Donnerstag, 15. Februar 2018

"Die 9e kannst du vergessen!"


Ich habe heute zum zweiten Mal The Cabin in the Woods (2012) gesehen, eine sehr intelligente Horrorsatire, und jetzt, wo ich den Film schon kannte, habe ich ihn mit einer ganz neuen Perspektive erlebt. Und ich fand ihn noch deutlich besser als beim ersten Ansehen. Wenn ich einen neuen Film schaue, versuche ich immer, möglichst unvoreingenommen ranzugehen. Das klappt nicht immer, und vor allem schaffe ich das erst seit ein paar Jahren. Zu oft habe ich mir eine Inhaltsangabe im Netz durchgelesen und beschlossen: "Interessiert mich nicht." Auch bei Cabin habe ich vorher eine Zusammenfassung gelesen, denn ich hatte gehört, dass der Film richtig gut sein soll, aber ich wollte nicht unbedingt sehen, wie Menschen auf möglichst grausige Weise sterben, wie manche Horrorfilme es ja nun mal darbieten. Okay, dieser Film ist gen Ende etwas splatterig, aber so gut, satirisch und mit Meta-Ebene versehen, das schaue ich mir gern an.

Und was soll das nun mit der 9e zu tun haben - eine Klasse, die ich nicht unterrichte, weil es sie an meiner Schule nicht einmal gibt? Der gemeinsame Faktor ist die Unvoreingenommenheit, und das Zauberwort heißt:

Lerngruppenübergabe.

Wir Vertretungslehrer kennen das und leben davon: Dass unbefristet beschäftigte Kollegen ausfallen und wir sie für eine Zeit vertreten können. Also setzen wir uns mit ihnen in Verbindung, und sei es nur, um eine Namensliste und bisherige Leistungsübersicht der Klasse zu bekommen. Ganz oft habe ich kleine Kommentare unter diesen Listen gesehen, in etwa "...eine ganz liebe Klasse." oder "...die sind richtig aufgeweckt."

Ich mag das nicht.

Ich mag das wirklich gar nicht. Auch wenn die beiden Beispielkommentare doch eigentlich recht positiv und nett sind: Ich möchte mir mein eigenes Bild meiner Lerngruppe machen. Ich möchte unvoreingenommen auf sie zugehen, ich möchte sie authentisch und ohne Hintergedanken erleben. Es gibt Sätze, die möchte ich einfach nicht hören, wenn ich eine Lerngruppe übernehmen soll. Beispiele gefällig?

"Die 9e kannst du vergessen, die sind tierisch faul."
"Also bei einem Schüler musst du aufpassen, der ist ein Leistungsverweigerer, das könnte stressig werden."
"Also bis auf Schüler XY können die eigentlich gar nichts. Da unterrichte ich lieber in meiner 5a, die haben echt was drauf!"
"Kann anstrengend werden, die 8b ist eine der lautesten Klassen der Schule, die haben ein echtes Problem."

Und solche Sätze begegnen mir immer und immer wieder, und der großen Buba auch, und der Sannitanic auch. Was mich daran stört? Ich habe in den letzten sechs Jahren die Erfahrung gemacht, dass manche Schüler bei mir ein ganz anderes Unterrichtsverhalten an den Tag legen als bei anderen Kollegen. Das kann eher zum Besseren (Verhaltensauffällige) oder zum Schlechteren (Schleimerella) tendieren. Ich sage jedem meiner neuen Schüler: "Ihr startet bei mir mit einer tabula rasa, ausgeglichenes Konto, und ihr könnt von Anfang an alles richtig oder alles falsch machen." Und ich möchte wirklich, dass die Schüler mich dabei beim Wort nehmen können, und dann sind Sätze wie "Die Jungs hinten machen fast nie mit." nicht förderlich. Ganz im Gegenteil. Und ich gehe noch einen Schritt weiter.

"Die 9e kannst du vergessen, die sind tierisch faul" sagt mir wesentlich weniger über die Klasse selbst aus als über den Kollegen, der diesen Kommentar äußert. Er lässt mich denken, dass der Kollege Probleme in der Klasse hat. Er lässt mich vermuten, dass der Kollege in seinem Wertungsschema festgefahren ist und dass es keine großen Notenüberraschungen bei ihm gibt. Er lässt mich befürchten, dass jener Kollege selbst vielleicht nicht unvoreingenommen auf jeden seiner Schüler zugehen kann, und das tut mir für alle Beteiligten leid: Für den Schüler, der demotiviert wird, weil ihm nicht die Chance eingeräumt wird, sich im Unterricht drastisch zu verbessern, und für den Lehrer, der vielleicht so festgefahren in dieser Situation ist, dass er es selbst nicht mehr bemerkt und sich eben dessen nicht mehr bewusst ist - dass der Kopf rund ist, damit das Denken die Richtung ändern kann.

Ich schaue mir Vornoten nur vor den Zeugniskonferenzen an (weil große Notensprünge erklärt werden müssen). Ansonsten biete ich meinen Schülern die Möglichkeit, etwas Neues aus sich zu machen, wenn sie es denn wollen.

Ich hoffe, ich werde nicht selbst irgendwann sagen: "Die 9e kannst du vergessen!"

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