Freitag, 17. Dezember 2021

Geliebte Idiosynkrasie


vorweg: Es gibt gerade so Vieles, über das ich würde schreiben wollen, so viel Neues, Wichtiges, Entwicklungen, und dann ruft auch noch mein Bruder an und signalisiert mir indirekt, dass ich ihm nicht ganz egal bin. Das ist zuviel, da entgleisen alle Gedankenzüge und ich gehe in die "geistige Quarantäne", das Telefon wird ausgestöpselt, das "Nicht Stören"-Schild an der Wohnungstür befestigt, das Bad läuft ein, Zirbenholz und Amyris, dunkel und beruhigend, Meditation ist angesagt, ich peile gut anderthalb Stunden an. Das ist nötig. Bitte nicht wundern, wenn ich mich nicht melde. Im Englischen sagt man als Außenstehender "He's in the zone." Dabei geht es heute eigentlich um etwas ganz Tolles, und ich bin sehr froh, dass ich diesen Beitrag bereits heute Mittag geschrieben habe, so dass ich ihn jetzt veröffentlichen kann. Und deswegen hat das Bild auch eher etwas mit dem "vorweg" als mit dem eigentlichen Beitrag zu tun.

Endlich, endlich, endlich.

Es gibt da diese Videospielreihe - in Japan heißt sie Zero, in Europa wird sie als Project Zero (PZ) veröffentlicht, in Nordamerika unter dem Namen Fatal Frame - wahrscheinlich, weil das mehr potentielle Kunden ziehen soll, auch wenn diese Strategie nicht aufgeht: PZ gilt als Kultspiel, es gibt eine kleine, aber außerordentlich treue Fangemeinde, die Verkaufszahlen waren nie hoch, und das, obwohl (oder gerade weil?) PZ2 zum Beispiel als eines der unheimlichsten und besten Videospiele seiner Art auf dem Markt gilt. 

Kein Wunder: Für den Mainstream sind die Bewegungen der Figuren zu behäbig, die Gehwege zu eng (man kann nicht einfach zwischen zwei Bäumen hindurchgehen, sondern sich nur auf willkürlich vorgegebenen Pfaden bewegen), die Story zu anspruchsvoll, zu wenig Blut, keine klassischen Waffen zum Gemetzel, weibliche Hauptfiguren, man muss viele Texte lesen, die deutsche Übersetzung ist grausig. Ein Inbegriff für Videospiel-Idiosynkrasie.

Wie es nun aber ist bei Medien, die zum Kult werden: Sie erfreuen sich gerade wegen dieser Unebenheiten, gerade wegen ihrer Lage abseits des Mainstream, bei ihrer Fangemeinde großer Beliebtheit, und ich bin sehr froh, dass es solche Videospiele (und Filme und Hörspiele und Bücher und mehr) gibt. Denn gerade die PZ-Reihe habe ich wegen ihrer Macken lieben gelernt. 

Da steht dann auf dem Bildschirm, nachdem man einen Gegenstand von der Wand abgenommen hat "Spiegelung Maske. Ich habe es." - was eine wortgetreue Übersetzung der japanischen Kanji ist, aber im Deutschen natürlich unfreiwillig komisch ist. Für die große Buba und mich waren das sehr hilfreiche, klospülende comic reliefs in den doch atmosphärisch extrem dichten Spielen (und in Sachen Atmosphäre sind die Macher echte Meister ihres Handwerks, womit bei den Köpfen hinter der Dead or Alive-Reihe nicht zu rechnen war - Chapeau!). Und die Halsknickfrau, und der Klingelopa, die Balkonsturzfrau und so weiter... 

Und ich bin sehr davon angetan, dass man mal nicht mit Zaunlatte, Nagelkeule, Schrotflinte, Maschinengewehr, Flammenwerfer und Kettensäge auf Zombies und Fehlzüchtungen oder einfach nur auf irgendwelche Militärs losgehen muss: Die einzige "Waffe", die einem zur Verfügung steht, ist ein alter Fotoapparat, die camera obscura (auch wenn sie mit dem Original nicht mehr viel zu tun hat). Die Gegner sind zudem Geister, mit denen man ernsthaft sympathisieren kann: Jeder einzelne Geist hat seine eigene Hintergrundgeschichte, und sie greifen einen nicht (oder nur seltenst) an, weil sie irgendwie "böse" seien - das Konzept sieht die japanische Kultur ein wenig anders.

Überhaupt weiß ich das japanische Flair sehr zu schätzen. Wer einmal einen J-Horrorfilm gesehen hat, kennt das, diese düstere Atmosphäre mit den rauschigen, schlecht zu erkennenden Videofetzen und Yurei, rachsüchtigen Geistern oder einfach solchen, die nach der Erklärung für ihren derzeitigen Zustand suchen.

Ich genieße es auch, dass die Serie zum großen Teil ohne Blut auskommt. Während Serien wie Resident Evil scheinbar nicht ohne Splatter auskommen, lösen sich die Geister hier einfach auf, nachdem man ihnen durch das Fotografieren ihre spirituelle Energie geraubt hat. Nur in manchen Teilen taucht in Rückblenden auf antike Rituale manchmal Blut auf; es ist aber interessant zu sehen, dass PZ2: Crimson Butterfly, der unheimlichste Teil der Reihe, mit Ausnahme einer einzigen Szene, völlig blutleer ist. Zeigt, dass man sich auch ohne eklige Szenen und fast komplett ohne jumpscares fürchten kann (diese sind ein Zeichen für ziemlich anspruchslosen Schockwert).

Nachdem der vierte Teil der Reihe nach wie vor nur in Japan erhältlich ist und die Reihe von Nintendo übernommen wurde - warum auch immer - war der fünfte Teil (PZ: Maiden of Black Water) zunächst nur für die Wii U erhältlich - eine Konsole, die ich nicht habe, und die ich mir nicht für ein einziges Spiel zulegen wollte. Umso besser, dass jetzt, Jahre nach der Veröffentlich des Originals, ein remaster für neue Konsolen, unter anderem auch für die Playstation-Reihe von Koei Tecmo veröffentlicht wurde.

Endlich, endlich, endlich. Da haben wir sie wieder: Leicht bekleidete Mädchen, die völlig unbeeindruckt von Geistererscheinungen durch alte Häuser wandern (diesmal auf einem fiktiven Berg, einer ehemaligen Touristenattraktion), unfreiwillig komische Geisterrufe ("Joooiiiiin me!" - "I will GLAAAANCE into your soul!" - Ich glänze höabah...), tanzende Geister, alte Frauen, die mich in eine Kiste stecken wollen und dann außen herumwabern, sterbende Geister, die wie verreckende Klospülungen klingen, Kämpfe in viel zu engen Gängen, in denen sich die Geister einfach mal durch die Wände bewegen, klobige Bewegungen der Hauptcharaktere, Kameraupgrades, eine komplexe Geschichte mit vielen Texten zum Lesen, und endlich, dank des neuen Mediums, reichlich Filme zum Anschauen, die immer noch enigmatisch sind - aber es ist toll, zu jedem feindlich gesinnten Geist per Fatal Glance ein Video zu bekommen, unter welchen Umständen der Mensch damals um's Leben gekommen ist. Das macht es leichter, mit den Geistern Mitgefühl zu empfinden und noch tiefer in das Geschehen einzutauchen. 

Und es ist toll, wie der fünfte Teil sich in die Mythologie der anderen Teile einreiht; Miku Hinasaki, Protagonistin aus dem ersten Spiel, hat hier eine tragende Rolle, die Kurosawas aus dem zweiten und dritten Teil wirken mit, und wir erfahren endlich mehr über den Erfinder der (fiktiven) Camera Obscura, Dr. Kunihiko Aso (oder Asou, je nach Transkription), über seine Kindheit und über die Frau, in die er sich verliebt hat - und wie und warum er die Kamera überhaupt erst erfunden hat.

Das wäre rundum ein schöner Abschluss für die Serie (für die es auch noch graphic novels und einen Kinofilm gibt) - aber ein kleiner Teil in mir erhofft sich natürlich irgendwann einen sechsten Teil, auch wenn es schwer sein wird, neue Ideen auf den Tisch zu bringen. Mal schauen, was die Zukunft bringt, und bis dahin werden weiterhin Geister von wackeltittigen Mädchen totfotografiert.

Project Zero ist eine in vielerlei Hinsicht anspruchsvolle Videospielreihe.

post scriptum: Immerhin ist es erfreulich, dass für andere Kult-Videospielreihen neue Teile in Arbeit sind, so wird zum Beispiel an "Dragon Quest XII: The Flames of Fate" gearbeitet, und im nächsten Jahr sollen "Star Ocean: The Divine Fate" (hoffentlich mit etwas mehr Inhalt als der letzte Teil) und "Atelier Sophie 2" erscheinen. Irgendwann steht auch der neue Teil der "Myst"-Macher auf dem Plan, "Firmament", wieder als VR-Erlebnis. Wird also nicht langweilig!

paulo post scriptum: Und damit habe ich es jetzt schwarz auf weiß: Ich werde vor Weihnachten nicht mehr in die Schule zurückkehren. Im neuen Jahr kann es dann pünktlich wieder losgehen, nur im März ein Termin zur Kontrolle/Vorsorge. Es wird besser! Und zum Abschluss noch das eigentlich für diesen Beitrag passende Bild:



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