Sonntag, 27. Mai 2018

Surrealer Samstagmittag

Something's wrong...

Donnerstag

Sie ist im Unterricht, englische Literatur. Gelangweilt. Die Dozentin trägt ein Gedicht vor (gar nicht mal so schlecht), aber sie schläft fast ein. Sie sollte sich Notizen machen, aber sie klopft nur mit ihrem Bleistift auf dem Schreibblock herum, sie scheint in ihrer eigenen Welt versunken zu sein; hin und wieder fügt sie der Zeichnung auf dem Block einen weiteren Strich hinzu, während sie auf die Wanduhr über der Tafel schaut. Sie wendet ihren Kopf nach links, aus den Panoramafenstern hinaus, und schaut über den Campus. Wunderbares Wetter, überall sitzen Studenten herum, essen, trinken, hören Musik oder träumen einfach nur. Hier ein Fahrradfahrer, dort ein Jogger, da hinten eine alte Frau - die ersten beiden zügig, sie langsam, jeder scheint den Tag in seinem eigenen Tempo zu erleben. Sie auch. Sie blickt zum gegenüberliegenden Gebäude, versucht in die dortigen Fenster hineinzuschauen, kann aber nur die Reflektion des Campus erkennen. Und vorn steht die Dozentin und reiht einen Vers an den anderen - gar nicht mal so schlecht, aber eben doch recht monotone Dichtung und die Vorgänge draußen scheinen interessanter zu sein. Der Jogger ist mittlerweile nach links verschwunden, der Fahrradfahrer nach rechts, nur die alte Frau ist zwischen den rastenden Studenten noch zu sehen. Das ist kein Wunder, denn der Jogger ist nach links gelaufen, der Fahrradfahrer nach rechts gefahren, nur die alte Frau geht geradeaus, und irgendwas stimmt nicht. Sie trägt ein Nachthemd und ihr Bein und ein Arm sind teilweise bandagiert.

Die alte Frau geht geradewegs auf sie zu.

Langsam dämmert es ihr, und in ihren Ohren beginnt ein ganz leises Pfeifen. Es wird lauter, je näher die alte Frau kommt, es wird zu einem Schwirren, das zwischen ein paar Tönen oszilliert, und langsam weiten sich ihre Augen in eine Maske der Angst. Sie packt ihre Sachen zusammen und verlässt wortlos das Klassenzimmer. Sie geht den Gang hinunter, dreht sich um, bis auf zwei Schülerinnen ist niemand dort. Alles wie immer. Bis die alte Frau um die Ecke biegt und immer näher kommt, ihr Gesicht ausdruckslos, sie geht ganz langsam, einen Schritt nach dem anderen auf sie zu. Das Schwirren in den Ohren wandelt sich zu einem beißenden Stalking-Soundtrack...

...so in etwa geht eine recht eindrucksvolle Szene aus dem vorgestern erwähnten It Follows, eine Szene, die ich noch nicht aus meinem geistigen Auge streichen konnte. Falls jemand sie sehen möchte - aber vorgewarnt sein, ich habe zum literarischen Zweck ein kleines bisschen Freiheit in meinem Text genommen. Und keine Sorge, niemand stirbt, kein Blut und so, nur eine alte, langsame Frau:



Samstag

Alles klar, noch neun Minuten, dann kommt der Bus, den ich nehmen muss, um mich mit der Sannitanic zu treffen. Ich habe sie schon so oft versetzt, darauf habe ich keine Lust mehr (lustige Randnotiz, ich habe mich eben verschrieben und ersetzt getippt. Freud anyone?). In diesen neun Minuten muss ich noch schnell zur Sparkasse, zwei Überweisungen erledigen. Kommt hin, ich habe alles direkt vor der Haustür. Also stürze ich das Treppenhaus zur Hälfte hinunter, dann wieder hinauf: Ich habe meine Armbanduhr vergessen, und auch den Anhänger, den ich fast immer trage, damit Er auf eine Weise immer bei mir ist.

Nun also noch sieben Minuten, ich laufe schnell zur Sparkasse, Samstag, also brauche ich die Karte, um die Tür zu öffnen, und mitten vor der Tür steht eine ältere Dame und spricht mit der Tür. WTF?! Aber das hier ist Hassee, das ist normal, wir sind schräg, wir sind bunt, wir sind vielfältig wie das Leben, also gehe ich einfach draufzu und hoffe, dass sie mich nicht anspricht, ich habe keine Zeit.

Natürlich spricht sie mich an. "Können sie mir sagen, ob das hier die Volksbank ist? Vor vielen Jahren war hier mal die VB, oder irgendwo in diesem Viertel, können sie mir sagen, wo die ist?" Gedanklich bin ich bereits im Bus, mein Körper ist gerade auf Überweisungsdaten-Tippen eingestellt und ich antworte kurz, möglichst freundlich, dass ich hier noch nie eine VB gesehen habe, und betrete die Filiale. Die alte Dame geht mit und fängt an, mit der Säule zu reden, mitten im Raum, an der die Geschäftsbedingungen der Förde Sparkasse ausgehängt sind.

Ich versuche sie elegant zu ignorieren, denn ein wenig muss ich mich nun doch darauf konzentrieren, dass ich keine Fehler mache. Ein bisschen creepy ist das nun schon, wie die Dame durch den Raum geht und mit irgendjemandem spricht, der nicht da ist. Dann geht sie nach draußen und spricht eine weitere Kundin an, meine Überweisungen sind fertig, drei Minuten noch, bis der Bus kommt, und sie fragt sie, ob das hier die VB ist oder wo sie denn wohl ist, weil hier früher mal eine VB war. Ich kann diesen ganzen Eindruck nicht so schnell abschütteln und setze mich etwas verwirrt an die Bushaltestelle und genieße die Sonne, so gut es geht. Im Häuschen sitzt noch jemand und warte auf den Bus, ein älterer Mann. Er sieht mich und steht auf.

Für einen Moment fühle ich mich deutlich unsicherer: Es kommt mir vor, als würde It mich verfolgen, er geht aber nicht auf mich zu, sondern geht hinter mir den Fußweg auf und ab. Ein bisschen humpelnd, so wie die alte Frau in der Filmszene, mit kleinen, tapsigen Schritten, und immer wieder scheint er auf meine Bank zuzugehen und ich bete mittlerweile, dass der Bus bald kommt, dass er mich nicht anspricht, dass gleich nicht wieder die alte Frau von der Sparkasse kommt, ich will nur noch zur Sannitanic, irgendwie ist das alles mega surreal. Ich fange an zu schwitzen, Sonne, Temperatur, Unsicherheit.

Und ich mache drei Kreuze, als ich realisiere, dass die nächste Person, die mich anspricht, tatsächlich meine beste Freundin ist. Okay, ja, sie mag auch alt sein (*duck*), quasi als Rechtfertigung sage ich ihr in der Campus Suite, dass sie wie ein Erstsemester aussieht. Und fange langsam an, mich ein wenig zu entspannen, endlich. Okay, dann möchte sich ein älterer Herr neben uns setzen, und bevor er seine Teetasse auf den Tisch stellen kann, fällt sie ihm aus der Hand und der Inhalt ergießt sich über die Bodenplatten. Kompletter Filmriss, überfordert. Augen zu, Hand an die Schläfe, geistiger Neustart.

Und dann ist es endlich überstanden und der Samstag wird realer, greifbarer, echter. Creepy... aber solche Momente kommen vor, und das hat nichts mit Hochbegabung zu tun, das haben sicherlich viele Leser schon einmal erlebt. Paranoia.

post scriptum: Ja. Ertappt. Ich finde diesen Film wirklich richtig gut. Sonst würde ich ihn nicht dreimal innerhalb von zwei Tagen geschaut haben. Sonst würde ich ihn nicht beim zweiten Ansehen noch besser als beim ersten Mal gefunden haben. Sonst würde ich ihn nicht je einmal hinsichtlich der Kameraarbeit und des Soundtracks analysiert haben. Das hatte ich zuletzt vor nicht allzu langer Zeit bei "Dark City" (1998), davor aber monate- bzw. jahrelang nicht mehr. Es sind Filme wie diese, oder zum Beispiel "Suspiria" (1977), die einfach künstlerisch reichhaltig sind und jedes Anschauen neu und anders belohnen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen