Montag, 12. März 2018

Das Schiff in der Nacht (Erster Tag)


Kapitel 3 – An Deck

Mit brummendem Schädel erwachte Vivien nach einiger Zeit. Sie lag mitten auf dem Deck des unbekannten Schiffes. Jegliches Zeitgefühl hatte sie verlassen; sie konnte nicht erahnen, wie viele Stunden sie schon dort gelegen hatte. Jedenfalls war es noch immer Nacht. Der Sturm hatte nachgelassen und die See war ruhig und ungetrübt, als wäre nichts geschehen. Der Vollmond schien hell auf die Holzplanken herab und die Sterne schmückten zahlreich das Himmelszelt. Trotz des Mittsommers war es eine ziemlich kühle Nacht. Vivien versuchte sich zu erinnern, was passiert war. Sie war ermordet worden – von einer vermummten gestalt. Aber das kann doch gar nicht sein, dann wäre ich ja jetzt nicht hier, schoss es ihr durch den Kopf. Sie rieb sich die Stelle, mit der sie an den Mast geschlagen war. Die Beule schmerzte noch immer. Langsam stand Vivien auf und sah sich um. Ein Schiff wie jedes andere, mit einer Brücke und Unterdeck und zwei großen Segeln. Die Segel! Jetzt konnte sie genau sehen, was mit ihnen nicht stimmte. Die Segel waren zerrissen und total verschmutzt, als wäre das Schiff durch einen schweren Sturm geraten. Aber sie war sich sicher, dass die Segel schon vor dem Sturm vorhin so aussahen. Ihr Blick schweifte weiter umher. Dann merkte sie, was fehlte: Die Besatzung!
Es war ihr schon an der Küste aufgefallen, wie düster das Schiff war, ganz ohne Positionslampen. Und es hatte sich auch nichts an Deck bewegt. Auch jetzt war niemand zu sehen. Unsinn, meinte Vivien zu sich selbst, es muss doch zumindest ein Kapitän auf diesem Schiff sein. Das kann ich gar nicht glauben, dass dieses Schiff ohne Kapitän auf dem Meer umhertreibt, ohne bereits zerschellt zu sein. Sie ging zur Brücke. Auf dem Weg dorthin bemerkte sie, dass alles auf dem Schiff so aussah, als sei es erst kürzlich verlassen worden. Sogar Eimer und Schrubber standen herum, Kisten, die offensichtlich Frachtgut enthielten und Fässer, die zum Teil geöffnet, zum größten Teil aber noch vernagelt waren. Die dunklen Holzplanken waren wohl aufgrund des Sturmes etwas feucht geworden. Das Schiff knarrte bedrohlich, während es sich sanft im Wellengang wiegte, als wolle es jeden Moment auseinanderbrechen. Mehrmals merkte Vivien, wie ein zarter Windhauch ihr um die Beine wehte. Aber es war nichts zu sehen. Vivien Gloom, du leidest doch jetzt nicht auch noch unter Verfolgungswahn, oder? Beherrsch dich, ermahnte sie sich. Noch immer spukte ihr das Bild ihres von der Lanze durchbohrten Ebenbildes durch den Kopf. Was war denn nun wirklich passiert? Und wer war diese Gestalt, die mich ermordet hat? Gedankenversunken erreichte sie den vorderen Teil des Schiffes, an dem eine Treppe hinauf zur Brücke führte und eine weitere Treppe hinunter ins Unterdeck. In der Hoffnung, zumindest einen Steuermann zu finden, schritt Vivien die Treppe hinauf.
Jegliche Erwartung wurde enttäuscht. Die Brücke war verlassen. Und dazu, wie auch der Rest des Schiffes, stockfinster. Nur das fahle, dennoch helle Mondlicht schien herein und erlaubte Vivien, einen Blick ins Innere zu werfen. Dort hing an einem Haken ein alter Mantel, das Steuerrad drehte sich ganz leicht hin und her und ein paar alte Karten und Notizen wehten von einem Schreibtisch herunter und in die Ecke des Raumes. Vivien betrachtete die Karten. Sie gaben keinen Aufschluss darüber, wie der Kurs des Schiffes sein sollte, welches sein Ziel war oder was überhaupt mit diesem Schiff los war. Sie ging zurück zum Schreibtisch. Dort lag noch ein altes Buch, leicht vermodert.
Sie konnte kaum die Schrift erkennen. ,Logbuch der Letitia´ stand dort geschrieben. Sie öffnete das Buch. Es war nur ein Eintrag ganz am Anfang zu lesen.
Der 3. Oktober: Ich bin sicher, dass dieses meine letzte Reise werden wird. Nicht, weil ich etwa zu alt bin, sondern weil ich mich mit der Belohnung, die wir von der Queen erhalten werden, endlich zur Ruhe setzen kann. Wir bringen einen Schatz nach Port Banish. Das ist ein langer Trip, aber bisher gab es keine Probleme. Auch heute ist das Wetter gut, die See angenehm. Ich habe Cedric mit auf die Reise genommen, damit er sieht, was sein alter Vater so macht und damit er vielleicht selbst die Reiselust entdeckt. Es ist schön mitanzusehen, wie er auf dem Deck spielt. Marion wartet zuhause sicher auf uns. Keine Sorge, meine Liebe, wir werden rechtzeitig ankommen. Davon gehe ich zumindest aus.“
Soso, Transport eines Schatzes also. Aber wie lange konnte das her sein? Nirgends stand ein anderes Datum als der 3. Oktober. Jetzt war es August. Vielleicht war das Schiff in ein Unwetter geraten und trieb jetzt seit fast einem Jahr orientierungslos auf dem Meer herum. Eine andere Erklärung konnte Vivien für dieses unheimliche Schiff nicht finden. Langsam gewöhnten sich ihre Augen immer mehr an das Licht. Vivien konnte nun erkennen, dass einmal ein Vogel seinen Platz auf der Brücke hatte. Noch immer stand der Käfig in einer Ecke. An einer Wand lagen Holzspielsachen verstreut. Es war eindeutig, dass hier ein Kind gespielt hatte, offensichtlich der Sohn des Kapitäns. Obwohl das Schiff einen verlassenen Eindruck machte, schien es, als hätte es noch vor wenigen Stunden voller Leben gesteckt. Womöglich waren alle unter Deck, um sich vor dem Sturm zu schützen? Dann meldete sich Viviens Verstand zu Worte. Denk doch mal nach, Gör. Wer ist heutzutage noch mit so einem Schiff, ganz aus Holz, unterwegs, vor allem, wenn es um einen Schatz geht, der transportiert werden soll? Das Schiff muss einfach älter sein, anders lässt sich nicht erklären, was ich hier sehe! Ein Krabbeln in ihrem Nacken ließ Vivien aufschrecken. Sie fühlte, was sich dort bewegte und hielt kurz darauf eine Spinne in der Hand. Ein Kreischen später warf sie das Tier von sich, das sich langsam von der Decke abgeseilt hatte, und schüttelte sich. Erst jetzt bemerkte sie die Spinnweben an der Decke und in den Ecken. Hier musste schon vor langem der letzte Atemzug getan worden sein. Aber es musste doch an Deck noch irgendwo ein Zeichen der Geschichte des Schiffes zu finden sein. Schließlich hatte Vivien bisher nur die Brücke gesehen, das war ja noch längst nicht alles. Bevor sie die Brücke verließ, fiel ihr ein Zettel ins Auge, der an der Rückseite der Tür festgenagelt war:
Hiermit vermache ich, Sir Henry Letticeworth, in vollem Besitz meiner geistigen Kräfte meinem Sohn Charles mein Schiff, die Letitia. Was mein Privatvermögen belangt…“ Ab hier wurde der Text unleserlich, was nicht zuletzt durch die Feuchtigkeit verursacht worden sein musste. Nur noch die Unterschrift von Sir Charles war zu erkennen sowie das Unterzeichnungsdatum, der 27. Februar 1893. Wahnsinn, das war vor über hundert Jahren!
Wenn dieses Schiff schon über hundert Jahre alt war… nein, das war völlig unmöglich. So lange übersteht kein Schiff. Eine tiefe Männerstimme hallte aus dem Dunkel von irgendwoher. „Es ist wahr. Wer auch immer sie sind.“ Vivien blickte sich erschrocken um, konnte aber nicht erkennen, von wem die Stimme stammte.
Wer sind sie? Und woher wissen sie, was ich denke?“ Vivien schaute verzweifelt umher, aber die Brücke war verlassen. „Zu ihnen spricht mein Geist. Ich bin Charles Letticeworth.“ Bei dem Wort ,Geist´ begann Viviens Herz, heftig zu pochen. „Sie brauchen keine Angst zu haben. Jetzt nicht mehr. Falls sie es noch nicht bemerkt haben – sie sind tot und ebenso ein Geist wie ich. Gefangen auf diesem verfluchten Schiff auf der Suche nach dem Licht, das ihre Erlösung bedeutet. Aber es wird keine Erlösung geben, solange das Unrecht nicht aufgehoben wurde. Dieses Schiff ist verlassen. Finden sie sich damit ab, dass es ziemlich lange dauern kann, bis wieder ein Geist Kontakt mit ihnen aufnimmt. Das ist nämlich ziemlich schwierig. Viel Glück!“ Nach dem dritten Echo war die Stimme verschwunden. „Hallo?“ fragte Vivien ins Dunkel, bekam aber keine Antwort. „Hört mich denn keiner?“ Aber wer oder was auch immer mit ihr gesprochen hatte, war fort. Dann wurde sie sich dessen bewusst, was die Stimme gesagt hatte. Sie, ein Geist? Vivien blickte unsicher an sich herunter und erstarrte. Ihr Körper schimmerte durchsichtig und verschwommen wie der eines Geistes. Nun fielen alle Puzzleteile der Nacht an ihren Platz. Vivien war ermordet worden. Ohne den Grund dafür zu wissen, war ihr klar, dass ihr Geist auf diesem Schiff gelandet ist und sie jetzt ganz verlassen und auf sich gestellt war. Sie würde sich jetzt umschauen und einen Ausweg aus dieser Situation finden müssen. Aber wie sieht so ein Ausweg aus, wenn man tot ist?
Langsam und noch benommen ging Vivien die Treppe der Brücke hinunter zurück aufs Deck. Plötzlich überkam sie ein Gefühl der Einsamkeit. Niemand sonst war auf diesem verfluchten Schiff zurückgeblieben, wenn sie dem Geist des Kapitäns glauben konnte. Was sollte sie nur tun? Sie war jetzt ebenfalls Gefangene dieses Schiffes. Erneut blickte sie um sich, als würde sie sich beobachtet fühlen, doch niemand war zu sehen. Der Mond war hinter einer vereinzelten Wolke verschwunden, doch erstaunlicherweise war es noch hell genug, dass Vivien die einzelnen Details auf dem Deck erkennen konnte. Sie konnte sogar die kleinen Holzschnitzereien erkennen, mit denen die Tür zum Unterdeck verziert war. Es bestand kein Zweifel – der frühere Besitzer dieses Schiffes war nicht gerade ein armer Mensch gewesen. Was nützt es, jetzt muss ich mich mit der Situation abfinden, dachte Vivien sich und betrat die Tür, die zu einer Treppe führte. Sie stieg herab. Nach sieben Stufen war die erste Treppe zuende. Genau in die entgegengesetzte Richtung führte eine mindestens doppelt so breite und an den Geländern reich verzierte Treppe weiter nach unten, bis Vivien auf dem Unterdeck ankam.
Sie trat direkt in eine große Halle, die sie sofort an den Empfangssaal des kleinen Theaters von Dandera erinnerte. Die Halle war mit einem Teppichboden versehen, der erstaunlich wenige Anzeichen des Alterns aufwies, so als wäre er gerade erst ausgelegt worden. An den Wänden steckten Kerzenhalter, aber sie waren ausgelöscht. Auf eine ganz seltsame Weise schien es Vivien, als kämen zwischen den Leuchtern Personen aus den Wänden gelaufen. Es standen vereinzelt Stühle und Tische herum. Der einzige Unterschied zum kleinen Theater bestand darin, dass sich eine triste Einsamkeit auf diesem Schiff einnistete, während in Dandera damals fast jede Woche wichtige Empfänge abgehalten wurden. Vivien trat ein paar Schritte ins Dunkel, als wie von Geisterhand die Leuchter ringsherum aufflammten. Die Halle wurde mit einem Mal hell erleuchtet. Jetzt konnte Vivien klar sehen, dass an den Wänden zwischen den Kerzen Gemälde hingen, die diverse Stilleben darstellten. Von dieser Halle aus führte direkt gegenüber der Treppe eine große Tür geradeaus, rechts und links daneben etwas abseits zwei kleinere Türen. Bevor ich mich in die Eingeweide dieses Wracks stürze, möchte ich mich umsehen, ob sich hier vielleicht ein Hinweis auf die Vergangenheit oder Gegenwart befindet. Viel lieber wäre mir natürlich eine Spur auf meine eigene Zukunft, überlegte Vivien zweifelnd. Hatte sie überhaupt eine Zukunft oder war sie verdammt, für immer auf diesem Schiff zu weilen?
Die Halle bot keine weiteren Besonderheiten. Abgesehen natürlich davon, dass sie sich im Gegensatz zur Brücke und zum Oberdeck in einem erstaunlich guten Zustand befand. Vielleicht lag das aber auch nur an der unterschiedlichen Beleuchtung. Da diese Halle offensichtlich nur als Treffpunkt diente und den Übergang zum Deck ermöglichen sollte, hielt sich Vivien hier nicht weiter auf. Sie ging zu der großen Tür genau gegenüber der Treppe und drückte die Klinke herunter, doch öffnete die Tür sich nicht. Sie war verschlossen und Vivien besaß keinen Schlüssel. Damit wäre das Thema wohl erledigt, meinte sie zu sich.
Dann wandte sie sich der linken Tür zu. Sie führte in einen langen Gang, an dessen linker Seite sich mehrere Türen befanden, an der rechten Seite nur eine große Tür. Vivien überlegte. Das hier könnte ein Passagierschiff gewesen sein – es macht alles den Eindruck, als seien vor dem Transport des Schatzes, oder vielleicht noch auf derselben Reise wohlhabende Personen an Bord gewesen. Hier könnte es zu den Kabinen gehen, die Tür an der rechten Seite führt wahrscheinlich in denselben Raum, in den auch die große Tür in der Empfangshalle führt. Die reichhaltige Ausstattung der Halle ließ auf ein gehobenes Publikum schließen. Vielleicht waren die Unterkünfte ja von derselben Qualität? Vorsichtig öffnete Vivien die erste Tür zu ihrer Linken. Mit einem unnatürlich lauten Knarren schwang sie nach innen auf. Sofort musste Vivien niesen. Die dicke Staubschicht auf der Klinke hätte ihr bereits anzeigen müssen, dass lange niemand mehr in diesem Raum war. Durch den Luftzug, der wohl seit vielen Jahren das erste Mal durch die Kammer zog, wurde eine Unmenge Staub aufgewirbelt. Um sich vor dem Kribbeln zu schützen, hielt Vivien sich einen Ärmel vor die Nase. In der Kammer war es stockfinster. Obwohl draußen im Gang Kerzenleuchter das Dunkel vertrieben, schien kein einziger Lichtstrahl in den Raum hinein. Ganz merkwürdig, als würde irgendeine Kraft das Licht draußen bannen, vermutete Vivien. Sie tastete sich mit der freien Hand langsam vorwärts, kam aber nicht weit. Große, harte Gegenstände versperrten den Weg. Es war, als wäre das Zimmer mit Kisten, Truhen und Kommoden vollgestellt. Der Staub brannte ihr in den Augen, daher verließ Vivien die Kammer schnell wieder und schloss die Tür hinter sich. Vielleicht war ja die nächste Kabine aufschlussreicher. Doch als Vivien gerade die Klinke berühren wollte, löste diese sich in Wohlgefallen auf. Sie untersuchte die Tür. Es gab keine Möglichkeit, sie zu öffnen. Auch als sie sich mit aller Kraft dagegenstemmte, tat sich nichts. Vor Erschöpfung lehnte Vivien sich gegen die Tür und sank zu Boden.
Was war bloß das Geheimnis dieses Schiffes? Hier Dunkelheit, dort Lampen, die sich von selbst entzündeten, Geister – wohin konnte das noch führen? Plötzlich ging ihr ein Licht auf. Na klar! Ich bin doch ein Geist, also kann ich durch Wände gehen. So komme ich durch die Tür, dachte Vivien und stand auf. Doch als sie sich umdrehte, war die Tür ganz verschwunden. An ihrer Stelle hing jetzt ein großes Gemälde an der Wand, welches einen kleinen Jungen mit seinen Eltern darstellte, die in einem Säulengang spielten. Von dem plötzlichen Wandel gänzlich unbeeindruckt ging Vivien auf die Wand zu. Als sie mit dem Kopf dagegen stieß, wurde ihr klar, dass sie Geist auf einem Geisterschiff war und die „normalen“ Regeln hier scheinbar sowieso keine Bedeutung hatten. Sie betrachtete das Bild genauer. Wie eine Art Überschrift schmückte ein Spruchband den oberen Rand. Dort stand geschrieben: „Amor filii non moritur.“ Die Liebe des Sohnes stirbt niemals. Es zahlt sich zwar aus, dass ich mal Latein gelernt habe, aber ich verstehe die Bedeutung trotzdem nicht. Soll mir erst mal egal sein. Vivien ging zur nächsten Tür.

Kapitel 4 – Das Grammophon

An der Tür war ein Messingschild angebracht. Darauf stand in schwer leserlichen Buchstaben: „Kabine 7c, Vivien Gloom, Reisende“. Es war nicht zu glauben. Vivien Gloom, das war sie selbst! Als hätte jemand gewusst, dass sie auf diesem Schiff landen würde. Oder war sie vielleicht schon mal hier gewesen? Aber das wäre ja vor knapp einhundert Jahren gewesen, das war unmöglich! Mit einem bangen Gefühl betrat Vivien ihre eigene Kabine.
Der Anblick war ekelerregend. Das Zimmer lag im Dunkeln, nur das Mondlicht, das durch ein Bullauge schien, ließ vereinzelte Blicke zu. Vivien konnte schemenhaft ein heruntergekommenes Bett an einer Wand erkennen. Daneben stand ein Nachttisch, dessen Schubladen herausgezogen waren. Der Teppich hatte Löcher. Die Leuchter an den Wänden waren zerbrochen. Ein Sofa war ganz schwarz und glänzte durchnässt. Das Einzige, was noch halbwegs intakt zu sein schien, war ein altes Grammophon, das auf einem Schreibtisch gegenüber dem Bett stand. Vivien betrachtete es genauer, während ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten. Eine Klangwalze war eingelegt. Vivien drehte an der Kurbel, die aus der Seite des Grammophonkastens ragte und zog es auf diese Weise auf. Dann ließ sie die Musik spielen.
In dem Moment, als die ersten Töne erklangen, ging eine seltsame Wandlung mit der Kabine vor sich. Wie ein schwarzer Schleier fielen die Schatten ab, der Moder verschwand mit einem leisen Rauschen. Die Leuchter an den Wänden waren wieder wie neu und entzündeten sich von alleine. Im Hellen konnte Vivien erkennen, dass der Raum größer war, als er zuerst schien. Das Bett hatte sich in ein Himmelbett mit roten Vorhängen verwandelt, die ebenfalls roten Samtvorhänge an den Wänden schufen eine sehr gemütliche Atmosphäre. Ganz automatisch sank Vivien auf das weiche Sofa herab und beobachtete die Verwandlung: Der Teppich flickte sich von selbst, die faulen Bretter des Schreibtisches wurden gegen Mahagoniholz ausgetauscht. Das Zimmer glich jetzt einer Luxussuite in einem Hotel, alles war wieder wie neu und auf Vordermann gebracht. Vivien konnte jetzt bei Licht erkennen, dass der Schreibtisch dem in ihrer Ferienwohnung erschreckend ähnlich sah. Ein Verdacht überkam sie. Sie öffnete die zweite Schublade auf der linken Seite, in der sie damals ihr Tagebuch abgelegt hatte. Da lag es auch jetzt, doch war es im Gegensatz zu allem anderen in diesem Zimmer vergammelt und es steckte ein Messer darin. Vivien riss es heraus, worauf es zu Staub zerfiel. Sie betrachtete die Eintragungen. Die beschriebenen Seiten waren zerrissen. Das Letzte, was zu lesen war, waren die Worte: „Verstanden? Zauberhaft, haha! … Jetzt ist es ungefähr eine Stunde später und ich bin tot. Pah, bei meinem versauten Leben ist das ja sowieso egal. Was hätte schon aus mir werden können? In der Hölle bin ich am besten aufgehoben!“ Aber das habe ich nie geschrieben, dachte Vivien verzweifelt. Erst der Dolch im Buch und dann dieser Eintrag! Wer konnte sie nur so sehr hassen und vor allen Dingen, warum? Sie öffnete das Bullauge. Die Luft, die hereinströmte, war angenehm warm und frisch. Dennoch konnte sie sich nicht mehr daran erfreuen. Nachdem Vivien einen kurzen Moment überlegt hatte, warf sie ihr Tagebuch aus dem Fenster. Es fiel ins Wasser und schwamm dort obenauf, während sich die Seiten langsam auflösten. Vivien schaute dem Buch hinterher, bis es außer Blickweite war. Dann sank sie auf das samtene Sofa.
Die Atmosphäre in ihrer Kabine war warm und herzlich. Vivien fühlt sich sehr wohl, was ihr nicht ohne Grund Angst machte. Sollte dieses Zimmer ihr neues Zuhause auf ewig sein? Sicher, für einen Moment lang war es hier schön, aber das konnte doch nicht alles sein! Vom Sofa aus fiel ihr Blick das erste Mal auf die Vitrine, die an der gegenüberliegenden Wand stand. Verschiedene Getränke standen dort bereit. Vivien betrachtete sie aus der Nähe. Klasse, ein Blue Lightning! Das ist mein Lieblingscocktail… aber wer hat den dort hingestellt? Mir kommt es fast vor, als ob jemand mit Absicht versucht, mich hier festzuhalten. Oder als würde mich jemand davon abhalten wollen, mehr über dieses Schiff herauszufinden. Ich darf mich davon nicht täuschen lassen, nahm Vivien sich fest vor und verließ forschen Schrittes die Kabine.
Wieder draußen wurde ihr sofort bewusst, um wie viel besser das Zimmer doch gewesen war. Auf dem langen gang war es kühl und er war durch die Leuchter nur schwach erhellt. Vivien wandte sich nach links und ging zur nächsten Tür. Plötzlich wurde sie stutzig. Auf dem Oberdeck hatte das Schiff längst nicht so einen großen Eindruck gemacht. Andererseits war hier sowieso nichts vernünftig zu erklären. Hinter der nächsten Tür verdeckte ein Vorhang den direkten Blick in das Zimmer. Vivien nahm den Vorhang mit der Hand beiseite. Dahinter befand sich noch ein zweiter Vorhang. Auch diesen schob sie aus dem Weg, nur um dahinter einen weiteren Vorhang zu finden. So versuchte Vivien, den Weg ins Zimmer zu finden, doch als sie nach einer Zeit, die ihr endlos erschien, noch immer zwischen den Vorhängen herumstöberte, gab sie es auf. Sie würde wohl oder über einen Vorhang nach dem anderen ihren Weg nach draußen finden müssen, doch bereits nach einem befand sie sich wieder auf dem Gang. Angewidert von den Streichen, die man mit ihr spielte, schloss sie die Tür hinter sich und betrachtete das Messingschild, das an der Tür angebracht war. Darauf befand sich jedoch keine Schrift; es war komplett frei. Wenn mich hier jemand in den Wahnsinn treiben will, ist er auf dem besten Weg dazu, ärgerte sich Vivien. Dennoch war sie nicht bereit, an ihrer Lage zu verzweifeln. Sie war mehr als zuvor entschlossen, den Grund für alles herauszufinden. Den Grund für ihre Ermordung und für dieses Geisterschiff. Sie ging zur nächsten Kabine.
Kabine 1a, John Waters, Reporter“. Die Kabine war verschlossen, hatte aber zum Glück ein Schlüsselloch. Also muss ich auch irgendwo den Schlüssel dafür finden können. Schwungvoll wollte Vivien den gang weitergehen, doch er war zu Ende. Kabine 1a war die letzte in diesem Flur. Am Ende befand sich eine kleine Tür. Vivien öffnete sie und betrat das Heck des Schiffes. Also ist das Schiff doch nicht endlos, dachte sie erleichtert. Der Raum, in dem sie sich befand, lief zum Ende hin spitz zu. An der linken und rechten Wand befand sich je ein Bullauge. Das dadurch hineinleuchtende Mondlicht bot die einzige Lichtquelle. Genau gegenüber der Tür, aus der sie gerade gekommen war, befand sich eine weitere Tür, auf der sich seltsame Zeichen befanden. Sie hatte weder Griff noch Schlüsselloch. Es gab scheinbar keine Möglichkeit, diese Tür zu öffnen. Ebenso gestaltete sich die andere Seite des Raumes. Auch dort befand sich so eine Tür ohne Schloss und Klinke. Dazwischen schien ein rundes Gitter im Boden einen Weg nach unten zu bilden. Eine vierte Tür, ebenfalls auf der rechten Seite, führte in die Richtung zurück, aus der Vivien gekommen war. Das Gitter zog Viviens Aufmerksamkeit auf sich. Ob es vielleicht in einen Frachtraum führte? Sie mühte sich redlich ab, um das Gitter aus der Verankerung zu lösen, doch es saß fest. Der Weg nach unten war verschlossen, wie schon so viele andere Wege auf diesem Schiff. Vivien gab es auf und betrat die Tür, die zurück in Richtung der Haupthalle mit der Treppe zum Oberdeck führte.
Wieder fand sie sich in einem Gang wieder, der dem auf der anderen Seite zum Verwechseln ähnlich sah. Zu Viviens linker Seite befanden sich mehrere Türen, zu ihrer Rechten eine große Tür. Genau auf diese steuerte Vivien als erstes, in der Befürchtung, dass auch sie verschlossen sei und wie die beiden anderen größeren Türen in eine Halle oder einen Saal führen musste. Sie hatte richtig gedacht, die Tür war verschlossen. Auf der linken Seite des Flures befanden sich genau wie im anderen Flur vier Türen; die zweite Tür hatte sich damals ja als Gemälde entpuppt. Das hier müssen weitere Passagierkabinen sein, meinte Vivien und schaute sich das erste Messingschild an. „Kabine 5b, Ma…“ – mehr war nicht zu lesen, da die Plakette im Laufe der Zeit ziemlich abgenutzt worden war. Die Tür ließ sich nicht öffnen. Sie musste von innen blockiert werden, denn es gab offensichtlich keine Möglichkeit, sie abzuschließen. Nur in der Tür befand sich ein Relief, das einen Käfer darstellte. Aus dem Inneren des Zimmers kamen ein leises, tiefes Summen und ein frischer Windhauch. Vivien überlegte. Dieses Schiff steckt voller Leben in jedem Zimmer, obwohl es eigentlich ein Geisterschiff ist. Aber alle Räume sind abgeschlossen. Meinte nicht der Geist auf der Brücke, dass ich noch andere Geister treffen würde? Ob die sich vielleicht in den Räumen aufhalten? Oder bin ich letzten Endes doch verlassen auf diesem Kahn? Ich will hier weg!
Sie untersuchte die nächste Tür. „Kabine 8c, Daniel Baker, Fotograf“ Vivien betrat das Zimmer. Eine Lampe spendete rotes Licht, wodurch alles in dem Raum etwas unwirklich erschien. In einer Ecke stand das Bett, daneben eine Kommode. An der gegenüberliegenden Wand befand sich ein Schreibtisch, über dem eine Schnur aufgehängt war. Auf dem Schreibtisch befanden sich zwei Plastikwannen und mehrere Flaschen, daneben ein Karton mit weißem Papier. Direkt gegenüber der Eingangstür hing an der Wand ein Porträt der Queen. Tja, sieht tatsächlich aus wie in einem Fotolabor. Ich frage mich allerdings, was die Aufschrift an der Tür zu bedeuten hat. War Daniel Baker damals, als das Schiff den Schatz transportieren sollte, Passagier an Bord oder ist er es jetzt oder befindet sich sein Geist hier? Ich habe noch kein Anzeichen von irgendwelchen anderen Geistern hier gesehen, nur den Kapitän vorher. Vivien fragte sich, ob diese weißen Papierbögen wohl entwickelt werden müssten. Sie schaute sich die Flaschen an, die auf dem Arbeitstisch standen. Zwei Flaschen, eine mit der Aufschrift „Destilliertes Wasser“ und eine mit „Entwicklerlösung“ nahm sie an sich. Sie füllte das Wasser in eine Wanne, die Lösung in eine andere. Ich darf die beiden nur nicht durcheinanderbringen, ermahnte sie sich. Dann nahm sie einen Bogen und legte ihn zuerst in die Entwicklerlösung. Langsam färbte das Blatt sich schwarz. Vivien konnte zusehends Personen erkennen, die auf dem Bild dargestellt waren. Stop, das ist zuviel! Zu spät. Als sie das Bild aus der Lösung nahm und ins Wasser legte, war es fast komplett schwarz und verwischt. Nichts war mehr zu erkennen. Aber es gab ja noch mehrere Bögen, und mit der Zeit wurden Viviens Entwicklungen immer besser. Auf einem Foto war ganz deutlich das Oberdeck des Schiffes zu erkennen. Darauf posierte der Kapitän mit einer jungen Frau und einem kleinen Jungen für die Kamera. Der Junge könnte der Sohn des Kapitäns sein. Cedric war sein Name. Aber wer ist das junge Mädchen? Sie war vielleicht 22 Jahre alt und damit für den Kapitän doch eigentlich zu jung, der sah aus wie 50! Ein weiteres Foto zeigte das Schiff in einem Hafen, auf dem Foto danach sah man, wie der Kapitän einem vornehmen Herrn die Hand schüttelte. Vivien staunte nicht schlecht, als sie ein Foto zweier Schatztruhen sah, die bis zum Rand mit Münzen und Preziosen angefüllt waren. War das vielleicht der Schatz der Königin, von dem im Logbuch die Rede war? Dann ließe sich ja so langsam konstruieren, was damals vorgegangen ist! Vivien setzte sich in einen Ohrensessel, der zwischen dem Arbeitstisch und einer verdorrten Pflanze in der Zimmerecke stand.
Irgendwann zu Beginn des 20. Jahrhunderts muss der Kapitän den Auftrag angenommen haben, einen Schatz zu transportieren. Weiterhin hat er auf dieser Reise auch Passagiere mitgenommen, unter anderem einen Fotografen namens Daniel Baker. Ob dieser Reporter, John Waters damals auch dabei gewesen ist, war nicht sicher. Jedenfalls muss auf dieser reise etwas passiert sein. Wahrscheinlich war das Schiff auf ein Riff aufgelaufen oder ist in einen Sturm geraten? Vielleicht war es damals gesunken und treibt deswegen jetzt sein Unwesen? Das war es, was Vivien herausfinden musste. Was war damals auf jener Reise geschehen?
Zur Sicherheit steckte Vivien die wichtigsten Bilder in ihre Hosentasche. Dabei bemerkte sie das Loch und das Fehlen ihres Wohnungsschlüssels, den sie am Vortag verloren hatte. Das kann mir jetzt sowieso egal sein. Ich bin tot, jetzt kann es nur noch wichtig sein, befreit zu werden von diesem Schiff. Das kann es nicht sein, was man allgemein „Leben nach dem Tod“ nennt. Wütend verließ sie die Kabine und zog die Tür energisch zu.
Die nächste Tür im Flur besaß an Stelle einer Klinke einen runden Knauf, der mit einer goldenen Sonne verziert war. Sie war trotz des schwachen Lichtes deutlich zu erkennen. Die Sonne hatte ein verspieltes Gesicht und lud geradezu ein, einzutreten. Vivien drehte den Knauf, doch zu ihrer großen Enttäuschung ließ sich auch diese Tür nicht öffnen. Eine Tür noch. Wenn ich dort nichts finde, kann ich hier wohl versauern. Es war die letzte Tür auf der linken Seite des Ganges, an dessen Ende sich wiederum eine Tür befand, die Viviens Vermutung nach wieder in die Empfangshalle führen musste. Sie überprüfte den Sachverhalt schnell und sah, dass sie Recht hatte. Es führten demnach zwei Gänge vom Bug zum Heck des Schiffes, an deren Seite sich insgesamt acht Kabinen befanden. In der Mitte musste ein großer Saal sein, der aber verschlossen war. Vivien ging zurück in den Flur und ging durch die letzte Tür, die sie noch nicht beachtet hatte. Der Raum dahinter war verhältnismäßig schmal. Eine einsame Kerze brannte an der Wand und spendete mehr Schatten als Licht. Der Staub lag zentimeterdick auf dem Fußboden. Am Ende des Raumes befand sich ein großer Tresor, der bis zur Decke hinaufreichte. In dessen Tür befanden sich seltsame Vertiefungen. Vivien betrachtete sie genauer und überlegte. Die müssen etwas mit dem Öffnungsmechanismus zu tun haben. Ein Stern, ein Mond, eine Blume. Ziemlich verspielt für einen Tresor. Verspielt? Langsam kehrten die Bilder von der Brücke zurück. Der Schreibtisch des Kapitäns, die Spinnenweben, der Vogelkäfig und die Holzbausteine. Kleine Klötzchen in Form von Sonne, Mond und Sternen, kleine Tierchen und bestimmt auch eine Blume! Einen Versuch ist es wert, meinte Vivien und verließ den Raum. Über die Treppe in der Empfangshalle gelangte sie wieder aufs Oberdeck.
Noch immer herrschte tiefste Nacht, die See war ruhig und gespenstisch lag das Schiff inmitten unendlicher Weite. Vivien ging auf die Brücke, nicht ohne die leise Hoffnung, den Geist des Kapitäns wiederzusehen, doch sie war allein. Nichts war zu sehen oder zu hören. Sie ging zu den Holzklötzen und nahm einen Stern, eine Blume und einen Mond mit. Dann ging sie wieder unter Deck. Der Anblick der Empfangshalle überraschte sie sehr: Die Leuchter an den Wänden gaben plötzlich nur blaues Licht ab, was die gesamte Atmosphäre noch viel unheimlicher machte. Wieder zurück im Tresorraum setzt Vivien die Holzteile in die Vertiefungen der Safetür ein. Diese öffnete sich daraufhin langsam mit einem tiefen Knarren. Vivien zog die Tür mit aller Kraft auf, sie war wirklich sehr schwer. Der Tresor war viel größer, als sie vielleicht geglaubt hätte. Der Innenraum war noch mal so groß wie der Raum vor dem Tresor. Innen befanden sich mehrere Schließfächer. Schilder darauf trugen die Namen der Eigentümer der Gegenstände darin. Vermutlich waren sie alle verschlossen, auch war nur die Hälfte der Namen lesbar. Nur ein Fach stand offen und war herausgezogen.

Kapitel 5 – Das Grammophon (Fortgesetzt)

John Waters“ war noch gerade darauf zu lesen. Das Fach enthielt einen Zeitungsartikel und einen kleinen Schlüssel. Vivien betrachtete den Artikel, der sich noch in erstaunlich gutem Zustand befand.
Berichtet wurde von der Eroberung eines kleinen Staates in Afrika durch die Macht der Queen und der daraufhin folgenden Überführung des Schatzes nach England. Das ist es, dachte Vivien. Das muss der Schatztransport sein, von dem im Logbuch die Rede war. Die Queen ließ sofort den erbeuteten Schatz hierher bringen, und zwar von Kapitän Charles Letticeworth. Hmmm, vielleicht ist auch bei der Überfahrt das Schiff von Piraten überfallen worden, die sollen ja nie aussterben. Vivien betrachtete das Datum, das den Artikel zierte. Es war der 22. September 1902. Nur eine kurze Zeit, bevor sich das Schiff auf die Reise gemacht hatte. Damit stand fest, dass sich das Schiff bereits seit gut 100 Jahren auf dem Meer befand. Aber was nützte dieses Wissen jetzt noch. Der Artikel wurde von John Waters geschrieben, der in demselben Text schon darauf aufmerksam machte, dass er der Reise beiwohnen werde. Viel mehr ließ sich daraus nicht erkennen. Vivien nahm den Schlüssel an sich. Es gab keinen Zweifel, dass dieser Schlüssel zur Kabine von Mr Waters passte. Hinter Vivien knarrte die Tresortür bedrohlich. Schnell verließ sie den Tresor, um nicht eingeschlossen zu werden. Mit dem Schlüssel, den sie wohlweislich nicht in die Hosentasche gesteckt hatte, sondern noch immer in der Hand hielt, ging Vivien auf Kabine 1a am Ende des anderen Flures zu. Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn herum. Mit einem Knarren sprang die Tür auf.
Die Kabine des Reporters war spärlich möbliert. Wahrscheinlich hatte zu seiner Zeit die Zeitung die Kosten für die Überfahrt übernommen und kräftig gespart. Das Zimmer war verhältnismäßig klein und stand in keinem Vergleich zu Viviens Kabine. Eine Pritsche stand in einer Ecke des Zimmers, in der anderen stand ein Schreibtisch. Dazu ein Holzstuhl und eine schlichte Kommode. Neben dem Schreibtisch stand ein Mülleimer. Vivien setzte sich an den Schriebtisch und öffnete die Schubladen zur Linken und Rechten. Sie waren alle leer. Im Mülleimer dagegen lag ein zerknülltes Stück Papier. Vivien fischte es heraus und entfaltete es. Es war ein weiterer Zeitungsartikel, datiert auf den 7. Oktober 1903.
Mysteriöser Mord an Liebespaar: Einen Monat nach dem Mord an Millionär Charles Letticeworth fallen Daniel Baker und Victoria Norton eine Woche vor der geplanten Hochzeit den Fängen eines Serienmörders zum Opfer. Obwohl der Mord am ehemaligen Kapitän und an dem Pärchen einen Monat auseinanderliegen, vermutet die Polizei denselben Täter, da alle auf die gleiche Art und Weise hingerichtet wurden – Mit einem spitzen Gegenstand wurden sie erstochen. Da noch immer ungeklärt ist, wohin der Körper des Kapitäns verschwunden ist (wir berichteten vom Raub), werden die Leichen des Paares streng bewacht. Wir werden weiter berichten.“
Auch dieser Artikel war von John Waters unterschrieben. Vivien machte sich Gedanken. Dieser Artikel klärte viele Fragen, warf aber auch unheimlich viele neue Fragen auf. Die Reise muss gut verlaufen sein. Sonst hätte Waters nie diesen Artikel schreiben können, der ja gut ein Jahr nach der Reise erschienen ist. Nach der Reise jedoch ist der Kapitän ermordet worden, warum auch immer. Und danach dieses Liebespärchen. Warum nur kam ihr der Name Baker so bekannt vor? Daniel Baker, natürlich! Der Bewohner von Kabine 8c, der Fotograf. Er war damals mit seiner Freundin auf einer Überfahrt wahrscheinlich von Afrika nach England unterwegs gewesen. Aber warum mussten die beiden sterben? Vielleicht hing das Verschwinden der Leiche des Kapitäns irgendwie mit dem Verschwinden der Menschen in der Neuzeit in England zusammen? Plötzlich spürte Vivien ein Stechen in ihrem Kopf.
Lassen sie ihre Finger davon. Ihre eigene Hinrichtung hätte sie davon abhalten sollen, herumzuschnüffeln. Egal, jegliche Erkenntnis wird nutzlos sein. Sie sind tot!“ schrie die Stimme.
War es eine Männerstimme?
War es eine Frauenstimme?
Vivien hatte keine Gelegenheit, darüber weiter nachzudenken. Das Bullauge schlug auf und ein kalter Wind fegte herein. Der Himmel blitzte hell auf und lauter Donner war zu hören. Ein heftiges Unwetter war wie aus dem Nichts draußen aufgezogen. Regentropfen brachten Vivien zum Frösteln. Das Schiff geriet durch den Wellengang ins Schwanken, die Kabinentür schlug auf und zu. Aus dem Inneren des Schreibtisches kam ein unheimliches Geräusch. Mit zitternden Fingern öffnete Vivien noch einmal langsam die Schubladen. In diesem Moment ging der Artikel in Flammen auf. Blaues Feuer, wie kurz zuvor in der Empfangshalle. Das blaue Licht musste ein Zeichen der Anwesenheit des Bösen sein, Vivien fühlte sich sterbenselend, obwohl sie bereits tot war. Zu ihrer großen Überraschung lag plötzlich in einer Schublade eine Klangwalze. Daneben lag eine Akte. Vivien warf einen Blick in die Akte.
Dort stand: „Unterlagen Mordfall Letticeworth – Fall abgeschlossen, offiziell Selbstmord. Fall Baker & Norton – Zeugenaussagen: Aussage Mary Riley auf der Tonrolle. Aussage Louis Nounes (Matrose): sagt, Mord hinge mit Schiffsreise zusammen, auf der sich alle Opfer befanden (bezieht sich dabei auch auf Mord an Letticeworth), außerdem…“ In diesem Moment riss ihr der Wind die Akte aus der Hand. Die Zettel flogen wild durcheinander und alle zum Bullauge hinaus. Jetzt sind alle Aussagen verloren, dachte Vivien. Wenigstens habe ich noch die Klangwalze, die Aussage Mary Rileys. Dann fiel ihr Blick auf einen Papierfetzen, doch nicht hinausgeweht worden war. Er hatte sich an einem Haken am Bullauge verhakt. Sie nahm das Papier ab; es hatte wohl auch in der Akte gelegen. Es war ein Brief, über dem schräg in rot geschrieben stand: „Beweisstück“. Vivien versuchte, den übrigen Text zu lesen.
Victoria! Sie werden für das bezahlen, was sie getan haben. Sie…“ Der Rest war abgerissen. Das blaue Licht war mittlerweile verschwunden. Die Arbeitsfläche des Schreibtischs war vom Regen ganz durchnässt. Auch Viviens Kleidung hatte einiges vom Regen abbekommen. Dennoch motiviert nahm Vivien die Rolle an sich und ging zurück in ihre eigene Kabine.
Die warme Luft und die gemütliche Kabine ihres Zimmers behagten Vivien. Sie setzte die Klangrolle in das Grammophon ein und lauschte den Worten Mrs Rileys. Es waren nur wenige Sätze, doch sie zeigten Wirkung.
Das war sehr interessant. Nach wenigen Sätzen brach die Aufnahme ab. Zweifellos, wie es auch in der Akte stand, sprach Mrs Riley von Daniel Baker und Victoria Norton, dem Liebespaar, das ermordet wurde. Und sie erzählte, dass ein kleiner Junge ein Jahr vorher ertrunken ist. Wollte sie damit irgendetwas andeuten? „Die Aufseher haben nicht aufgepasst. Sie vergnügten sich, während der Junge ertrank!“ Welche Aufseher meinte Mrs Riley? Und was hatten diese Personen mit dem Pärchen zu tun? Verwirrt schritt Vivien in ihrer Kabine auf und ab. Während dieser Ort noch vor wenigen Stunden ein Gefühl der Wärme ausgestrahlt hatte, fühlte Vivien sich nun hilflos und verlassen. Sie war tiefer in ein Netz aus Mord und Verstrickungen gerutscht, als sie es gewünscht hätte – wenn sie die Wahl gehabt hätte. Hatte sie eine Möglichkeit, die Morde aufzuklären? Morde, die über ein Jahrhundert zurücklagen? Und welchen Sinn hätte es, den oder die Täter zu finden? Auch sie war Opfer des Killers geworden. Könnte die Entlarvung vielleicht ihre Erlösung von diesem Geisterschiff sein? In dem Falle war es ihre Aufgabe, dieses Geheimnis zu lüften. Sie nahm sich vor, all ihre bisherigen Erkenntnisse und Entdeckungen auf einem Notizblock festzuhalten. Wahrscheinlich war in der Kabine des Fotografen einer zu finden.
Vivien wollte gerade losgehen, als sie vom Grammophon seltsame Geräusche vernahm. Es spielte irgendeine melancholische Musik ab. Plötzlich löste sich die Klangrolle in Rauch auf, noch während die Musik spielte. Der Rauch legte sich wie eine Decke über das ganze Zimmer und vernebelte Viviens Geist. Sie fühlte sich auf der Stelle unendlich müde und depressiv, was durch die Musik noch verstärkt wurde. Als sie merkte, wie ihre Knie weich wurden, setzte sie sich auf das Sofa. Innerhalb weniger Sekunden war sie zusammengesunken und in eine Art Schlaf verfallen. Langsam verloschen die Kerzen an den Wänden. In Kabine 7c wurde es kühl und feucht.
Das Wetter hatte sich zwar beruhigt, nur ein leiser Regen fiel, aber Viviens Kleidung war noch immer durchnässt vom Erlebnis im Zimmer des Reporters. Da dies zusammen mit ihrer schiefen Lage auf dem Sofa nicht die besten Bedingungen zum Schlafen waren, stellten sich bald die Alpträume ein.
Ein sehr helles Licht umgab Vivien, doch schwarzer Nebel zog auf und verdunkelte das Szenario. Vivien befand sich auf einer nächtlichen Straße, auf der mehrere Kinder spielten und Frauen ihre Einkäufe erledigten. Plötzlich lief eine Frau auf Vivien zu und rief: „Alle werden sterben!“ Dann lief sie zu den spielenden Kindern und nahm ein kleines Mädchen mit sich mit. Zwei der übrigen Kinder gingen Hand in Hand davon, so dass nur noch ein kleiner Junge übrig blieb. Aus einem Geschäft kam ein Ehepaar und ging auf den Jungen zu. Offenbar waren es seine Eltern. Sie drehten sich von ihm weg und unterhielten sich. Plötzlich wurde der Boden weich und ganz langsam versank der Junge schreiend im Boden. Die Eltern merkten nichts von alledem.
Unruhig wälzte Vivien sich auf dem Sofa hin und her. Schweißperlen glänzten auf ihrer Stirn.
Plötzlich war sie auf einem Hochhausdach. Derselbe Junge, der eben in der Straße versunken war, lief munter auf dem Dach hin und her und spielte mit einem Papierflieger. Auch dieses Mal standen mehrere Personen auf dem Dach herum. Die Eltern des Jungen standen neben ihm und freuten sich, dass ihr Kind so viel Spaß hatte. Plötzlich sah Vivien das Gesicht der Frau. Es war ein anderes Gesicht als auf der Straße. Der Junge rannte vergnügt von einem Ende des Daches zum anderen. Ein junges Pärchen küsste sich in einer unauffälligen Ecke. Sie waren völlig mit sich selbst beschäftigt. Dann fing der Junge an, auf dem Dachsims zu balancieren. Das Unausweichliche geschah: Er verlor das Gleichgewicht und stürzte in die Tiefe. Und Vivien stürzte hinterher. Sie fielen immer tiefer, der Abgrund schien kein Ende zu haben. Schließlich fielen sie in ein endloses Meer und wurden sofort unter Wasser gezogen. Alle Arten von Geräuschen kamen plötzlich von allen Seiten auf Vivien zu. Sie wollte den Jungen mit sich zur Wasseroberfläche nehmen, doch je näher sie an ihn herantauchte, umso weiter entfernte er sich von ihr. Hilflos musste sie mitansehen, wie der kleine Junge ertrank. Dann verwandelte der Junge sich mit einem Mal in Vivien selbst und beide standen auf einem weiten Feld in der Nacht. Ein Rauschen war zu hören, es klang, als wollte jemand mit Vivien sprechen, aber sie konnte nichts verstehen. Sie sah nur ihren Doppelgänger. Sie blickten sich in die Augen. Wie aus dem Nichts tauchte wieder die vermummte Person auf, schwang die Lanze in der Hand und stieß sie Vivien in den Rücken. Plötzlich wurde alles um Vivien herum wieder schwarz wie eine mondlose Nacht.
Endlich holte ein ruhiger Schlaf sie ein…

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen