Es fällt mir ein bisschen schwer, diesen Artikel zu schreiben, und er wandert schon seit Monaten in meinem Kopf herum - eigentlich schon seit Jahren, seit dem Zeitpunkt, zu dem ich ein Missbrauchsopfer in der Schule unterrichtet habe. Wir stellen uns X vor: Ein Kind in der Orientierungsstufe, in einer ziemlich lebhaften Klasse, man könnte sie auch als herausfordernd oder chaotisch beschreiben. X lässt sich von dem Irrsinn der Mitschüler nicht anstecken, versucht, möglichst cool zu wirken. Egal, was die Anderen machen, das ist eh' alles scheiße. Nichts gefällt X, alles prallt an X ab.
Es ist eine typische I-Lerngruppe, siebzehn Schüler, alles dabei. X hat den Förderstatus Emotionale und Soziale Entwicklung, der in Kiel nicht mehr vergeben wird. X wirkt völlig emotionslos, wobei, eher dauerwütend. Irgendwann fällt mir auf, dass X in einer lustigen Situation kichern muss, aber versucht es krampfhaft zu unterdrücken. Ich strahle X an, versuche zum Lachen zu ermutigen. Ich erfahre erst einige Wochen später, dass das eine für X höchst ungewöhnliche Reaktion war.
Erst dann erfahre ich, dass X von den leiblichen Eltern sexuell missbraucht wurde, dann zu Pflegeeltern gekommen ist und von diesen ebenfalls sexuell missbraucht wurde. In dem Moment vergeht mir der Spaß und mein Gesicht fühlt sich an, als hätte ich eine saure Zitrone ausgelutscht, und mein Körper wird in den Boden gezogen. An dem Tag komme ich nach Hause und fange erstmal an zu weinen - das war mein erster "Live"-Kontakt mit Kindesmissbrauch.
Diese Geschichte ist hier im Blog schon einmal irgendwo gelandet. Diesmal ist sie mir wichtig, weil ich einen Film gesehen habe, der dieses grausige Thema verblüffend gut zugänglich darstellt. Mysterious Skin (2004) von Gregg Araki zeigt die Geschichte zweier Achtjähriger, die von ihrem Trainer sexuell missbraucht werden. Hauptsächlich wendet er sich aber ihren ausgehenden Teenagerjahren zu, um zu zeigen, was dieses Erlebnis mit ihnen angestellt hat: Der Eine hat angefangen, sich zu prostituieren, der Andere ist weggezogen und versucht verzweifelt, die fünf Stunden verlorene Zeit seines Lebens rekonstruieren; er landet bei der Theorie, dass er von Außerirdischen entführt sein muss, die seltsame Experimente mit ihm angestellt haben.
Dieser kindliche Abwehrmechanismus mag eine schützende Funktion haben - das Erlebnis wird nicht aus dem Gedächtnis radiert, aber in einer ganz dunklen Ecke vergraben; viele Missbrauchsopfer berichten von "Zeit, die verloren gegangen ist" - eine Weile, an die sie sich absolut nicht mehr erinnern können. Oft kommt es aber vor, dass in späteren Jahren die Neugier kommt, zusammen mit dem Wunsch, diese unbeantworteten Fragen endlich aufzuklären, und dann ist Aufarbeitung nötig.
In verschiedenen Medien wird das Thema aufgearbeitet, jeweils mit unterschiedlichen Genres: In der Episode Touch der Serie The Haunting of Hill House (2018) mit einer gothic horror-Note, in der Serie Mr Robot (2015-2019) als Hacker-Thriller und in Arakis Film als gay movie. In den beiden Serien wird das Erlebnis auf sehr dramatische und ein wenig sensationslüsterne Weise dargestellt - Mysterious Skin dagegen ist eine Dramedy, die wunderbar leicht zugänglich ist, witzig, verschmitzt - die letzte Szene, in der die Ereignisse der Vergangenheit enthüllt werden, ist allerdings extrem verstörend und wirkt intensiv nach.
Ich habe bei'm ersten Ansehen eine Weile gebraucht, um zu verarbeiten, was mir da gerade präsentiert wurde, und auch erst dann ist mir bewusst geworden, warum der Film in Deutschland ab achtzehn Jahren empfohlen wird. Er ist sehr explizit, ohne dabei jemals einen sexuellen Akt zu zeigen, ohne Kinderpornographie vor die Kamera zu bringen. In Sexszenen werden ungewöhnliche Blickwinkel gewählt, ähnlich wie Kinder sich, wenn sie missbraucht werden, einen bestimmten Fixpunkt weg vom Gesicht ihres Angreifers suchen und darauf konzentrieren.
Gleichzeitig zeigt Araki die manchmal verstörende Faszination und Neugier, mit der ein Kind, das sich des Verbrechens noch nicht bewusst ist, auf den Akt zugeht - als Spiel, als Herausforderung - der Täter suggeriert ihm, dass es Spaß macht, und das Kind ist völlig überfordert und nimmt die Aussage des Menschen, dem es vertraut, einfach hin.
Für mich als Lehrer ist dieser Film unglaublich wichtig geworden. Ich werde ihn definitiv niemals im Unterricht einsetzen (das könnte bei betroffenen Schülern Traumata hervorbringen und andere grundsätzlich verstören), aber er hat meinen Horizont erweitert und mir wieder bewusst gemacht, dass wir diese Kinder vielleicht in unseren Lerngruppen vor uns haben. "Nein, bei uns kommt das nicht vor", diesen Satz hört man leider an manchen Schulen, dabei bin ich überzeugt davon, dass es das in allen Familien geben kann, egal von welcher sozialer Herkunft, unabhängig vom Bildungsniveau. Es ist leider immer aktuell. Und ich werde den Film auch an Kollegen weiterempfehlen, so wie ich es hier und jetzt an Euch als Leser empfehle.
Und es erinnert uns als Lehrer daran, nicht wegzuschauen und es totzuschweigen, wenn ein Kind ein in egal welcher Weise auffälliges Verhalten zeigt. Wir müssen darauf zugehen, auch wenn es unangenehm ist. Niemand hat gesagt, dass Lehrer ein leichter Beruf sei.
post scriptum: Ich merke, dass ich zu ernsteren Filmen und Serien wesentlich besseren Zugang habe als zu Sachen, die auf Unterhaltung und lustig getrimmt sind. Diesen Gegensatz bemerke ich bei zwei Netflix-Serien, die oft in denselben Rezensionen auftauchen, weil es deutliche Schnittmengen gibt: Die deutsche Serie "Dark" und die amerikanische Serie "Stranger Things", beide im Science Fiction-Genre aufgehoben. Stranger Things ist typisch amerikanisch geworden, bunt, laut, nicht anspruchsvoll und zielt mehr auf Kinder und Jugendliche ab, und ich habe in der dritten Staffel ernsthafte Probleme, durchzuhalten, während "Dark" mich von Anfang an gefesselt hat. Ist keine Wertung, nur die Feststellung, dass ich eher ernsthaftes Material brauche.