Cesare, der Schlafwandler, aus dem Cabinet des Dr. Caligari |
Vorweg: Eigentlich wollte ich heute von neuen Erlebnissen im Badreich berichten, denn der fürchterliche Mount Waschmore wurde nach langem Warten endlich erklommen. Dann aber kam eine spontane Entscheidung mit Auswirkungen auf diesen Blog.
"Stummfilme? Ne lass mal, das ist mir zu anstrengend", das war eigentlich immer meine unmittelbare gedankliche Reaktion auf die Aussicht auf einen Stummfilm. Meine Denkweise ganz klar engstirnig, mit Scheuklappen und voreingenommen, so wie ich es von mir leider schon häufiger erleben musste: "Da sind dann ja alle Dialoge als Text eingeblendet, ich hab keine Lust, den ganzen Film über so viel zu lesen!" - "Ich weiß auch gar nicht, ob ich das alles dann überhaupt verstehe!" - "Und dann diese altmodische Musik im Hintergrund, das Gedudel geht mir bestimmt bald auf die Nerven!" - "Und das ist ja auch noch alles schwarzweiß!" - "Ja, ein paar meiner Lieblingsfilme sind schwarzweiß, das weiß ich ja, aber bei den Stummfilmen ist die Bildqualität dann auch noch so schlecht, bestimmt nicht einmal vierhundertachtzig Pixel."
Kurz gesagt: "Moderne Filme sind viel bequemer, warum soll ich mir einen Stummfilm antun???"
So habe ich also bis in mein fünfunddreißigstes Lebensjahr hinein gelebt, ohne je einen dieser Filme zu sehen. Da konnte mir noch so oft aus der Internet Movie Database entgegenschallen, dass einige dieser Filme ungeheuer populär sind. Da kann mir Roger Ebert noch so oft sagen, dass einige dieser Filme zu seinen Great Movies gehören. Ich weiß es ja mal wieder besser.
Bis gestern.
In einem Anflug von "Ich muss meinen Horizont erweitern!" habe ich Amazon prime nach Stummfilmen durchstöbert, gezielt nach Das Cabinet des Dr. Caligari von 1919, und bin fündig geworden in einem Double Feature mit Nosferatu, eine Symphonie des Grauens von 1922 - zwei wichtige Filme des Deutschen Expressionismus, wie ich dem Internet entnahm. Nun denn, das Telefon ausgestöpselt, die Wohnung abgedunkelt und zuerst Nosferatu gestartet - und damit eine Aufklärungsrunde erster Güte, in der ich meine Vorurteile der Reihe nach über Bord werfen musste.
"Ich habe keine Lust, so viel Text zu lesen" - eine völlig unberechtigte Angst, denn der Film ist mit extrem wenigen Textkarten ausgestattet. Der Plot wird durch die Bilder erzählt und die Emotionen durch die Musik begleitet. Ich habe alles verstanden, allerdings war ich auch (im Vergleich zu manch' modernem Film) hoch aufmerksam, ich habe um mich herum kaum noch etwas mitbekommen. "...diese altmodische Musik nervt..." - ...so überhaupt nicht, denn nach einigen Minuten nimmt man sie kaum noch als "Filmmusik" mehr war, sondern als eigenständigen Charakter der Geschichte. Die Musik und die Bilder erzählen viel eindrucksvoller, als jegliche Dialoge oder textuelle Exposition es könnten. Ich gebe zu, ich habe ziemlich gestaunt... und ich war gespannt! So gespannt, wie es weitergeht - eben weil keine ablenkenden Farben dabei waren, keine überflüssigen Bildimpulse, keine nervigen Dialoge, ich war vollkommen absorbiert; zwischendurch musste ich pausieren, um dann in aller Eile etwas zu trinken zu besorgen, und bin sofort wieder auf die Couch gerast, um mit Thomas Hutter auf die Reise zu Graf Orlok und zurück in seine Heimat zu gehen.
Und habe ganz nebenbei gelernt, wie richtiger Horror funktioniert. Das sind keine scare tactics; ich bin nicht vor Schreck aufgesprungen. Dazu haben moderne Filme zu gute Techniken (z.B. im Sinne der jumpscares) entwickelt. Aber ich muss zugeben, dass nicht viele Filme mich so sehr mitgenommen haben. Erübrigt sich, zu sagen, dass die Meditation danach ein einziger Genuss war - diese neue Erfahrung noch einmal Revue passieren zu lassen. Und eigentlich wollte ich danach diesen Artikel schreiben, aber ich war mittlerweile viel zu neugierig geworden auf den zweiten Film, Caligari.
Ich hatte keine Ahnung, dass ich mir den ersten Horrorfilm der Welt anschauen würde. Ich hatte keine Ahnung über seinen literarischen und interpretatorischen Anspruch. Ich hatte keine Ahnung von seinem twist ending. Ich hatte keine Ahnung, wie wichtig dieser Film mittlerweile ist. Ich weiß nur, ich war gebannt wie zuvor bei Nosferatu, und am Ende habe ich gestaunt und mit Genuss die Rezensionen und vor allem die Interpretationen vor dem Hintergrund des Ersten Weltkrieges - und vor allem der damals noch weit entfernten Bedrohung durch die Nazis gelesen.
Wow. Lange keinen so guten Filmabend gehabt.
Und wieder ein paar Vorurteile über Bord gekickt.
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