Donnerstag, 29. September 2016

Identität - Die Geschichte von Timo und Julian (part 11)




Disclaimer: Diese Geschichte ist Fiktion. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen und Ereignissen sind rein zufällig und nicht vom Autor beabsichtigt. Das wäre ja sonst ein roman à clef, und zu solchen literarischen Kunststückchen ist der Autor sicher nicht fähig.

Dieser Abschnitt der Geschichte enthält explizite Darstellungen von Drogenkonsum sowie seinen Auswirkungen und/oder Szenen körperlicher Nähe. Wer an solchen Bildern Anstoß nimmt, möge dieses Kapitel bitte überspringen. Darüber hinaus möchte der Autor immer zu einem verantwortungsbewussten Konsum psychoaktiver Substanzen mahnen: Das ist der sicherste Weg zur Drogenmündigkeit, dem Gegenstück zur Abhängigkeit.

Identität – die Geschichte von Timo und Julian



part 11

……. ….. …und dann wird alles schwarz. Nicht direkt komplett schwarz: Hinter meinen geschlossenen Augenlidern flackern Lichter auf, hell, blitzschnell, im Takt meines stark erhöhten Pulses. Es ist an der Zeit, runterzukommen. Ruhig zu werden. Ich kenne das, ich weiß, es dauert mindestens zehn Minuten. Ich fange an, indem ich meinen Körper in eine angenehme Position bringe, lege die Arme links und rechts auf die Matratze, damit möglichst nichts blockiert ist. Eine Position, die ich von nun an bis zum Ende der Playlist auf meinen Kopfhörern nicht mehr verändere. Nicht im Geringsten: Wie totenstill liege ich da. Die einzige Bewegung, die nun noch durch meinen Körper geht, ist das unregelmäßige Atmen.
Ich schotte mich von meiner Außenwelt ab. Die Musik wird zu meiner neu konstruierten Welt – ganz langsam fängt mein Gehirn an, aus den flackernden Lichtern regelmäßige Texturen zu formen. Langsam erkenne ich Wände, Winkel, Tore. Passagen, Korridore, und wieder nur schnelles Flackern. Die verborgene Welt hinter den geschlossenen Augenlidern ist noch instabil. Es dauert, hinabzusteigen.
Julian liegt neben mir. Das weiß ich, und ich kann sein Atmen in den ruhigen Momenten zwischen den Musikstücken hören, aber das Bewusstsein verblasst langsam zu nicht mehr als einer bloßen Erinnerung. Cut schneidet mich ab von allen äußeren Einflüssen, der pure Ego-Trip. Sekundenweise überlege ich, wie es ihm wohl gehen mag, ob alles gut für ihn läuft, aber das lässt nach, je deutlicher ich meine Traum-Architektur erkennen kann. Langsam verformt sie sich nicht mehr zum Rhythmus meines schlagenden Herzens, sondern zum Takt der Musik, die ich nicht mehr als Klang wahrnehme, sondern als visuelle Kreation. Pure Synästhetik.
Meine Welt wird dunkler. Langsam werden die Wände, die Decken und alle Muster schwarz auf schwarzem Hintergrund. Das ist meine Parallelwelt, so wie ich sie kenne, und mein Puls wird langsamer, meine Atmung regelmäßiger. Die Aufregung legt sich. Ju neben mir wird zu einem Teil der Umgebung, den ich kaum noch wahrnehme. Auch meinen Körper nehme ich nicht mehr wahr, nur noch die Atmung. Es fühlt sich an, als ob mein Geist meinen Körper verlässt und durch die künstliche Welt zu streifen beginnt. Für mich sieht es aus, als ob nur noch meine Augen durch diese Welt schweben und ich mit meiner Umwelt über Gedanken kommuniziere. Und wir alle verstehen uns auf magische Weise. Keine Widersprüche, nur Verständnis.
Jetzt höre ich Julian, er atmet einmal hörbar… oder ist es ein Seufzen? Oder sagt er etwas? Ich warte darauf, ob er meinen Arm berührt, das verabredete Zeichen für den Notfall, aber da kommt nichts. Ein Lächeln kommt auf mein Gesicht: Das muss alles gerade sehr aufregend für ihn sein, sehr neu und unerwartet. Lass ihn mal, Timo, der kommt schon heil wieder an. Und ich gehe wieder in meine Welt zurück, die mittlerweile unglaublich plastisch geworden ist. Die Musik formt immer wieder neue Räume und Umgebungen, ich kenne diesen Ort, und langsam fange ich an, zu denken.
Ich durchstreife diese Räume in aller Ruhe, sehe mich um, ob es Neues zu entdecken gibt. Diese mysteriöse Welt ist mittlerweile nicht nur vor mir – auch neben mir, hinter mir, über und unter mir. Ich bin in ihr angekommen. Dieser Effekt entsteht durch die Musik, die genau für diesen Zweck so komplex abgemischt wurde, dass ich manche Instrumente hinter mir zu hören meine, während eine Stimme von vorne rechts kommt und von links das Klingen feiner Glocken… alles ist im Wandel, ich fühle mich wohl und kann mich jetzt voll auf meine Gedanken einlassen. Die Phase der Meditation hat begonnen.
Ich erlebe viele Szenen der letzten Tage nochmals. Einzelne Szenen aus dem Unterricht: Es scheint mir, als ob links und rechts neben mir Schüler sitzen, die sich eifrig melden. Ich muss mich zusammenreißen, um sie nicht laut beim Namen aufzurufen. Zufälligerweise höre ich genau in diesem Moment wieder ein Geräusch von Julian; ich bin mit diesem Phänomen vertraut, dass die Visionen so real sind, dass man mit ihnen sprechen möchte. Ich weiß, dass ich dann einfach ruhig bleiben und es genießen sollte. Ich freue mich aber, dass es für ihn scheinbar richtig aufregend ist. Ich bin gespannt drauf, was er nachher zu berichten hat – und für einen ganz kurzen Moment wünschte ich mir, ich könnte gerade in seinem Kopf sein.
Aber der Moment verfliegt, und die Szenen aus meinem Schulalltag werden wieder klarer erkennbar. Und ich sehe die Fratze meiner Schulleiterin… und ich erlebe nochmals das Gespräch, in dem ich ihr die Falschaussagen in meinem Dienstgutachten ins Gesicht klatsche. Ich genieße diese Szene, lasse sie nochmal passieren… und noch einmal, bevor ich weitergehe. Wieder öffne ich im Geiste meine Wohnungstür und strahle Ju entgegen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er in meiner Gedankenwelt auftaucht. Ich erlebe verschiedene Szenen unserer Kennenlernzeit noch mal wieder, und in dem Bewusstsein, dass er neben mir liegt und dieses Wochenende nur uns beiden gehört, lasse ich mich weiter in diese geheimnisvolle Welt fallen…
…bis ich seine Hand an meinem Arm spüre, er stupst mich ein paar Mal an, und ich glaube, er sagt meinen Namen. Wie viel Zeit ist vergangen? Anhand der Playlist komme ich auf etwa eine Dreiviertelstunde. Okay, Zeit, einmal zu helfen. Ich kehre schlagartig zurück in die Realität, nehme meine Kopfhörer ab. Ich greife links neben mich, um das Schwarzlicht einzuschalten: Plötzlich erscheint der Raum in mysteriösen Blau- und Violetttönen. Die UV-aktiven Wandbehänge leuchten intensiv, und ein unheimliches, weißes Gebiss leuchtet mich an. Irre sieht das aus, wie diese fliegenden Geisterzähne in Cartoons, die ein paar Mal klappern oder kichern und dann ins Nichts verschwinden. Diese Zähne klappern auch, aber sie verschwinden nicht. Sie leuchten in einem Neonblau, sie grinsen mich an – Julian grinst mich an, sein Gesicht sieht ein bisschen unheimlich aus in diesem Licht, zu einem Grinsen verzogen, das von Ohr zu Ohr reicht, und dazwischen diese leuchtenden, klappernden Zähne.
Wir sitzen beide aufrecht und schauen uns an. Ich brauche einen kleinen Moment, um zu realisieren, wo ich gerade bin. Ich vermute, dass dieser Vorgang bei ihm deutlich länger dauert. Ich glaube, er möchte etwas sagen, denn er bewegt den Mund – aber seine Zähne klappern, und das war es, da kommt kein vernünftiger Ton heraus. Das scheint er selbst zu merken, hält sich beide Hände vor den Mund und bekommt einen Lachanfall – er krümmt sich zur Seite vor Lachen, und noch immer hat er kein sinnvolles Wort herausgebracht. Alles klar, ich greife mal behutsam ein. Es scheint alles in Ordnung zu sein.
Ich beuge mich ein wenig vor und lege meine Hände auf seine Schultern. Er ist ganz warm.
„Ssshhhhhht….“ sage ich beruhigend zu ihm und nehme ihn vorsichtig in den Arm. Er legt seine Arme um meine Schultern. Wenn ich die Situation richtig einschätze, kann er gerade überhaupt nichts erkennen. Diplopie: Doppelbilder, die Augen können sich nicht mehr zusammen auf eine Sache fixieren und somit sieht er alles zweimal. Und dann noch dieses blaue UV-Leuchten. Deswegen versuche ich ihm in dieser unwirklichen Atmosphäre etwas Halt zu geben, und vielleicht tut es ihm ganz gut.
„Shhhht…“ sage ich noch mal beruhigend. „Alles in Ordnung, warte erstmal ab. Alles in Ordnung.“
Wir wiegen unsere Körper in der Umarmung ein wenig hin und her. Ich kann nicht anders… ich streichele dabei über seinen Rücken. Als ich das realisiere, versuche ich, die Umarmung zu lösen. Wir nehmen eine andere Position ein: Wir sitzen einander im Schneidersitz gegenüber, strecken die Arme aus und fassen um den Hals des Anderen… und legen die Köpfe gegeneinander, um uns Halt zu geben. Und wieder beruhige ich ihn. Noch ahne ich nicht, dass diese Pose uns eine lange Zeit begleiten wird.
„Shhht…. ist alles okay bei dir, Julian?“ Er blickt auf – noch immer dieses irre Grinsen. Er kann es nicht loswerden: Das ist ganz normal und vollkommen in Ordnung.
„Iiiiiiiiiiii….iiii..ii.ii.iii….i.i.i….“ ist alles, was er gerade herausbekommt, und dazwischen klappern seine Zähne immer wieder. Wow, dass das Sprechen so schwer wird, damit hatte ich nicht gerechnet. Aber es ist ja auch noch zu früh, viel zu früh! Wir sind mitten auf dem Peak, die Hauptwirkung der Droge ist gerade angekommen. Das ist die Phase, in der man erst recht ganz ruhig daliegen und einfach nur genießen sollte. Ich versuche, ihm das klarzumachen.
„Bleib ganz ruhig, Julian. Es ist alles genau so, wie es sein soll. Halt erstmal den Mund. Du kannst im Moment noch nicht reden.“ All dies spreche ich möglichst langsam vor mich her, denn ich weiß, dass meine Stimme zu diesem Zeitpunkt bei ihm sehr blechern und verzerrt ankommen dürfte.
„Hör mir einfach zu. Denk dran, wir sind beide auf Droge. Und die Effekte sind vielleicht extrem, das ist vollkommen neu für dich. Aber es ist alles so, wie es sein soll. Und nachher wird alles wieder ganz normal, Stück für Stück.“
Dabei streichele ich seinen Nacken ein bisschen. Er ist immer noch ganz warm. Ich wahrscheinlich auch.
„Wir legen uns jetzt einfach wieder hin. Such dir Musik aus, die dich runter fährt. Atme ganz entspannt, komm runter. Ich mache das Licht wieder aus. In einer Stunde sprechen wir noch mal, dann wird es schon ganz anders sein. Hab keine Angst vor dem, was passiert, das ist alles normal, und neu, und positiv. Ein Abenteuer.“
Ju kann nicht antworten. Also kommuniziert er mit mir auf seine Weise: Er dreht sich herum, legt sich in meinen Arm. Ich lege ihn behutsam wieder in die Reiseposition auf die Matratze und decke ihn zu.
„Genieß die Reise, mein Großer“, ich lächele ihn an und er setzt sich seine Kopfhörer wieder auf. Ich schalte das Schwarzlicht ab und das unwirkliche Intermezzo ist beendet. Ich steige wieder hinab in meine schwarze Parallelwelt und fange an, diese seltsame und auf eine surrealistische Art wunderschöne Szene zu verarbeiten. Ihn im Arm zu halten. Und als er sich dann einfach sozusagen hat fallen lassen. Und mit ihm zusammen zu atmen. Ich fand das sehr, sehr schön, und das werde ich ihm ganz bestimmt nicht erzählen. Muss er auch nicht wissen, das behalte ich für mich. Das hat nichts in seinem Erlebnis zu suchen. Außerdem will er das bestimmt auch nicht wissen. Mein Puls wird wieder ruhiger, und die Wände und Korridore meiner Welt manifestieren sich wieder vor meinem geistigen Auge. Es geht weiter.

fortsetzung folgt...

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