
Dein Dich liebender Sohn Cedric.“
Warum
nur hat Cedric diesen Brief nie seiner Mutter gegeben? Er war voller
Zuneigung gegenüber seiner Mutter geschrieben und lag nun zerknüllt
in einer Schublade zwischen den Klamotten? Was war bloß mit dieser
Familie passiert?
Der
Wellengang wurde etwas stärker, ein Schaukelpferd rutschte von einer
Seite der Kabine zur anderen. Vivien schaute aus dem Bullauge. Es
schien erneut ein Sturm aufzuziehen. Wie damals in der fatalen Nacht
war der Himmel auch jetzt wolkenlos. Was würde wohl passieren? Und
was sollte sie jetzt als nächstes machen? Das Schiff bot nicht viele
Möglichkeiten, weiterzukommen. Vivien zog resignierend die Notiz des
Kapitäns aus ihrer Tasche und überflog sie erneut. Die Andenken!
Letticeworth hatte von den Andenken seiner Frau erzählt, die sicher
auf dem Schiff weggeschlossen wurden. Vivien verließ die Kabine und
machte sich auf den Weg zum Heck des Schiffes, wo sich die beiden
Schatzkammern befanden.
In
der hinteren Halle angekommen, untersuchte Vivien erneut die beiden
Türen mit den seltsamen Symbolen darauf. Sie konnte sich keinen Reim
darauf machen. Es waren Sterne abgebildet und verschiedene
Konstellationen dargestellt, die sie aber nicht deuten konnte. Auch
das runde Gitter im Boden war nach wie vor verschlossen. „Wenn die
Sternenkonstellation des Pentagramms durch das Steuerbordfenster
scheint, öffnet sich die erste Kammer.“ Vivien schaut durch das
linke Bullauge nach draußen. Viele Sterne leuchteten am Himmel, aber
nirgendwo war eine Anordnung zu erkennen, die einem Pentagramm
ähnlich sah. Sie schaute aus dem anderen Bullauge. Da, knapp über
dem Horizont erkannte Vivien einen Haufen Sterne, die ein Pentagramm
bildeten. Sie sollten durch das Steuerbordfenster hereinleuchten.
Welche Seite war denn nun Steuerbord? Vivien überlegte. Sie stellte
sich mit dem Blick zu den beiden Gängen auf, die zur Empfangshalle
führten. Jetzt schaue ich zum Bug. Wie war das noch? Rechts ist
Steuerbord und links Backbord, glaube ich. Die Sterne leuchten zur
Linken herein. Das ist falsch, ich muss das Schiff wenden, damit es
stimmt. Es geht wohl nicht anders. Vivien, du wirst jetzt zum
Kapitän, dachte sie schmunzelnd, während sie sich auf den Weg zum
Oberdeck machte.
Dort
angekommen führte ihr Weg sie direkt auf die Brücke. Das Steuerrad
schien sie düster anzugrinsen, doch davon völlig unbeeindruckt
griff sie mit beiden Händen zu. Sie wollte es gerade herumdrehen,
als ihr einfiel, dass sie gar nicht wusste, wann sie weit genug
gewendet hatte. Eine halbe Drehung war vonnöten, damit das Licht der
Sterne ins richtige Fenster schien. Vivien blickte zum Himmel hinauf.
Sie konnte hell und deutlich den Polarstern am Himmel ausmachen.
Jetzt nahm sie ein Holzklötzchen vom Boden und legte es in die
Richtung, in der sich der Nordstern befand. Genau in die andere
Richtung legte sie ein zweites Klötzchen. Wenn der Stern dort
angekommen ist, habe ich mich genau um 180 Grad gedreht, so soll es
sein, dachte sie sich und drehte das Steuer. Langsam zog das große
Schiff herum; es dauerte eine Weile, bis der Polarstern an der
angegebenen Position strahlte, aber schließlich war es vollbracht.
Voller Vorfreude ging Vivien Richtung Unterdeck. Dass der Wind
beträchtlich zugenommen hatte und ihre Haare durcheinander wehen
ließ, nahm sie ebenso wenig wahr wie die Blitze, die am Horizont
aufzuckten und ein drohendes Unwetter verkündeten.
Vivien
rauschte durch die Empfangshalle und den linken Korridor in die
hintere Halle. Dort bot sich ihr ein erstaunlicher Anblick: Durch das
linke Bullauge schien ein heller Lichtstrahl in den Raum und wurde
auf mysteriöse Weise von den Holzwänden reflektiert, bis er direkt
auf die linke Tür mit den Verzierungen traf. Vivien konnte erkennen,
dass die Tür sich ein kleines Stück weit geöffnet hatte. Gespannt
betrat sie die erste der beiden Schatzkammern.
Der
erste Anblick enttäuschte Vivien jedoch maßlos. Der Raum war ebenso
düster wie der Rest des Schiffes, nicht einmal eine Kerze spendete
Licht. Zudem war die Kammer fast leer. Nur von einem Exponat auf
einer kleinen Säule ging ein warmes Leuchten aus. Es war eine Art
goldener Käfer mit geöffneten Schwingen. Darunter hing ein Zettel,
der eine nähere Erklärung des Schmuckstückes bot:
„Dieser
Goldskarabäus ist ein Geschenk von Kuneelah aus Tepeh, unserem
afrikanischen Heimatdorf. Sie bot ihn uns als Abschiedsgeschenk an,
damit wir sie nie vergessen mögen.“ Wieder hörte Vivien eine
Stimme in ihrem Kopf, dieses Mal eine tiefe Männerstimme. Es war die
Stimme des Kapitäns. „Eigentlich war es so, dass Kuneelah ihn mir
geschenkt hatte, ohne dass Marion etwas davon wusste. Natürlich habe
ich ihr nichts erzählt. Stattdessen habe ich ihr den Anhänger
geschenkt und gesagt, es sei ein Abschiedsgeschenk des Dorfältesten.
Marion war so glücklich und gleichzeitig traurig über unseren
Abschied aus dem Dorf. Nie werde ich ihr Gesicht von damals
vergessen. Aber es ist ihr noch nie leicht gefallen, sich von
jemandem zu trennen. Marion brauchte viel Liebe. Ich war immer
bemüht, mich um sie zu sorgen, bis dann eines Tages…“ Die Stimme
wurde immer leiser. Vivien konnte nichts mehr verstehen. „Kapitän
Letticeworth? Charles? Wo sind sie? Bleiben sie bei mir! Ich brauche
ihre Hilfe, was ist damals passiert?“ rief sie ins Dunkel, doch sie
bekam keine Antwort. Vivien nahm den kleinen goldenen Käfer und
steckte ihn in ihre Tasche.
Was
sollte sie nun machen? Nochmals holte sie die Notiz von Letticeworth
aus der Tasche, doch sie brachte keine neuen Ideen zum Vorschein. Der
Spiegel war umgehängt, der Schatz war gefunden. Aber es sollte doch
noch einen zweiten Schatz geben! Vivien verließ die Kammer und ging
hinüber zur zweiten Tür mit den Intarsien im Ebenholz. Sie war nach
wie vor verschlossen. In der Notiz hieß es, Charles´ Ehefrau
wüsste, wie die Tür zu öffnen sei. Aber wo sollte Vivien Marion
finden, geschweige denn Kontakt aufnehmen? Ihr blieb keine andere
Wahl, sie musste das Schiff nochmals komplett absuchen. Vielleicht
hatte sie irgendwelche Hinweise übersehen.
Beim
Rundgang über das Unterdeck wurde Vivien klar, dass sie schon
längere Zeit gegen ihren Willen auf diesem Schiff festgehalten
wurde. Alles, was ihr zuerst noch Angst gemacht hatte, schien nun
normal. Das Flackern der Kerzenleuchter schreckte sie längst nicht
mehr. Daher bemerkte sie auch nicht, dass das Knarren der Bohlen und
der Seegang beträchtlich zugenommen hatten. Vivien schaute durch die
Räume auf der Steuerbordseite. Die Gerümpelkammer bot noch immer
keine weiteren Aufschlüsse. Die Staubschicht auf den Truhen und
Fässern ließ Vivien schnell aus dem Zimmer verschwinden. Die Kabine
des Kapitäns war ohne den Spiegel verschwunden. Ich werde, wenn ich
wieder drüben bin, den Spiegel mitnehmen und wieder hier hinhängen,
nahm Vivien sich vor. Vielleicht birgt die Kapitänskajüte ja doch
noch mehr Spuren. Als nächstes kam sie wieder in ihre eigene Kabine.
Vivien setzte sich auf das Sofa und dachte nach.
Was
weiß ich denn bis jetzt? Als junger Mann erbte Charles Letticeworth
von seinem Vater dieses Schiff, die Letitia. Danach musste er sich
auf Abenteuerreise begeben haben. Weshalb sonst wäre er in Afrika
gelandet? In Afrika hat Charles dann seine Frau Marion kennen gelernt
und sie haben einen Sohn bekommen. Cedric, ganz offensichtlich. Nach
einigen Jahren haben sie Afrika verlassen und sind nach England
gezogen. Im Jahre 1902 hat Charles Letticeworth den Auftrag für die
Überführung eines Schatzes aus Afrika nach England von der Queen
erhalten. Zusammen mit Cedric hat er sich auf die Reise begeben,
während Marion in England geblieben ist. Zwischen dem 3. Oktober
1902 und dem 16. Januar 1903 musste dann etwas passiert sein, was das
Familienglück getrübt hat. Dann kamen die Mordfälle ins Gespräch.
Am 7. September 1903 wurde Charles Letticeworth ermordet, obwohl für
die Öffentlichkeit aus irgendwelchen Gründen Selbstmord als Ursache
geschildert wurde. Plötzlich meldete sich Viviens Gedächtnis zu
Wort. „Wussten sie eigentlich, dass ein Junge ertrunken ist? Ein
Jahr, bevor die anderen beiden umgebracht wurden?“ Mary Riley hatte
es doch deutlich genug gesagt, oder zog sie voreilige Schlüsse?
Scheinbar war Cedric Letticeworth ertrunken. Aber das hieße, nach
der Aussage von diesem Matrosen… Nounes hieß er. Das hieße, dass
alle Todesfälle, der von Cedric Letticeworth, Charles Letticeworth,
Victoria Norton und Daniel Baker auf seltsame Weise verknüpft waren.
Und vielleicht war auch ihr eigener, Vivien Glooms Mord eine Folge in
dieser Kette. Und wenn sie diese Kette erklären könnte,
herausfinden könnte, wer der Mörder war und warum all diese Morde
begangen wurden, was damals, zwischen dem 3. Oktober 1902 und dem 7.
Oktober 1903 wirklich passiert war, würde sie dann vielleicht von
diesem verfluchtem Geisterschiff erlöst werden? Waren diese
Ereignisse von damals vielleicht das Unrecht, von dem der Geist des
Kapitäns auf der Brücke gesprochen hatte? Sie war jetzt auf einer
heißen Spur, die sie weiter verfolgen musste. Entschlossen stand
Vivien auf und verließ ihre Kabine. Draußen im Gang hörte sie eine
klägliche Frauenstimme sprechen. Sie sah sich um, konnte aber die
Sprecherin nicht ausfindig machen. „Kommen sie! Kommen sie in mein
Zimmer. Sehen sie, welches Leid über unsere Familie gefallen ist.
Der blutige Spiegel wird es ihnen erzählen. Kommen sie! In mein
Zimmer, den Schlüssel haben sie bereits!“
Kapitel
8
– Schuldgefühle &
Verdachtsmomente
Vivien
wagte erst gar nicht, nachzufragen. Sie wusste, dass die Stimme
verschwunden war und ihr nicht antworten würde. Sie konnte jedoch
etwas anderes wahrnehmen, ein leises Rauschen.
War
es die Anwesenheit des Bösen, die sie spürte? Vivien verließ ihr
Zimmer und ging auf den Flur. Noch immer war das Rauschen zu hören.
Auf dem Korridor schien es sogar noch lauter zu sein als im Zimmer.
Es klang wie das Rauschen des Meeres. Vivien ging nochmals in ihre
Kabine und schaute durchs Bullauge. Nein, obwohl es draußen ziemlich
windig geworden ist und das Meer rauscht, höre ich hier drinnen ein
anderes Rauschen. Es wird lauter, je weiter ich ins Innere gehe,
meinte Vivien. Sie ging wieder auf den Korridor und versuchte, anhand
der Lautstärke die Quelle des Rauschens ausfindig zu machen. Sie
ging mehrmals den Gang auf und ab, bis ihr eine Idee kam. Die große
Doppeltür, war sie immer noch verschlossen? Sie hatte sie die ganze
Zeit außer Acht gelassen. Resignierend stellte Vivien fest, dass sie
sich noch immer nicht öffnen ließ. Dann kam ihr ein zweiter
Gedanke.
Ich
habe dieses Geräusch schon einmal gehört. Wo war das nur? Beim
afrikanische Zimmer! Sie verließ den Korridor, wandte sich in der
Empfangshalle herum und lief den anderen Flur hinunter. Das Rauschen
war hier viel lauter als im anderen Flur. Zielstrebig ging sie zum
afrikanischen Zimmer, blieb jedoch auf dem Weg dorthin stehen. Es gab
keinen Zweifel, woher das Rauschen kommen musste. Es kam aus der
vorletzten Kabine auf der rechten Seite. Aus dem Inneren des Raumes
drang ein Leuchten, kein stilles, sondern ein wildes Flackern der
hellsten Lichter. „Kabine 5c, Ma…“; der Rest war nicht zu
erkennen. Mit dem Ärmel wischte Vivien über das Messingschild. Es
war nur eine dicke Staubschicht, die es bedeckte. Der volle Name des
Bewohners kam zum Vorschein: Marion Letticeworth. Vivien fühlte sich
vor den Kopf gestoßen. Ich war hier doch schon mal. Habe ich nicht
erkannt, dass es nur eine Dreckschicht war, die das Schild bedeckte?
Auch vorher kam dieses geheimnisvolle Rauschen und Knistern aus dem
Raum. Nur das blitzende Licht ist neu. Was mag das sein, fragte sie
sich.
Wie
war die Tür zu öffnen? Sie hatte keinen Knauf und keine Klinke,
nicht einmal ein Schlüsselloch. Vivien war sich sicher, dass dies
das Zimmer der Person war, die gerade zu ihr gesprochen hatte. Es war
Marion, die sie gebeten hatte, in ihr Zimmer zu kommen. Den Schlüssel
habe sie bereits, hieß es. Aber was für ein Schlüssel sollte das
sein? Vivien dachte an die Notiz des Kapitäns. Dann stieß sie mit
der Hand gegen ihre Stirn. Vivien, du dumme Göre. Siehst du nicht
direkt vor dir das Relief des Käfers? Ein Käfer mit ausgebreiteten
Flügeln. Das sollte dir doch eigentlich bekannt vorkommen.
Kopfschüttelnd über die eigene Begriffsstutzigkeit holte sie den
Goldskarabäus aus ihrer Tasche und setzte ihn in die Vertiefung in
der Tür ein. Er passte perfekt. In diesem Moment erlosch das Licht
aus dem Zimmer. Auch das Rauschen wandelte sich in ein unheimliches
Knistern, als würde in dem Zimmer etwas brennen. Mit der Tür ging
eine seltsame Wandlung vor sich. Vom Skarabäus gingen goldene Stäbe
strahlenförmig aus; wie Flüsse liefen sie in Schnörkeln und wilden
Verzierungen auf den Türrahmen zu und hatten bald die Tür wie
wilder Efeu bedeckt. Dann brach das Feuer durch. Zuerst war es nur
ein schwarzer Fleck, der sich auf der Holztür abzeichnete, dann
brannte innerhalb kürzester Zeit die ganze Tür lichterloh. Vivien
trat einige Schritte in den Gang zurück, um sich vor den Funken zu
schützen. Dann sah sie, wie es wieder dunkel im Gang wurde. Das
Feuer musste erloschen sein. Sie trat wieder an den Raum heran. Die
Tür war komplett verbrannt, ein kleines Häufchen Asche bedeckte den
Boden. Dennoch war Vivien der Zutritt zum Raum verwehrt, denn die
goldenen Ranken versperrten jetzt den Durchgang. Sie konnte gerade
mal hindurchsehen, erkannte jedoch, dass das Feuer im Inneren keine
Verwüstung angerichtet hatte. Es schien, als hätte es nie dort
gebrannt. Nichts war mehr von der Hitze zu spüren, die hier eben
gewütet hatte, kein Geruch von Qualm oder Glut. Dennoch war Vivien
unzufrieden. Wie sollte sie in den Raum hineingelangen? Sie
betrachtete immer noch den Skarabäus, der in der Mitte des
Rankengewirrs thronte. Ich nehme ihn wieder mit, wenn es geht. Ich
will nicht, dass dieser wertvolle Schatz einfach so hier herumliegt,
so dass ihn jeder mitnehmen kann. Sie versuchte, den Skarabäus mit
den Fingern zu lösen. Sie wackelte daran herum, bis die Fassung
schließlich nachgab. Behutsam entfernte Vivien den Käfer aus der
Konstruktion. Dadurch fingen die Ranken an, sich aufzulösen. Sie
wurden allesamt grau und zerfielen zu Staub. Vivien steckte den
Skarabäus wieder ein, der Weg in Kabine 5c war nun frei. Jetzt würde
sie endlich sehen, welche aufschlussreichen Informationen Marion
Letticeworth zu diesem Fall hatte.
Etwas
hielt Vivien vom Betreten des Raumes ab. Ein seltsames Gefühl
beschlich sie. Warum hatte Marion Letticeworth eine Kabine auf diesem
Schiff? Bis jetzt schien es so, als hätten die Opfer dieser
Mordserie ihre Kabine auf dem Schiff bekommen. War etwa auch Mrs
Letticeworth ermordet worden? Die Antwort liegt in diesem Raum, ich
bin ganz sicher, dachte Vivien. Das Rauschen war verschwunden. Auch
flackerte es in dem Zimmer nicht mehr, es wurde jetzt durch den
Schein zweier Kerzen auf dem Nachttisch neben einem Himmelbett
erhellt. Die Kerzen brannten mit blauer Flamme, es war also kein
helles Licht. Dennoch sah Vivien, wie liebevoll die Kabine
eingerichtet war und dass in der Mitte ein großer Spiegel stand. Er
hatte eine schwarze Spiegelfläche, wie Obsidian oder Onyx,
blitzblank poliert. Zu ihrer Linken erkannte Vivien eine Tür. Sie
würde wohl ins afrikanische Zimmer führen, dachte sie bei sich.
Wahrscheinlich ist sie verschlossen. Vivien betrachtete den
Nachttisch. Außer den Kerzen stand nichts darauf. Sie hoffte, in den
Schubladen ein Tagebuch oder vielleicht Notizen von Marion zu finden,
doch sie wurde enttäuscht. Die Schubladen waren leer. Einzig und
allein eine dünne Goldkette mit einem Anhänger und eine zerrissene
Seite fanden sich in der untersten Schublade. Der Anhänger war in
der Mitte durchgebrochen. Er stellte wohl einen Schutzengel mit weit
ausgebreiteten Flügeln dar. Daneben lag ein Briefumschlag mit der
Aufschrift: „Für meine geliebte Ehefrau – auf dass wir nie
getrennt werden.“ Offensichtlich war die eine Hälfte des Anhängers
für Charles, die andere für Marion bestimmt gewesen. Aber wenn dies
hier Marions war, wo konnte dann die Hälfte von Charles sein? Vivien
steckte den Anhänger in die Tasche. Die Seite war offensichtlich aus
einem Buch gerissen.
„Nur
ich weiß, wie die zweite Schatzkammer geöffnet wird. Es ist keine
Frage von Schlüsseln oder geheimen Kombinationen. Das wäre zu
einfach. Ein wahrer Geniestreich, den wir in Afrika gelernt haben,
lässt einen diese Tür durchschreiten. Der Glaube daran, dass es
gelingt, muss sehr stark sein. Erst wenn die Tür sich vor den Augen
des Betrachters teilt, ist sie wirklich offen.“ Wie bitte? Das ist
mir zu kompliziert, dachte Vivien und wandte sich dem Spiegel zu. Die
Notiz steckte sie aber zur Sicherheit in ihre Hosentasche.
Marions
Geist sagte, der Spiegel würde mir alles erzählen. Aber es ist
nichts zu sehen, er ist einfach nur schwarz. Wie kann er mir
verraten, was damals geschah, wunderte Vivien sich. Sprach der Geist
nicht von einem blutigen Spiegel? Was meinte er damit? Sie ließ
ihren Blick durch die Kabine wandern. Keine Hinweise ließen auf die
Bedeutung dieses Satzes schließen. Vivien kniete auf den Boden und
schaute unter das Bett. Dort stand ein alter, verrosteter Eimer. Er
enthielt offensichtlich etwas, denn er war ziemlich schwer und er
roch seltsam. Ein unangenehmer, fauliger Geruch. Vorsichtig zog sie
den Eimer hervor und schaute hinein. Beim ersten Anblick wurden ihr
die Knie weich. Der Eimer war voller Blut. Vivien musste würgen.
Nicht auszudenken, woher dieses Blut wohl kam! Dennoch war es wohl
der einzige Weg, das Rätsel des Spiegels zu lösen. Sie tauchte
einen Finger in das Blut und wischte damit über den Spiegel. Dort,
wo das Blut die schwarze Oberfläche benetzte, schien sich ein Bild
zu formen. Sie konnte einen kleinen Ausschnitt eines Bildes sehen,
das sich bewegte. Ich habe wohl keine andere Wahl, sagte sie sich und
nahm den Blecheimer in beide Hände. Mit einem Schwung goss sie das
Blut über den Spiegel und beobachtete, was geschah.
Aus
einer Rauchwolke entstand das Bild. Es war gestochen scharf und
zeigte die „Letitia“ an einem sonnigen Tag auf einer ihrer
Reisen. Kapitän Letticeworth stand auf der Brücke. Dann konnte
Vivien einen Blick auf das Schiffsdeck werfen. Cedric Letticeworth
spielte dort, rannte von einer Seite zur anderen und versuchte,
einigen Möwen hinterherzujagen. Dann konnte Vivien zwei junge Leute
sehen; offensichtlich waren es Daniel Baker und Victoria Norton, denn
sie küssten sich leidenschaftlich hinter einem Stapel von Kisten und
Fässern. Ein paar Matrosen unterhielten sich am Heck des Schiffes.
Niemand schien auf Cedric zu achten. Dieser ging mittlerweile auf
einer Planke auf und ab und übte, zu balancieren. Der Wind füllte
die Segel voll aus. Plötzlich kam eine starke Bö, die den Jungen
von der Planke riss und ins Meer stürzte. Keiner merkte etwas.
Einige Zeit später rief der Kapitän etwas über seine Schulter. Als
nichts geschah, rief er ein zweites Mal. Scheinbar hatte er nach
seinem Sohn gerufen, denn als er keine Antwort bekam und nach hinten
aufs Deck lief, mit dem Pärchen sprach und diese nur ahnungslos den
Kopf schüttelten, brach er kurze Zeit später unter Tränen
zusammen. Dann wechselten die Bilder in schneller Reihenfolge. In
einem Hafen erschienen mehrere Fischboote, jeder der Bootsleute
konnte gegenüber Letticeworth jedoch nur betrübt den Kopf
schütteln. Dann sah man Charles und Marion in einem Salon sitzen;
Marion brach ebenfalls, als sie die Nachricht hörte, zusammen. Dann
sah man, wie Charles Letticeworth mit einer großen, blutenden Wunde
in der Brust auf einem Feld lag und viele Menschen herbeiliefen. Das
gleiche Schicksal widerfuhr dem Liebespärchen. Die nächste Szene
zeigte einen Gerichtssaal, Marion Letticeworth als Angeklagte und
eine Frau ungefähr in ihrem Alter als Zeugin. Der Hammer fiel,
Marion weinte bittere Tränen. Dann sah man Marion mit verbundenen
Augen an einer Wand stehen. Ein Vivien unbekannter Mann hielt einen
Revolver in der Hand und drückte ab. Dann wurde das Bild abrupt
schwarz und der Spiegel zersprang in unzählige Teilchen.
Vivien
war überwältigt von der Flut der Bilder, die auf sie eingestürmt
war. Sie wünschte sich, alles noch einmal sehen zu können, aber der
Spiegel war zerbrochen. Nun wusste sie, was passiert war und konnte
alle Puzzleteile von damals an ihren Platz setzen. Damals, auf der
letzten Reise der Letitia, mit dem Schatz der Königin an Bord, ist
der kleine Letticeworth ertrunken. Beim Spielen ist er von Bord
gefallen, ohne dass einer etwas bemerkt hatte. Genau das habe ich
doch in meinem Traum gesehen! Jedes Mal das Kind, dem ein Unglück
geschieht, während die anderen wegschauen! Vivien fiel es nun
endlich wie Schuppen von den Augen. Dann stutzte sie. In Ordnung, nun
weiß ich was damals passiert ist. Jetzt weiß ich, was Mary Riley
meinte, als sie sagte, dass ein kleiner Junge ertrunken ist, bevor
die beiden anderen starben. Mein Gott! Daniel Baker – er war doch
mit der Aufsicht des Jungen betreut. Ob er sich nicht Vorwürfe
gemacht hat? Ich muss noch einmal in seine Kabine schauen, dachte
Vivien und ging zur Nachbarkabine.
Das
Schild an der Tür hatte sich jedoch verändert. Es stand nicht mehr
der Name „Daniel Baker“ daran; „Kabine 8c, Victoria Norton,
Au-pair-Mädchen“ war dort zu lesen. Verwirrt betrat Vivien die
Kabine, die sich komplett verwandelt hatte. Das Fotolabor war
verschwunden. Bis auf die Fotos, die sie in die Tasche gesteckt
hatte, hatten sich alle Bilder scheinbar in Luft aufgelöst. Die
verdorrte Pflanze stand nun in einer anderen Ecke; noch während
Vivien in das Zimmer trat, blühte sie zu kräftigem Grün auf. Das
Zimmer war nun eher spartanisch eingerichtet. Wahrscheinlich hat man
damals als Au-pair-Mädchen nicht allzu viel verdient, vermutete
Vivien. Zielstrebig ging sie zu einem kleinen Tisch, auf dem ein Bild
mit einem Rahmen und ein Briefbeschwerer lagen. Das Bild zeigte
dasselbe junge Mädchen, das auf dem Foto mit Kapitän Letticeworth
und Cedric zu sehen war. Es musste sich dabei um Victoria Norton
handeln. Das Glas, das einst das Foto schützte, war zerbrochen. Auf
dem Boden neben dem Tisch lagen noch einzelne Splitter verteilt. Der
Briefbeschwerer war ein kleiner Jadeelefant. Er stand auf einem
kleinen Stapel Briefen. Als Vivien den Elefanten herunternahm,
ertönte die zarte Stimme einer jungen Frau, leicht verunsichert und
unglücklich.
„Liebster
Daniel! Ich schreibe dir diese Zeilen, weil ich eine Schulter
brauche, die mich stützt in meiner Not und eine Hand, die mich führt
in meinem Irren. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich wünschte,
ich wäre damals nie mit auf die Reise gekommen. Dann hätte ich nie
auf diesen Jungen aufpassen müssen, hätte nie meine Pflicht
vernachlässigt und müsste mich nicht mit meinem Gewissen
herumplagen. Aber andererseits hätte ich dich dann nie kennen
gelernt, meinen kleinen Fotografen. Wäre nur unser Verlangen damals
nicht so unendlich gewesen, hätten wir uns auf der Rückreise nur
bändigen können! Wir hätten so viel Zeit gehabt, zu hause all die
Dinge tun zu können, nach denen unser Gemüt verlangte. Warum nur
waren wir so töricht und haben uns gehen lassen? Ich quäle mich
jetzt Tag und Nacht mit meiner Schuld. Ich habe den kleinen Jungen
getötet. Sicher war ich es nicht selbst, doch meine Unachtsamkeit
war so grenzenlos, dass er dafür bezahlen musste. Hilf mir, mein
Geliebter! Sag mir, was ich tun kann, um mein Gewissen zu
erleichtern!“
Nachdem
die Stimme verhallt war, betrachtete Vivien den Brief. Es war eine
Antwort auf die Klage von Victoria.
„Meine
liebste Vicky, Königin der Seerosenblüten! Du machst Dir zu viele
Vorwürfe, zu viele Gedanken um alles, was damals geschehen ist.
Deine Tränen werden nicht von heute auf morgen trocknen, aber das
ist ganz natürlich. Es ist verständlich, dass Du dich schuldig
fühlst, aber sei Dir immer bewusst: Du trägst nicht die Schuld. Sie
trifft nicht Dich noch mich, niemand kann etwas dafür, dass der
Junge so leichtsinnig war und an Deck gespielt hat. Niemals hätte
Charles Letticeworth seinen Sohn auf die Reise mitnehmen sollen. Er
hätte wissen müssen, dass das Kind nur Unfug treibt. Bitte lass Dir
die Tage nicht verderben von den Gedanken an etwas, dass Dich nicht
betrifft. Vergiss, was damals passiert ist!“
Vivien
legte den Brief betroffen zur Seite. Wie konnte dieser Baker nur so
denken! Er hat doch schließlich das Kind total vernachlässigt,
obwohl er den Auftrag hatte, sich um den Jungen zu kümmern.
Zumindest seine Geliebte hätte auf ihn aufpassen sollen. Konnte er
sich denn nicht in ihre Lage versetzen? Wieder ertönte Victorias
Stimme.
„Daniel,
wie kannst du so reden? Es ist alles meine Schuld. Der Kapitän hat
mir vertraut, er hat mir das Leben seines Sohnes anvertraut, es in
meine Obhut gegeben, und ich habe meine Aufgabe schändlich außer
Acht gelassen. Wir hatten ein paar schöne Stunden auf dem Schiff,
aber zu welchem Preis? Siehst du noch die Tränen seiner Frau? Ihr
schmerzerfülltes Gesicht? Die unendliche Trauer, die sie
ausstrahlte? Warum nur kannst du nicht empfinden, welch einen Verlust
diese Frau erlitten hat? Ich weiß nicht, ob ich meine Schuld je
ungeschehen machen kann. Bitte verzeih mir, Geliebter, aber ich
brauche jetzt die Einsamkeit. Ich werde dir schreiben, wenn ich
wieder zu mir selbst gefunden habe. Deine Vicky.“
Vivien
entfaltete das zweite Papier, das sie in der Hand hielt. Es enthielt
nur einen Satz:
„Werde
ich Dich je wiedersehen?“
Darunter
befand sich noch ein Brief, der aber quer durchgerissen war. Die
erste Hälfte fehlte.
„…sind
jedoch, das sehe ich jetzt ein, nicht allein verantwortlich für das,
was sie getan haben. Ich hätte meinen Sohn niemals mit auf die Reise
gehen lassen dürfen. Auch denke ich, dass ihre Selbstvorwürfe
Strafe genug für sie sein werden. Ich denke, dieser Angelegenheit
ist Genüge getan, wenn wir uns gegenseitig aus dem Gedächtnis
streichen. Das ist für uns das Beste. Marion Letticeworth, 27. März
1903“
Was
hatte das zu bedeuten? Vivien dachte angestrengt nach. Dann fiel ihr
das Zimmer des Reporters ein. Die Akte zum Fall Letticeworth. Der
Beweis, den sie gefunden hatte. Man hat den ersten Teil des Briefes
als Beweis verwendet. Als Beweis gegen Marion Letticeworth. Es hieß:
„Sie werde für das, was sie getan haben, büßen.“ Man hat das
also so gedeutet, dass Marion Letticeworth aus Rache für den Tod
ihres Sohnes Victoria Norton und ihren Geliebten ermordet hat.
Deshalb wurde Marion Letticeworth hingerichtet. Hätten die Polizei
damals doch nur die zweite Hälfte des Briefes gefunden! Sie war
offensichtlich gar nicht rachsüchtig gewesen! Offensichtlich hat man
die Falsche hingerichtet, denn das Morden ging weiter. Mein eigener
Tod ist dafür Beweis genug, dachte Vivien. Wieder meldete sich
Viviens Stimme aus dem Dunkel.
„Geliebter
Daniel! Ich brauche dich. Bitte triff mich dort, wo wir glücklich
waren. In einer Woche. Victoria, 30. September 1903“
Das
war eine Woche vor dem Mord! Bei ihrem Treffen müssen sie getötet
worden sein. Vivien spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen.
Warum nur musste das Schicksal so grausame Wege gehen! Nach so langen
Monaten meldete Victoria sich endlich wieder bei ihrem Geliebten,
dann endlich das lang ersehnte Wiedersehen… Vivien dachte an den
Zeitungsartikel zurück. Sie hatten sogar vor, zu heiraten! Und dann
dieser grausame Mord! Es war alles so ungerecht. Doch eines wurde
Vivien in diesem Moment klar. Die Büchse der Pandora war geöffnet.
Vivien würde den Täter ausfindig machen, denn endlich zeigten sich
die ersten Lichtstrahlen im Dunkel. Von draußen hörte sie ein
lautes Knarren.
Vivien
glaubte, kurz darauf unendlich viele Stimmen von irgendwoher zu
hören. Dann war sie sich sicher: Die Stimmen kamen aus dem Korridor.
Sie verließ Kabine 8c, um den Grund für die Geräusche
herauszufinden. Sie musste sich nicht lange umsehen. Genau gegenüber
hatte sich die große Doppeltür einen Spalt nach innen geöffnet. Ob
das von dem starken Wellengang kommt? Der Sturm hatte gewaltig
zugenommen. Viviens Herz klopfte schneller. Nun endlich würde sie
erfahren, was sich hinter diesen Türen verbarg. Sie schloss die Tür
zur Kabine hinter sich und öffnete die Flügeltür ein Stück
weiter. Gespannt und auch ein wenig zögernd betrat Vivien eine große
Halle. Sie konnte sehen, dass sie noch zwei weitere Ausgänge hatte,
eine Tür gegenüber und eine am linken Ende. Das sind dann wohl die
Türen, die in den anderen Korridor und in die Empfangshalle führen,
dachte Vivien sich.
Am
rechten Ende der Halle schmückte ein großer Kamin die Wand. Über
dem Kamin befand sich eine riesige, prachtvolle Uhr. Ansonsten waren
die Wände rundum mit Ritterrüstungen und Statuen in bunter
Reihenfolge gemischt. Über jeder Statue und jeder Rüstung hing ein
Gemälde. Darauf waren die Portraits verschiedener Menschen
abgebildet. Viviens Blick wanderte an die Decke. Sie schien
erstaunlich hoch, eigentlich ließ dieses Schiff solche Ausmaße gar
nicht zu. Zwei große Kronleuchter hingen herab und schenkten dem
Raum Licht. Zwischen ihnen schienen unzählige Schatten
herumzuschweben. Parkettfußboden unterstrich die würdige
Ausstrahlung der Halle. Vivien ging herum und betrachtete die
Gemälde, da die Statuen und die Rüstungen alle gleich aussahen.
Jede Statue hatte eine Leidensmiene und war gekrümmt, als trüge sie
eine zentnerschwere Last. Jede der Rüstungen stand aufrecht und
hielt ein Schwert vor sich. Die Gemälde waren da schon
aufschlussreicher. Einige der Personen kamen Vivien erstaunlich
bekannt vor. Da waren unter anderem Marion und Charles Letticeworth
abgebildet, Cedric, Victoria Norton und Daniel Baker sowie viele
andere Menschen, die Vivien nicht kannte. Auf einmal erschrak sie.
Ein Gemälde zeigte ihr eigenes Porträt. Vivien Gloom. Es war jedoch
im Gegensatz zu den anderen Bildern ziemlich verschwommen, als sei
Wasser darüber gelaufen. Was hat mein Bild hier zu suchen, und warum
ist es so undeutlich, fragte sie sich. Auf die Antwort musste sie
nicht lange warten. Hinter ihr rauschte es ein wenig und ein blaues
Leuchten lenkte Viviens Aufmerksamkeit auf sich.
„Das
fragen sie sich noch immer? Ich dachte, sie müssten mittlerweile
wissen, was hier auf diesem Schiff gespielt wird und warum sie hier
sind. Ich habe mich nicht vorgestellt, entschuldigen sie bitte. Mein
Name ist Victoria Norton. Ich bin vor Jahrzehnten gestorben, ebenso
wie mein Verlobter. Ich wünschte, ich könnte ihn wiedersehen, aber
auf diesem Schiff sind die Chancen darauf sehr gering.“ Vivien
unterbrach den Redefluss ihres Gegenübers. Endlich hatte sie mal die
Möglichkeit, mit einem Zeitzeugen zu reden. „Victoria, sie müssen
mir helfen. Ich weiß nicht, was hier gespielt wird. Ich habe
mittlerweile eine ganze Menge über diesen Mordfall erfahren, aber
was habe ich damit zu tun?“ „Sie sehen all diese Bilder hier?“
fragte Victoria. „Sie stellen alle Menschen dar, die im Laufe der
Jahrzehnte mit dieser Angelegenheit in Kontakt gekommen sind. Daher
ziert nun auch ihr Gemälde die Wand, sie sind ja auch umgebracht
worden.“ „Woher wissen sie das?“ wollte Vivien wissen. Victoria
seufzte. „Weil alle es gesehen haben. Wir waren mit dem Schiff zu
der Zeit doch direkt bei ihnen. Sie haben uns nicht sehen können,
weil, wie sie bereits wissen, der Kontakt zwischen Geistern fast
unmöglich ist.“ „Das habe ich verstanden. Deswegen müssen wir
zum Punkt kommen. Hat Marion Letticeworth sie ermordet oder nicht?
Schließlich ist sie dafür hingerichtet worden, mit handfesten
Beweisen, zumindest aus den Augen der Polizei.“ Victoria schüttelte
den Kopf. Ihre langen Haare wallten wie in Zeitlupe auf. „Sie
spielen bestimmt auf den Brieffetzen von Mrs Letticeworth an. Die
Wahrheit ist, dass die Polizei den ganzen Brief gehabt hat. Damit
hatten sie keinen Verdächtigen. Die Polizei wusste ja nicht einmal,
dass damals dieser Unglücksfall passiert ist. Die wussten nur von
dem Mord an Daniel und mir und an Mr Letticeworth. Wenn da nicht
diese blöde Mrs Riley gewesen wäre und diese Andeutung gemacht
hätte. Da konnten sich die Beamten natürlich eine schöne
Geschichte zusammenbasteln und Mrs Letticeworth belasten. Sie hätte
Daniel und mich aus Rache für den Tod ihres Sohnes umgebracht. Den
Brief habe sie einfach an einer passenden Stelle durchgerissen,
Hauptsache, der Fall war abgehakt. Und Charles Letticeworth haben sie
als Selbstmord vom Tisch gefegt. Das hätte nämlich nicht in das
Schema gepasst. Eine Ungerechtigkeit war das damals, und sie ist nie
gesühnt worden. Das Morden geht weiter, und solange das Rätsel
nicht gelöst ist, werden alle Opfer der Mordserie ein trostloses
Zuhause auf diesem verfluchten Schiff finden. Sie sehen doch die
große Uhr über dem Kamin? Charles Letticeworth hatte sie nur zur
Zierde anbringen lassen. An dem Tag jedoch, als er ums Leben kam,
begann sie zu ticken. Unendlich langsam, möchte man meinen, denn in
den vergangenen hundert Jahren ist sie erst ein paar Stunden
weitergelaufen. Mittlerweile weiß ich, dass diese Uhr das Schicksal
aller Seelen auf diesem Schiff anzeigt. Tage und Nächte spielen hier
keine Rolle mehr, auf diesem Schiff gilt eine andere Auffassung von
Zeit. In ungefähr zwei Tagen wird diese Uhr hier zwölf schlagen.
Dann ist unser Schicksal besiegelt. Wenn wir den Mörder bis dahin
nicht entlarvt und alles Unrecht gerächt haben, werden unsere Seelen
in der Hölle landen. Dann hätte der Täter sein Ziel erreicht. Wenn
das Rätsel aber rechtzeitig gelöst wird…“ Vivien war
schockiert. Dann bemerkte sie, wie der Geist von Victoria langsam
verschwamm. „Victoria! Bleiben sie!“ „Ich kann nicht, es zieht
mich wieder weg. Sie müssen das Rätsel lösen. Denken sie daran:
Ihr Gemälde ist noch unklar, sie haben die Chance, dieses Schiff zu
verlassen, wenn sich alles aufklärt. Dann wird ihre Seele in den
Himmel gelangen, während wir im Fegefeuer enden. Retten sie sich, es
ist ihre letzte…“ Nachdem die Stimme immer leiser geworden war,
war sie zuletzt ganz verschwunden.
Nichts
mehr zeugte von dem Auftreten des Geistes. Vivien war verwirrt.
Sollte sie froh sein oder traurig? Sie hatte die Möglichkeit, alles
zu klären, aber nur, um ihre Seele dann erlöst zu wissen? Damit war
sie dann endgültig tot, nie mehr würde sie… Ich darf darüber
nicht nachdenken! Das bringt mich nur auf dumme Ideen. Vivien, willst
du etwa bis in alle Ewigkeit auf diesem Schiff spuken? Erlösung ist
dein Ziel, also finde heraus, wer die Schuld an allem trägt! Mein
Gott! Sie schaute zu den Gemälden. Aus dem Nichts erschienen zwei
neue Gemälde, darunter eine Statue und eine Rüstung. Die Bilder
zeigten Tim und Sally. Sie waren also wirklich umgebracht worden.
Aber sie waren doch unschuldig! Und warum waren ihre Portraits so
deutlich? Ob das vielleicht damit zusammenhing, dass sie selbst aus
der Parallelwelt stammte? War ihr Geist stärker als der ihrer
Wohnungsnachbarn? Ich werde diese Taten beenden, koste es, was es
wolle. Nicht, damit ich befreit werde, sondern damit dieser Irre
aufhört, total unbeteiligte Menschen zu töten. Vivien seufzte auf.
Ich höre mich an wie jemand aus so einem schlechten Film.
Ihr
rechtes Bein knickte ein. Der Boden begann mit einem Mal, gefährlich
zu schwanken. Vivien hatte Mühe, auf den Beinen zu bleiben. Das
Unwetter draußen tobte erbarmungslos. Ein metallenes Geräusch ließ
sie aufhorchen. Sie schaute nach oben und konnte sich im letzten
Moment mit einem beherzten Sprung vor dem herunterfallenden
Kronleuchter retten. Er zerbarst mit einem ohrenbetäubenden
Scheppern. Der andere Leuchter an der Decke war erloschen. Es war
urplötzlich stockduster in der großen Halle. Vivien spürte einen
starken Luftzug durch ihr Haar wehen. Dann geschah etwas
Unglaubliches. Auf dem Teppich erschien eine Spur auf kleinen Feuern.
Brennende Fußspuren, die sich langsam ausbreiteten. Sie führten zum
Ausgang in die Empfangshalle. Vivien folgte den Spuren mit einem
unbehaglichen Gefühl.
Sie
führten sie direkt in die Empfangshalle. Auch hier war es dunkel bis
auf die flammenden Schritte. Vivien vermutete, dass sie an Deck
laufen würden. Tatsächlich! Schritt für Schritt wanderte das Feuer
auf die Treppe zu. Eine Spur nach der anderen. Dann jedoch rechts an
der Treppe vorbei. Wie? Sie führten hinter die Treppe und dann auf
die Wand unter der Treppe zu. Dort endete die Spur. Sie endete direkt
vor einer Tür. Ein Raum? Genau unter der Treppe? Ich muss ihn
übersehen haben. Ob er auch abgeschlossen ist? Vivien drückte die
Klinke herunter. Die Tür sprang nach innen auf. Schwaches Licht
zeigte das Innere der Kabine. Vivien konnte nicht ausmachen, woher
das Licht kam. Es war ein Funkraum. Nur ein einziger Schreibtisch und
ein Stuhl davor befanden sich in dem kleinen Zimmer. Auf dem
Schreibtisch stand ein Funkgerät. Es sah ziemlich zerstört aus, gab
aber dennoch Geräusche von sich, die Vivien nicht entschlüsseln
konnte. Eine Lampe leuchtete schwach auf. Das Schiff wankte
bedrohlich. Vivien setzte sich auf den Stuhl. Sie konnte erkennen,
dass ein Funkspruch ankam. Die Apparatur setzte die Signale gleich in
Buchstaben um, so dass auf einem kleinen Ausdruck der Funkspruch zu
lesen war.
„Hier
spricht die MS Lightwater. Sie befinden sich mit uns auf
Kollisionskurs! Können sie uns verstehen? Weichen sie aus und setzen
sie Positionslampen!“ Der Ausdruck lief noch weiter, aber Vivien
war vor Schreck erstarrt. Sie werden uns rammen! Noch bevor sie etwas
tun konnte, begann die kleine Lampe am Funkgerät immer stärker zu
glühen. Immer heller wurde das Licht, wie damals, als sie Tim und
Sally gefunden hatte. Vivien hielt eine Hand vor die Augen und
verließ die Kabine. Sie schloss die Tür. Das helle Licht schien
sogar durch die Ritzen am Rahmen der Tür. Wie Laserstrahlen
zerschnitt es die Dunkelheit in der Halle. Es warf einen Rahmen aus
Licht auf die gegenüberliegende Wand.
Von
dem Anblick gefesselt, ging Vivien langsam auf die Wand zu. Der
Gedanke, das Schiff umzulenken, war wie weggeblasen. Das Licht zeigte
an der Wand eine Tür, die vorher unsichtbar war. Der Knauf war genau
wie die Wand gemustert und aus der Ferne nicht zu erkennen. Vivien
öffnete die Tür und betrat einen geheimen Gang.
Er
war ziemlich finster. Vivien wusste nicht genau, wohin er führte. Er
war schmal und ziemlich lang und verwinkelt. Dann geschah das
Unausweichliche. Das Schiff geriet ins Trudeln, ein lautes Krachen
ging durch die Bohlen. Das kam nicht mehr von dem Sturm. Das andere
Schiff muss uns gerammt haben! Vivien wollte zurücklaufen, aber die
Tür in die Halle war verschwunden. Wieder krachte es und Risse
brachen ins Holz. Ein dünner Wasserstrahl traf Vivien ins Gesicht.
Verdammt! In Panik rannte sie los, immer den Gang hinunter.
Er
wurde mit der Zeit etwas heller, was Vivien aber nicht beruhigen
konnte. Jetzt musste sie sehen, wie das leckgeschlagene Schiff
langsam auseinander fiel. Das Wasser bedeckte langsam den ganzen
Boden. Prompt rutschte sie auf dem rutschigen Untergrund aus und fiel
der Länge nach hin. Panisch blickte sie hinter sich und rappelte
sich auf. Dann rannte sie, mit einem Bein humpelnd, weiter.
Schließlich
endete der Gang und Vivien fand sich in einem Raum wieder. Sie
vermutete zumindest, dass es ein Raum sein musste. Es war alles
schwarz, sie konnte nicht einmal mehr die Hand vor Augen sehen.
Nachdem sie wenige Schritte in den Raum hineingegangen war, fiel ihr
ein, dass sie vielleicht wieder zurückgehen und sich an der Wand
entlang tasten sollte. Sie ging die paar Schritte rückwärts, suchte
mit beiden Händen nach der Wand, doch da war nichts. Vivien schien
mitten im Nichts zu stehen, es war keine Wand mehr da. Alles um sie
herum war schwarz, und zu allem Übel stieg langsam aber sicher das
Wasser im Zimmer. Bald stand ihr das Wasser bis zum Hals. Vivien fiel
das Atmen schwer. Wohin sollte sie gehen, was sollte sie tun? Dann
flammten aus dem Nichts unzählige Kerzenleuchter auf. Sie erhellten
den Raum, Vivien konnte eine Art Thronsaal entdecken, in dem sie sich
befand. Das Wasser stand mittlerweile meterhoch, dennoch befand sich
die Decke in unendlicher Entfernung. Auf dem Thron ganz weit hinten
konnte sie sehen, wie jemand darauf saß und winkte. Dann erfasste
sie ein starker Sog.
Es
war, als ob jemand den Stöpsel gezogen hatte. Vivien wurde in einen
starken Strudel gezogen. Das ganze Wasser lief aus der pompösen
Halle ab. Die Gestalt auf dem Thron schaute zu, wie Vivien von der
Strömung erfasst wurde. Sie hielt die Luft an und tauchte unter.
Dann ging es mit rasender Geschwindigkeit vorwärts. Durch eine
riesige Höhle wurde sie gezogen, danach immer weiter in die Tiefe.
Plötzlich endete das Wasser und Vivien fiel nach unten heraus in die
Luft. Begierig sog sie die Luft ein und atmete tief durch. Während
sie sich in der Luft befand, drehte sich alles um sie herum und sie
fiel wieder herunter ins Wasser, wo sie weiter fortgeschleppt wurde.
Dann merkte sie, wie das Wasser plötzlich zähflüssiger wurde. Es
kam ihr vor, als tauchte sie durch Honig oder Creme. Immer fester
wurde die Masse um sie herum. Erst wie Kleister, dann wie Knetmasse,
bis alles schließlich wie Zement erstarrte. Vivien war gefangen und
konnte sich keinen Zentimeter mehr bewegen. Sie konnte auch nicht
mehr atmen. Bald wurde sie ohnmächtig.
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