Donnerstag, 18. Oktober 2018

Amoklauf

Dieses Bild geht um die Welt

Nach dem etwas düsteren Artikel von gestern, über das "Böse", was in uns allen steckt - die düstere Seite der Menschlichkeit - wäre heute ein etwas aufmunternderes Thema ganz schön. Die heutigen Schlagzeilen, kombiniert mit dem Umstand, dass bei uns in der nächsten Woche der Schulbetrieb wieder aufgenommen wird, triggern die Veröffentlichung eines Beitrags, den ich schon seit vielen Monaten schreiben wollte. Seitdem die weltweite Verbreitung von Nachrichten viel unkomplizierter geworden ist, erreichen uns mehr schreckliche News als noch vor zwanzig Jahren. Das führt auch dazu, dass die Sensationspresse mehr Möglichkeiten findet, blutrünstige Schlagzeilen zu drucken - wenn zum Beispiel mal wieder ein Amoklauf an einer Schule stattgefunden hat. So wie auf der Krim, gestern und heute in den Nachrichten.

An einer Berufsschule hat ein Schüler über fünfzehn Menschen getötet, mindestens fünfzig wurden verletzt, und wie so oft beging der Täter vor seiner Ergreifung Selbstmord. Und wir - Lehrer, Angehörige und wildfremde, aber interessierte Menschen rund um den Erdball - werden mit offenen Fragen zurückgelassen. Mit schmerzhaften Denkimpulsen, denen viele von uns dann aber aus Angst oder Bequemlichkeit nicht nachgehen wollen.

Wir konnten das in den letzten Monaten in den Vereinigten Staaten beobachten, zum Beispiel am Amoklauf an der Marjorie Stoneman Douglas High School: In die Trauer nach dem Ereignis mischen sich immer wieder Stimmen gegen den Waffenbesitz, Hunderte, Tausende - Hunderttausende. Und jedesmal, leider, gibt es diesen kritischen, zornigen Stimmen gegenüber jene, die sagen, dass man in so einer schlimmen Zeit nicht über Waffengesetze nachdenken solle, das sei unethisch und rücksichtslos gegenüber den Angehörigen der Opfer. Jetzt müsse erstmal getrauert werden. Und wenn dann genug getrauert wurde? Dann müsse man erst recht nicht über Waffengesetze reden, denn "im Moment ist es ja eigentlich ganz friedlich, und bei uns kommt sowas ja zum Glück nicht vor."

Das tut weh. Bei mir führt es immer wieder zu der Frage, warum es überhaupt Waffen geben muss, aber leider erstickt das Menschsein an sich jegliche pazifistischen Motivationen - siehe den Artikel zu Das Weiße Band. Homo homini lupus, meinte mal jemand. Da die Diskussion über Waffengesetze mittlerweile komplett ausgelutscht ist und ich mit einem Artikel dazu nichts Neues liefern könnte (ein Blick in die Nachrichten reicht), möchte ich als Lehrer und Pädagoge meinen Kommentar dazu abgeben, dass diese Amokläufe - wenn sie keinen terroristischen Hintergrund haben - so oft an Schulen stattfinden.

Harris und Klebold an der Columbine High School vor fast zwanzig Jahren

Dazu hilft es zu wissen, dass es wesentlich mehr Fälle gibt als die paar spektakulären in den Medien; Columbine oder Winnenden, davon hat fast jeder gehört. Menschen wie Michael Moore haben sie kommentiert, oscarprämiert. Theorien über die Motive gibt es massenhaft. Seit Columbine im Jahr Neunzehnneunundneunzig gab es in den USA einunddreißig Amokläufe - im gesamten Rest der Welt dagegen vierzehn - und wir realisieren, dass wir viele davon überhaupt nicht mitbekommen.

Was können wir tun? Wir Lehrkräfte können auf die Waffengesetze nicht ganz so viel Einfluss ausüben, allerdings können wir uns eine wertvolle Tür zu den Menschen öffnen, die später einmal einen Schulamoklauf begehen werden. Das ist eine Verantwortung, die wir nutzen sollten, und wir sollten solche platten, unreflektierten Thesen wie "Videospiele machen gewalttätig" unbedingt jenseits unserer Arbeit untergehen lassen. Wir sollten diesen potentiellen Amokläufern etwas zukommen lassen, was ihnen in so vielen Fällen gefehlt hat: Aufmerksamkeit, ehrliches Interesse und interpersonale Wärme.

Und damit meine ich nicht, dass wir ihnen tolle Noten geben sollen, damit sie zufrieden sind und ruhig bleiben. Ich habe in St.Peter-Ording gelernt, meine Hemmungen abzubauen und Fünfen und Sechsen zu geben, auch an zwei Drittel der Klasse, wenn es nötig ist. Auch wenn viele Schüler im Unterricht anfangen zu weinen. Ich habe diesen Holzhammer immer mit mir in der Tasche, mit einem Unterschied zu ein paar Kollegen, die ich in den letzten sieben Jahren persönlich kennengelernt habe: Ich lasse meine Schüler mit diesen Noten nicht allein.

"Du hast Maria eine Sechs gegeben? Kein Wunder, die kann ja gar nix, die ist hier vollkommen falsch an der Schule, die muss noch mehr Sechsen bekommen, damit sie das auch endlich selbst merkt." - Als ich das zu hören bekommen habe, vor gar nicht allzu langer Zeit, hat sich mir der Magen umgedreht. Noch zwei Umdrehungen mehr, als ich realisiert habe, dass das nicht nur große Töne der Lehrkraft waren, sondern dass das im Unterricht auch konsequent umgesetzt wurde und wird.

Die Schülernähe war immer meine große Stärke und größte Schwäche. "Nähe und Distanz" nennt sich dieser Punkt in der Lehrerausbildung. Mir fällt es nicht immer leicht, die professionelle Distanz zu bewahren - ich möchte den Schülern gern ein offenes Ohr bieten, ich möchte hören, was in ihnen vor sich geht und wie sie sich damit fühlen. Und wenn ich dabei zu große Nähe aufbaue - dann muss ich zugeben, dass mir das immer noch lieber ist als zu große Distanz, indem ich sie behandele, als wären sie nicht mehr als die Teilnehmerzahl auf der Kursliste.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen