Sonntag, 20. Mai 2018

Mein Outing

Es war ein sehr langer Weg...

"Mi, der 6. 7. 05, 20:18 Uhr:
Nur noch zwei Klausuren. Text Production morgen und Tacitus nächsten Donnerstag. Kann gut sein, dass ich Tacitus nicht schaffe. Naja, dann ist das eben so. Was ist mit Olli? Nix Halbes und nix Ganzes. Ich versuche, auch wenn es sehr, sehr schwer wird, Reiners Ratschlag ernstzunehmen und mich ein wenig rar zu machen. Damit Olli ein wenig das Interesse geweckt werden kann. Vielleicht. Langsam werden meine Knie etwas weicher, denn am Freitag in einer Woche werde ich Mama sagen, dass ich schwul bin. Ich meine, es ist nicht viel dabei, es ist mein Leben und schnurz, aber ich muss es halt einmal gesagt haben und das ist das Schwierigste. Abwarten, immer weiter abwarten…

Sa, der 6. 8. 05, 21:13 Uhr:
Hallo! Ich kann gar nicht glauben, dass ich vergessen habe, einen der wichtigsten Momente in meinem Leben niederzuschreiben: Am 15.7. diesen Jahres habe ich mich bei meinen Eltern geoutet. Genauer gesagt: Ich habe es Mama erzählt. Sie hat gefragt, ob ich damit glücklich bin und war ganz zufrieden und ich habe sie dann gebeten, es Papa zu sagen. Die beiden haben echt toll reagiert und auch keinen Staatsakt draus gemacht. Das ist ganz gut, denn im selben Moment habe ich gemerkt, dass ich gerade mit Mama und Papa nicht unbedingt viel mehr darüber reden möchte. Also ist diese Hürde geschafft! "


Es gab Schnitzel.

Ich saß in der Küche, am Küchentisch, ich glaube, ich hatte eine Zitrone durchgeschnitten. Oder war es Spiegelei? Mama stand am Herd und irgendwas brutzelte in der Pfanne. Papa war hinten im Garten, an einem sonnigen Sommertag. So unspektakulär mein Outing im Tagebuch auch klingt - mir ging der Arsch auf Grundeis. Ich hatte weiche Knie. In Kiel wussten es inzwischen alle. Bei Freunden, naja, da ist es ja auch nicht so dramatisch. Aber die Angst vor den Eltern...

Denn sie würden damit leben müssen, dass ich den Familiennamen wohl nicht weiterführe. Dass ich nicht für Enkel sorge. Und wie soll ich es überhaupt sagen? "Ach übrigens, ich bin..." oder in irgendeinen Nebensatz einbauen? So sitze ich am Küchentisch, Mama schwenkt die Pfanne, ich schaue auf die Tischdecke. Gedankenzüge fahren von links nach rechts und zurück.

Ich bin einundzwanzig Jahre alt und habe dieses Geheimnis ewig mit mir herumgetragen. Es war mir so unangenehm, als ich mich in den Drummer unserer Musicalband verliebt hatte. Es war mir so unangenehm, wie ich Jungs aus unserem Jahrgang hinterhergaffte. Es war mir so unangenehm, dann auch noch so ein Streber zu sein - in der Oberstufe konnte ich endlich mein intellektuelles Potential ausreizen.

Wovor hatte ich denn Angst? Dass sie mich nicht mehr lieben? Keine Ahnung, what do I know, ich habe Filme gesehen und Geschichten gehört und ich hatte null Selbstbewusstsein. Und sie wendet die Schnitzel. Ob ich es nicht doch lieber verschieben sollte? Hat doch keine Eile, ich sage es einfach ein anderes Mal. Wir reden über Alltägliches, und ich habe keine Idee, wie ich das Thema anbringen soll. Aber ich habe jetzt so lange gewartet, ich möchte mich nicht mehr verstecken müssen. Was soll ich nur machen?

Sie: "Ich hab uns für heute zum Kaffee und Kuchen bei Oma Zitronenrolle geholt, die magst du doch, oder?"
...jetzt oder nie...
Ich: "Ja, ich mag Zitronenrolle... und ich bin schwul."

...

Um ehrlich zu sein, bekomme ich die Szene nicht mehr haargenau hin, aber es müsste ungefähr so gewesen sein. Und dann war es endlich raus, mit einem "Papa hatte sich sowas schon gedacht" von ihr und einem "Kannst du es Papa sagen?" von mir. In diesem Moment haben meine Eltern mir klargemacht, dass sie mich lieben und dass sie möchten, dass ich glücklich bin.

So, wie ich bin.

Rückblickend wirkt das Outing wie eine Kleinigkeit, und manchmal denke ich mir "Warum rückt der Knabe nicht einfach mit der Wahrheit raus", wenn ich einen Jugendlichen erlebe, der offensichtlich unter dieser Last der Geheimniskrämerei zu leiden hat. Aber gerade in diesen Momenten ist es wichtig, dass ich mir in Erinnerung rufe, wie hart das damals für mich war. Und auch wenn du noch so sehr versuchst, es geheimzuhalten, die Menschen, die dich lieben, merken es irgendwann.

Wir leben in einer Gesellschaft, in der es die Ehe für Alle gibt. Wir leben in einer Gesellschaft ohne den §175, der damals Homosexualität unter Strafe stellte. Wir leben in einer (teilweise) aufgeschlosseneren Gesellschaft - aber das Outing ist dadurch kein bisschen leichter geworden. Für einen schwulen Jugendlichen bleibt es nach wie vor eine der schwierigsten Hürden in seinem Leben, und wir Pädagogen sollten uns dessen immer bewusst bleiben, wenn wir mit Schülern arbeiten, denen eine Last auf den Schultern liegt.

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