Disclaimer: Diese
Geschichte ist Fiktion. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen und
Ereignissen sind rein zufällig und nicht vom Autor beabsichtigt. Das wäre ja
sonst ein roman à clef, und zu solchen literarischen Kunststückchen ist der
Autor sicher nicht fähig.
Identität – die
Geschichte von Timo und Julian
part 9
„Denk dran,
dass du Menschen hast, die dich unterstützen, wo es nur geht.“
Wow, ich muss
ein wenig abgedriftet sein, zwinkere meiner Tante zu.
„Jep, einer
dieser Menschen sitzt gerade vor mir.“
Der Nachmittag
läuft ganz friedlich ab, aber diese Frage geht mir nicht aus dem Kopf – wie es
sich anfühlt, dreißig zu sein. Ich sehe das Gedankenchaos der letzten Tage vor
mir; aufregend fühlt es sich an. Spannend. Denn meine Spannung steigt nun doch
merklich. Nachdem ich die blöden Gedanken vom Abend mit Cory und Ju beiseite
geschoben hab, kann ich mich jetzt darauf konzentrieren, unseren Trip zu
planen.
Naja, wenn da
nicht dieses Gutachten wäre. So eine Scheiße, ich raff’ das einfach nicht. Ich
bin einer der beliebtesten Lehrer dieser Schule geworden, leite meine eigene AG
inklusive Sommerfestauftritt, meine Lehrproben wurden mit Eins und Zwei Plus
benotet. Warum also gibt diese dämliche Kuh von Schulleiterin mir eine Zwei im
Gutachten? Und was mich besonders ankotzt: Sie schreibt, ich würde meine
Lehrproben nicht mit meinen Mentoren abgesprochen haben. Ich könnte platzen, das
war eine einzige Lehrprobe, die ich auf eigene Faust durchgezogen habe. Und das
auch nur, weil meine Mentorin auf Klassenfahrt war.
Okay, in vier
Tagen steht der Besprechungstermin an, bis dahin muss ich mich irgendwie
runterfahren. Das ist nicht leicht, wenn man ein Gehirn hat, das auf
Dauerraserei programmiert ist. Ich hole mir von der Post ein kleines Packset.
Ich habe die Idee, dass ich Ju sozusagen als kleinen Appetitanreger auf das
Event ein Carepaket schicke. Ich packe alles ein, was wir für den Trip brauchen
könnten.
Da wäre
zunächst natürlich die Droge. In der Szene nennen wir sie „Cut“, was sich von
dem Wirkmechanismus ableitet. Cut ist ein Dissoziativum: Durch die Substanz
wird die Datenübermittlung zwischen Kortex und limbischem System getrennt. Muss
ich das jetzt hier noch alles groß erläutern? Können wir auch später machen,
ich habe Ju gesagt, dass er extra etwas früher hier ankommen soll, damit wir in
aller Ruhe die medizinischen Details durchgehen können. Er soll nicht Angst
bekommen, dass da irgendwas aus dem Ruder läuft. Ich möchte, dass er sich in
meiner Wohnung sicher und wohl fühlt, und das sollte wohl zu schaffen sein,
auch wenn das hier echt ein Drecksloch ist.
Wenn ich
früher nicht so abfällig darüber gesprochen habe, dann liegt es einfach daran,
dass ich mit jeder weiteren Woche auf dem Weg zu meinem Staatsexamen das Gefühl
bekomme: „Ich muss hier weg!“ – ich mein, okay, es ist Berlin, ich liebe
Berlin, das ist meine City. Aber ich hätte nie gedacht, dass sich im Osten, in
den schwierigeren Vierteln echte Spießerschulen befinden können! Ich passe da
nicht hin, für die bin ich nicht nur als Lehrer zu unkonventionell. Nur, weil
ich schwarz trage. Nagellack. Lidschatten. Nieten, Ketten und Ringe an jedem
Kleidungsstück. Dieses oberflächliche Pack gibt sich gar nicht erst die Mühe,
mal den Menschen dahinter entdecken zu wollen. Ist ja viel leichter, Herrn
Schneider direkt als Unruhestifter im Kollegium zu brandmarken. Wie heißt es?
Mit leerem Kopf nickt es sich leichter…
Ist doch kaum
zu glauben, ich wollte den Inhalt des Carepakets beschreiben und ein Gedanke
feuert den nächsten an und ich lande schon wieder tausend Meilen entfernt von
meinem eigentlichen Ziel. Hochbegabung kann ganz schön nervig sein, wenn man
mal wieder alles bis ins kleinste Detail erläutert oder erforscht. Naja,
jedenfalls ist unser Stoff im Paket. Kaum zu glauben, aber: Das ist alles
vollkommen legal! Bisher hat sich die deutsche Gesetzgebung noch nicht so
wirklich um Cut gekümmert. Von mir aus kann es auch gern so bleiben, denn ich
habe ein Problem mit illegalen Drogen. Ich kann dann nicht so einfach
abschalten, und darum geht es doch gerade. Whatever.
Zwei
Schachteln liegen im Paket, daneben ein Medikament gegen die Übelkeit. Ganz
ohne Nebenwirkungen geht es leider nicht. Und dann schmeckt das Zeug gegen die
Übelkeit auch noch so scheiße, dass man direkt kotzen könnte! Mega bitter –
deswegen packe ich Kaubonbons dazu. Die helfen auch gegen den ekligen Geschmack
vom Tee – stimmt, Tee brauchen wir! Ich habe extra einen frischen Beutel beim
Händler meines Vertrauens bestellt, der wandert direkt in das Paket.
Xylitkaugummis, unbedingt, damit man nicht mit irgendeinem ekligen
Nachgeschmack auf den Trip geht. Das nervt nur und lenkt vom Erlebnis ab, und
diese Kaugummis sind das perfekte Mittel dagegen. Was packe ich noch ein?
Julian braucht
eine Checkliste. Ne, warte, die schicke ich ihm nachher oder so direkt bei
Facebook. Aber ich stelle noch eine zweite Liste zusammen, so als psychische
Vorbereitung. Damit er sicherstellt, dass er mit guter Laune an das Erlebnis
tritt. Ich schreibe ein paar mysteriös-esoterisch klingende Hinweise auf und
versehe den Text noch mit hübschen Bildern. Ein Phönix würde ganz gut passen,
er soll im Vorfeld mal ruhig ein bisschen ins Grübeln kommen.
Schließlich
habe ich alles zusammen, ich falte das Päckchen zu, klebe die Laschen dicht und
schreibe Jus Adresse vorne rauf. Soll ich meine Adresse als Absender angeben?
Nein, ich schreibe einfach „Grüße vom Psychonauten“, das wird er schon
verstehen. Das steigert die Spannung.
Nachdem ich
das Päckchen zur Post gebracht habe, surfe ich noch im Internet nach Tipps, wie
man das Ganze aufmotzen könnte. Die Checkliste! Stimmt ja, ich stelle sie
zusammen, damit Ju auch nichts vergisst. Nach dem, was ich bisher so von ihm
mitbekommen habe, scheint er nicht gerade sehr gut organisiert zu sein. Naja,
er ist Student, er darf das noch. Ich wette, er wird sehr dankbar sein, dass er
alles auf einem Zettel abhaken kann.
Und das ist
nicht wenig. Neben den obligatorischen Punkten zu Kleidung, Wechselwäsche,
Kissen/Decke soll er sich auch bei seinen Leuten abmelden. Denn wir haben
beschlossen, dass wir das nicht einfach so einmal nebenbei machen. Wir ziehen
das groß auf, wir nehmen uns dafür ein Wochenende Zeit. Das wird fantastisch,
am Freitagabend starten wir mit dem Trip zum Kennenlernen, damit er mit der
Substanz vertraut wird, und am Samstag Abend wiederholen wir das Ganze. Ich
habe ihm lang und ausführlich erklärt, dass Cut an zwei Tagen hintereinander
völlig unterschiedlich wirkt. Beim zweiten Mal wird es etwas psychedelischer,
während beim ersten Mal die oberflächlichen Effekte im Vordergrund stehen. Und
ich möchte ja, dass Ju aus dem Ganzen etwas für sich mitnimmt. Oh mann, das
muss einfach perfekt werden! Ich werde mich um alles kümmern, damit Julian sich
einfach fallen lassen kann, selbst in einem dreckigen Loch in Lichtenberg…
„Hey Ju, ich
hab für dich eine kleine Checkliste gemacht, damit du nichts vergisst.“
„Oh, danke,
Timo. Das macht es ja noch spannender. Ehrlich gesagt, kann ich es kaum noch
abwarten!“
„Nützt nichts,
es sind noch ein paar Wochen. Das letzte Septemberwochenende, wie abgemacht.
Hast du dir den Tag frei genommen?“
„Ja, das
passte total gut, ein Kollege springt für mich ein, der schuldet mir eh’ noch
einen Gefallen.“
„Okay, und
deine Leute machen sich keine Sorgen um dich?“
„Also Dennis
weiß Bescheid, dass ich dich besuchen fahre, hab ihm aber keine Details
erzählt. Ansonsten hab ich das nicht so an die große Glocke gehängt.“
„Wie meinst Du
das?“
„Naja, Lena
zum Beispiel weiß nicht, dass ich zu dir fahre.“
Ach ja. Da war
ja noch etwas. Lena. Ich weiß nicht, wie Ju es schaffte, in so kurzer Zeit nach
der letzten Freundin die nächste zu angeln. Muss wohl sein Körper sein oder so.
Mitte Zwanzig und er wirkt noch wie ein Teenager. Aber das ist schon okay, er
muss das alles mal ausleben. Und, ehrlich gesagt, stört mich Lena überhaupt
nicht: Sie ist eine von denen, die zwischen „natürlichen“ und „chemischen“
Drogen unterscheiden. ’nuff said. Wenn Julian sich bei ihr wohlfühlt, dann ist
das die Hauptsache. Mir kann das ja auch alles egal sein, denn an diesem einen
Wochenende im September gehört er mir. Oder, besser gesagt: Seine
Aufmerksamkeit. Ich freue mich drauf, ihm neue Entdeckungen zu zeigen, und
vielleicht kann ich dann ja auch etwas weniger verklemmt über das sprechen, was
ich für Ju empfinde. Was ich selbst nicht weiß. Was sich nur hin und wieder in
Form von Eifersucht meldet, wenn er erzählt, was er wieder alles mit Leuten
gemacht hat, natürlich nicht mit mir, und wenn er mal wieder vollkommen
besoffen von irgendeiner scheiß Party eine SMS nach der anderen schreibt, denkt
der Idiot, das macht mich glücklich? Denkt der Idiot überhaupt? Scheiße. Ich
habe mich verliebt. Und ich muss aufpassen, dass ich mich da nicht wieder in
irgendwas verrenne. Ich sollte die Chance nutzen und auf dem Trip ganz offen
mit ihm darüber reden. Vielleicht klappt das ja. Das klappt sicher.
Während die
Tage vergehen, wird mir bewusst, wie sehr Ju meinen Alltag bestimmt, obwohl er
kilometerweit weg ist. Und viel zu spät auf Nachrichten antwortet, wenn
überhaupt. Und immer diese „Boah, ich hab grad soooooo viel Spaß!“-Nachrichten.
Spaß ohne mich. Soll ich mich für dich freuen?
Es ist doch
nicht zu glauben, diese ganze Geschichte nimmt mein Gehirn dermaßen in
Anspruch, dass das Gespräch über das Schulleitergutachten völlig beiseite
rückt. Natürlich hat die blöde Kuh nicht die Note geändert, aber immerhin
musste sie in Anwesenheit eines Zuhörers zugeben, dass sie mich schlechter
bewertet hat, weil ihr kleines Experiment nicht geklappt hat. Hat also mit
meiner Eignung als Lehrkraft überhaupt nichts zu tun – und damit wusste ich
alles, was ich wissen wollte. Dann kann die Examensprüfung kommen. Und Ende
Januar bin ich hier weg, die blöde Fotze sehe ich hoffentlich nie wieder.
Das alles
gerät in den Hintergrund. Und ich freue mich wie ein kleiner Schuljunge auf
unser gemeinsames Wochenende. Was kann ich noch alles an Vorbereitungen machen?
Ich habe meine Wandbehänge in mein Schlafzimmer umgehängt, damit wir sämtliche
Deko und das Schwarzlicht in dem Raum haben. Ich habe die zweite Matratze von
meinen Eltern organisiert, so dass wir uns eine Liegewiese zusammenbasteln
können. Ich habe reichlich Essensvorräte da, falls der Heißhunger kommt. Das
Telefon habe ich rausgezogen. Ich lasse niemanden in meinem Wochenende
rumpfuschen. Und die Räucherstäbchen sind auch da, und es wird auch wieder
früher dunkel, so dass sich das mit dem Schwarzlicht auch lohnt, und ich habe
mir meine Outfits genau zurechtgelegt, naja, ich möchte gut aussehen für ihn.
Eigentlich kann gar nichts mehr…!!! Es klingelt! Ich schaue aus dem
Küchenfenster und sehe Jus schwarzen BMW vorne parken. Herzschlag… … man Timo,
lass mal das Denken, jetzt mach schon auf… ich betätige den Summer, höre die
Eingangstür im Treppenhaus zuschlagen. Ich atme tief durch, setze ein Lächeln
auf, und da kommt er.
fortsetzung folgt...
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen