Mittwoch, 14. März 2018

Das Schiff in der Nacht (Zweiter Tag)


Kapitel 6 – Düsteres Erwachen

Vivien döste vor sich hin. Der Schlaf war vorbei, irgendetwas drückte sie derart schwer auf der Brust, dass ihr das Atmen schwerfiel. So konnte kein Mensch einen ruhigen Schlaf finden. Langsam öffnete sie die Augen. Es war noch immer stockduster in ihrem Zimmer. Sie wollte aus dem Bullauge schauen, um zu sehen, ob es inzwischen Tag war, doch sie konnte das Bullauge nicht entdecken. Vivien musste husten. Der Druck auf ihrer Lunge war unerträglich. Sie wollte die Hand auflegen, um zu fühlen, ob alles normal war. Als ihre Hand jedoch auf ihrer Brust zu liegen kam, merkte Vivien, dass ein Gegenstand auf ihr lag und ihr das Atmen erschwerte. Es war ein hölzerner Gegenstand. Noch etwas schlaftrunken nahm Vivien ihn in die Hand und versuchte, durch Fühlen zu erkennen, was es war. Als hätte jemand ihre Gedanken gelesen, flammten die Leuchter an den Wänden langsam wieder auf, doch sie schienen längst nicht so hell wie zuvor. Dämmerlicht erfüllte die Kabine. Vivien stand auf und erstarrte vor Schreck, als sie sah, was sie da in der Hand hielt. Es war eine große, schwere Axt mit einem hölzernen Griff. An der Klinge glänzte Blut. Vivien ließ die Axt fallen. Mit einem dumpfen Ton schlug sie auf dem Teppich auf. Nun erst erkannte Vivien, dass mit ihrem Zimmer einiges nicht stimmte. Es war wieder in seinen ursprünglichen Zustand zurückverfallen. Der Teppich auf dem Boden war vermodert, das Bett schwarz und verfault und Moos bildete sich auf den Dielen. Und noch etwas war seltsam: Wo vorher das Bullauge war, befand sich jetzt eine Tür. Wie kann denn das sein, fragte sich Vivien. Diese Tür müsste doch theoretisch mitten aufs Meer führen. Und wo ist überhaupt die Ausgangstür? Tatsächlich. Der Ausgang war verschwunden. Dort hing jetzt ein Bild, an dem schon die Farbe verlaufen war.
Vivien schaute an sich herab. Ihre Kleidung war zum Glück getrocknet, aber sie mochte sich nicht wohlfühlen. Dann sah sie zu ihren Füßen wieder die blutige Axt liegen. Plötzlich bildete sich von der Axt ausgehend eine Spur aus Blutflecken, die zu der neu erschienenen Tür führte. Einer Vorahnung folgend, nahm Vivien die Axt in die Hand und ging auf die Tür zu. Noch immer fürchtete sie, dass die Tür sie ins Freie führte. Daher öffnete sie die Tür vorsichtig. Ihre Hoffnung hatte getrogen. Vivien blickte in einen schmalen Gang, der gleich nach der Tür rechts abzweigte. Sie trat ein. Der Gang war sehr eng, Vivien musste aufpassen, dass sie nicht ihre Kleidung an dem groben Holz und den hervorstehenden Nägeln zerriss. An der linken Seite des Ganges befanden sich drei Bullaugen. Durch sie erkannte Vivien, dass es immer noch Nacht war. Oder ist es schon wieder Nacht? Ich habe jegliches Zeitgefühl verloren. Warum spielt jemand solche Streiche mit mir?
Die Blutspur zog sich weiter den Gang hinunter. Vivien erschauderte bei dem Gedanken, wo sie wohl hinführen mochte. Sie glaubte, aus der Ferne Schreie zu hören. Am liebsten wäre sie umgekehrt, aber es gab keinen Weg zurück. Dieser Gang war ihre einzige Möglichkeit, vielleicht wieder auf das Schiffsdeck zurückzukommen. Endlich kam sie ans Ende des Ganges. Dort führte eine ebenso schmale wie steile Treppe nach unten. Sie schien direkt ins Meer zu führen; sie war viel zu lang für ein normales Schiff, doch was heißt „normal“? Vivien stand vor einer Tür. Die Blutspur schien hier zu enden. Ich will das nicht, sagte Vivien zu sich, doch widerwillig drehte sie den Knauf der Tür. Sie war nicht verschlossen und schwang mit einem entsetzlichen Quietschen nach außen auf.
Vivien wurden die Knie weich. Aus der Kammer, die sich ihr öffnete, fielen ihr zwei Körper entgegen. Ohne Kopf. Vor lauter Ekel warf Vivien die Axt hin und schüttelte sich. Dann erhellte eine Deckenleuchte die kleine Kammer. Vivien sah auf einem Regal die beiden Köpfe der Leichen liegen. Ihr wurde ganz schlecht – es waren die Köpfe von Tim und Sally, ihren beiden Zimmernachbarn. Die Deckenlampe strahlte immer heller, Vivien konnte bald nichts mehr sehen, aber das wollte sie auch gar nicht mehr. Angewidert rannte sie zurück zu ihrer Kabine. Der Gang schien unendlich zu sein, auch glaubte Vivien zu bemerken, wie er immer schmaler wurde. Zwischen den Holzbrettern quoll eine schwarze Flüssigkeit hervor, die Vivien ins Rutschen brachte, doch sie lief unbeirrt weiter. Dann endlich sah sie das Licht aus ihrer Kabine und hastete hinein. Ihr erster Blick fiel auf die Ausgangstür, die wieder an ihrem alten Platz war. Sie drehte sich um. Die Flurtür war verschwunden, an ihrer Stelle befand sich wieder das Bullauge in der Wand. Draußen konnte Vivien das Wetterleuchten sehen. Auch ansonsten war alles in der Kabine wieder normal. Es war warm und hell hier drin, nichts mehr war verfault oder kaputt. Warum dieser Horror? Will mich jemand von hier vertreiben? Ich würde ja gerne von diesem höllischen Schiff verschwinden, aber wie? Und was hatte das Erlebnis in dem Gang zu bedeuten? Hat es jetzt auch Tim und Sally erwischt? Die beiden hatten doch nichts Böses getan! Vivien betrachtete das Grammophon. Ihre Erinnerung kehrte an den Vorabend und Mary Riley zurück. Mord. Überall auf diesem Schiff dreht sich alles nur um Mord. Egal, ob vor einhundert Jahren oder jetzt. Ein wahnsinniger Mörder treibt irgendwo sein Unwesen. Und versucht er, mich in den Wahnsinn zu treiben, indem er mir weismacht, ich habe meine Freunde auf dem Gewissen. Nichts da, ich werde mich wehren, nahm Vivien sich vor. Fest entschlossen, einen Mörder zu entlarven, verließ Vivien ihre Kabine.

Kapitel 7 –Der Fall Letticeworth

Sie stand wieder auf dem Flur. Ihre Augen hatten sich mittlerweile ziemlich gut an das Dämmerlicht der Kerzen gewöhnt. Daher fiel ihr ein Leuchten zu ihrer Rechten sofort auf. Ein blaues Licht ging von dem Gemälde aus, das sie bereits vorher betrachtet hatte. Vivien schaute auf den Jungen, der mit seinen Eltern in dem Säulengang spielte. Der Schriftzug auf dem Bild leuchtete hell auf. Was hat das zu bedeuten? Vivien berührte die Buchstaben. Ein warmes Gefühl ging durch ihren Körper. Einer der Buchstaben schien sich zu verformen. Vivien spürte, dass sie es war, die die Schrift verwandelte. Aber wie ist das möglich? Wie kann ich die Schrift verändern? Und woher soll ich wissen, was dort erscheinen soll? Sie war ratlos. Ihr Unterbewusstsein musste den Vorgang steuern. Sie legte beide Hände auf die Schrift am Bildrand. Der Satz veränderte sich. Nicht mehr „Amor filii non moritur.“ war dort zu lesen. Stattdessen prangte ein großes „Patris culpa non moritur – Die Schuld des Vaters vergeht nie“ auf dem Bild. Auch das Bild selbst hatte sich gewandelt: Während die Eltern sich von dem Kind weggewandt hatten, war der Junge auf dem Boden zusammengesunken. Wahnsinn, ich sehe immer wieder dieses Bild von den Eltern, die sich abwenden und dem sterbenden Kind, genau wie in meinen Träumen, dachte Vivien verwundert. Mehr Zeit für Gedanken blieb ihr aber nicht. Das Bild gab nach, während sie mit den Händen dagegen drückte, und fiel in den dahinter gelegenen Raum. Vivien stolperte hinterher. Sie stand in einer ihr völlig unbekannten Kajüte. Dies muss der Raum sein, dessen Tür sich in das Bild verwandelt hatte, dachte sie verwirrt und drehte sich um. Das Loch in der Wand war verschwunden, das Bild ebenso. In der Wand befand sich nun eine ganz normale Tür.
Vivien betrachtete das Zimmer genauer. Es war eine luxuriös ausgestattete Kabine mit vielen Bildern und Andenken an den Wänden und in Regalen. Auf einem Schreibtisch stand eine Sturmlampe, deren Lichtschein das auf der Arbeitsfläche zurückgebliebene Dokument erleuchtete. Davon magisch angezogen ließ Vivien ihren Blick über den Text wandern. Charles Letticeworth hatte ihn verfasst. Vivien blickte auf. Ist dies die Kabine des Kapitäns? Sie schaute sich schnell um. Hatte sie nicht eben ein Geräusch gehört? War der Geist zurückgekehrt, den sie damals auf der Brücke gesehen hatte? Sie fühlte sich unwohl und setzte sich mit dem Papier in einen Sessel, der mitten im Raum stand.
Dieses Schiff ist nicht mehr das, was es einst war. Früher strahlte es die Glorie der Familie Letticeworth aus, jetzt ist es nur noch ein Wrack, behaftet mit all den schrecklichen Geschichten, die sich ereignet haben. Ich möchte die glückliche Geschichte meines Schiffes wiederbeleben. Ich werde es wieder so herrichten, wie es einst war, damals, als ich meine Marion kennen gelernt habe. Der Spiegel – er muss wieder in den anderen Flur. Ans Ende zum Heck hin. Ich hätte wissen müssen, dass es Unglück bringt, vor der eigenen Tür einen Spiegel aufzuhängen.“ Vivien stutzte. Sie ging zur Tür und schaute auf den Flur. Tatsächlich hing genau gegenüber der Tür zur Kabine ein großer Spiegel an der Wand. Wie kommt der dahin? Habe ich den vorher denn nicht bemerkt, fragte sie sich. Unsinn, vorher war da kein Spiegel. Ich habe doch hier gesessen und die Wand angestarrt. Sie war leer, da bin ich ganz sicher. Egal, jetzt hängt er dort. Kann mir auch egal sein. Sie ging zurück in die Kabine und las weiter. „Dort wird er dann wieder das Leben, das ich damals als junger Mann geführt habe, widerspiegeln und neu erstrahlen lassen. Ich will niemals unsere gemeinsame Zeit in Afrika vergessen, sie ist das Einzige, das mir noch bleibt. Ich habe die beiden Andenken an meine Frau sicher weggeschlossen. Es war schließlich nicht leicht, auf den langen Reisen ohne sie auszukommen. Ich komme nur nicht an die beiden Schätze heran, und ich möchte nicht, dass sie auf dem Schiff bleiben. Ich will sie Marion zurückgeben. Der raffinierte Mechanismus an den beiden Türen der Schatzkammern lässt sich aber nur zu einer bestimmten Sternenkonstellation öffnen. Die Sterne, die das Pentagramm bilden, müssen durch das Steuerbordfenster leuchten, um den ersten Raum zu öffnen. Wie der zweite Raum geöffnet wird, weiß nur Marion. Ich muss sie fragen, wie es funktioniert. Dann ist das Schiff bald in seinem Urzustand, so soll es dann auch bleiben. Das ist mein letzter Wunsch, damit ich all die schrecklichen Ereignisse endlich hinter mir lassen kann. 16. Januar 1903, Charles Letticeworth“
Vivien legte das Dokument beiseite. Es war etwas mehr als ein halbes Jahr geschrieben worden, bevor Letticeworth starb. Der Kapitän hatte es offensichtlich nicht geschafft, das Schiff wieder herzurichten. Der Spiegel hing an altem Ort und Stelle – wahrscheinlich waren auch noch die Schätze in den Räumen. Es musste sich um die Kammern am Heck des Schiffes handeln, deren Türen mit den seltsamen Zeichen versehen waren. Sollte sie versuchen, alles an seinen Platz zu räumen? Sonst hatte sie schließlich nichts zu tun. Zweifelnd stand Vivien auf. Das Papier faltete sie mehrmals und steckte es in die Hosentasche. Dabei bemerkte sie, dass aus irgendeinem Grund beide Taschen intakt waren. Aber ich habe doch heute – oder war es gestern? Ich habe doch meinen Schlüssel durch ein Loch verloren, und jetzt ist plötzlich alles in Ordnung? Sich weiter darüber Gedanken zu machen hielt Vivien für unsinnig. Sie verließ die Kabine. Ich denke, ich fange mit dem Spiegel an. Es lief unerwartet gut, ohne große Umstände hielt Vivien den Spiegel in beiden Händen. Er war nicht einmal besonders schwer. Als Vivien jetzt aber in Richtung Halle gehen wollte, fiel ihr auf, dass die Tür zur Kajüte des Kapitäns verschwunden war. Davon ziemlich verwirrt hing sie den Spiegel wieder an die Wand. Als wäre nichts geschehen, spiegelte sich dort wieder die Tür. Ungläubig drehte Vivien sich um. Sie öffnete die Tür und betrat das Zimmer von Charles Letticeworth. Beim Hinausgehen betrachtete sie sich selbst im Spiegel. Kann es sein, dass die Tür nur erscheint, wenn der Spiegel hängt? Ich werde den Spiegel jetzt in den anderen Korridor bringen. Mit dem Fuß stieß sie die Tür zur Haupthalle auf. Dort erhellten die Kerzenleuchter wieder die Atmosphäre.
Vivien passte auf, dass sie mit den Füßen nicht gegen einen der vielen Stühle stieß, die in der Empfangshalle herumstanden. Was wäre bloß, wenn der Spiegel herunterfiele und zerbrach? Dann könnte ich nicht mehr in die Kabine des Kapitäns zurück… Aber ich könnte doch bestimmt die Wand mit irgendetwas einschlagen, ist ja nur Holz. Zu dumm, dass meine Magie in dieser Welt nicht wirkt. Das würde vieles erleichtern. Noch während Vivien darüber nachdachte, kam zur anderen Flurtür. Sie setzte den Spiegel ab und bewahrte ihn mit einer Hand vor dem Umfallen. Mit der anderen öffnete sie die Tür. Dann nahm sie den Spiegel wieder auf und betrat den Korridor. So, wo kommt jetzt der Spiegel hin, fragte Vivien sich. Sie lehnte ihn an die Wand und zog das Papier aus ihrer Tasche. „Ans Ende zum Heck hin.“ Stand dort geschrieben. Welches Ende war denn das Heck? Natürlich! Die Empfangshalle lag fast direkt unter der Brücke, das musste der Bug sein. Also muss ich ans andere Ende. Vivien nahm den Spiegel in beide Hände und ging den Flur hinunter. An der hinteren Tür angekommen überlegte sie, wo der Spiegel denn nun aufzuhängen sei. Sie suchte die Wände nach einem Haken oder ähnlichem ab. Fast ganz am Ende, auf der Seite, an der sich nur die Doppeltür befand, waren zwei Aufhänger angebracht. Mühsam wuchtete Vivien den Spiegel hinauf. Schon beim Aufhängen konnte sie sehen, wie sich etwas im Spiegelbild zeigte. Mit einem Male zierten drei Totenköpfe die gegenüberliegende Wand, die bis zu diesem Zeitpunkt noch unscheinbar gewesen war. Erst durch die Reflektion wurden die Totenköpfe sichtbar. Vivien betrachtete sie. Drei Schädel, nebeneinander an der Wand angebracht. Der mittlere hatte seine Kiefer auseinandergeklappt. Es war nicht schwer zu erraten, was hier geschehen musste. Trotzdem zögerte Vivien. Sollte sie ihre Hand dort hineinstecken? Ihr war sehr mulmig zumute. Das leise Rauschen und der Windhauch aus Kabine 5b nebenan beruhigten sie nicht gerade. Was kann mir denn noch groß passieren? Sie steckte die Hand in den Mund des mittleren Schädels. Dort befand sich in der Wand ein Knauf. Vivien drehte ihn langsam herum. Um die Schädel herum zeichnete sich eine Tür ab, die sich nun nach innen öffnete. Vivien betrat das geheime Zimmer und wurde von dem kommenden Spektakel überwältigt.
Sie trat in einen dunklen Raum. Um sie herum wurde es auf einmal lebhaft. Visionen zeichneten sich an den Wänden ab. Sie zeigten Afrika. Wüste, dann wieder Dschungel und Berge, wilde Tiere, die umherzogen, weite Ebenen und Felder, endlose Wildnis. Dann ein Eingeborenendorf. Vivien spürte direkt die Gluthitze, die von der strahlenden Sonne ausging. Mehrere Eingeborene standen auf einem Platz im Dorf um einen Brunnen herum. Ein sehr alter Mann stand im Brunnen und hielt eine Ansprache. Dann wechselte das Bild. Vivien fand sich in einer Hütte wieder. Dort saß ein junger Mann an einem Tisch und schrieb Sachen in ein Buch. Es war ein weißer Mann. Er schloss das Buch und verließ die Hütte. Vivien erkannte Charles Letticeworth´s Tagebuch. Das musste der junge Letticeworth auf seiner Reise durch Afrika sein, von der er geschrieben hatte. Das Bild änderte sich. Letticeworth befand sich auf einer Safari durch einen Dschungel. Sie führte vorbei an wunderschönen Pflanzen und seltenen Tieren, bis zu einem riesigen, malerischen Wasserfall.
Letticeworth sprang kopfüber in einen See und tauchte ab. Er war verschwunden und Vivien fand sich in einer Höhle wieder. Viele Malereien zierten die Wände, von oben drang helles Licht herein. Eine junge Frau saß an einem kleinen Altar und formte eine Tonskulptur. Letticeworth betrat die Höhle und bewunderte die Arbeit der Eingeborenen. Sie führte ihn hinaus, zurück ins Dorf. Zusammen mit den beiden betrat Vivien die Hütte des Mädchens. Dort waren auf einem Regal viele solcher Tonfiguren gesammelt. Das Mädchen schien sehr stolz darauf zu sein. Bewundernd schaute Letticeworth die Figuren an. Er schien von ihnen sehr angetan zu sein. Jedoch war er auch dem Mädchen nicht abgeneigt. Sie schien ebenfalls Zuneigung zu ihm zu empfinden. Sie blickten sich tief in die Augen. Die Umgebung änderte sich wieder. Letticeworth und die junge Frau saßen auf dem Rücken eines Elefanten und ritten über ein weites Feld, die wunderschöne Landschaft und eine majestätische Bergkette in ihrem Rücken. Vivien wünschte, sie wäre wirklich dort. Es fühlte sich alles so echt an.
Wieder im Dorf erkannte Vivien, dass sie in einer Art Kapelle standen. Letticeworth stand mit der jungen Frau vor einem Bambusaltar und ein Priester sprach seinen Segen über die beiden aus. Er nahm ein kleines Kästchen, auf dem in vergoldeten Buchstaben stand: „Charles & Marion Letticeworth“ Das war es also, was der Kapitän mit der schönen Zeit damals in Afrika meinte. Deshalb sollte der Spiegel wieder an der Wand hängen. Damit Jeder sehen konnte, wie glücklich die Letticeworths in Afrika waren, als sie sich kennen gelernt hatten! Aber dann ist etwas passiert, was das Familienglück getrübt hatte. Aber was?
Im nächsten Moment stand Vivien mit dem frisch verheirateten Paar an einem Strand in einer himmelblauen Lagune. Die beiden liefen ins Meer und badeten vergnügt, spritzten sich nass und tauchten sich gegenseitig unter Wasser. Dann eine Szene zurück im Eingeborenendorf. Marion lag im Bett und hatte ein rotes Gesicht. Charles kniete bei ihr. Es schien ihr sehr schlecht zu gehen. Ob eine Krankheit sie niedergestreckt hatte? Ein Medizinmann gab ihr eine Flüssigkeit aus einer Kokosnussschale zu trinken. Dann schloss Marion die Augen. Um Vivien herum wurde es schwarz. Dann hellte sich das Bild wieder auf. Noch immer waren sie in der Hütte – oder schon wieder? Marion sah jetzt sehr gesund aus und hielt in ihren Armen ein kleines weißes Bündel Stoff. Liebevoll drückte sie ihr Kind an sich. Charles gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Beide sahen überglücklich aus. In diesem Moment verschwand die Vision.
Vivien fand sich in dem Zimmer wieder und erkannte jetzt die Einrichtung. An den Wänden hingen mehrere Schädel, in denen Kerzen leuchteten. Speere und Schilde der Eingeborenen zierten die Wände. Ein Bastrock und verschiedene andere Andenken waren im ganzen Zimmer verteilt. Es gab keine Stühle oder Tische. Dieses Zimmer war offensichtlich nur zur Erinnerung an die Afrikareise gedacht. Der Boden wurde von einer Bambusmatte bedeckt. Eine Tür führte nach rechts aus dem Zimmer hinaus, doch als Vivien die Klinke drückte, erwies sich auch diese Tür als verschlossen. Sie musste in das Zimmer nebenan führen. Leider waren alle Eingänge in die Kabine offensichtlich versperrt. Sie blickte sich um. Bilder an den Wänden zeigten Marion und Charles auf vielen ihrer ausgedehnten Spaziergänge durch die afrikanische Wildnis. Auf vielen Bildern waren sie mit ihrem Sohn zu sehen. Mal erkannte Vivien ihn als kleinen Jungen, auf anderen Bildern mochte er gut acht Jahre alt sein. Die Familie Letticeworth hatte eine lange und sehr schöne Zeit in Afrika verbracht. Wiederum auf anderen Bildern war die Abreise aus Afrika zu sehen. Mehrere Bilder der „Letitia“ in einem Hafen waren in einem Rahmen untergebracht. Viele Dorfbewohner standen dabei und winkten zum Abschied. Dann war Charles mit seinem Sohn auf einem Foto abgebildet. Es zeigte einen der Räume auf dem Schiff, genauer gesagt, die Tür davon. Vivien nahm das Bild von der Wand und hielt es an eine der Lampen, um Genaueres erkennen zu können. Letticeworth drehte den Knauf der Tür nach oben und brachte dadurch einen zweiten Knauf zum Vorschein. Das war sehr interessant, das könnte das Rätsel der ganzen verschlossenen Türen lüften. Naja, zumindest eine Tür müsste ich so öffnen können, sagte Vivien zu sich. Ich müsste nur noch wissen, welche Tür das ist. Irgendetwas ist da auf dem Griff zu sehen, eine Zeichnung oder ein Relief… kann das… eine Sonne sein? Natürlich! Das ist eines der Zimmer auf dieser Seite! Die Kabine mit der Sonne auf dem Knauf. Das war doch gleich neben dem Tresor, glaube ich. Dort muss ich hin. Vielleicht finde ich dann heraus, was damals passiert ist, hoffte Vivien insgeheim.
Vivien verließ das afrikanische Zimmer und ging den Korridor hinab. Bei der vorletzten Tür zu ihrer Linken blieb sie stehen. Hier bin ich richtig. Diese Tür hat das Sonnenmotiv auf dem Knauf. Es nützt also nichts, wenn ich den Knauf nach links oder rechts drehe. Dann werde ich ihn mal nach oben drehen. Gesagt, getan. Durch die Drehung nach oben kam, genau wie vorher auf dem Bild dargestellt, ein weiterer Knauf zum Vorschein. Ihn zierte ein Sichelmond. Plötzlich ging ein gewaltiger Ruck durch das Schiff. Es begann, leicht zu schwanken. Vivien lief in die Empfangshalle und die Treppe hinauf aufs Deck. Das Schiff machte langsam wieder Fahrt, die zwei Segel waren unversehrt und gespannt und brachten Schwung in das Schiff. Dennoch konnte sie nicht erkennen, wo es hingehen sollte. Die Nacht war wieder sternenklar, aber nirgendwo war Land zu erkennen. Ein frischer Wind umschmeichelte ihre Beine, wie es auch bei ihrer Ankunft auf dem Geisterschiff der Fall gewesen war. Vivien betrat die Brücke. Dort hatte sich seither nichts verändert. Niemand stand am Steuer, niemand hatte die Bausteine zur Seite geräumt. Enttäuscht verließ sie die Brücke wieder. Sie hatte gehofft, dass der Geist des Kapitäns vielleicht wiedergekehrt sei und sie ihn um Hilfe bitten könnte, aber wie er es schon gesagt hatte, war eine Begegnung mit anderen Geistern extrem selten. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass nichts Außergewöhnliches passiert war, ging Vivien wieder unter Deck. In der Empfangshalle schien es ihr für einen Moment, als wäre sie voller Menschen. Sie meinte, Stimmen zu hören, die sich unterhielten. In den hinteren Stühlen glaubte sie sogar, Geister erkennen zu können. Die Trugbilder verschwanden jedoch noch bevor Vivien näher kommen konnte. Sie ging wieder in den rechten Flur und zur Tür mit dem Mondknauf. Vivien drehte ihn rechtsherum und die Tür sprang auf.
Es bestand kein Zweifel: Dies musste Cedrics Kinderzimmer sein. Es war das Zimmer, das der Kapitän seinem Sohn auf dem Bild so stolz gezeigt hatte. Es war wohl extra für die Reise aus Afrika für ihn eingerichtet worden. Ein kleines Bett stand in einer Ecke, ein Tischchen an einer Wand mit einem Stuhl davor, in einer Ecke waren viele Kissen zu einem Berg aufgetürmt, Spielsachen lagen auf dem Boden verstreut. Verschiedene Mobiles baumelten von der Decke. Bunte Bilder schmückten die Wände. Cedric hatte sie selbst gemalt und mit ungelenken Buchstaben seinen Namen darunter gekritzelt.
In ein Schränkchen mit vielen Schubladen waren diverse Kleidungsstücke wild hineingestopft, einige hingen noch aus einer Schublade heraus. Dazwischen lag ein Zettel, vielleicht eine Notiz oder ein Brief. Was macht der denn zwischen den Sachen? Vielleicht wollte Cedric nicht, dass jemand diesen Zettel liest. Naja, der Junge wird mittlerweile tot sein, es dürfte ihn also kaum stören, wenn ich ihn lese, dachte Vivien bei sich und nahm den Zettel.
Liebe Mutter! Die Fahrt auf dem Schiff ist toll, das macht viel Spaß. Schön, dass Vater mich auf diese Reise mitgenommen hat. Es erinnert mich an die Fahrt von Afrika nach England. Ich werde Afrika vermissen. Wenn ich mal größer bin, fahre ich selbst dorthin. Bald sind wir wieder bei Dir, es kann nicht mehr lange dauern. Wir hatten noch keines der schlimmen Unwetter, von denen Du mir immer erzählt hast. Du machst Dir viel zu viele Sorgen. Schiff fahren ist gar nicht so schlimm, wie Du immer sagst. Ich möchte noch viele Reisen machen. Ich bin stolz auf Vater und auf seinen Beruf. Vielleicht werde ich auch einmal Seemann. Dann lerne ich die ganze Welt kennen. Warum kommst Du nicht auch einmal auf eine Reise mit? Es ist wirklich nicht gefährlich und das Schiff ist ganz toll. Vater kann Dir ein schönes Zimmer einrichten, er sagt, dass wir mit unserer Reise dieses Mal eine Menge Geld verdienen. Komm doch einfach mal mit, dann siehst Du auch was von der Welt. Ich verspreche Dir, wir sind bald wieder da. Dein Dich liebender Sohn Cedric.“
Warum nur hat Cedric diesen Brief nie seiner Mutter gegeben? Er war voller Zuneigung gegenüber seiner Mutter geschrieben und lag nun zerknüllt in einer Schublade zwischen den Klamotten? Was war bloß mit dieser Familie passiert?
Der Wellengang wurde etwas stärker, ein Schaukelpferd rutschte von einer Seite der Kabine zur anderen. Vivien schaute aus dem Bullauge. Es schien erneut ein Sturm aufzuziehen. Wie damals in der fatalen Nacht war der Himmel auch jetzt wolkenlos. Was würde wohl passieren? Und was sollte sie jetzt als nächstes machen? Das Schiff bot nicht viele Möglichkeiten, weiterzukommen. Vivien zog resignierend die Notiz des Kapitäns aus ihrer Tasche und überflog sie erneut. Die Andenken! Letticeworth hatte von den Andenken seiner Frau erzählt, die sicher auf dem Schiff weggeschlossen wurden. Vivien verließ die Kabine und machte sich auf den Weg zum Heck des Schiffes, wo sich die beiden Schatzkammern befanden.
In der hinteren Halle angekommen, untersuchte Vivien erneut die beiden Türen mit den seltsamen Symbolen darauf. Sie konnte sich keinen Reim darauf machen. Es waren Sterne abgebildet und verschiedene Konstellationen dargestellt, die sie aber nicht deuten konnte. Auch das runde Gitter im Boden war nach wie vor verschlossen. „Wenn die Sternenkonstellation des Pentagramms durch das Steuerbordfenster scheint, öffnet sich die erste Kammer.“ Vivien schaut durch das linke Bullauge nach draußen. Viele Sterne leuchteten am Himmel, aber nirgendwo war eine Anordnung zu erkennen, die einem Pentagramm ähnlich sah. Sie schaute aus dem anderen Bullauge. Da, knapp über dem Horizont erkannte Vivien einen Haufen Sterne, die ein Pentagramm bildeten. Sie sollten durch das Steuerbordfenster hereinleuchten. Welche Seite war denn nun Steuerbord? Vivien überlegte. Sie stellte sich mit dem Blick zu den beiden Gängen auf, die zur Empfangshalle führten. Jetzt schaue ich zum Bug. Wie war das noch? Rechts ist Steuerbord und links Backbord, glaube ich. Die Sterne leuchten zur Linken herein. Das ist falsch, ich muss das Schiff wenden, damit es stimmt. Es geht wohl nicht anders. Vivien, du wirst jetzt zum Kapitän, dachte sie schmunzelnd, während sie sich auf den Weg zum Oberdeck machte.
Dort angekommen führte ihr Weg sie direkt auf die Brücke. Das Steuerrad schien sie düster anzugrinsen, doch davon völlig unbeeindruckt griff sie mit beiden Händen zu. Sie wollte es gerade herumdrehen, als ihr einfiel, dass sie gar nicht wusste, wann sie weit genug gewendet hatte. Eine halbe Drehung war vonnöten, damit das Licht der Sterne ins richtige Fenster schien. Vivien blickte zum Himmel hinauf. Sie konnte hell und deutlich den Polarstern am Himmel ausmachen. Jetzt nahm sie ein Holzklötzchen vom Boden und legte es in die Richtung, in der sich der Nordstern befand. Genau in die andere Richtung legte sie ein zweites Klötzchen. Wenn der Stern dort angekommen ist, habe ich mich genau um 180 Grad gedreht, so soll es sein, dachte sie sich und drehte das Steuer. Langsam zog das große Schiff herum; es dauerte eine Weile, bis der Polarstern an der angegebenen Position strahlte, aber schließlich war es vollbracht. Voller Vorfreude ging Vivien Richtung Unterdeck. Dass der Wind beträchtlich zugenommen hatte und ihre Haare durcheinander wehen ließ, nahm sie ebenso wenig wahr wie die Blitze, die am Horizont aufzuckten und ein drohendes Unwetter verkündeten.
Vivien rauschte durch die Empfangshalle und den linken Korridor in die hintere Halle. Dort bot sich ihr ein erstaunlicher Anblick: Durch das linke Bullauge schien ein heller Lichtstrahl in den Raum und wurde auf mysteriöse Weise von den Holzwänden reflektiert, bis er direkt auf die linke Tür mit den Verzierungen traf. Vivien konnte erkennen, dass die Tür sich ein kleines Stück weit geöffnet hatte. Gespannt betrat sie die erste der beiden Schatzkammern.
Der erste Anblick enttäuschte Vivien jedoch maßlos. Der Raum war ebenso düster wie der Rest des Schiffes, nicht einmal eine Kerze spendete Licht. Zudem war die Kammer fast leer. Nur von einem Exponat auf einer kleinen Säule ging ein warmes Leuchten aus. Es war eine Art goldener Käfer mit geöffneten Schwingen. Darunter hing ein Zettel, der eine nähere Erklärung des Schmuckstückes bot:
Dieser Goldskarabäus ist ein Geschenk von Kuneelah aus Tepeh, unserem afrikanischen Heimatdorf. Sie bot ihn uns als Abschiedsgeschenk an, damit wir sie nie vergessen mögen.“ Wieder hörte Vivien eine Stimme in ihrem Kopf, dieses Mal eine tiefe Männerstimme. Es war die Stimme des Kapitäns. „Eigentlich war es so, dass Kuneelah ihn mir geschenkt hatte, ohne dass Marion etwas davon wusste. Natürlich habe ich ihr nichts erzählt. Stattdessen habe ich ihr den Anhänger geschenkt und gesagt, es sei ein Abschiedsgeschenk des Dorfältesten. Marion war so glücklich und gleichzeitig traurig über unseren Abschied aus dem Dorf. Nie werde ich ihr Gesicht von damals vergessen. Aber es ist ihr noch nie leicht gefallen, sich von jemandem zu trennen. Marion brauchte viel Liebe. Ich war immer bemüht, mich um sie zu sorgen, bis dann eines Tages…“ Die Stimme wurde immer leiser. Vivien konnte nichts mehr verstehen. „Kapitän Letticeworth? Charles? Wo sind sie? Bleiben sie bei mir! Ich brauche ihre Hilfe, was ist damals passiert?“ rief sie ins Dunkel, doch sie bekam keine Antwort. Vivien nahm den kleinen goldenen Käfer und steckte ihn in ihre Tasche.
Was sollte sie nun machen? Nochmals holte sie die Notiz von Letticeworth aus der Tasche, doch sie brachte keine neuen Ideen zum Vorschein. Der Spiegel war umgehängt, der Schatz war gefunden. Aber es sollte doch noch einen zweiten Schatz geben! Vivien verließ die Kammer und ging hinüber zur zweiten Tür mit den Intarsien im Ebenholz. Sie war nach wie vor verschlossen. In der Notiz hieß es, Charles´ Ehefrau wüsste, wie die Tür zu öffnen sei. Aber wo sollte Vivien Marion finden, geschweige denn Kontakt aufnehmen? Ihr blieb keine andere Wahl, sie musste das Schiff nochmals komplett absuchen. Vielleicht hatte sie irgendwelche Hinweise übersehen.
Beim Rundgang über das Unterdeck wurde Vivien klar, dass sie schon längere Zeit gegen ihren Willen auf diesem Schiff festgehalten wurde. Alles, was ihr zuerst noch Angst gemacht hatte, schien nun normal. Das Flackern der Kerzenleuchter schreckte sie längst nicht mehr. Daher bemerkte sie auch nicht, dass das Knarren der Bohlen und der Seegang beträchtlich zugenommen hatten. Vivien schaute durch die Räume auf der Steuerbordseite. Die Gerümpelkammer bot noch immer keine weiteren Aufschlüsse. Die Staubschicht auf den Truhen und Fässern ließ Vivien schnell aus dem Zimmer verschwinden. Die Kabine des Kapitäns war ohne den Spiegel verschwunden. Ich werde, wenn ich wieder drüben bin, den Spiegel mitnehmen und wieder hier hinhängen, nahm Vivien sich vor. Vielleicht birgt die Kapitänskajüte ja doch noch mehr Spuren. Als nächstes kam sie wieder in ihre eigene Kabine. Vivien setzte sich auf das Sofa und dachte nach.
Was weiß ich denn bis jetzt? Als junger Mann erbte Charles Letticeworth von seinem Vater dieses Schiff, die Letitia. Danach musste er sich auf Abenteuerreise begeben haben. Weshalb sonst wäre er in Afrika gelandet? In Afrika hat Charles dann seine Frau Marion kennen gelernt und sie haben einen Sohn bekommen. Cedric, ganz offensichtlich. Nach einigen Jahren haben sie Afrika verlassen und sind nach England gezogen. Im Jahre 1902 hat Charles Letticeworth den Auftrag für die Überführung eines Schatzes aus Afrika nach England von der Queen erhalten. Zusammen mit Cedric hat er sich auf die Reise begeben, während Marion in England geblieben ist. Zwischen dem 3. Oktober 1902 und dem 16. Januar 1903 musste dann etwas passiert sein, was das Familienglück getrübt hat. Dann kamen die Mordfälle ins Gespräch. Am 7. September 1903 wurde Charles Letticeworth ermordet, obwohl für die Öffentlichkeit aus irgendwelchen Gründen Selbstmord als Ursache geschildert wurde. Plötzlich meldete sich Viviens Gedächtnis zu Wort. „Wussten sie eigentlich, dass ein Junge ertrunken ist? Ein Jahr, bevor die anderen beiden umgebracht wurden?“ Mary Riley hatte es doch deutlich genug gesagt, oder zog sie voreilige Schlüsse? Scheinbar war Cedric Letticeworth ertrunken. Aber das hieße, nach der Aussage von diesem Matrosen… Nounes hieß er. Das hieße, dass alle Todesfälle, der von Cedric Letticeworth, Charles Letticeworth, Victoria Norton und Daniel Baker auf seltsame Weise verknüpft waren. Und vielleicht war auch ihr eigener, Vivien Glooms Mord eine Folge in dieser Kette. Und wenn sie diese Kette erklären könnte, herausfinden könnte, wer der Mörder war und warum all diese Morde begangen wurden, was damals, zwischen dem 3. Oktober 1902 und dem 7. Oktober 1903 wirklich passiert war, würde sie dann vielleicht von diesem verfluchtem Geisterschiff erlöst werden? Waren diese Ereignisse von damals vielleicht das Unrecht, von dem der Geist des Kapitäns auf der Brücke gesprochen hatte? Sie war jetzt auf einer heißen Spur, die sie weiter verfolgen musste. Entschlossen stand Vivien auf und verließ ihre Kabine. Draußen im Gang hörte sie eine klägliche Frauenstimme sprechen. Sie sah sich um, konnte aber die Sprecherin nicht ausfindig machen. „Kommen sie! Kommen sie in mein Zimmer. Sehen sie, welches Leid über unsere Familie gefallen ist. Der blutige Spiegel wird es ihnen erzählen. Kommen sie! In mein Zimmer, den Schlüssel haben sie bereits!“

Kapitel 8 – Schuldgefühle & Verdachtsmomente
Vivien wagte erst gar nicht, nachzufragen. Sie wusste, dass die Stimme verschwunden war und ihr nicht antworten würde. Sie konnte jedoch etwas anderes wahrnehmen, ein leises Rauschen.
War es die Anwesenheit des Bösen, die sie spürte? Vivien verließ ihr Zimmer und ging auf den Flur. Noch immer war das Rauschen zu hören. Auf dem Korridor schien es sogar noch lauter zu sein als im Zimmer. Es klang wie das Rauschen des Meeres. Vivien ging nochmals in ihre Kabine und schaute durchs Bullauge. Nein, obwohl es draußen ziemlich windig geworden ist und das Meer rauscht, höre ich hier drinnen ein anderes Rauschen. Es wird lauter, je weiter ich ins Innere gehe, meinte Vivien. Sie ging wieder auf den Korridor und versuchte, anhand der Lautstärke die Quelle des Rauschens ausfindig zu machen. Sie ging mehrmals den Gang auf und ab, bis ihr eine Idee kam. Die große Doppeltür, war sie immer noch verschlossen? Sie hatte sie die ganze Zeit außer Acht gelassen. Resignierend stellte Vivien fest, dass sie sich noch immer nicht öffnen ließ. Dann kam ihr ein zweiter Gedanke.
Ich habe dieses Geräusch schon einmal gehört. Wo war das nur? Beim afrikanische Zimmer! Sie verließ den Korridor, wandte sich in der Empfangshalle herum und lief den anderen Flur hinunter. Das Rauschen war hier viel lauter als im anderen Flur. Zielstrebig ging sie zum afrikanischen Zimmer, blieb jedoch auf dem Weg dorthin stehen. Es gab keinen Zweifel, woher das Rauschen kommen musste. Es kam aus der vorletzten Kabine auf der rechten Seite. Aus dem Inneren des Raumes drang ein Leuchten, kein stilles, sondern ein wildes Flackern der hellsten Lichter. „Kabine 5c, Ma…“; der Rest war nicht zu erkennen. Mit dem Ärmel wischte Vivien über das Messingschild. Es war nur eine dicke Staubschicht, die es bedeckte. Der volle Name des Bewohners kam zum Vorschein: Marion Letticeworth. Vivien fühlte sich vor den Kopf gestoßen. Ich war hier doch schon mal. Habe ich nicht erkannt, dass es nur eine Dreckschicht war, die das Schild bedeckte? Auch vorher kam dieses geheimnisvolle Rauschen und Knistern aus dem Raum. Nur das blitzende Licht ist neu. Was mag das sein, fragte sie sich.
Wie war die Tür zu öffnen? Sie hatte keinen Knauf und keine Klinke, nicht einmal ein Schlüsselloch. Vivien war sich sicher, dass dies das Zimmer der Person war, die gerade zu ihr gesprochen hatte. Es war Marion, die sie gebeten hatte, in ihr Zimmer zu kommen. Den Schlüssel habe sie bereits, hieß es. Aber was für ein Schlüssel sollte das sein? Vivien dachte an die Notiz des Kapitäns. Dann stieß sie mit der Hand gegen ihre Stirn. Vivien, du dumme Göre. Siehst du nicht direkt vor dir das Relief des Käfers? Ein Käfer mit ausgebreiteten Flügeln. Das sollte dir doch eigentlich bekannt vorkommen. Kopfschüttelnd über die eigene Begriffsstutzigkeit holte sie den Goldskarabäus aus ihrer Tasche und setzte ihn in die Vertiefung in der Tür ein. Er passte perfekt. In diesem Moment erlosch das Licht aus dem Zimmer. Auch das Rauschen wandelte sich in ein unheimliches Knistern, als würde in dem Zimmer etwas brennen. Mit der Tür ging eine seltsame Wandlung vor sich. Vom Skarabäus gingen goldene Stäbe strahlenförmig aus; wie Flüsse liefen sie in Schnörkeln und wilden Verzierungen auf den Türrahmen zu und hatten bald die Tür wie wilder Efeu bedeckt. Dann brach das Feuer durch. Zuerst war es nur ein schwarzer Fleck, der sich auf der Holztür abzeichnete, dann brannte innerhalb kürzester Zeit die ganze Tür lichterloh. Vivien trat einige Schritte in den Gang zurück, um sich vor den Funken zu schützen. Dann sah sie, wie es wieder dunkel im Gang wurde. Das Feuer musste erloschen sein. Sie trat wieder an den Raum heran. Die Tür war komplett verbrannt, ein kleines Häufchen Asche bedeckte den Boden. Dennoch war Vivien der Zutritt zum Raum verwehrt, denn die goldenen Ranken versperrten jetzt den Durchgang. Sie konnte gerade mal hindurchsehen, erkannte jedoch, dass das Feuer im Inneren keine Verwüstung angerichtet hatte. Es schien, als hätte es nie dort gebrannt. Nichts war mehr von der Hitze zu spüren, die hier eben gewütet hatte, kein Geruch von Qualm oder Glut. Dennoch war Vivien unzufrieden. Wie sollte sie in den Raum hineingelangen? Sie betrachtete immer noch den Skarabäus, der in der Mitte des Rankengewirrs thronte. Ich nehme ihn wieder mit, wenn es geht. Ich will nicht, dass dieser wertvolle Schatz einfach so hier herumliegt, so dass ihn jeder mitnehmen kann. Sie versuchte, den Skarabäus mit den Fingern zu lösen. Sie wackelte daran herum, bis die Fassung schließlich nachgab. Behutsam entfernte Vivien den Käfer aus der Konstruktion. Dadurch fingen die Ranken an, sich aufzulösen. Sie wurden allesamt grau und zerfielen zu Staub. Vivien steckte den Skarabäus wieder ein, der Weg in Kabine 5c war nun frei. Jetzt würde sie endlich sehen, welche aufschlussreichen Informationen Marion Letticeworth zu diesem Fall hatte.
Etwas hielt Vivien vom Betreten des Raumes ab. Ein seltsames Gefühl beschlich sie. Warum hatte Marion Letticeworth eine Kabine auf diesem Schiff? Bis jetzt schien es so, als hätten die Opfer dieser Mordserie ihre Kabine auf dem Schiff bekommen. War etwa auch Mrs Letticeworth ermordet worden? Die Antwort liegt in diesem Raum, ich bin ganz sicher, dachte Vivien. Das Rauschen war verschwunden. Auch flackerte es in dem Zimmer nicht mehr, es wurde jetzt durch den Schein zweier Kerzen auf dem Nachttisch neben einem Himmelbett erhellt. Die Kerzen brannten mit blauer Flamme, es war also kein helles Licht. Dennoch sah Vivien, wie liebevoll die Kabine eingerichtet war und dass in der Mitte ein großer Spiegel stand. Er hatte eine schwarze Spiegelfläche, wie Obsidian oder Onyx, blitzblank poliert. Zu ihrer Linken erkannte Vivien eine Tür. Sie würde wohl ins afrikanische Zimmer führen, dachte sie bei sich. Wahrscheinlich ist sie verschlossen. Vivien betrachtete den Nachttisch. Außer den Kerzen stand nichts darauf. Sie hoffte, in den Schubladen ein Tagebuch oder vielleicht Notizen von Marion zu finden, doch sie wurde enttäuscht. Die Schubladen waren leer. Einzig und allein eine dünne Goldkette mit einem Anhänger und eine zerrissene Seite fanden sich in der untersten Schublade. Der Anhänger war in der Mitte durchgebrochen. Er stellte wohl einen Schutzengel mit weit ausgebreiteten Flügeln dar. Daneben lag ein Briefumschlag mit der Aufschrift: „Für meine geliebte Ehefrau – auf dass wir nie getrennt werden.“ Offensichtlich war die eine Hälfte des Anhängers für Charles, die andere für Marion bestimmt gewesen. Aber wenn dies hier Marions war, wo konnte dann die Hälfte von Charles sein? Vivien steckte den Anhänger in die Tasche. Die Seite war offensichtlich aus einem Buch gerissen.
Nur ich weiß, wie die zweite Schatzkammer geöffnet wird. Es ist keine Frage von Schlüsseln oder geheimen Kombinationen. Das wäre zu einfach. Ein wahrer Geniestreich, den wir in Afrika gelernt haben, lässt einen diese Tür durchschreiten. Der Glaube daran, dass es gelingt, muss sehr stark sein. Erst wenn die Tür sich vor den Augen des Betrachters teilt, ist sie wirklich offen.“ Wie bitte? Das ist mir zu kompliziert, dachte Vivien und wandte sich dem Spiegel zu. Die Notiz steckte sie aber zur Sicherheit in ihre Hosentasche.
Marions Geist sagte, der Spiegel würde mir alles erzählen. Aber es ist nichts zu sehen, er ist einfach nur schwarz. Wie kann er mir verraten, was damals geschah, wunderte Vivien sich. Sprach der Geist nicht von einem blutigen Spiegel? Was meinte er damit? Sie ließ ihren Blick durch die Kabine wandern. Keine Hinweise ließen auf die Bedeutung dieses Satzes schließen. Vivien kniete auf den Boden und schaute unter das Bett. Dort stand ein alter, verrosteter Eimer. Er enthielt offensichtlich etwas, denn er war ziemlich schwer und er roch seltsam. Ein unangenehmer, fauliger Geruch. Vorsichtig zog sie den Eimer hervor und schaute hinein. Beim ersten Anblick wurden ihr die Knie weich. Der Eimer war voller Blut. Vivien musste würgen. Nicht auszudenken, woher dieses Blut wohl kam! Dennoch war es wohl der einzige Weg, das Rätsel des Spiegels zu lösen. Sie tauchte einen Finger in das Blut und wischte damit über den Spiegel. Dort, wo das Blut die schwarze Oberfläche benetzte, schien sich ein Bild zu formen. Sie konnte einen kleinen Ausschnitt eines Bildes sehen, das sich bewegte. Ich habe wohl keine andere Wahl, sagte sie sich und nahm den Blecheimer in beide Hände. Mit einem Schwung goss sie das Blut über den Spiegel und beobachtete, was geschah.
Aus einer Rauchwolke entstand das Bild. Es war gestochen scharf und zeigte die „Letitia“ an einem sonnigen Tag auf einer ihrer Reisen. Kapitän Letticeworth stand auf der Brücke. Dann konnte Vivien einen Blick auf das Schiffsdeck werfen. Cedric Letticeworth spielte dort, rannte von einer Seite zur anderen und versuchte, einigen Möwen hinterherzujagen. Dann konnte Vivien zwei junge Leute sehen; offensichtlich waren es Daniel Baker und Victoria Norton, denn sie küssten sich leidenschaftlich hinter einem Stapel von Kisten und Fässern. Ein paar Matrosen unterhielten sich am Heck des Schiffes. Niemand schien auf Cedric zu achten. Dieser ging mittlerweile auf einer Planke auf und ab und übte, zu balancieren. Der Wind füllte die Segel voll aus. Plötzlich kam eine starke Bö, die den Jungen von der Planke riss und ins Meer stürzte. Keiner merkte etwas. Einige Zeit später rief der Kapitän etwas über seine Schulter. Als nichts geschah, rief er ein zweites Mal. Scheinbar hatte er nach seinem Sohn gerufen, denn als er keine Antwort bekam und nach hinten aufs Deck lief, mit dem Pärchen sprach und diese nur ahnungslos den Kopf schüttelten, brach er kurze Zeit später unter Tränen zusammen. Dann wechselten die Bilder in schneller Reihenfolge. In einem Hafen erschienen mehrere Fischboote, jeder der Bootsleute konnte gegenüber Letticeworth jedoch nur betrübt den Kopf schütteln. Dann sah man Charles und Marion in einem Salon sitzen; Marion brach ebenfalls, als sie die Nachricht hörte, zusammen. Dann sah man, wie Charles Letticeworth mit einer großen, blutenden Wunde in der Brust auf einem Feld lag und viele Menschen herbeiliefen. Das gleiche Schicksal widerfuhr dem Liebespärchen. Die nächste Szene zeigte einen Gerichtssaal, Marion Letticeworth als Angeklagte und eine Frau ungefähr in ihrem Alter als Zeugin. Der Hammer fiel, Marion weinte bittere Tränen. Dann sah man Marion mit verbundenen Augen an einer Wand stehen. Ein Vivien unbekannter Mann hielt einen Revolver in der Hand und drückte ab. Dann wurde das Bild abrupt schwarz und der Spiegel zersprang in unzählige Teilchen.
Vivien war überwältigt von der Flut der Bilder, die auf sie eingestürmt war. Sie wünschte sich, alles noch einmal sehen zu können, aber der Spiegel war zerbrochen. Nun wusste sie, was passiert war und konnte alle Puzzleteile von damals an ihren Platz setzen. Damals, auf der letzten Reise der Letitia, mit dem Schatz der Königin an Bord, ist der kleine Letticeworth ertrunken. Beim Spielen ist er von Bord gefallen, ohne dass einer etwas bemerkt hatte. Genau das habe ich doch in meinem Traum gesehen! Jedes Mal das Kind, dem ein Unglück geschieht, während die anderen wegschauen! Vivien fiel es nun endlich wie Schuppen von den Augen. Dann stutzte sie. In Ordnung, nun weiß ich was damals passiert ist. Jetzt weiß ich, was Mary Riley meinte, als sie sagte, dass ein kleiner Junge ertrunken ist, bevor die beiden anderen starben. Mein Gott! Daniel Baker – er war doch mit der Aufsicht des Jungen betreut. Ob er sich nicht Vorwürfe gemacht hat? Ich muss noch einmal in seine Kabine schauen, dachte Vivien und ging zur Nachbarkabine.
Das Schild an der Tür hatte sich jedoch verändert. Es stand nicht mehr der Name „Daniel Baker“ daran; „Kabine 8c, Victoria Norton, Au-pair-Mädchen“ war dort zu lesen. Verwirrt betrat Vivien die Kabine, die sich komplett verwandelt hatte. Das Fotolabor war verschwunden. Bis auf die Fotos, die sie in die Tasche gesteckt hatte, hatten sich alle Bilder scheinbar in Luft aufgelöst. Die verdorrte Pflanze stand nun in einer anderen Ecke; noch während Vivien in das Zimmer trat, blühte sie zu kräftigem Grün auf. Das Zimmer war nun eher spartanisch eingerichtet. Wahrscheinlich hat man damals als Au-pair-Mädchen nicht allzu viel verdient, vermutete Vivien. Zielstrebig ging sie zu einem kleinen Tisch, auf dem ein Bild mit einem Rahmen und ein Briefbeschwerer lagen. Das Bild zeigte dasselbe junge Mädchen, das auf dem Foto mit Kapitän Letticeworth und Cedric zu sehen war. Es musste sich dabei um Victoria Norton handeln. Das Glas, das einst das Foto schützte, war zerbrochen. Auf dem Boden neben dem Tisch lagen noch einzelne Splitter verteilt. Der Briefbeschwerer war ein kleiner Jadeelefant. Er stand auf einem kleinen Stapel Briefen. Als Vivien den Elefanten herunternahm, ertönte die zarte Stimme einer jungen Frau, leicht verunsichert und unglücklich.
Liebster Daniel! Ich schreibe dir diese Zeilen, weil ich eine Schulter brauche, die mich stützt in meiner Not und eine Hand, die mich führt in meinem Irren. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich wünschte, ich wäre damals nie mit auf die Reise gekommen. Dann hätte ich nie auf diesen Jungen aufpassen müssen, hätte nie meine Pflicht vernachlässigt und müsste mich nicht mit meinem Gewissen herumplagen. Aber andererseits hätte ich dich dann nie kennen gelernt, meinen kleinen Fotografen. Wäre nur unser Verlangen damals nicht so unendlich gewesen, hätten wir uns auf der Rückreise nur bändigen können! Wir hätten so viel Zeit gehabt, zu hause all die Dinge tun zu können, nach denen unser Gemüt verlangte. Warum nur waren wir so töricht und haben uns gehen lassen? Ich quäle mich jetzt Tag und Nacht mit meiner Schuld. Ich habe den kleinen Jungen getötet. Sicher war ich es nicht selbst, doch meine Unachtsamkeit war so grenzenlos, dass er dafür bezahlen musste. Hilf mir, mein Geliebter! Sag mir, was ich tun kann, um mein Gewissen zu erleichtern!“
Nachdem die Stimme verhallt war, betrachtete Vivien den Brief. Es war eine Antwort auf die Klage von Victoria.
Meine liebste Vicky, Königin der Seerosenblüten! Du machst Dir zu viele Vorwürfe, zu viele Gedanken um alles, was damals geschehen ist. Deine Tränen werden nicht von heute auf morgen trocknen, aber das ist ganz natürlich. Es ist verständlich, dass Du dich schuldig fühlst, aber sei Dir immer bewusst: Du trägst nicht die Schuld. Sie trifft nicht Dich noch mich, niemand kann etwas dafür, dass der Junge so leichtsinnig war und an Deck gespielt hat. Niemals hätte Charles Letticeworth seinen Sohn auf die Reise mitnehmen sollen. Er hätte wissen müssen, dass das Kind nur Unfug treibt. Bitte lass Dir die Tage nicht verderben von den Gedanken an etwas, dass Dich nicht betrifft. Vergiss, was damals passiert ist!“
Vivien legte den Brief betroffen zur Seite. Wie konnte dieser Baker nur so denken! Er hat doch schließlich das Kind total vernachlässigt, obwohl er den Auftrag hatte, sich um den Jungen zu kümmern. Zumindest seine Geliebte hätte auf ihn aufpassen sollen. Konnte er sich denn nicht in ihre Lage versetzen? Wieder ertönte Victorias Stimme.
Daniel, wie kannst du so reden? Es ist alles meine Schuld. Der Kapitän hat mir vertraut, er hat mir das Leben seines Sohnes anvertraut, es in meine Obhut gegeben, und ich habe meine Aufgabe schändlich außer Acht gelassen. Wir hatten ein paar schöne Stunden auf dem Schiff, aber zu welchem Preis? Siehst du noch die Tränen seiner Frau? Ihr schmerzerfülltes Gesicht? Die unendliche Trauer, die sie ausstrahlte? Warum nur kannst du nicht empfinden, welch einen Verlust diese Frau erlitten hat? Ich weiß nicht, ob ich meine Schuld je ungeschehen machen kann. Bitte verzeih mir, Geliebter, aber ich brauche jetzt die Einsamkeit. Ich werde dir schreiben, wenn ich wieder zu mir selbst gefunden habe. Deine Vicky.“
Vivien entfaltete das zweite Papier, das sie in der Hand hielt. Es enthielt nur einen Satz:
Werde ich Dich je wiedersehen?“
Darunter befand sich noch ein Brief, der aber quer durchgerissen war. Die erste Hälfte fehlte.
„…sind jedoch, das sehe ich jetzt ein, nicht allein verantwortlich für das, was sie getan haben. Ich hätte meinen Sohn niemals mit auf die Reise gehen lassen dürfen. Auch denke ich, dass ihre Selbstvorwürfe Strafe genug für sie sein werden. Ich denke, dieser Angelegenheit ist Genüge getan, wenn wir uns gegenseitig aus dem Gedächtnis streichen. Das ist für uns das Beste. Marion Letticeworth, 27. März 1903“
Was hatte das zu bedeuten? Vivien dachte angestrengt nach. Dann fiel ihr das Zimmer des Reporters ein. Die Akte zum Fall Letticeworth. Der Beweis, den sie gefunden hatte. Man hat den ersten Teil des Briefes als Beweis verwendet. Als Beweis gegen Marion Letticeworth. Es hieß: „Sie werde für das, was sie getan haben, büßen.“ Man hat das also so gedeutet, dass Marion Letticeworth aus Rache für den Tod ihres Sohnes Victoria Norton und ihren Geliebten ermordet hat. Deshalb wurde Marion Letticeworth hingerichtet. Hätten die Polizei damals doch nur die zweite Hälfte des Briefes gefunden! Sie war offensichtlich gar nicht rachsüchtig gewesen! Offensichtlich hat man die Falsche hingerichtet, denn das Morden ging weiter. Mein eigener Tod ist dafür Beweis genug, dachte Vivien. Wieder meldete sich Viviens Stimme aus dem Dunkel.
Geliebter Daniel! Ich brauche dich. Bitte triff mich dort, wo wir glücklich waren. In einer Woche. Victoria, 30. September 1903“
Das war eine Woche vor dem Mord! Bei ihrem Treffen müssen sie getötet worden sein. Vivien spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Warum nur musste das Schicksal so grausame Wege gehen! Nach so langen Monaten meldete Victoria sich endlich wieder bei ihrem Geliebten, dann endlich das lang ersehnte Wiedersehen… Vivien dachte an den Zeitungsartikel zurück. Sie hatten sogar vor, zu heiraten! Und dann dieser grausame Mord! Es war alles so ungerecht. Doch eines wurde Vivien in diesem Moment klar. Die Büchse der Pandora war geöffnet. Vivien würde den Täter ausfindig machen, denn endlich zeigten sich die ersten Lichtstrahlen im Dunkel. Von draußen hörte sie ein lautes Knarren.
Vivien glaubte, kurz darauf unendlich viele Stimmen von irgendwoher zu hören. Dann war sie sich sicher: Die Stimmen kamen aus dem Korridor. Sie verließ Kabine 8c, um den Grund für die Geräusche herauszufinden. Sie musste sich nicht lange umsehen. Genau gegenüber hatte sich die große Doppeltür einen Spalt nach innen geöffnet. Ob das von dem starken Wellengang kommt? Der Sturm hatte gewaltig zugenommen. Viviens Herz klopfte schneller. Nun endlich würde sie erfahren, was sich hinter diesen Türen verbarg. Sie schloss die Tür zur Kabine hinter sich und öffnete die Flügeltür ein Stück weiter. Gespannt und auch ein wenig zögernd betrat Vivien eine große Halle. Sie konnte sehen, dass sie noch zwei weitere Ausgänge hatte, eine Tür gegenüber und eine am linken Ende. Das sind dann wohl die Türen, die in den anderen Korridor und in die Empfangshalle führen, dachte Vivien sich.
Am rechten Ende der Halle schmückte ein großer Kamin die Wand. Über dem Kamin befand sich eine riesige, prachtvolle Uhr. Ansonsten waren die Wände rundum mit Ritterrüstungen und Statuen in bunter Reihenfolge gemischt. Über jeder Statue und jeder Rüstung hing ein Gemälde. Darauf waren die Portraits verschiedener Menschen abgebildet. Viviens Blick wanderte an die Decke. Sie schien erstaunlich hoch, eigentlich ließ dieses Schiff solche Ausmaße gar nicht zu. Zwei große Kronleuchter hingen herab und schenkten dem Raum Licht. Zwischen ihnen schienen unzählige Schatten herumzuschweben. Parkettfußboden unterstrich die würdige Ausstrahlung der Halle. Vivien ging herum und betrachtete die Gemälde, da die Statuen und die Rüstungen alle gleich aussahen. Jede Statue hatte eine Leidensmiene und war gekrümmt, als trüge sie eine zentnerschwere Last. Jede der Rüstungen stand aufrecht und hielt ein Schwert vor sich. Die Gemälde waren da schon aufschlussreicher. Einige der Personen kamen Vivien erstaunlich bekannt vor. Da waren unter anderem Marion und Charles Letticeworth abgebildet, Cedric, Victoria Norton und Daniel Baker sowie viele andere Menschen, die Vivien nicht kannte. Auf einmal erschrak sie. Ein Gemälde zeigte ihr eigenes Porträt. Vivien Gloom. Es war jedoch im Gegensatz zu den anderen Bildern ziemlich verschwommen, als sei Wasser darüber gelaufen. Was hat mein Bild hier zu suchen, und warum ist es so undeutlich, fragte sie sich. Auf die Antwort musste sie nicht lange warten. Hinter ihr rauschte es ein wenig und ein blaues Leuchten lenkte Viviens Aufmerksamkeit auf sich.
Das fragen sie sich noch immer? Ich dachte, sie müssten mittlerweile wissen, was hier auf diesem Schiff gespielt wird und warum sie hier sind. Ich habe mich nicht vorgestellt, entschuldigen sie bitte. Mein Name ist Victoria Norton. Ich bin vor Jahrzehnten gestorben, ebenso wie mein Verlobter. Ich wünschte, ich könnte ihn wiedersehen, aber auf diesem Schiff sind die Chancen darauf sehr gering.“ Vivien unterbrach den Redefluss ihres Gegenübers. Endlich hatte sie mal die Möglichkeit, mit einem Zeitzeugen zu reden. „Victoria, sie müssen mir helfen. Ich weiß nicht, was hier gespielt wird. Ich habe mittlerweile eine ganze Menge über diesen Mordfall erfahren, aber was habe ich damit zu tun?“ „Sie sehen all diese Bilder hier?“ fragte Victoria. „Sie stellen alle Menschen dar, die im Laufe der Jahrzehnte mit dieser Angelegenheit in Kontakt gekommen sind. Daher ziert nun auch ihr Gemälde die Wand, sie sind ja auch umgebracht worden.“ „Woher wissen sie das?“ wollte Vivien wissen. Victoria seufzte. „Weil alle es gesehen haben. Wir waren mit dem Schiff zu der Zeit doch direkt bei ihnen. Sie haben uns nicht sehen können, weil, wie sie bereits wissen, der Kontakt zwischen Geistern fast unmöglich ist.“ „Das habe ich verstanden. Deswegen müssen wir zum Punkt kommen. Hat Marion Letticeworth sie ermordet oder nicht? Schließlich ist sie dafür hingerichtet worden, mit handfesten Beweisen, zumindest aus den Augen der Polizei.“ Victoria schüttelte den Kopf. Ihre langen Haare wallten wie in Zeitlupe auf. „Sie spielen bestimmt auf den Brieffetzen von Mrs Letticeworth an. Die Wahrheit ist, dass die Polizei den ganzen Brief gehabt hat. Damit hatten sie keinen Verdächtigen. Die Polizei wusste ja nicht einmal, dass damals dieser Unglücksfall passiert ist. Die wussten nur von dem Mord an Daniel und mir und an Mr Letticeworth. Wenn da nicht diese blöde Mrs Riley gewesen wäre und diese Andeutung gemacht hätte. Da konnten sich die Beamten natürlich eine schöne Geschichte zusammenbasteln und Mrs Letticeworth belasten. Sie hätte Daniel und mich aus Rache für den Tod ihres Sohnes umgebracht. Den Brief habe sie einfach an einer passenden Stelle durchgerissen, Hauptsache, der Fall war abgehakt. Und Charles Letticeworth haben sie als Selbstmord vom Tisch gefegt. Das hätte nämlich nicht in das Schema gepasst. Eine Ungerechtigkeit war das damals, und sie ist nie gesühnt worden. Das Morden geht weiter, und solange das Rätsel nicht gelöst ist, werden alle Opfer der Mordserie ein trostloses Zuhause auf diesem verfluchten Schiff finden. Sie sehen doch die große Uhr über dem Kamin? Charles Letticeworth hatte sie nur zur Zierde anbringen lassen. An dem Tag jedoch, als er ums Leben kam, begann sie zu ticken. Unendlich langsam, möchte man meinen, denn in den vergangenen hundert Jahren ist sie erst ein paar Stunden weitergelaufen. Mittlerweile weiß ich, dass diese Uhr das Schicksal aller Seelen auf diesem Schiff anzeigt. Tage und Nächte spielen hier keine Rolle mehr, auf diesem Schiff gilt eine andere Auffassung von Zeit. In ungefähr zwei Tagen wird diese Uhr hier zwölf schlagen. Dann ist unser Schicksal besiegelt. Wenn wir den Mörder bis dahin nicht entlarvt und alles Unrecht gerächt haben, werden unsere Seelen in der Hölle landen. Dann hätte der Täter sein Ziel erreicht. Wenn das Rätsel aber rechtzeitig gelöst wird…“ Vivien war schockiert. Dann bemerkte sie, wie der Geist von Victoria langsam verschwamm. „Victoria! Bleiben sie!“ „Ich kann nicht, es zieht mich wieder weg. Sie müssen das Rätsel lösen. Denken sie daran: Ihr Gemälde ist noch unklar, sie haben die Chance, dieses Schiff zu verlassen, wenn sich alles aufklärt. Dann wird ihre Seele in den Himmel gelangen, während wir im Fegefeuer enden. Retten sie sich, es ist ihre letzte…“ Nachdem die Stimme immer leiser geworden war, war sie zuletzt ganz verschwunden.
Nichts mehr zeugte von dem Auftreten des Geistes. Vivien war verwirrt. Sollte sie froh sein oder traurig? Sie hatte die Möglichkeit, alles zu klären, aber nur, um ihre Seele dann erlöst zu wissen? Damit war sie dann endgültig tot, nie mehr würde sie… Ich darf darüber nicht nachdenken! Das bringt mich nur auf dumme Ideen. Vivien, willst du etwa bis in alle Ewigkeit auf diesem Schiff spuken? Erlösung ist dein Ziel, also finde heraus, wer die Schuld an allem trägt! Mein Gott! Sie schaute zu den Gemälden. Aus dem Nichts erschienen zwei neue Gemälde, darunter eine Statue und eine Rüstung. Die Bilder zeigten Tim und Sally. Sie waren also wirklich umgebracht worden. Aber sie waren doch unschuldig! Und warum waren ihre Portraits so deutlich? Ob das vielleicht damit zusammenhing, dass sie selbst aus der Parallelwelt stammte? War ihr Geist stärker als der ihrer Wohnungsnachbarn? Ich werde diese Taten beenden, koste es, was es wolle. Nicht, damit ich befreit werde, sondern damit dieser Irre aufhört, total unbeteiligte Menschen zu töten. Vivien seufzte auf. Ich höre mich an wie jemand aus so einem schlechten Film.
Ihr rechtes Bein knickte ein. Der Boden begann mit einem Mal, gefährlich zu schwanken. Vivien hatte Mühe, auf den Beinen zu bleiben. Das Unwetter draußen tobte erbarmungslos. Ein metallenes Geräusch ließ sie aufhorchen. Sie schaute nach oben und konnte sich im letzten Moment mit einem beherzten Sprung vor dem herunterfallenden Kronleuchter retten. Er zerbarst mit einem ohrenbetäubenden Scheppern. Der andere Leuchter an der Decke war erloschen. Es war urplötzlich stockduster in der großen Halle. Vivien spürte einen starken Luftzug durch ihr Haar wehen. Dann geschah etwas Unglaubliches. Auf dem Teppich erschien eine Spur auf kleinen Feuern. Brennende Fußspuren, die sich langsam ausbreiteten. Sie führten zum Ausgang in die Empfangshalle. Vivien folgte den Spuren mit einem unbehaglichen Gefühl.
Sie führten sie direkt in die Empfangshalle. Auch hier war es dunkel bis auf die flammenden Schritte. Vivien vermutete, dass sie an Deck laufen würden. Tatsächlich! Schritt für Schritt wanderte das Feuer auf die Treppe zu. Eine Spur nach der anderen. Dann jedoch rechts an der Treppe vorbei. Wie? Sie führten hinter die Treppe und dann auf die Wand unter der Treppe zu. Dort endete die Spur. Sie endete direkt vor einer Tür. Ein Raum? Genau unter der Treppe? Ich muss ihn übersehen haben. Ob er auch abgeschlossen ist? Vivien drückte die Klinke herunter. Die Tür sprang nach innen auf. Schwaches Licht zeigte das Innere der Kabine. Vivien konnte nicht ausmachen, woher das Licht kam. Es war ein Funkraum. Nur ein einziger Schreibtisch und ein Stuhl davor befanden sich in dem kleinen Zimmer. Auf dem Schreibtisch stand ein Funkgerät. Es sah ziemlich zerstört aus, gab aber dennoch Geräusche von sich, die Vivien nicht entschlüsseln konnte. Eine Lampe leuchtete schwach auf. Das Schiff wankte bedrohlich. Vivien setzte sich auf den Stuhl. Sie konnte erkennen, dass ein Funkspruch ankam. Die Apparatur setzte die Signale gleich in Buchstaben um, so dass auf einem kleinen Ausdruck der Funkspruch zu lesen war.
Hier spricht die MS Lightwater. Sie befinden sich mit uns auf Kollisionskurs! Können sie uns verstehen? Weichen sie aus und setzen sie Positionslampen!“ Der Ausdruck lief noch weiter, aber Vivien war vor Schreck erstarrt. Sie werden uns rammen! Noch bevor sie etwas tun konnte, begann die kleine Lampe am Funkgerät immer stärker zu glühen. Immer heller wurde das Licht, wie damals, als sie Tim und Sally gefunden hatte. Vivien hielt eine Hand vor die Augen und verließ die Kabine. Sie schloss die Tür. Das helle Licht schien sogar durch die Ritzen am Rahmen der Tür. Wie Laserstrahlen zerschnitt es die Dunkelheit in der Halle. Es warf einen Rahmen aus Licht auf die gegenüberliegende Wand.
Von dem Anblick gefesselt, ging Vivien langsam auf die Wand zu. Der Gedanke, das Schiff umzulenken, war wie weggeblasen. Das Licht zeigte an der Wand eine Tür, die vorher unsichtbar war. Der Knauf war genau wie die Wand gemustert und aus der Ferne nicht zu erkennen. Vivien öffnete die Tür und betrat einen geheimen Gang.
Er war ziemlich finster. Vivien wusste nicht genau, wohin er führte. Er war schmal und ziemlich lang und verwinkelt. Dann geschah das Unausweichliche. Das Schiff geriet ins Trudeln, ein lautes Krachen ging durch die Bohlen. Das kam nicht mehr von dem Sturm. Das andere Schiff muss uns gerammt haben! Vivien wollte zurücklaufen, aber die Tür in die Halle war verschwunden. Wieder krachte es und Risse brachen ins Holz. Ein dünner Wasserstrahl traf Vivien ins Gesicht. Verdammt! In Panik rannte sie los, immer den Gang hinunter.
Er wurde mit der Zeit etwas heller, was Vivien aber nicht beruhigen konnte. Jetzt musste sie sehen, wie das leckgeschlagene Schiff langsam auseinander fiel. Das Wasser bedeckte langsam den ganzen Boden. Prompt rutschte sie auf dem rutschigen Untergrund aus und fiel der Länge nach hin. Panisch blickte sie hinter sich und rappelte sich auf. Dann rannte sie, mit einem Bein humpelnd, weiter.
Schließlich endete der Gang und Vivien fand sich in einem Raum wieder. Sie vermutete zumindest, dass es ein Raum sein musste. Es war alles schwarz, sie konnte nicht einmal mehr die Hand vor Augen sehen. Nachdem sie wenige Schritte in den Raum hineingegangen war, fiel ihr ein, dass sie vielleicht wieder zurückgehen und sich an der Wand entlang tasten sollte. Sie ging die paar Schritte rückwärts, suchte mit beiden Händen nach der Wand, doch da war nichts. Vivien schien mitten im Nichts zu stehen, es war keine Wand mehr da. Alles um sie herum war schwarz, und zu allem Übel stieg langsam aber sicher das Wasser im Zimmer. Bald stand ihr das Wasser bis zum Hals. Vivien fiel das Atmen schwer. Wohin sollte sie gehen, was sollte sie tun? Dann flammten aus dem Nichts unzählige Kerzenleuchter auf. Sie erhellten den Raum, Vivien konnte eine Art Thronsaal entdecken, in dem sie sich befand. Das Wasser stand mittlerweile meterhoch, dennoch befand sich die Decke in unendlicher Entfernung. Auf dem Thron ganz weit hinten konnte sie sehen, wie jemand darauf saß und winkte. Dann erfasste sie ein starker Sog.
Es war, als ob jemand den Stöpsel gezogen hatte. Vivien wurde in einen starken Strudel gezogen. Das ganze Wasser lief aus der pompösen Halle ab. Die Gestalt auf dem Thron schaute zu, wie Vivien von der Strömung erfasst wurde. Sie hielt die Luft an und tauchte unter. Dann ging es mit rasender Geschwindigkeit vorwärts. Durch eine riesige Höhle wurde sie gezogen, danach immer weiter in die Tiefe. Plötzlich endete das Wasser und Vivien fiel nach unten heraus in die Luft. Begierig sog sie die Luft ein und atmete tief durch. Während sie sich in der Luft befand, drehte sich alles um sie herum und sie fiel wieder herunter ins Wasser, wo sie weiter fortgeschleppt wurde. Dann merkte sie, wie das Wasser plötzlich zähflüssiger wurde. Es kam ihr vor, als tauchte sie durch Honig oder Creme. Immer fester wurde die Masse um sie herum. Erst wie Kleister, dann wie Knetmasse, bis alles schließlich wie Zement erstarrte. Vivien war gefangen und konnte sich keinen Zentimeter mehr bewegen. Sie konnte auch nicht mehr atmen. Bald wurde sie ohnmächtig.


Bis der Schlaf sie erneut ergriff…

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen