Kapitel
3 – An
Deck
Mit
brummendem Schädel erwachte Vivien nach einiger Zeit. Sie lag mitten
auf dem Deck des unbekannten Schiffes. Jegliches Zeitgefühl hatte
sie verlassen; sie konnte nicht erahnen, wie viele Stunden sie schon
dort gelegen hatte. Jedenfalls war es noch immer Nacht. Der Sturm
hatte nachgelassen und die See war ruhig und ungetrübt, als wäre
nichts geschehen. Der Vollmond schien hell auf die Holzplanken herab
und die Sterne schmückten zahlreich das Himmelszelt. Trotz des
Mittsommers war es eine ziemlich kühle Nacht. Vivien versuchte sich
zu erinnern, was passiert war. Sie war ermordet worden – von einer
vermummten gestalt. Aber das kann doch gar nicht sein, dann wäre ich
ja jetzt nicht hier, schoss es ihr durch den Kopf. Sie rieb sich die
Stelle, mit der sie an den Mast geschlagen war. Die Beule schmerzte
noch immer. Langsam stand Vivien auf und sah sich um. Ein Schiff wie
jedes andere, mit einer Brücke und Unterdeck und zwei großen
Segeln. Die Segel! Jetzt konnte sie genau sehen, was mit ihnen nicht
stimmte. Die Segel waren zerrissen und total verschmutzt, als wäre
das Schiff durch einen schweren Sturm geraten. Aber sie war sich
sicher, dass die Segel schon vor dem Sturm vorhin so aussahen. Ihr
Blick schweifte weiter umher. Dann merkte sie, was fehlte: Die
Besatzung!
Es
war ihr schon an der Küste aufgefallen, wie düster das Schiff war,
ganz ohne Positionslampen. Und es hatte sich auch nichts an Deck
bewegt. Auch jetzt war niemand zu sehen. Unsinn, meinte Vivien zu
sich selbst, es muss doch zumindest ein Kapitän auf diesem Schiff
sein. Das kann ich gar nicht glauben, dass dieses Schiff ohne Kapitän
auf dem Meer umhertreibt, ohne bereits zerschellt zu sein. Sie ging
zur Brücke. Auf dem Weg dorthin bemerkte sie, dass alles auf dem
Schiff so aussah, als sei es erst kürzlich verlassen worden. Sogar
Eimer und Schrubber standen herum, Kisten, die offensichtlich
Frachtgut enthielten und Fässer, die zum Teil geöffnet, zum größten
Teil aber noch vernagelt waren. Die dunklen Holzplanken waren wohl
aufgrund des Sturmes etwas feucht geworden. Das Schiff knarrte
bedrohlich, während es sich sanft im Wellengang wiegte, als wolle es
jeden Moment auseinanderbrechen. Mehrmals merkte Vivien, wie ein
zarter Windhauch ihr um die Beine wehte. Aber es war nichts zu sehen.
Vivien Gloom, du leidest doch jetzt nicht auch noch unter
Verfolgungswahn, oder? Beherrsch dich, ermahnte sie sich. Noch immer
spukte ihr das Bild ihres von der Lanze durchbohrten Ebenbildes durch
den Kopf. Was war denn nun wirklich passiert? Und wer war diese
Gestalt, die mich ermordet hat? Gedankenversunken erreichte sie den
vorderen Teil des Schiffes, an dem eine Treppe hinauf zur Brücke
führte und eine weitere Treppe hinunter ins Unterdeck. In der
Hoffnung, zumindest einen Steuermann zu finden, schritt Vivien die
Treppe hinauf.
Jegliche
Erwartung wurde enttäuscht. Die Brücke war verlassen. Und dazu, wie
auch der Rest des Schiffes, stockfinster. Nur das fahle, dennoch
helle Mondlicht schien herein und erlaubte Vivien, einen Blick ins
Innere zu werfen. Dort hing an einem Haken ein alter Mantel, das
Steuerrad drehte sich ganz leicht hin und her und ein paar alte
Karten und Notizen wehten von einem Schreibtisch herunter und in die
Ecke des Raumes. Vivien betrachtete die Karten. Sie gaben keinen
Aufschluss darüber, wie der Kurs des Schiffes sein sollte, welches
sein Ziel war oder was überhaupt mit diesem Schiff los war. Sie ging
zurück zum Schreibtisch. Dort lag noch ein altes Buch, leicht
vermodert.
Sie
konnte kaum die Schrift erkennen. ,Logbuch der Letitia´ stand dort
geschrieben. Sie öffnete das Buch. Es war nur ein Eintrag ganz am
Anfang zu lesen.
„Der
3. Oktober: Ich bin sicher, dass dieses meine letzte Reise werden
wird. Nicht, weil ich etwa zu alt bin, sondern weil ich mich mit der
Belohnung, die wir von der Queen erhalten werden, endlich zur Ruhe
setzen kann. Wir bringen einen Schatz nach Port Banish. Das ist ein
langer Trip, aber bisher gab es keine Probleme. Auch heute ist das
Wetter gut, die See angenehm. Ich habe Cedric mit auf die Reise
genommen, damit er sieht, was sein alter Vater so macht und damit er
vielleicht selbst die Reiselust entdeckt. Es ist schön mitanzusehen,
wie er auf dem Deck spielt. Marion wartet zuhause sicher auf uns.
Keine Sorge, meine Liebe, wir werden rechtzeitig ankommen. Davon gehe
ich zumindest aus.“
Soso,
Transport eines Schatzes also. Aber wie lange konnte das her sein?
Nirgends stand ein anderes Datum als der 3. Oktober. Jetzt war es
August. Vielleicht war das Schiff in ein Unwetter geraten und trieb
jetzt seit fast einem Jahr orientierungslos auf dem Meer herum. Eine
andere Erklärung konnte Vivien für dieses unheimliche Schiff nicht
finden. Langsam gewöhnten sich ihre Augen immer mehr an das Licht.
Vivien konnte nun erkennen, dass einmal ein Vogel seinen Platz auf
der Brücke hatte. Noch immer stand der Käfig in einer Ecke. An
einer Wand lagen Holzspielsachen verstreut. Es war eindeutig, dass
hier ein Kind gespielt hatte, offensichtlich der Sohn des Kapitäns.
Obwohl das Schiff einen verlassenen Eindruck machte, schien es, als
hätte es noch vor wenigen Stunden voller Leben gesteckt. Womöglich
waren alle unter Deck, um sich vor dem Sturm zu schützen? Dann
meldete sich Viviens Verstand zu Worte. Denk doch mal nach, Gör. Wer
ist heutzutage noch mit so einem Schiff, ganz aus Holz, unterwegs,
vor allem, wenn es um einen Schatz geht, der transportiert werden
soll? Das Schiff muss einfach älter sein, anders lässt sich nicht
erklären, was ich hier sehe! Ein Krabbeln in ihrem Nacken ließ
Vivien aufschrecken. Sie fühlte, was sich dort bewegte und hielt
kurz darauf eine Spinne in der Hand. Ein Kreischen später warf sie
das Tier von sich, das sich langsam von der Decke abgeseilt hatte,
und schüttelte sich. Erst jetzt bemerkte sie die Spinnweben an der
Decke und in den Ecken. Hier musste schon vor langem der letzte
Atemzug getan worden sein. Aber es musste doch an Deck noch irgendwo
ein Zeichen der Geschichte des Schiffes zu finden sein. Schließlich
hatte Vivien bisher nur die Brücke gesehen, das war ja noch längst
nicht alles. Bevor sie die Brücke verließ, fiel ihr ein Zettel ins
Auge, der an der Rückseite der Tür festgenagelt war:
„Hiermit
vermache ich, Sir Henry Letticeworth, in vollem Besitz meiner
geistigen Kräfte meinem Sohn Charles mein Schiff, die Letitia. Was
mein Privatvermögen belangt…“ Ab hier wurde der Text
unleserlich, was nicht zuletzt durch die Feuchtigkeit verursacht
worden sein musste. Nur noch die Unterschrift von Sir Charles war zu
erkennen sowie das Unterzeichnungsdatum, der 27. Februar 1893.
Wahnsinn, das war vor über hundert Jahren!
Wenn
dieses Schiff schon über hundert Jahre alt war… nein, das war
völlig unmöglich. So lange übersteht kein Schiff. Eine tiefe
Männerstimme hallte aus dem Dunkel von irgendwoher. „Es ist wahr.
Wer auch immer sie sind.“ Vivien blickte sich erschrocken um,
konnte aber nicht erkennen, von wem die Stimme stammte.
„Wer
sind sie? Und woher wissen sie, was ich denke?“ Vivien schaute
verzweifelt umher, aber die Brücke war verlassen. „Zu ihnen
spricht mein Geist. Ich bin Charles Letticeworth.“ Bei dem Wort
,Geist´ begann Viviens Herz, heftig zu pochen. „Sie brauchen keine
Angst zu haben. Jetzt nicht mehr. Falls sie es noch nicht bemerkt
haben – sie sind tot und ebenso ein Geist wie ich. Gefangen auf
diesem verfluchten Schiff auf der Suche nach dem Licht, das ihre
Erlösung bedeutet. Aber es wird keine Erlösung geben, solange das
Unrecht nicht aufgehoben wurde. Dieses Schiff ist verlassen. Finden
sie sich damit ab, dass es ziemlich lange dauern kann, bis wieder ein
Geist Kontakt mit ihnen aufnimmt. Das ist nämlich ziemlich
schwierig. Viel Glück!“ Nach dem dritten Echo war die Stimme
verschwunden. „Hallo?“ fragte Vivien ins Dunkel, bekam aber keine
Antwort. „Hört mich denn keiner?“ Aber wer oder was auch immer
mit ihr gesprochen hatte, war fort. Dann wurde sie sich dessen
bewusst, was die Stimme gesagt hatte. Sie, ein Geist? Vivien blickte
unsicher an sich herunter und erstarrte. Ihr Körper schimmerte
durchsichtig und verschwommen wie der eines Geistes. Nun fielen alle
Puzzleteile der Nacht an ihren Platz. Vivien war ermordet worden.
Ohne den Grund dafür zu wissen, war ihr klar, dass ihr Geist auf
diesem Schiff gelandet ist und sie jetzt ganz verlassen und auf sich
gestellt war. Sie würde sich jetzt umschauen und einen Ausweg aus
dieser Situation finden müssen. Aber wie sieht so ein Ausweg aus,
wenn man tot ist?
Langsam
und noch benommen ging Vivien die Treppe der Brücke hinunter zurück
aufs Deck. Plötzlich überkam sie ein Gefühl der Einsamkeit.
Niemand sonst war auf diesem verfluchten Schiff zurückgeblieben,
wenn sie dem Geist des Kapitäns glauben konnte. Was sollte sie nur
tun? Sie war jetzt ebenfalls Gefangene dieses Schiffes. Erneut
blickte sie um sich, als würde sie sich beobachtet fühlen, doch
niemand war zu sehen. Der Mond war hinter einer vereinzelten Wolke
verschwunden, doch erstaunlicherweise war es noch hell genug, dass
Vivien die einzelnen Details auf dem Deck erkennen konnte. Sie konnte
sogar die kleinen Holzschnitzereien erkennen, mit denen die Tür zum
Unterdeck verziert war. Es bestand kein Zweifel – der frühere
Besitzer dieses Schiffes war nicht gerade ein armer Mensch gewesen.
Was nützt es, jetzt muss ich mich mit der Situation abfinden, dachte
Vivien sich und betrat die Tür, die zu einer Treppe führte. Sie
stieg herab. Nach sieben Stufen war die erste Treppe zuende. Genau in
die entgegengesetzte Richtung führte eine mindestens doppelt so
breite und an den Geländern reich verzierte Treppe weiter nach
unten, bis Vivien auf dem Unterdeck ankam.
Sie
trat direkt in eine große Halle, die sie sofort an den Empfangssaal
des kleinen Theaters von Dandera erinnerte. Die Halle war mit einem
Teppichboden versehen, der erstaunlich wenige Anzeichen des Alterns
aufwies, so als wäre er gerade erst ausgelegt worden. An den Wänden
steckten Kerzenhalter, aber sie waren ausgelöscht. Auf eine ganz
seltsame Weise schien es Vivien, als kämen zwischen den Leuchtern
Personen aus den Wänden gelaufen. Es standen vereinzelt Stühle und
Tische herum. Der einzige Unterschied zum kleinen Theater bestand
darin, dass sich eine triste Einsamkeit auf diesem Schiff einnistete,
während in Dandera damals fast jede Woche wichtige Empfänge
abgehalten wurden. Vivien trat ein paar Schritte ins Dunkel, als wie
von Geisterhand die Leuchter ringsherum aufflammten. Die Halle wurde
mit einem Mal hell erleuchtet. Jetzt konnte Vivien klar sehen, dass
an den Wänden zwischen den Kerzen Gemälde hingen, die diverse
Stilleben darstellten. Von dieser Halle aus führte direkt gegenüber
der Treppe eine große Tür geradeaus, rechts und links daneben etwas
abseits zwei kleinere Türen. Bevor ich mich in die Eingeweide dieses
Wracks stürze, möchte ich mich umsehen, ob sich hier vielleicht ein
Hinweis auf die Vergangenheit oder Gegenwart befindet. Viel lieber
wäre mir natürlich eine Spur auf meine eigene Zukunft, überlegte
Vivien zweifelnd. Hatte sie überhaupt eine Zukunft oder war sie
verdammt, für immer auf diesem Schiff zu weilen?
Die
Halle bot keine weiteren Besonderheiten. Abgesehen natürlich davon,
dass sie sich im Gegensatz zur Brücke und zum Oberdeck in einem
erstaunlich guten Zustand befand. Vielleicht lag das aber auch nur an
der unterschiedlichen Beleuchtung. Da diese Halle offensichtlich nur
als Treffpunkt diente und den Übergang zum Deck ermöglichen sollte,
hielt sich Vivien hier nicht weiter auf. Sie ging zu der großen Tür
genau gegenüber der Treppe und drückte die Klinke herunter, doch
öffnete die Tür sich nicht. Sie war verschlossen und Vivien besaß
keinen Schlüssel. Damit wäre das Thema wohl erledigt, meinte sie zu
sich.
Dann
wandte sie sich der linken Tür zu. Sie führte in einen langen Gang,
an dessen linker Seite sich mehrere Türen befanden, an der rechten
Seite nur eine große Tür. Vivien überlegte. Das hier könnte ein
Passagierschiff gewesen sein – es macht alles den Eindruck, als
seien vor dem Transport des Schatzes, oder vielleicht noch auf
derselben Reise wohlhabende Personen an Bord gewesen. Hier könnte es
zu den Kabinen gehen, die Tür an der rechten Seite führt
wahrscheinlich in denselben Raum, in den auch die große Tür in der
Empfangshalle führt. Die reichhaltige Ausstattung der Halle ließ
auf ein gehobenes Publikum schließen. Vielleicht waren die
Unterkünfte ja von derselben Qualität? Vorsichtig öffnete Vivien
die erste Tür zu ihrer Linken. Mit einem unnatürlich lauten Knarren
schwang sie nach innen auf. Sofort musste Vivien niesen. Die dicke
Staubschicht auf der Klinke hätte ihr bereits anzeigen müssen, dass
lange niemand mehr in diesem Raum war. Durch den Luftzug, der wohl
seit vielen Jahren das erste Mal durch die Kammer zog, wurde eine
Unmenge Staub aufgewirbelt. Um sich vor dem Kribbeln zu schützen,
hielt Vivien sich einen Ärmel vor die Nase. In der Kammer war es
stockfinster. Obwohl draußen im Gang Kerzenleuchter das Dunkel
vertrieben, schien kein einziger Lichtstrahl in den Raum hinein. Ganz
merkwürdig, als würde irgendeine Kraft das Licht draußen bannen,
vermutete Vivien. Sie tastete sich mit der freien Hand langsam
vorwärts, kam aber nicht weit. Große, harte Gegenstände
versperrten den Weg. Es war, als wäre das Zimmer mit Kisten, Truhen
und Kommoden vollgestellt. Der Staub brannte ihr in den Augen, daher
verließ Vivien die Kammer schnell wieder und schloss die Tür hinter
sich. Vielleicht war ja die nächste Kabine aufschlussreicher. Doch
als Vivien gerade die Klinke berühren wollte, löste diese sich in
Wohlgefallen auf. Sie untersuchte die Tür. Es gab keine Möglichkeit,
sie zu öffnen. Auch als sie sich mit aller Kraft dagegenstemmte, tat
sich nichts. Vor Erschöpfung lehnte Vivien sich gegen die Tür und
sank zu Boden.
Was
war bloß das Geheimnis dieses Schiffes? Hier Dunkelheit, dort
Lampen, die sich von selbst entzündeten, Geister – wohin konnte
das noch führen? Plötzlich ging ihr ein Licht auf. Na klar! Ich bin
doch ein Geist, also kann ich durch Wände gehen. So komme ich durch
die Tür, dachte Vivien und stand auf. Doch als sie sich umdrehte,
war die Tür ganz verschwunden. An ihrer Stelle hing jetzt ein großes
Gemälde an der Wand, welches einen kleinen Jungen mit seinen Eltern
darstellte, die in einem Säulengang spielten. Von dem plötzlichen
Wandel gänzlich unbeeindruckt ging Vivien auf die Wand zu. Als sie
mit dem Kopf dagegen stieß, wurde ihr klar, dass sie Geist auf einem
Geisterschiff war und die „normalen“ Regeln hier scheinbar
sowieso keine Bedeutung hatten. Sie betrachtete das Bild genauer. Wie
eine Art Überschrift schmückte ein Spruchband den oberen Rand. Dort
stand geschrieben: „Amor filii non moritur.“ Die Liebe des Sohnes
stirbt niemals. Es zahlt sich zwar aus, dass ich mal Latein gelernt
habe, aber ich verstehe die Bedeutung trotzdem nicht. Soll mir erst
mal egal sein. Vivien ging zur nächsten Tür.
Kapitel
4 – Das
Grammophon
An
der Tür war ein Messingschild angebracht. Darauf stand in schwer
leserlichen Buchstaben: „Kabine 7c, Vivien Gloom, Reisende“. Es
war nicht zu glauben. Vivien Gloom, das war sie selbst! Als hätte
jemand gewusst, dass sie auf diesem Schiff landen würde. Oder war
sie vielleicht schon mal hier gewesen? Aber das wäre ja vor knapp
einhundert Jahren gewesen, das war unmöglich! Mit einem bangen
Gefühl betrat Vivien ihre eigene Kabine.
Der
Anblick war ekelerregend. Das Zimmer lag im Dunkeln, nur das
Mondlicht, das durch ein Bullauge schien, ließ vereinzelte Blicke
zu. Vivien konnte schemenhaft ein heruntergekommenes Bett an einer
Wand erkennen. Daneben stand ein Nachttisch, dessen Schubladen
herausgezogen waren. Der Teppich hatte Löcher. Die Leuchter an den
Wänden waren zerbrochen. Ein Sofa war ganz schwarz und glänzte
durchnässt. Das Einzige, was noch halbwegs intakt zu sein schien,
war ein altes Grammophon, das auf einem Schreibtisch gegenüber dem
Bett stand. Vivien betrachtete es genauer, während ihre Augen sich
an die Dunkelheit gewöhnten. Eine Klangwalze war eingelegt. Vivien
drehte an der Kurbel, die aus der Seite des Grammophonkastens ragte
und zog es auf diese Weise auf. Dann ließ sie die Musik spielen.
In
dem Moment, als die ersten Töne erklangen, ging eine seltsame
Wandlung mit der Kabine vor sich. Wie ein schwarzer Schleier fielen
die Schatten ab, der Moder verschwand mit einem leisen Rauschen. Die
Leuchter an den Wänden waren wieder wie neu und entzündeten sich
von alleine. Im Hellen konnte Vivien erkennen, dass der Raum größer
war, als er zuerst schien. Das Bett hatte sich in ein Himmelbett mit
roten Vorhängen verwandelt, die ebenfalls roten Samtvorhänge an den
Wänden schufen eine sehr gemütliche Atmosphäre. Ganz automatisch
sank Vivien auf das weiche Sofa herab und beobachtete die
Verwandlung: Der Teppich flickte sich von selbst, die faulen Bretter
des Schreibtisches wurden gegen Mahagoniholz ausgetauscht. Das Zimmer
glich jetzt einer Luxussuite in einem Hotel, alles war wieder wie neu
und auf Vordermann gebracht. Vivien konnte jetzt bei Licht erkennen,
dass der Schreibtisch dem in ihrer Ferienwohnung erschreckend ähnlich
sah. Ein Verdacht überkam sie. Sie öffnete die zweite Schublade auf
der linken Seite, in der sie damals ihr Tagebuch abgelegt hatte. Da
lag es auch jetzt, doch war es im Gegensatz zu allem anderen in
diesem Zimmer vergammelt und es steckte ein Messer darin. Vivien riss
es heraus, worauf es zu Staub zerfiel. Sie betrachtete die
Eintragungen. Die beschriebenen Seiten waren zerrissen. Das Letzte,
was zu lesen war, waren die Worte: „Verstanden? Zauberhaft, haha! …
Jetzt ist es ungefähr eine Stunde später und ich bin tot. Pah, bei
meinem versauten Leben ist das ja sowieso egal. Was hätte schon aus
mir werden können? In der Hölle bin ich am besten aufgehoben!“
Aber das habe ich nie geschrieben, dachte Vivien verzweifelt. Erst
der Dolch im Buch und dann dieser Eintrag! Wer konnte sie nur so sehr
hassen und vor allen Dingen, warum? Sie öffnete das Bullauge. Die
Luft, die hereinströmte, war angenehm warm und frisch. Dennoch
konnte sie sich nicht mehr daran erfreuen. Nachdem Vivien einen
kurzen Moment überlegt hatte, warf sie ihr Tagebuch aus dem Fenster.
Es fiel ins Wasser und schwamm dort obenauf, während sich die Seiten
langsam auflösten. Vivien schaute dem Buch hinterher, bis es außer
Blickweite war. Dann sank sie auf das samtene Sofa.
Die
Atmosphäre in ihrer Kabine war warm und herzlich. Vivien fühlt sich
sehr wohl, was ihr nicht ohne Grund Angst machte. Sollte dieses
Zimmer ihr neues Zuhause auf ewig sein? Sicher, für einen Moment
lang war es hier schön, aber das konnte doch nicht alles sein! Vom
Sofa aus fiel ihr Blick das erste Mal auf die Vitrine, die an der
gegenüberliegenden Wand stand. Verschiedene Getränke standen dort
bereit. Vivien betrachtete sie aus der Nähe. Klasse, ein Blue
Lightning! Das ist mein Lieblingscocktail… aber wer hat den dort
hingestellt? Mir kommt es fast vor, als ob jemand mit Absicht
versucht, mich hier festzuhalten. Oder als würde mich jemand davon
abhalten wollen, mehr über dieses Schiff herauszufinden. Ich darf
mich davon nicht täuschen lassen, nahm Vivien sich fest vor und
verließ forschen Schrittes die Kabine.
Wieder
draußen wurde ihr sofort bewusst, um wie viel besser das Zimmer doch
gewesen war. Auf dem langen gang war es kühl und er war durch die
Leuchter nur schwach erhellt. Vivien wandte sich nach links und ging
zur nächsten Tür. Plötzlich wurde sie stutzig. Auf dem Oberdeck
hatte das Schiff längst nicht so einen großen Eindruck gemacht.
Andererseits war hier sowieso nichts vernünftig zu erklären. Hinter
der nächsten Tür verdeckte ein Vorhang den direkten Blick in das
Zimmer. Vivien nahm den Vorhang mit der Hand beiseite. Dahinter
befand sich noch ein zweiter Vorhang. Auch diesen schob sie aus dem
Weg, nur um dahinter einen weiteren Vorhang zu finden. So versuchte
Vivien, den Weg ins Zimmer zu finden, doch als sie nach einer Zeit,
die ihr endlos erschien, noch immer zwischen den Vorhängen
herumstöberte, gab sie es auf. Sie würde wohl oder über einen
Vorhang nach dem anderen ihren Weg nach draußen finden müssen, doch
bereits nach einem befand sie sich wieder auf dem Gang. Angewidert
von den Streichen, die man mit ihr spielte, schloss sie die Tür
hinter sich und betrachtete das Messingschild, das an der Tür
angebracht war. Darauf befand sich jedoch keine Schrift; es war
komplett frei. Wenn mich hier jemand in den Wahnsinn treiben will,
ist er auf dem besten Weg dazu, ärgerte sich Vivien. Dennoch war sie
nicht bereit, an ihrer Lage zu verzweifeln. Sie war mehr als zuvor
entschlossen, den Grund für alles herauszufinden. Den Grund für
ihre Ermordung und für dieses Geisterschiff. Sie ging zur nächsten
Kabine.
„Kabine
1a, John Waters, Reporter“. Die Kabine war verschlossen, hatte aber
zum Glück ein Schlüsselloch. Also muss ich auch irgendwo den
Schlüssel dafür finden können. Schwungvoll wollte Vivien den gang
weitergehen, doch er war zu Ende. Kabine 1a war die letzte in diesem
Flur. Am Ende befand sich eine kleine Tür. Vivien öffnete sie und
betrat das Heck des Schiffes. Also ist das Schiff doch nicht endlos,
dachte sie erleichtert. Der Raum, in dem sie sich befand, lief zum
Ende hin spitz zu. An der linken und rechten Wand befand sich je ein
Bullauge. Das dadurch hineinleuchtende Mondlicht bot die einzige
Lichtquelle. Genau gegenüber der Tür, aus der sie gerade gekommen
war, befand sich eine weitere Tür, auf der sich seltsame Zeichen
befanden. Sie hatte weder Griff noch Schlüsselloch. Es gab scheinbar
keine Möglichkeit, diese Tür zu öffnen. Ebenso gestaltete sich die
andere Seite des Raumes. Auch dort befand sich so eine Tür ohne
Schloss und Klinke. Dazwischen schien ein rundes Gitter im Boden
einen Weg nach unten zu bilden. Eine vierte Tür, ebenfalls auf der
rechten Seite, führte in die Richtung zurück, aus der Vivien
gekommen war. Das Gitter zog Viviens Aufmerksamkeit auf sich. Ob es
vielleicht in einen Frachtraum führte? Sie mühte sich redlich ab,
um das Gitter aus der Verankerung zu lösen, doch es saß fest. Der
Weg nach unten war verschlossen, wie schon so viele andere Wege auf
diesem Schiff. Vivien gab es auf und betrat die Tür, die zurück in
Richtung der Haupthalle mit der Treppe zum Oberdeck führte.
Wieder
fand sie sich in einem Gang wieder, der dem auf der anderen Seite zum
Verwechseln ähnlich sah. Zu Viviens linker Seite befanden sich
mehrere Türen, zu ihrer Rechten eine große Tür. Genau auf diese
steuerte Vivien als erstes, in der Befürchtung, dass auch sie
verschlossen sei und wie die beiden anderen größeren Türen in eine
Halle oder einen Saal führen musste. Sie hatte richtig gedacht, die
Tür war verschlossen. Auf der linken Seite des Flures befanden sich
genau wie im anderen Flur vier Türen; die zweite Tür hatte sich
damals ja als Gemälde entpuppt. Das hier müssen weitere
Passagierkabinen sein, meinte Vivien und schaute sich das erste
Messingschild an. „Kabine 5b, Ma…“ – mehr war nicht zu lesen,
da die Plakette im Laufe der Zeit ziemlich abgenutzt worden war. Die
Tür ließ sich nicht öffnen. Sie musste von innen blockiert werden,
denn es gab offensichtlich keine Möglichkeit, sie abzuschließen.
Nur in der Tür befand sich ein Relief, das einen Käfer darstellte.
Aus dem Inneren des Zimmers kamen ein leises, tiefes Summen und ein
frischer Windhauch. Vivien überlegte. Dieses Schiff steckt voller
Leben in jedem Zimmer, obwohl es eigentlich ein Geisterschiff ist.
Aber alle Räume sind abgeschlossen. Meinte nicht der Geist auf der
Brücke, dass ich noch andere Geister treffen würde? Ob die sich
vielleicht in den Räumen aufhalten? Oder bin ich letzten Endes doch
verlassen auf diesem Kahn? Ich will hier weg!
Sie
untersuchte die nächste Tür. „Kabine 8c, Daniel Baker, Fotograf“
Vivien betrat das Zimmer. Eine Lampe spendete rotes Licht, wodurch
alles in dem Raum etwas unwirklich erschien. In einer Ecke stand das
Bett, daneben eine Kommode. An der gegenüberliegenden Wand befand
sich ein Schreibtisch, über dem eine Schnur aufgehängt war. Auf dem
Schreibtisch befanden sich zwei Plastikwannen und mehrere Flaschen,
daneben ein Karton mit weißem Papier. Direkt gegenüber der
Eingangstür hing an der Wand ein Porträt der Queen. Tja, sieht
tatsächlich aus wie in einem Fotolabor. Ich frage mich allerdings,
was die Aufschrift an der Tür zu bedeuten hat. War Daniel Baker
damals, als das Schiff den Schatz transportieren sollte, Passagier an
Bord oder ist er es jetzt oder befindet sich sein Geist hier? Ich
habe noch kein Anzeichen von irgendwelchen anderen Geistern hier
gesehen, nur den Kapitän vorher. Vivien fragte sich, ob diese weißen
Papierbögen wohl entwickelt werden müssten. Sie schaute sich die
Flaschen an, die auf dem Arbeitstisch standen. Zwei Flaschen, eine
mit der Aufschrift „Destilliertes Wasser“ und eine mit
„Entwicklerlösung“ nahm sie an sich. Sie füllte das Wasser in
eine Wanne, die Lösung in eine andere. Ich darf die beiden nur nicht
durcheinanderbringen, ermahnte sie sich. Dann nahm sie einen Bogen
und legte ihn zuerst in die Entwicklerlösung. Langsam färbte das
Blatt sich schwarz. Vivien konnte zusehends Personen erkennen, die
auf dem Bild dargestellt waren. Stop, das ist zuviel! Zu spät. Als
sie das Bild aus der Lösung nahm und ins Wasser legte, war es fast
komplett schwarz und verwischt. Nichts war mehr zu erkennen. Aber es
gab ja noch mehrere Bögen, und mit der Zeit wurden Viviens
Entwicklungen immer besser. Auf einem Foto war ganz deutlich das
Oberdeck des Schiffes zu erkennen. Darauf posierte der Kapitän mit
einer jungen Frau und einem kleinen Jungen für die Kamera. Der Junge
könnte der Sohn des Kapitäns sein. Cedric war sein Name. Aber wer
ist das junge Mädchen? Sie war vielleicht 22 Jahre alt und damit für
den Kapitän doch eigentlich zu jung, der sah aus wie 50! Ein
weiteres Foto zeigte das Schiff in einem Hafen, auf dem Foto danach
sah man, wie der Kapitän einem vornehmen Herrn die Hand schüttelte.
Vivien staunte nicht schlecht, als sie ein Foto zweier Schatztruhen
sah, die bis zum Rand mit Münzen und Preziosen angefüllt waren. War
das vielleicht der Schatz der Königin, von dem im Logbuch die Rede
war? Dann ließe sich ja so langsam konstruieren, was damals
vorgegangen ist! Vivien setzte sich in einen Ohrensessel, der
zwischen dem Arbeitstisch und einer verdorrten Pflanze in der
Zimmerecke stand.
Irgendwann
zu Beginn des 20. Jahrhunderts muss der Kapitän den Auftrag
angenommen haben, einen Schatz zu transportieren. Weiterhin hat er
auf dieser Reise auch Passagiere mitgenommen, unter anderem einen
Fotografen namens Daniel Baker. Ob dieser Reporter, John Waters
damals auch dabei gewesen ist, war nicht sicher. Jedenfalls muss auf
dieser reise etwas passiert sein. Wahrscheinlich war das Schiff auf
ein Riff aufgelaufen oder ist in einen Sturm geraten? Vielleicht war
es damals gesunken und treibt deswegen jetzt sein Unwesen? Das war
es, was Vivien herausfinden musste. Was war damals auf jener Reise
geschehen?
Zur
Sicherheit steckte Vivien die wichtigsten Bilder in ihre Hosentasche.
Dabei bemerkte sie das Loch und das Fehlen ihres Wohnungsschlüssels,
den sie am Vortag verloren hatte. Das kann mir jetzt sowieso egal
sein. Ich bin tot, jetzt kann es nur noch wichtig sein, befreit zu
werden von diesem Schiff. Das kann es nicht sein, was man allgemein
„Leben nach dem Tod“ nennt. Wütend verließ sie die Kabine und
zog die Tür energisch zu.
Die
nächste Tür im Flur besaß an Stelle einer Klinke einen runden
Knauf, der mit einer goldenen Sonne verziert war. Sie war trotz des
schwachen Lichtes deutlich zu erkennen. Die Sonne hatte ein
verspieltes Gesicht und lud geradezu ein, einzutreten. Vivien drehte
den Knauf, doch zu ihrer großen Enttäuschung ließ sich auch diese
Tür nicht öffnen. Eine Tür noch. Wenn ich dort nichts finde, kann
ich hier wohl versauern. Es war die letzte Tür auf der linken Seite
des Ganges, an dessen Ende sich wiederum eine Tür befand, die
Viviens Vermutung nach wieder in die Empfangshalle führen musste.
Sie überprüfte den Sachverhalt schnell und sah, dass sie Recht
hatte. Es führten demnach zwei Gänge vom Bug zum Heck des Schiffes,
an deren Seite sich insgesamt acht Kabinen befanden. In der Mitte
musste ein großer Saal sein, der aber verschlossen war. Vivien ging
zurück in den Flur und ging durch die letzte Tür, die sie noch
nicht beachtet hatte. Der Raum dahinter war verhältnismäßig
schmal. Eine einsame Kerze brannte an der Wand und spendete mehr
Schatten als Licht. Der Staub lag zentimeterdick auf dem Fußboden.
Am Ende des Raumes befand sich ein großer Tresor, der bis zur Decke
hinaufreichte. In dessen Tür befanden sich seltsame Vertiefungen.
Vivien betrachtete sie genauer und überlegte. Die müssen etwas mit
dem Öffnungsmechanismus zu tun haben. Ein Stern, ein Mond, eine
Blume. Ziemlich verspielt für einen Tresor. Verspielt? Langsam
kehrten die Bilder von der Brücke zurück. Der Schreibtisch des
Kapitäns, die Spinnenweben, der Vogelkäfig und die Holzbausteine.
Kleine Klötzchen in Form von Sonne, Mond und Sternen, kleine
Tierchen und bestimmt auch eine Blume! Einen Versuch ist es wert,
meinte Vivien und verließ den Raum. Über die Treppe in der
Empfangshalle gelangte sie wieder aufs Oberdeck.
Noch
immer herrschte tiefste Nacht, die See war ruhig und gespenstisch lag
das Schiff inmitten unendlicher Weite. Vivien ging auf die Brücke,
nicht ohne die leise Hoffnung, den Geist des Kapitäns wiederzusehen,
doch sie war allein. Nichts war zu sehen oder zu hören. Sie ging zu
den Holzklötzen und nahm einen Stern, eine Blume und einen Mond mit.
Dann ging sie wieder unter Deck. Der Anblick der Empfangshalle
überraschte sie sehr: Die Leuchter an den Wänden gaben plötzlich
nur blaues Licht ab, was die gesamte Atmosphäre noch viel
unheimlicher machte. Wieder zurück im Tresorraum setzt Vivien die
Holzteile in die Vertiefungen der Safetür ein. Diese öffnete sich
daraufhin langsam mit einem tiefen Knarren. Vivien zog die Tür mit
aller Kraft auf, sie war wirklich sehr schwer. Der Tresor war viel
größer, als sie vielleicht geglaubt hätte. Der Innenraum war noch
mal so groß wie der Raum vor dem Tresor. Innen befanden sich mehrere
Schließfächer. Schilder darauf trugen die Namen der Eigentümer der
Gegenstände darin. Vermutlich waren sie alle verschlossen, auch war
nur die Hälfte der Namen lesbar. Nur ein Fach stand offen und war
herausgezogen.
Kapitel
5 – Das
Grammophon
(Fortgesetzt)
„John
Waters“ war noch gerade darauf zu lesen. Das Fach enthielt einen
Zeitungsartikel und einen kleinen Schlüssel. Vivien betrachtete den
Artikel, der sich noch in erstaunlich gutem Zustand befand.
Berichtet
wurde von der Eroberung eines kleinen Staates in Afrika durch die
Macht der Queen und der daraufhin folgenden Überführung des
Schatzes nach England. Das ist es, dachte Vivien. Das muss der
Schatztransport sein, von dem im Logbuch die Rede war. Die Queen ließ
sofort den erbeuteten Schatz hierher bringen, und zwar von Kapitän
Charles Letticeworth. Hmmm, vielleicht ist auch bei der Überfahrt
das Schiff von Piraten überfallen worden, die sollen ja nie
aussterben. Vivien betrachtete das Datum, das den Artikel zierte. Es
war der 22. September 1902. Nur eine kurze Zeit, bevor sich das
Schiff auf die Reise gemacht hatte. Damit stand fest, dass sich das
Schiff bereits seit gut 100 Jahren auf dem Meer befand. Aber was
nützte dieses Wissen jetzt noch. Der Artikel wurde von John Waters
geschrieben, der in demselben Text schon darauf aufmerksam machte,
dass er der Reise beiwohnen werde. Viel mehr ließ sich daraus nicht
erkennen. Vivien nahm den Schlüssel an sich. Es gab keinen Zweifel,
dass dieser Schlüssel zur Kabine von Mr Waters passte. Hinter Vivien
knarrte die Tresortür bedrohlich. Schnell verließ sie den Tresor,
um nicht eingeschlossen zu werden. Mit dem Schlüssel, den sie
wohlweislich nicht in die Hosentasche gesteckt hatte, sondern noch
immer in der Hand hielt, ging Vivien auf Kabine 1a am Ende des
anderen Flures zu. Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte
ihn herum. Mit einem Knarren sprang die Tür auf.
Die
Kabine des Reporters war spärlich möbliert. Wahrscheinlich hatte zu
seiner Zeit die Zeitung die Kosten für die Überfahrt übernommen
und kräftig gespart. Das Zimmer war verhältnismäßig klein und
stand in keinem Vergleich zu Viviens Kabine. Eine Pritsche stand in
einer Ecke des Zimmers, in der anderen stand ein Schreibtisch. Dazu
ein Holzstuhl und eine schlichte Kommode. Neben dem Schreibtisch
stand ein Mülleimer. Vivien setzte sich an den Schriebtisch und
öffnete die Schubladen zur Linken und Rechten. Sie waren alle leer.
Im Mülleimer dagegen lag ein zerknülltes Stück Papier. Vivien
fischte es heraus und entfaltete es. Es war ein weiterer
Zeitungsartikel, datiert auf den 7. Oktober 1903.
„Mysteriöser
Mord an Liebespaar: Einen Monat nach dem Mord an Millionär Charles
Letticeworth fallen Daniel Baker und Victoria Norton eine Woche vor
der geplanten Hochzeit den Fängen eines Serienmörders zum Opfer.
Obwohl der Mord am ehemaligen Kapitän und an dem Pärchen einen
Monat auseinanderliegen, vermutet die Polizei denselben Täter, da
alle auf die gleiche Art und Weise hingerichtet wurden – Mit einem
spitzen Gegenstand wurden sie erstochen. Da noch immer ungeklärt
ist, wohin der Körper des Kapitäns verschwunden ist (wir
berichteten vom Raub), werden die Leichen des Paares streng bewacht.
Wir werden weiter berichten.“
Auch
dieser Artikel war von John Waters unterschrieben. Vivien machte sich
Gedanken. Dieser Artikel klärte viele Fragen, warf aber auch
unheimlich viele neue Fragen auf. Die Reise muss gut verlaufen sein.
Sonst hätte Waters nie diesen Artikel schreiben können, der ja gut
ein Jahr nach der Reise erschienen ist. Nach der Reise jedoch ist der
Kapitän ermordet worden, warum auch immer. Und danach dieses
Liebespärchen. Warum nur kam ihr der Name Baker so bekannt vor?
Daniel Baker, natürlich! Der Bewohner von Kabine 8c, der Fotograf.
Er war damals mit seiner Freundin auf einer Überfahrt wahrscheinlich
von Afrika nach England unterwegs gewesen. Aber warum mussten die
beiden sterben? Vielleicht hing das Verschwinden der Leiche des
Kapitäns irgendwie mit dem Verschwinden der Menschen in der Neuzeit
in England zusammen? Plötzlich spürte Vivien ein Stechen in ihrem
Kopf.
„Lassen
sie ihre Finger davon. Ihre eigene Hinrichtung hätte sie davon
abhalten sollen, herumzuschnüffeln. Egal, jegliche Erkenntnis wird
nutzlos sein. Sie sind tot!“ schrie die Stimme.
War
es eine Männerstimme?
War
es eine Frauenstimme?
Vivien
hatte keine Gelegenheit, darüber weiter nachzudenken. Das Bullauge
schlug auf und ein kalter Wind fegte herein. Der Himmel blitzte hell
auf und lauter Donner war zu hören. Ein heftiges Unwetter war wie
aus dem Nichts draußen aufgezogen. Regentropfen brachten Vivien zum
Frösteln. Das Schiff geriet durch den Wellengang ins Schwanken, die
Kabinentür schlug auf und zu. Aus dem Inneren des Schreibtisches kam
ein unheimliches Geräusch. Mit zitternden Fingern öffnete Vivien
noch einmal langsam die Schubladen. In diesem Moment ging der Artikel
in Flammen auf. Blaues Feuer, wie kurz zuvor in der Empfangshalle.
Das blaue Licht musste ein Zeichen der Anwesenheit des Bösen sein,
Vivien fühlte sich sterbenselend, obwohl sie bereits tot war. Zu
ihrer großen Überraschung lag plötzlich in einer Schublade eine
Klangwalze. Daneben lag eine Akte. Vivien warf einen Blick in die
Akte.
Dort
stand: „Unterlagen Mordfall Letticeworth – Fall abgeschlossen,
offiziell Selbstmord. Fall Baker & Norton – Zeugenaussagen:
Aussage Mary Riley auf der Tonrolle. Aussage Louis Nounes (Matrose):
sagt, Mord hinge mit Schiffsreise zusammen, auf der sich alle Opfer
befanden (bezieht sich dabei auch auf Mord an Letticeworth),
außerdem…“ In diesem Moment riss ihr der Wind die Akte aus der
Hand. Die Zettel flogen wild durcheinander und alle zum Bullauge
hinaus. Jetzt sind alle Aussagen verloren, dachte Vivien. Wenigstens
habe ich noch die Klangwalze, die Aussage Mary Rileys. Dann fiel ihr
Blick auf einen Papierfetzen, doch nicht hinausgeweht worden war. Er
hatte sich an einem Haken am Bullauge verhakt. Sie nahm das Papier
ab; es hatte wohl auch in der Akte gelegen. Es war ein Brief, über
dem schräg in rot geschrieben stand: „Beweisstück“. Vivien
versuchte, den übrigen Text zu lesen.
„Victoria!
Sie werden für das bezahlen, was sie getan haben. Sie…“ Der Rest
war abgerissen. Das blaue Licht war mittlerweile verschwunden. Die
Arbeitsfläche des Schreibtischs war vom Regen ganz durchnässt. Auch
Viviens Kleidung hatte einiges vom Regen abbekommen. Dennoch
motiviert nahm Vivien die Rolle an sich und ging zurück in ihre
eigene Kabine.
Die
warme Luft und die gemütliche Kabine ihres Zimmers behagten Vivien.
Sie setzte die Klangrolle in das Grammophon ein und lauschte den
Worten Mrs Rileys. Es waren nur wenige Sätze, doch sie zeigten
Wirkung.
Das
war sehr interessant. Nach wenigen Sätzen brach die Aufnahme ab.
Zweifellos, wie es auch in der Akte stand, sprach Mrs Riley von
Daniel Baker und Victoria Norton, dem Liebespaar, das ermordet wurde.
Und sie erzählte, dass ein kleiner Junge ein Jahr vorher ertrunken
ist. Wollte sie damit irgendetwas andeuten? „Die Aufseher haben
nicht aufgepasst. Sie vergnügten sich, während der Junge ertrank!“
Welche Aufseher meinte Mrs Riley? Und was hatten diese Personen mit
dem Pärchen zu tun? Verwirrt schritt Vivien in ihrer Kabine auf und
ab. Während dieser Ort noch vor wenigen Stunden ein Gefühl der
Wärme ausgestrahlt hatte, fühlte Vivien sich nun hilflos und
verlassen. Sie war tiefer in ein Netz aus Mord und Verstrickungen
gerutscht, als sie es gewünscht hätte – wenn sie die Wahl gehabt
hätte. Hatte sie eine Möglichkeit, die Morde aufzuklären? Morde,
die über ein Jahrhundert zurücklagen? Und welchen Sinn hätte es,
den oder die Täter zu finden? Auch sie war Opfer des Killers
geworden. Könnte die Entlarvung vielleicht ihre Erlösung von diesem
Geisterschiff sein? In dem Falle war es ihre Aufgabe, dieses
Geheimnis zu lüften. Sie nahm sich vor, all ihre bisherigen
Erkenntnisse und Entdeckungen auf einem Notizblock festzuhalten.
Wahrscheinlich war in der Kabine des Fotografen einer zu finden.
Vivien
wollte gerade losgehen, als sie vom Grammophon seltsame Geräusche
vernahm. Es spielte irgendeine melancholische Musik ab. Plötzlich
löste sich die Klangrolle in Rauch auf, noch während die Musik
spielte. Der Rauch legte sich wie eine Decke über das ganze Zimmer
und vernebelte Viviens Geist. Sie fühlte sich auf der Stelle
unendlich müde und depressiv, was durch die Musik noch verstärkt
wurde. Als sie merkte, wie ihre Knie weich wurden, setzte sie sich
auf das Sofa. Innerhalb weniger Sekunden war sie zusammengesunken und
in eine Art Schlaf verfallen. Langsam verloschen die Kerzen an den
Wänden. In Kabine 7c wurde es kühl und feucht.
Das
Wetter hatte sich zwar beruhigt, nur ein leiser Regen fiel, aber
Viviens Kleidung war noch immer durchnässt vom Erlebnis im Zimmer
des Reporters. Da dies zusammen mit ihrer schiefen Lage auf dem Sofa
nicht die besten Bedingungen zum Schlafen waren, stellten sich bald
die Alpträume ein.
Ein
sehr helles Licht umgab Vivien, doch schwarzer Nebel zog auf und
verdunkelte das Szenario. Vivien befand sich auf einer nächtlichen
Straße, auf der mehrere Kinder spielten und Frauen ihre Einkäufe
erledigten. Plötzlich lief eine Frau auf Vivien zu und rief: „Alle
werden sterben!“ Dann lief sie zu den spielenden Kindern und nahm
ein kleines Mädchen mit sich mit. Zwei der übrigen Kinder gingen
Hand in Hand davon, so dass nur noch ein kleiner Junge übrig blieb.
Aus einem Geschäft kam ein Ehepaar und ging auf den Jungen zu.
Offenbar waren es seine Eltern. Sie drehten sich von ihm weg und
unterhielten sich. Plötzlich wurde der Boden weich und ganz langsam
versank der Junge schreiend im Boden. Die Eltern merkten nichts von
alledem.
Unruhig
wälzte Vivien sich auf dem Sofa hin und her. Schweißperlen glänzten
auf ihrer Stirn.
Plötzlich
war sie auf einem Hochhausdach. Derselbe Junge, der eben in der
Straße versunken war, lief munter auf dem Dach hin und her und
spielte mit einem Papierflieger. Auch dieses Mal standen mehrere
Personen auf dem Dach herum. Die Eltern des Jungen standen neben ihm
und freuten sich, dass ihr Kind so viel Spaß hatte. Plötzlich sah
Vivien das Gesicht der Frau. Es war ein anderes Gesicht als auf der
Straße. Der Junge rannte vergnügt von einem Ende des Daches zum
anderen. Ein junges Pärchen küsste sich in einer unauffälligen
Ecke. Sie waren völlig mit sich selbst beschäftigt. Dann fing der
Junge an, auf dem Dachsims zu balancieren. Das Unausweichliche
geschah: Er verlor das Gleichgewicht und stürzte in die Tiefe. Und
Vivien stürzte hinterher. Sie fielen immer tiefer, der Abgrund
schien kein Ende zu haben. Schließlich fielen sie in ein endloses
Meer und wurden sofort unter Wasser gezogen. Alle Arten von
Geräuschen kamen plötzlich von allen Seiten auf Vivien zu. Sie
wollte den Jungen mit sich zur Wasseroberfläche nehmen, doch je
näher sie an ihn herantauchte, umso weiter entfernte er sich von
ihr. Hilflos musste sie mitansehen, wie der kleine Junge ertrank.
Dann verwandelte der Junge sich mit einem Mal in Vivien selbst und
beide standen auf einem weiten Feld in der Nacht. Ein Rauschen war zu
hören, es klang, als wollte jemand mit Vivien sprechen, aber sie
konnte nichts verstehen. Sie sah nur ihren Doppelgänger. Sie
blickten sich in die Augen. Wie aus dem Nichts tauchte wieder die
vermummte Person auf, schwang die Lanze in der Hand und stieß sie
Vivien in den Rücken. Plötzlich wurde alles um Vivien herum wieder
schwarz wie eine mondlose Nacht.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen