Mittwoch, 4. Oktober 2017

Extrem verhaltensauffällig: Franz


Franz (F) ist der Alptraum einer jeden Lehrkraft in der Mittelstufe. Achte Klasse, aber F wirkt schon erwachsen. Er ist nicht "einfach nur kleben geblieben", sondern mittlerweile am Ende der Leiter angelangt, an der untersten Sprosse. Er geht in Nordfriesland zur Schule, dabei kommt er aus der Mitte Deutschlands. Kein Wunder: Dank seines Verhaltens ist er von einer Schule nach der anderen geflogen und hat diverse jugendpädagogische Einrichtungen (a.k.a. Kinderheime) hinter sich, und ist nun ganz im hohen Norden gelandet. Am Meer. Wo viele hoffnungslose Fälle hinkommen, weil man glaubt, dass ihnen die Luft und die Ruhe gut tun werden.

F erinnert an einen Bullterrier. Er ist nicht gerade groß, so um die eins fünfundsiebzig. Höher wirkt er nur durch die dicken Sohlen seiner Sportschuhe und durch sein Käppi, das ein paar Zentimeter über seinem fast kahlrasierten Kopf aufliegt. F lässt sich nicht in die Augen schauen, zusätzlich zum Käppi trägt er oft eine Sonnenbrille. Beides soll er im Unterricht abnehmen, weigert sich aber stetig. Außerdem bockt er, widersetzt sich den Lehrkräften ausnahmslos, hinterfragt ihren bescheuerten Unterricht. Konsequent, bis er von den Lehrkräften angeschrien wird, sie als "Fotze" oder "Spasti" beschimpft, kurz davor zu sein scheint, ihnen die Nase zu brechen und aus dem Unterricht fliegt. Das kümmert ihn nicht, denn auf die Schule hat er eh' keinen Bock.

Seine derbe Sprache ist nur einer der Gründe, weshalb kaum ein Lehrer ihn unterrichten möchte. F ist gewaltbereit, in der Schule häufig aggressiv. Er hat seinen Körper viele Monate lang im Fitnessstudio aufgepumpt, hat vierundvierziger Oberarme und man möchte ihm nicht im Dunklen begegnen, denn man muss ernsthaft fürchten, zusammengeschlagen zu werden. F hat keine Angst vor körperlichen Auseinandersetzungen. Schmerz interessiert ihn nicht, er hat sich daran gewöhnt. Er teilt aus, er steckt ein.

Und oft bekommt er den Schmerz nichtmal mit - denn F ist abhängig von psychoaktiven Substanzen, körperlich und seelisch abhängig. In der Schule ist er nur manchmal nüchtern, aber so sehr daran gewöhnt, dass man es ihm oft nicht anmerkt. Er zieht sich diverse Substanzen rein, feiert dann oft mehrere Tage und Nächte durch, geht gegen den Schlafmangel mit Uppern an, bis er zusammenbricht und in einer Klinik wieder aufwacht. Der Schlafmangel erhöht seine Reizbarkeit und Gewaltbereitschaft zusätzlich - und seine Unruhe im Unterricht. Er ordnet sich keinem Lehrer unter, kein Schüler wird so oft angeschrien und des Unterrichts verwiesen wie F. Irgendwie muss er es ja geschafft haben, von zahlreichen Schulen verwiesen zu werden. Seine Schülerakte wird zur Semesterliteratur.

Niemand will F unterrichten. Seine Mitschüler haben Respekt vor ihm, denn auch sie wollen sich nicht mit ihm anlegen. Die anderen "schwierigen Jungs" in der Klasse finden ihn cool, weil er sich überhaupt nichts sagen lässt und noch eine Nummer tougher als sie zu sein scheint, und die Mädchen in der Klasse wollen mit ihm in die Kiste steigen. Er versorgt die halbe Schule mit Drogen. Achte Klasse eben, und irgendwann dann neunte Klasse.

Neunte Klasse - und es geht auf den ESA, den Ersten allgemeinbildenden Schulabschluss zu. Was man früher Hauptschule nannte. F interessieren seine eigenen Noten kein Stück. Er lernt nichts für die Schule, darin sind die Lehrer sich einig. Sie sind sich auch in einer anderen Sache einig: "Der Junge ist gar nicht dumm, verhält sich aber wie ein Aas, aus dem wird nix werden." Und wenn man beobachtet, wie F auf den Abschluss zugeht, möchte man diese Einschätzung teilen, ob es einem nun passt oder nicht. Warum F trotzdem im Fach Politik beim Kollegen L eine Eins hat? Das versteht keiner, auch L nicht. Seine Noten reichen auf HS-Niveau von Drei bis Fünf, sein ungenügendes Betragen in der Schule hat ihm hier und dort auch schon eine Sechs eingebracht.

F hat keinerlei Respekt vor dem Gesetz. Um seinen eigenen Bedarf an Drogen zu sichern, vertickt er selbst weit mehr als nur Gras, Kleinkriminalität ist für ihn Teil des Überlebens. ACAB - All Cops Are Bastards - ist für ihn ein Lebensmotto, die Bullerei ist in der Regel nur scheiße, es sei denn, sie lässt ihn vom Haken. Polizisten bringen nichts als Ärger. Genau wie Lehrer. Deswegen macht er dicht.

Kurzum: Ich fand F unglaublich spannend.

Ich finde ihn immer noch unglaublich spannend. Ich habe F an seiner letzten Schule eine Weile unterrichtet. Klar hat er auch in meinem Englischunterricht sein Ding durchgezogen, aber anders, als gleich auf autoritär zu schalten, habe ich das Verhalten erstmal nur beobachtet und, falls nötig, im Klassenbuch vermerkt. Ich fand das faszinierend und wollte wissen, warum er so tickt. So selbstzerstörerisch. Was ihn anregt. Woher er kommt, welches die Hintergründe sind. Und ich wollte mit ihm eine Regelung finden, wie er mir nicht meinen Englischunterricht zerlegt. Und deswegen habe ich relativ früh angefangen, mit ihm zu sprechen. Ich habe ihn in den Pausen beiseite genommen, bin auch während des Unterrichts in Arbeitsphasen mit ihm rausgegangen und wir haben geredet. Mitten auf dem Schulhof, für alle sichtbar, damit keine Gerüchte aufkommen, sowas kann sehr schnell gehen.

Ich habe versucht, F möglichst deutlich, aber nicht aufgesetzt zu signalisieren, dass ich mich ernsthaft dafür interessiere, ihn zu verstehen, und er hat ein wenig ausgepackt. Einiges von dem Scheiß, den er mir bisher erzählt hat, glaube ich ihm nicht, aber das ist egal, denn auf die Sachen kommt es mir vielleicht auch gar nicht an. Ich entdecke in ihm einen Menschen, der ein riesiges Potential hat.

Es dauert etwa drei Wochen, bis ich die Vermutung äußere, dass der Junge hochbegabt ist. Das stößt im Kollegium nicht gerade auf Verständnis, aber man ist bereit, vor diesem Hintergrund neu zu überlegen, wenn auch mit Vorbehalten. Ich gehe mit meiner Vermutung direkt auf F zu, nehme ihn wieder in's Gespräch und will von ihm wissen, warum er sein Potential nicht nutzt. Und nun kommen langsam die wirklich interessanten Brocken seiner Vita zum Vorschein, die ich hier nicht offenlegen möchte. Tatsache ist: Er ist hochintelligent, zeigt auch die übrigen HB-Verhaltensauffälligkeiten und fällt damit in die klassische Kategorie Underachiever, und als solcher fällt es ihm schwer, Anerkennung im Kollegium zu bekommen, weil dazu sehr viel Offenheit nötig ist. Hell, er hat sogar Neurodermitis, passt doch alles!

Sein Verhalten ergibt jedenfalls für mich einen Sinn, und ich finde es toll, welches Potential in ihm steckt. Er ist mittlerweile raus aus der Schule, hat den ESA mit links gemacht, ist beim MSA zu einem Teil der Prüfung nicht angetreten, der Vollidiot. Ich darf das sagen. Denn er hat diesen Artikel probegelesen und hier steht nichts, was nicht auf unser beider Mist gewachsen ist. Den Dreh hat er noch nicht raus, er ist noch nicht auf der "richtigen" Bahn. Da sind immer noch die Drogen, was ja okay wäre, wenn er sein Konsummuster unter Kontrolle hätte. Und wenn er sich nicht so oft auf die illegale Seite des Alltags begäbe. Wenn er etwas mehr Respekt für den Rechtsstaat hätte. All' das sage ich ihm unverblümt - auf das Risiko hin, angepflaumt zu werden und die Nase gebrochen zu bekommen; aber ich habe ihn damals in der Schule ernst genommen und das weiß er zu schätzen.

Er ist ein verdammt guter Junge, es fehlt ihm momentan nur ein bisschen an der richtigen Orientierung. Und ich hoffe, F wird noch richtig viel aus sich machen. Ich würde es ihm gönnen. Denn er hat sich sein Verhalten nicht ausgesucht. Er möchte. Er kann nur (noch) nicht. Aber die Zeit wird es bringen.

post scriptum: Dieser Beitrag ist mit F abgesprochen, es muss sich also niemand Sorgen machen. Mir liegt das sehr am Herzen, solch' einen Fall einmal zu schildern, als Indiz dafür, dass wir als Lehrkräfte Schüler nicht nach dem ersten Eindruck beurteilen sollten. Auch nicht nach dem zweiten oder dritten... remember Humanismus? "Jeder Mensch ist an sich gut."

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