Donnerstag, 17. Mai 2018

Ökonomie eines Kollegiums


"Hey, ich hab' dich schon einmal gesehen!"

Ein Satz, den man oft hört. Seien es nun Schüler, denen man im Bus begegnet, oder Kollegen beim Supermarkt oder whatever; meistens kein Anlass, um aus der Fassung zu geraten. So auch gestern: Siebte Stunde, Latein in Klasse Neun, es ist heiß und ich Idiot habe natürlich nicht daran gedacht, dass wir den Unterricht auch unten im Schulhof hätten machen können; so musste ich zweimal Treppen steigen, was im Moment echt unpraktisch ist.

Wie dem auch sei, so findet sich also der halbe Kurs im Fachraum ein, wir reißen die Fenster auf und lassen die Tür zum Flur offen stehen. Moment... der halbe Kurs? Etwas verwirrend. Drei Minuten später kommt Schüler B herein, "Entschuldigen sie, dass ich zu spät bin!" - "Ach, das ist schon okay, ich bin im Moment, ehrlich gesagt, froh, dass überhaupt jemand da ist." - "Naja, die anderen haben alle Chorprobe für das Musical nächste Woche (Mamma Mia steht an)." "Oh... okay..."

Und die Gedanken fangen an zu rattern. Scheiße, ist das heiß hier, was mache ich denn nun, kann ja nichts Neues mit denen machen, wenn mehr als die Hälfte fehlt, wo ist überhaupt das Klassenbuch, naja, dann schließen wir jetzt halt endlich die nd-Formen mit einer kleinen Wiederholung ab und ab morgen geht es dann an die verschränkten Relativsätze. Ja, so könnte das gehen. Und frage, wer den ersten Satz des Arbeitsblattes mal eben direkt vom Papier übersetzen möchte. Drei Finger gehen hoch, ich bin schon voll im Text drin und habe alle grammatikalischen Fragen bereit, die ich stellen möchte. So, nehme ich jetzt M, oder doch lieber C, oder...

"Hey, ich hab' dich schon einmal gesehen!"

Oh mann, immer diese Schüler, die an einem offenen Klassenraum vorbeigehen und dann reinrufen, sehen die nicht, dass gerade Unterricht ist? Und so schaue ich zur Tür, das scheint ein Lehrer zu sein, ich bin etwas verwirrt. Aus seinem Blick versuche ich abzuleiten, welchen Schüler er meint - doch sein Blick ruht ausschließlich auf mir. Was, ich??? Äh... und dann brechen meine Gedankengänge komplett zusammen und ich sitze da wie eine Salzsäule.

Die große Buba kennt diese Momente bei mir. Sie sagt dann immer direkt: "Ach herrje, Blockade - gar nicht weiter drüber nachdenken, egal, nicht so wichtig!" - denn sonst verheddere ich mich immer mehr in diesen Gedanken und kann keinen Unterricht mehr leiten.

Ich muss wirklich sehr verwirrt ausgesehen haben. "Naja, von der IGS", schiebt der Kollege hinterher. IGS... war das die Schule in Hassee, bei der ich mich beworben hatte? Oder Brachenfeld? Aber letztere hieß für mich immer nur Brachenfeld... aber ich kenne das Gesicht von irgendwoher, das stimmt definitiv! Mein Gesicht ist eingefroren, und unausgesprochene Worte purzeln mir wie Eiswürfel aus meinem offenstehenden Mund. Puh... und was mache ich jetzt?

Dann merkt auch der Kollege, dass ich auf der Leitung stehe, grinst und sagt "Kein Problem, fällt dir schon wieder ein", und geht weiter. Und tatsächlich, am Nachmittag fällt mir wieder ein, dass ich das Gesicht aus Neumünster kenne. Da habe ich immerhin über ein Jahr gearbeitet - peinlich, dass ich den Kollegen nicht zuordnen konnte. Wobei, gar nicht mal so peinlich, wenn ich an meine eigene Kollegiums-Ökonomie denke.

Ich entlehne diesen Begriff einer Rezension von Roger Ebert, in der er über sein Konzept der Economy of Characters in Slasherfilmen redet. Den Ausdruck fand ich spannend, und mir ist dabei bewusst geworden, wie ökonomisch ich mit neuen Bekanntschaften umgehe: Ich versuche zu ermessen, wie wichtig diese Person für mich sein wird, und merke mir ihre Identität, oder meistens eben nicht. Das führt dazu, dass ich auch nach Monaten einige Kollegennamen noch nicht kann und mir selbst einige Gesichter fremd vorkommen.

Dass es auch in Brachenfeld so war, dafür gibt es eine einfache Erklärung: Jener Kollege, der mich nun an der KGS wiedererkannt hat, saß nicht in "meinem" Lehrerzimmer; Gemeinschaftsschulen haben ein Konzept mehrerer kleinerer Lehrerzimmer, sogenannter Fachstützpunkte. Ich saß im Stützpunkt Sprachen, der andere Kollege nicht, und daher habe ich ihn nicht so oft gesehen und mir seine Identität nicht genauer gemerkt.

Wann immer ich an eine neue Schule komme, sagt mir die Kollegiums-Ökonomie: "Warum willst du dir den Aufwand machen und all' diese neuen Gesichter und Namen lernen, wenn du eh' bald wieder von der Schule gehst?" - und dem kann ich dann nicht viel entgegensetzen. Ich hoffe, das nehmen mir nicht so viele Kollegen krumm...

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