Mittwoch, 7. Februar 2018

No Child Left Behind

Auch das bekommen wir wieder hin ;-)

In der allerersten Lehrprobe, die ich anschauen durfte, habe ich Eines gelernt: Das Wichtigste am Unterricht ist, dass man mit dem Stoffpensum durchkommt. Das wurde dadurch noch verstärkt, dass ich in der ersten Lehrprobe, die ich gezeigt habe (noch vor dem Referendariat), als Feedback erhalten habe, dass man auch mehr Stoff in der Stunde hätte schaffen können, anstatt zum Beispiel Musik zu hören (um daraus eine Sammlung englischer Adjektive abzuleiten).

Daher war es nur konsequent, dass ich mir für meinen ersten offiziellen Unterrichtsbesuch des Studienleiters (damals Latein bei Herrn Kruse) Einiges vorgenommen habe. Bedeutet: In einem L3-Kurs sechzehn Zeilen Übersetzung in Think-Pair-Share. Das erschien mir logisch, und mittlerweile weiß ich auch, dass man noch wesentlich mehr schaffen kann, wenn man etwas mehr Druck macht. Und es kam der Tag der Lehrprobe, und wie es scheinbar vielen Junglehrern geht: Ich bin bei Weitem mit dem Pensum nicht durchgekommen.

Wir erinnern uns: In der Nachbesprechung einer Lehrprobe gibt zuerst der Referendar seine eigene Einschätzung - was hat gut geklappt, was nicht so, wie könnte ich nächstes Mal anders vorgehen. Also erhielt ich das Wort und hatte butterweiche Knie, denn das war mir echt unangenehm. Und so ging es los mit "Also, Herr Kruse, das tut mir wirklich leid, ich habe nur ein Viertel von dem geschafft, was ich mir vorgenommen habe, das ist wirklich ein ungünstiger Einstand, aber die Erarbeitungsphase hat so lang gedauert und es gab so viele Fragen, die ich beantworten wollte - ich habe ein Problem damit, Schüler zu ignorieren, wenn ich einen Finger in der Luft sehen, auch wenn ich das wahrscheinlich noch lernen muss, und überhaupt..."

"Dr Hilarius, holen sie doch erstmal tief Luft." Ich hatte schon öfters gehört, dass man als Referendar im ersten Semester eine Art Welpenschutz genießt. Die Besprechungen konzentrieren sich auf das Positive und man wird noch nicht so hart rangenommen (im Gespräch). Man darf Fehler machen, denn aus diesen soll man schließlich lernen. Insbesondere im letzten Semester wird dann Professionalität erwartet (was auch Fehler einschließt, aber deren sinnvolle und produktive Analyse verlangt).

Und dann hat Herr Kruse mir erklärt, dass das eine sehr schöne Lehrprobe war, und zwar nicht wegen der Fehler, die ich (meiner Meinung nach) gemacht hatte; Herr Kruse hat die Stunde aus einem ganz anderen Blickwinkel gesehen, und zwar, wie ich mit Schülern arbeite. Und das hatte ich wohl ganz seinen Vorstellungen entsprechend gemacht (eher instinktiv); ich gehe vor dem Arbeitsplatz der Schüler in die Hocke (Augenhöhe, und wenn der Lehrer hinter dem Schüler steht, kann das sehr bedrohlich wirken), ich gebe den Schülern Einhilfen, um ein Verständnis für das Problem zu schaffen, anstatt einfach nur eine richtige Übersetzung zu geben (daraus sollte sich letztlich meine Examensstunde in Latein entwickeln).

Herr Kruse hat damit in mir ein Verständnis gesät, worauf es seiner Meinung nach im Unterricht ankommt: Fortschritt, dass die Schüler reicher aus dem Unterricht gehen, und dass niemand mit seinen Problemen zurückgelassen wird (in Englisch sahen die Anforderungen leider etwas anders aus). Er hat mir erklärt, dass alles Andere nur Handwerkszeug ist, was man sich im Ref und im späteren Leben als Lehrer mit der Zeit aneignet. Die Grundlagen stimmen, hat er mir erklärt.

Es sollte allerdings erst nach dem Ref soweit sein, dass ich dessen Bedeutung richtig verstehen und umsetzen musste, nämlich bis zur Arbeit am St-Peter-Ording-Regionalschulteil. Bis zur Arbeit mit Schülern, die kognitiv nicht in der Lage sind, alle Anforderungen zu erfüllen, egal, wie viel sie üben. Und ich habe gelernt: Das ist okay! Für mich war wichtig, keinen in der Klasse zurückzulassen. Selbst ein Beton-Sechs-Schüler mit Null-Bock-Attitüde. Ich habe mir eingeredet, dass ich überall etwas erreichen kann, wenn ich nur den richtigen Dreh fände.

Konnte ich nicht. Aber der Versuch war es wert; jeder Versuch ist es wert, und das hat mein Schulleiter dann auch in der dienstlichen Beurteilung festgehalten. No child left behind, der Ausdruck stammt aus den Vereinigten Staaten, aus dem Jahr 2001. Ein Bildungsgesetz unter Bush. Selbst wenn ich über die genauen Inhalte uninformiert bin, fand ich, dass eine wichtige Idee ausgedrückt wird (seit 2015 gab es dann Every Student Succeeds, den Namen genieße ich etwas vorsichtiger; man kann jeden Fortschritt als Erfolg bezeichnen, und das ist auch wichtig, aber nicht jeder Schüler kann alle Anforderungen erreichen).

Eine Idee, hinter der ich stehe, keinen Schüler in der Klasse zurückzulassen, und ich kann mir das in der Schule nicht einfach abgewöhnen. Es hat einen riesigen Haken: Die Stoffprogression kann darunter leiden. Manche Kollegen bekommen das super hin, aber ich bin einfach einer der langsamsten Lehrer an der Schule, und das war bisher in jeder Schule so. Der Gedanke, dass ich mit dem Stoff vorangaloppiere und vielleicht eines der Kinder die Sachverhalte nicht verstanden haben könnte, lässt mich nicht kalt.

Und ich muss mir nun scheinbar wieder klarmachen und mich darin eingewöhnen, dass ich zurück an einem Gymnasium bin. Die Schüler können (zum großen Teil) mehr schaffen, aber es ist auch wichtig, dass ich das von ihnen einfordere. Hier kann ich zwanzig Zeilen Übersetzung in PA, HA und anschließender Besprechung in zwei Unterrichtsstunden durcharbeiten (früh in der Spracherwerbsphase Latein).

Also, mutig voran!

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