Mittwoch, 1. November 2017

Ein schmaler Grat

VORSICHT - das kann böse enden...

Ich habe neulich etwas über Verantwortung geschrieben, und darüber, wie ungern ich eigentlich Verantwortung für andere Menschen übernehme - aus Angst, ich könnte irgendwann einen Unfall des Anderen, ein Missgeschick o.ä. zu verantworten haben und mir Vorwürfe machen zu müssen. Mir ist beim Nachdenken darüber noch ein anderes Beispiel eingefallen: Ich übernehme in meiner Präventionsarbeit öfters Verantwortung, als es mir vielleicht bewusst ist, weil manche User sich auf meine Ratschläge und Warnungen verlassen. Ein unvorsichtiger, nicht gut durchdachter Rat kann im schlimmsten Fall verheerende Konsequenzen für den Anderen haben.

Es gibt Tendenzen in der Drogenarbeit, die da behaupten, Abstinenz sei die optimale Lösung. Dass es nicht so ist, habe ich im Beitrag zum Thema "Drogenmündigkeit" beschrieben. Da es in der Regel nicht funktioniert, die Menschen von ihrem Konsum abzuhalten, versucht man, ihnen Tipps auf den Weg mitzugeben, nach dem Prinzip der harm reduction, der Schadensminimierung. Leider lassen sich solche Tipps oft als "Anregung zum Konsum" lesen und werden von konservativen Standpunkten als "Verführung" gedeutet, die nichts mehr mit Präventionsarbeit zu tun hat. Unsere Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Marlene Mortler, tickt so - und das wird sich leider nicht so schnell ändern; wäre schön, wenn FDP- und Grünen-Einfluss daran etwas ändern könnten.

Ich versuche, ein möglichst konkretes Beispiel zu finden, ohne dass ich hier jemanden auf Ideen bringe. Ich fürchte nur, ganz ohne Ideen wird es nicht gehen. Denn genau diesen schmalen Grat wandere ich immer wieder auf's Neue - Helfe ich jetzt einem Drogenkonsumenten, oder stürze ich ihn dadurch noch tiefer in sein Konsummuster hinein? Ich entscheide mich für das Beispiel Codein.

Codein ist ein Opiat mit einem breiten Einsatzsspektrum, hauptsächlich wird es entweder zur Unterdrückung von Reizhusten oder als Schmerzmittel verschrieben. Bei Menschen, die noch nicht viel Erfahrungen mit Opiaten gesammelt haben, ist Codein beliebt; wer bereits eine hohe Opiattoleranz hat, wird damit wegen des ceiling effects nicht mehr viel anfangen können. Aber Fachbegriffe beiseite. Manch' ein Drogenkonsument besucht also den einen oder anderen Arzt, hustet dort herum in der Hoffnung, Codein verschrieben zu bekommen. Er kann Glück oder Pech haben: Er bekommt ein Rezept oder eben nicht.

Es gibt allerdings auch eine nur halbwegs "erfolgreiche" Variante: Man bekommt ein Kombipräparat verschrieben. Codein wird sehr oft mit Paracetamol kombiniert verschrieben, oft auch mit ASS oder gelegentlich mit Diclofenac, allesamt Schmerzmittel, deren Effekte durch die Kombiwirkung verstärkt werden sollen. Wenn man nur des Codeins wegen gekommen ist, steht man vor einem Problem.

"Wieso?" fragen sich leider sehr viele unerfahrene Konsumenten. Ein Rechenbeispiel: Für einen entspannenden Rausch brauche ich 240mg Codein (je nach Körpergewicht, Toleranz und Empfindlichkeit). Eine Tablette des Kombipräparates XY enthält 30mg Codein, okay, also nehme ich einfach acht Tabletten. Was ich nicht bedacht habe: Jede Tablette enthält außerdem 500mg Paracetamol. Ich nehme also gleichzeitig 4000mg Paracetamol zu mir, und das kann ganz übel enden, denn Paracetamol wirkt hepatoxisch, belastet also (außerhalb des therapeutischen Dosisbereichs) die Leber sehr stark. Das kann zu einem Leberversagen und - im schlimmsten Fall - zum Tod führen.

Es ist immer wieder erschreckend, wie viele Neukonsumenten (gerade im jüngeren Alter) noch nicht einmal um diesen Umstand wissen (Drogenmündigkeit Säule 1: Substanzwissen). Doch selbst mit diesem Wissen scheuen sich viele dem Rausch zuliebe nicht davor, ihrem Körper eine gewaltige Belastung zuzumuten. Dabei könnte die Gefahr mit einer einfachen Methode extrem verringert werden. Und mein schmaler Grat sieht so aus: Lasse ich den Konsumenten weiterhin blindlings in's Krankenhaus laufen oder "verrate" ich ihm diese Methode, auf die Gefahr hin, dass ich ihm den Codeinkonsum für die Zukunft damit noch schmackhafter mache?

Manche Drogenforen haben da eine ganz klare Richtlinie: Keine Anleitungen posten! Und das ist auch nachvollziehbar - gerade weil diese Seiten für viele Menschen einsehbar sind. Im persönlichen Gespräch aber würde ich in diesem Fall immer wieder die Methode, die sogenannte Kaltwasserextraktion (KWE) erklären. Mit ihr kann man einen Großteil des enthaltenen Paracetamols vom Codein trennen und nimmt in der Folge weniger davon zu sich.

Da dieser Blog für die Öffentlichkeit einsehbar ist, sieht meine Gratwanderung diesmal so aus, dass ich zwar die KWE namentlich erwähne, aber keine detaillierte Extraktionsanleitung gebe. Ich wollte es nur als Beispiel verwenden, denn ich muss mich jedesmal wieder fragen: Kann ich es verantworten, diesem User die Anleitung mitzugeben? Wenn ich bedenke, dass ich ihn auf diese Weise vor einem Krankenhausaufenthalt oder Schlimmerem bewahren kann - dann tue ich das.

Ist es verantwortungslos, Safer Use zu unterstützen, bzw. dabei zu helfen?

(Auch in der Fragestellung interessant: Druck-Checking; werde ich ein andermal hier thematisieren)

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