Samstag, 7. Oktober 2017

Askese & Genuss, Gaarden und ein Scheißkind

Elisabethstraße

Das wird ein chaotischer Eintrag, ein bisschen Gedankenstrom, wie im Titel angedeutet. Angefangen hat es mit einem Blick aus dem Fenster: Regen. Der Herbst hat Kiel erreicht, ich ziehe mich warm an, nachher werde ich eklig durchgeschwitzt sein, aber das macht nichts, dafür gibt es ja das Badreich. Lost Souls-Outfit an, Regenschirm nicht vergessen. Und ab in das Wetter, auf in die Nasskälte. Ich könnte mit dem Auto fahren, ich könnte mit dem Bus fahren, aber das tue ich nicht, denn ich möchte etwas erleben und gehe zielstrebig die Hamburger Chaussee hinunter. Ein bisschen erinnert mich die Atmosphäre an den Wanderer. Und es heißt immer, man soll aufrecht laufen, Blick nach vorn, freundlich lächeln, aber heute ist einfach nicht das richtige Wetter dafür. Ich schaue auf den Fußweg und beim Rutschen wird mir bewusst, dass meine Schuhe keinen Grip haben, kein Wunder, das sind Sportschuhe, aber ich liebe es, solche Schuhe zu tragen. Ist das ein Pädagogending? Denn Thekla, eine der Sozialpädagoginnen an der Nordseeschule, hat auch immer Sportschuhe getragen. Manche sehen das als Zeichen von Pragmatik. Der Gedanke zerfleddert immer weiter, ich biege nach rechts ein auf die Gablenzbrücke.

War das damals ein Aufwand... die Brücke und die Straße zu erneuern, aber nun ist das Ganze zweispurig und toll und... menschen- und autoleer. Ziemlich wenig los hier, denke ich mir, dabei ist es Samstag mittag. Aber warum sollte auch irgendjemand am Samstagmittag über die Gablenzbrücke gehen? Sie verbindet zwei völlig unterschiedliche Welten - und auch das Arbeitsamt hängt an der Gablenzstraße, auch wenn es eigentlich die Adolf-Westphal-Straße als Adresse hat. Den Weg bin ich nun öfters gegangen. Die große Buba auch. Ich bin allerdings noch nie die Gablenzstraße weitergegangen, auch in dem Bewusstsein: Dort beginnt Gaarden.

Kiel-Gaarden. Das ist kein Ort, das ist eine Lebenseinstellung, und da ich diese nicht kenne, schreibe ich nicht darüber. Aber ich wollte ein bisschen Gaardenluft schnuppern. Warum? Meine verrückte Berliner Tante hat mir einmal gesagt, ich solle - wenn ich bei ihr zu Besuch bin - ruhig mal die Karl-Marx-Straße im Stadtteil Neukölln entlangwandern, ein bisschen Leben erleben. Neukölln ist für Berlin, was Gaarden für Kiel ist. Sehr hoher Ausländeranteil. Hohe Kriminalitätsrate. Niedrige Mieten. Sozialer Brennpunkt. Die Tante hat mir gesagt, ich soll das einfach mal kennenlernen. Seitdem ich an Gemeinschaftsschulen unterrichte, weiß ich, was sie damit gemeint hat, und ich bin dankbar für diese Horizonterweiterungen.

Und so lande ich in der Einkaufszone Karlstal, Elisabethstraße, und es fühlt sich an wie in einem anderen Land zu sein. Es ist Wochenmarkt, trotz des nassen Wetters sind sehr viele Menschen draußen unterwegs. Ich falle in meinem Outfit kaum auf und genieße die Schritte durch das Viertel. Es ist laut, es wird gemotzt, wo man auch steht, wird man ein Polizeiauto finden. Selbst der Sky-Markt hat eine eigene Security. Und ich genieße es, endlich wieder ein bisschen real life, endlich raus aus der "heilen Welt" (die ich nie als solche empfunden habe, bevor die Sannitanic mir die Augen geöffnet hat). Ich gehe einkaufen, wenig überraschend, Tomaten, Ciabatta, Mozzarella. Großer schwarzer Mann geht durch die engen Gänge des Ladens, kein Vergleich mit den weitreichenden Korridoren des Edeka in Hassee. Die Menschen hier sind laut und voller Vielfalt, a motley bunch würde der Engländer sagen. Ich habe, was ich brauche, und stelle mich an Kasse zwei von vier offenen an.

Normalerweise sind KassiererInnen auf ein Mordstempo getrimmt, alles über den Scanner ziehen, beep beep (hey Große Buba, das wirst Du bei unserem nächsten Spiel öfters hören), um möglichst viele Kunden in möglichst kurzer Zeit durchzuschleusen. Aber nicht im Sky-Markt am Karlstal in Gaarden. Wir sind vier Kunden und es geht nicht voran. Mir wird zu spät bewusst, dass da gar keine Kassiererin sitzt, obwohl die Kasse offen ist. Scheint wohl Probleme zu geben. Wie erwartet - wie gewünscht. Die Kassiererin geht mit dem Zigarettenbon zum Zigarettenautomaten, um die Schachtel zu holen. Ich warte und schaue zu Kasse drei, wo eine Mutti mit zur Hälfte lila gefärbten Haaren mit ihrem Sohn spricht: "Lass mich jetzt mal in Ruhe bezahlen, du Scheißkind!" Mensch, da haben sich aber ein paar Menschen lieb.

In der Zwischenzeit kommt die Frau mit der Schachtel Zigis wieder, es geht voran... doch nicht. Geschenkpapier. Nimmt der Scanner nicht. Und in aller Seelenruhe blättert die Kassiererin durch die Preistafel, fragt dann ihren Nachbarn, der weiß die Antwort nicht und sie blättert noch ein bisschen weiter, ganz gemütlich... "Fass' meine Bazillen nicht an!" tönt es von der Kasse nebenan, ich lasse all' das auf mich wirken. Endlich ist auch das Geschenkpapier gescannt. Und noch eine Schachtel Zigaretten. Mir wird bewusst, dass hier eine andere Taktung herrscht, als die Kassiererin in aller Seelenruhe mit dem Kunden vor mir über den letzten Urlaub spricht. "Den Pudding gibt es zuhause. ZU! HAU!! SÄH!!!" dröhnt es von nebenan, das Scheißkind scheint einen Puddingbecher aus der Einkaufstasche gefischt zu haben.

Und dann bin ich endlich dran, darf bezahlen (beZAAAHHHwen, sagt die Buba), nehme meine Tüte und gehe an der Security vorbei. Gehe nach rechts, Karlstal entlang, steuere auf die Gablenzbrücke zu. Rückstürz Richtung - was? Normalität? Wie auf dem Hinweg ist die Gablenzbrücke menschenleer und ich kann das Gefühl nicht abschütteln, dass ich eine ganze andere Welt verlasse. Ich biege ab, gelange wieder auf die Hamburger Chaussee, mittlerweile leicht durchnässt, aber glücklich. Das Leben erleben - hat schon was. Die verrückte Berliner Tante hatte Recht - wie schon so oft.

Und nun sollte ich noch etwas zu Askese und Genuss sagen (und auch der Gaarden-Spaziergang war ein echter Genuss!): An Meditationstagen esse ich den ganzen Tag über nichts vor der Meditation. Ich fühle mich dann leichter, befreiter, das ist ein sehr angenehmes Gefühl. Und mein Körper hat sich mittlerweile an dieses intermittierende Fasten gewöhnt. Wenn ich dann im Zustand der Entspannung das Abendessen zubereite, nehme ich alle Aromen noch intensiver wahr. So kann eine Scheibe trockenen Brotes zu einem echten Genuss werden! Ich esse dann langsamer, schließe dabei die Augen... und jetzt verstehe ich auch, warum die Sannitanic im Studium immer den Kopf geschüttelt hat, wenn ich Fertigprodukte, Tütensuppen und co. zu mir genommen hab. Ich fand die damals lecker, aber gerade der Geschmack sei doch ein unidentifizierbarer Brei bei diesen Sachen, meinte sie. Mittlerweile weiß ich also, wie sie das gemeint hat, und ich stimme ihr vollkommen zu. Ich möchte erleben, wie die Dinge wirklich schmecken, ohne Geschmacksverstärker und Konsorten. Ein weiterer Pluspunkt für die Meditationstage ist also das aromatische Abendessen nach einer kurzen Phase der Askese.

Und das bringt mich noch einmal zur Musik beim Meditieren. Gestern hatte ich ein schönes Erlebnis in dieser Hinsicht. Das lange Warten hat sich gelohnt: Das schwedische Duo Carbon Based Lifeforms hat gestern sein viertes Studioalbum Derelicts veröffentlicht, ab dem zwanzigsten Oktober soll es dann auf CD verfügbar sein. Ich habe es in einer wunderbaren Meditation gehört und bin hellauf begeistert. Genau die Musik, die man von CBL erwarten kann. Gut achtzig Minuten entspannender Downtempo-Songs mit wunderschönen Melodien und großem Arrangement. Ich persönlich halte es für das beste der Studioalben, sehr emotional, mit den spacigen Sounds und den Stimmen, die sich quer durch ihre Discografie ziehen.

Wenn es draußen kalt und nass ist, oder wenn es in einigen Wochen vielleicht auch einmal beginnt, zu schneien, ist dieses Album nach einem warmen Bad und einem warmen Tee, der gereinigte Körper meditativ auf einer weichen Decke liegend (ausnahmsweise mal ohne appretierte Handtücher) ein himmlischer Genuss. Und steigert die Vorfreude auf das leckere Essen danach.

Mir wird erst seit ein paar Jahren bewusst, was "Genuss" wirklich bedeutet - und wie wenig ich im Studium genossen habe. Essen war da, um satt zu machen, fertig. Dabei ist Genussfähigkeit unglaublich wichtig (z.B. als eine der vier Säulen im Konzept der Drogenmündigkeit), damit Essen nicht zur Nebensache verkommt. Ich war immer groß darin, etwas im TV anzuschauen und nebenbei Essen reinzuschaufeln.

Man möge mir diesen irgendwie zusammenhanglosen, wirren Post verzeihen, aber ich hatte mal wieder Lust auf etwas stream of consciousness. Und ich entdecke wieder die Lust am Schreiben.

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