Samstag, 24. September 2016
Kläuschen
Disclaimer: Kläuschen ist ein fiktiver Schüler, den ich mir für diesen Beitrag ausgedacht habe. Dass es tatsächlich viele Kläuschens da draußen gibt, hängt damit zusammen, dass ich das Bewusstsein schärfen möchte für diesen Schülertyp, und ihn deswegen an ganz realen Merkmalen "modelliert" habe. Ich bitte zu entschuldigen, dass dieser Beitrag hin und wieder wie eine Dokumentation gewisser privater Fernsehsender klingt.
Kläuschen ist immer als Erster in der Klasse. Die anderen Schüler warten vor der ersten Stunde draußen in der Halle, denn der Klassenraum ist abgeschlossen und sie dürfen den Klassenflur noch nicht betreten, weil sie zu laut sind. Kläuschen wartet trotzdem brav und ruhig an der Klassentür und strahlt mich an. Ich kann gar nicht anders, als zurückzulächeln; Kläuschen freut sich ehrlich, mich zu sehen. Wir gehen in den Klassenraum und er holt die anderen Schüler. Zuerst aber räumt er in aller Ruhe seine Schulsachen auf seinen Platz, das dauert eine Weile. Und das ist auch in Ordnung, ich hetze ihn da nicht. Ich möchte ihn nicht aus seiner "Taktung" bringen.
Irgendwie lächelt Kläuschen immer. Manchmal wirkt es, als sei er in seiner eigenen Welt. Da kann ich die Klasse gerade angeschrien haben oder auch nur neue Aufgaben verteilt haben - Kläuschen ist friedlich und zufrieden auf seinem Platz. Seine Aufgaben bearbeitet er in aller Seelenruhe. In der Zeit, in der die Anderen zehn Sätze bearbeiten, schafft er zwei davon und freut sich über jedes richtige Ergebnis. Und ich freue mich mit ihm, denn jedes Ergebnis ist hart erkämpft. Und dass er nicht so schnell ist wie seine Mitschüler, das ist auch völlig in Ordnung: Kläuschen ist ein Schüler mit einem festgestellten Förderbedarf "Lernen".
Früher gab es spezielle Schulen, die Förder- oder Sonderschulen, in denen Kinder mit Förderbedarf speziell auf ihre Bedarfe zugeschnitten beschult wurden, in kleinen Klassen von vielleicht vier bis acht Schülern, unterrichtet von pädagogisch speziell ausgebildeten Lehrkräften. Das ist nicht mehr state of the art, spätestens seit Wara Wende nicht mehr: Die Kinder würden dadurch ja ausgegrenzt und ihr Platz in der Gesellschaft als spezielles Individuum negativ markiert. Den Kindern würde gezeigt, dass sie anders sind und nicht dazugehören. Deswegen sollen wir Lehrkräfte Inklusion leben, auf allen Ebenen. Und somit werden diese Kinder nun bürokratisch als "inklusive Maßnahme" bezeichnet. Das klingt schon viel menschlicher.
In der statistischen Verteilung der Intelligenz hat man festgelegt, dass der durchschnittliche Intelligenzquotient in der Bevölkerung bei einhundert liegt. Die einfache Standardabweichung reicht von fünfundachtzig bis einhundertfünfzehn. Wer oberhalb der doppelten Standardabweichung liegt, also über einundertdreißig, gilt als hochbegabt - und wer unterhalb von siebzig liegt, gilt als geistig behindert - wobei man immer irgendwelche Euphemismen sucht. Weiß nicht, ob das zielführend ist.
Aber das macht gar nichts - okay, Kläuschen braucht sehr lange, um nur wenige Aufgaben im Unterricht zu erfüllen. Oft schafft er sie nur mit intensiver Einhilfe der mit viel zu wenigen Stunden für ihn zusätzlich im Unterricht eingeteilten Förderlehrkraft. Und ich muss davon ausgehen, dass nach dem Wochenende alle Lernerfolge wieder verloren sind. Die Schulzeit kann für ein Kind mit dem Förderbedarf L wie pure Zeitverschwendung wirken. Und manch einer schaut vielleicht mitleidig auf Kläuschen: Was soll denn nach der Schule mal aus ihm werden? Er macht seinen Förderschulabschluss, und dann? Und es gibt - was ich sehr grausig finde - Stimmen, die dann sagen "Er kann doch nichts!".
Aber wenn ich mit Kläuschen in die Schulgärtnerei gehe, dann zeigt sich mir ein ganz anderes Kind. Das Dauerlächeln auf seinem Gesicht wird zu einem intensiven Leuchten: Hier gibt es Pflanzen, Blumen, Kräuter, hier fühlt er sich wohl. Kläuschen hat ein unglaubliches Talent für die Gärtnerei. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der eine Blume so liebevoll umtopft, der sie wie einen kostbaren Schatz behandelt, dabei mit ihr redet und sie wie einen Mitmenschen wertschätzt. Kläuschen möchte später in einer Gärtnerei arbeiten. Er hat schon mehrere Praktika absolviert und seinen Chef beeindruckt. Er mag nicht der schnellste Arbeiter in dem Betrieb sein, aber sicherlich einer der gewissenhaftesten. Und wenn ich dann noch einmal hören muss "Der kann doch nichts", oder irgendwelche mitleidigen Kommentare, dann denke ich mir, dass ich wesentlich lieber ein immer fröhliches Kind unterrichte, das einfach kein Gespür hat für die Widrigkeiten des Lebens, das aber auch niemandem etwas zuleide tut. Viel lieber als einen hochintelligenten, arroganten, distanzierten Menschen, der auf seine nicht so hochbegabten Menschen herabblickt und sich für wertvoller hält.
Ich muss sagen, es ist für mich eine Herausforderung, Kläuschen zu unterrichten, aber es gibt mir eben auch sehr viel dadurch, dass ich mein eigenes Verhalten in einer gewissen Weise in ihm reflektiert sehe und viel über das Menschsein an sich nachdenke.
Danke, Kläuschen!
post scriptum: Der letzte Tipp in Sachen Kühlschrankrätsel - sie ist eine fiktive Gestalt ;)
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