Freitag, 2. Februar 2018

Schwer erziehbare Kinder

Es ist nötig, hinter die Fassade zu schauen.

"Ach, machen sie sich keinen Kopf, wir sind hier eh' die absolute Horrorklasse", schallt es mir in meiner jetzigen Schule seitens der Schüler entgegen, bei der ersten Besprechung des Unterrichtsverhaltens. Als ich diese "Erklärung" höre, muss ich schmunzeln. Oder zumindest aufhorchen; zum einen, weil ich es sehr bedauerlich finde, dass offensichtlich seitens der Lehrkräfte den Schülern ein Bewusstsein vermittelt worden ist, sie seien anstrengend, nervig und eben der absolute Horror, bzw. eine Chaosklasse. Zum anderen aber, weil ihre Einschätzung sich nicht mit meinen Erfahrungen deckt, weil ich ganz andere Klassen unterrichtet habe. Schüler, die man im Volksmund als schwer erziehbare Kinder beschreibt. Spannende Kinder - und das, ohne dass es mir zunächst bewusst gewesen ist.

Ich habe an einer Schule gearbeitet, in der der durchschnittliche Lautstärkepegel während des Vormittags weit über dem lag, was ich von anderen Schulen kannte. Kein Schultag ging länger als bis zur sechsten Stunde, und dennoch war ich jeden Tag mittags so kaputt, dass ich erstmal ein bis zwei Stunden schlafen musste. Die Ohren haben mir geklingelt, und so gut wie nie habe ich es geschafft, in einer Stunde alles zu erledigen, was ich mir vorgenommen hatte. "Unterrichtsstörungen haben Vorrang", sagte mir ein sehr erfahrener Pädagoge und ich gehe seit Anfang meiner Unterrichtszeit mit ihm d'accord. Hat eben zur Folge, dass man weniger Pensum schafft - aber so ist Schule eben. Arbeit mit Menschen, die weit über das hinausgeht, was wir an der Universität gelernt haben und was in den Schulbüchern der Kinder steht.

Das Kollegium dieser Schule war sehr erfahren und abgehärtet im Umgang mit diesen Schülern, und sie haben mir erklärt, dass es durchaus vorkommen kann, dass man einmal laut wird im Unterricht. Und damit meine ich nicht laute Sprache, sondern Schreien. Die Klasse anbrüllen. Auf das Pult schlagen. Natürlich schwingt mir dabei immer der Satz einer anderen sehr erfahrenen Pädagogin im Ohr mit: "Wer laut wird, dem sind die Argumente ausgegangen." Und doch ist es mir an jener Schule auch hin und wieder passiert, dass ich tief in die Vulgärkiste gegriffen habe.

Das kommt nicht von ungefähr. Ich passe mich für gewöhnlich in meinem Sprachregister meinem Gesprächspartner an. Oft, ohne dass ich es merke. In vielen Klassen jener Schule saßen Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Allgemein als I-Kinder bezeichnet, nannte man sie früher Sonderschüler. Es gibt diverse Förderbedarfe, und an jener Schule habe ich sie alle kennengelernt und mit allen arbeiten dürfen.

Ich sage "dürfen", weil es unglaublich anstrengend ist, ungaublich herausfordernd und so oft unglaublich ernüchternd, und so oft bin ich an ihnen gescheitert, aber bei keinem anderen Schüler habe ich mich selbst so sehr weiterentwickeln können. Deswegen bin ich - anfangs etwas ängstlich - immer dankbar gewesen, wenn ich I-Klassen unterrichten konnte.

Einer dieser Förderbedarfe heißt, je nach Schule, in der Umgangssprache E/S oder EmSoz. Das ist kurz für den Förderbedarf emotionale und soziale Entwicklung und beschreibt Kinder, die genau auf diesem Feld Auffälligkeiten zeigen und/oder Rückstände aufweisen. Man bemerkt sie im Unterricht für gewöhnlich recht schnell als verhaltensauffällige Kinder - so haben sie zum Beispiel Probleme in der Interaktion mit ihren Mitschülern, werden schnell aggressiv oder verschließen sich vollkommen, schreien ohne offensichtlichen Grund herum, fangen an zu weinen und fordern ein gewaltiges Empathievermögen seitens der beaufsichtigenden Person ein.

In einer Klasse jener Schule hatte ich zwei E/S-Kinder, die mir regelmäßig den Unterricht zerlegt haben. Junge A wies unter anderem ADHS-Symptomatik auf, kletterte während der ganzen Stunde im Raum herum, konnte sich nie auf seinem Platz halten, hat übelste Vulgärsprache benutzt (siebte Klasse), hat Schuleigentum beschädigt und jede Möglichkeit gesucht, seinen Lehrern auf der Nase herumzutanzen. Mädchen B war sehr verschlossen. Sie meldete sich nie, zog dauerhaft eine Schnute und saß fast ununterbrochen mit verschränkten Armen an ihrem Arbeitsplatz (wir wissen, dass das eine Abwehrhaltung darstellt), mit ADS-Symptomatik. Sie versuchte krampfhaft, keine Emotionen zu zeigen, erst recht nicht Freude, Fröhlichkeit oder andere positive Empfindungen. Sie bemühte sich, möglichst wütend und stur zu wirken. Und jedesmal, wenn ich es geschafft habe, sie zum Lächeln zu bringen, drehte sie sich schnell zur Wand um und versuchte das zu verbergen.

In dieser Klasse habe ich es zu einem pädagogischen Totalausfall geschafft, und zwar nicht ob der allgemeinen Lautstärke und Unruhe, für die die Klasse an der Schule sowieso schon bekannt war (der Klassenlehrer wurde von uns allen sehr für sein Durchhaltevermögen bewundert), sondern besonders wegen der Spitzen, die die beiden E/S-Kinder dem Ganzen noch aufsetzen, die an Frechheit nicht mehr zu überbieten waren. In solchen Situationen schloddere ich mit meiner Sprache gern herum und klatsche ihnen auch nicht jugendfreie Dinge entgegen - ganz das reflektierend, was sie mir gegenüber äußern (s.Sprachregister oben). Einer dieser Vorfälle ist zuhause und dann der Schulleitung gemeldet worden und hat eine sehr spannende Kette von Ereignissen in Bewegung gesetzt.

Es kam zu einem pädagogischen Gespräch mit mehreren Beteiligten, Elternvertreter, Klassenlehrer, Vertrauenslehrer, Schulleiter, Soz.Päd. und Heimleitung.

Es war das erste Mal, dass ich seit Beginn meiner Arbeit dort mit einer Heimleitung gesprochen habe. Es hat nach Arbeitsbeginn sowieso sehr lange gedauert, bis mir bewusst geworden ist, dass der Einzugsbereich meiner Schule ein umfangreiches Netz von jugendpädagogischen Einrichtungen a.k.a. Kinderheimen umfasste. Das kannte ich vorher noch nicht, und ich habe sehr viel über den Umgang mit Heimkindern lernen können. Eines dieser Heime nenne ich jetzt mal Klaustal. Die E/S-Kinder jener besonders auffälligen Klasse waren beide Klaustal-Kinder, und zum Zeitpunkt, als ich die Klasse in Englisch übernommen hatte, wusste ich bereits, dass "Klaustal-Kinder" eine besondere Herausforderung sind. Früher hätte man das Haus Klaustal wohl als Heim für schwer erziehbare Kinder bezeichnet. Meine anspruchsvollsten Arbeitsfälle in der Zeit an jener Schule waren Klaustal-Kinder, und ich bin oft an ihnen gescheitert, bis ich mit der Zeit den richtigen Dreh gefunden hatte.

So saß nun also die Klaustal-Heimleiterin mit in der Runde und konnte nicht verstehen, wie ausgerechnet dieser Lehrer, über den bisher eigentlich ganz andere Rückmeldungen gekommen sind, solch' einen Totalausfall in der Stunde haben konnte.

Natürlich unterliegt dieses Gespräch der Schweigepflicht. Die Inhalte sind auch für diesen Beitrag weniger relevant als der Umstand, dass ich ein paar Wochen danach einen Termin abgemacht habe mit der Heimleiterin, um in Ruhe über ihre beiden E/S-Kinder zu sprechen. Und das taten wir dann; beide noch nicht ganz sicher, was wir vom jeweils Anderen halten sollten. Und es war ein tolles Gespräch. Die beiden Kinder berichteten mir danach in der Schule, dass es offensichtlich für alle Beteiligten sehr erleuchtend gewesen ist.

Mir hat das Gespräch vor allem klargemacht: Kinder mit einem E/S-Bedarf (oder jeglichem anderen) haben sich das nicht ausgesucht. A und B sind in einem Heim, und das nicht ohne Grund. Mancher Schüler ist ausgesetzt worden, manche Schülerin von den Pflegeeltern mehrfach sexuell missbraucht. Mit diesem Wissen in den Unterricht zu treten, war für mich erstmal nur noch mit einem riesigen Kloß im Hals möglich. Das Kind anzuschauen, das krampfhaft Emotionen zu verdecken sucht. Zu wissen, was mit ihm passiert ist... ich weiß noch genau, dass ich am liebsten losgeheult hätte. Und ich bin ganz anders rangegangen, mit einem ganz anderen Bewusstsein. Und auch bei A und B habe ich etwas bewirken können; gerade, als die Arbeit wirklich spannend wurde und erste Horizonte in Sicht waren, ging meine Arbeitszeit an jener Schule zu Ende. Schweren Herzens habe ich diese "Fälle" losgelassen.

Schwer erziehbare Kinder. Als ob die Kinder etwas dafür könnten, wie sie sind. Je verhaltensauffälliger sind, umso mehr tun sie mir leid...

post scriptum: Das ist tatsächlich einer der Hauptgründe, weshalb ich lieber an einer Gemeinschaftsschule als an einem Gymnasium arbeiten würde. Bei einer Stellenausschreibung für eine Vertretung hat der Schulleiter mir auf meine Absage hin geantwortet [denn ich hatte die Stelle an einer GemS in Aussicht]: "Aber Dr Hilarius, bedenken Sie, wir sind ein Gymnasium!" Als spräche das dafür, seine Stelle anzunehmen. Ich weiß, für viele Lehrer wäre das ein sehr schlagkräftiges Argument, aber ich habe nur geantwortet: "Sehen Sie, genau das ist der Punkt, Herr Schulleiter. Sie sind ein Gymnasium. Ich habe herausgefunden, dass ich lieber an einer Gemeinschaftsschule arbeiten möchte. Dort kann ich mehr erreichen."

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