Samstag, 16. September 2017

Psychologisches Gutachten

Das psi und der caduceus

Ich führe in meinem Kopf über jeden Menschen, den ich in meinem Leben kennenlerne, eine Art psychologisches Gutachten. Je nach Person geschieht das bewusst oder unbewusst, ebenso hängt davon ab, wie detailliert das Gutachten ist. Mir ist das in den letzten, denkintensiven Tagen durch den Kopf gegangen.

Warum mache ich das, wie kommt es dazu? Ich könnte mir vorstellen, dass es damit zusammenhängt, dass ich als Hochbegabter immer sämtliche Antworten auf die Frage "Warum?" haben möchte. "Hmmm, warum hat die große Buba heute so komisch gesprochen?" - "Warum traut Er sich nicht, bestimmte Dinge auszusprechen?" Ich finde menschliches Verhalten unglaublich interessant. Diese Eigenart hat auch einen positiven Effekt: Ich bin in der Schule offen für verhaltensauffällige Schüler, da ich natürlich auch sie verstehen möchte. Es gibt ja auch Lehrkräfte, die sich dann sagen "Okay, der ist komisch, ich muss mich ja nicht mit ihm beschäftigen." - vielleicht auch als eine Art Selbstschutz.

Natürlich habe ich ein Gutachten über Die Große Buba angelegt. Ich gebe zu, das ist ein Gutachten, was mir nicht leicht fällt, ich muss es oft revidieren, korrigieren, und manchmal kann ich ihr Verhalten nicht nachvollziehen. Allerdings muss gesagt sein, dass ich dieses Gutachten nur noch unbewusst führe, denn: In ihrer Gegenwart fühle ich mich so entspannt, so frei, dass ich keinen Bedarf habe, alles Verhalten zu verstehen und entsprechend darauf zu reagieren. Und ich gebe zu, das ist ein herrliches Gefühl.

Ebenso führe ich auch ein Gutachten über die Sannitanic. Das ist unglaublich spannend, aber ich verfolge es nicht mehr "aktiv" weiter. Weil ich das Gefühl habe, ich könnte sie verletzen, wenn ich da zu tief grabe. Und ähnlich wie bei der großen Buba ist es auch einfach nicht mehr relevant - die Sannitanic akzeptiert mich so, wie ich bin, und das habe ich mir von ihr abgeguckt. Und vor Allem lerne ich von ihr, nicht immer zu fragen "Warum verhält Er sich so?" - sondern progressiv zu denken: "Wie gehe ich von hier aus mit der Situation um?" Es tut mir gut, so nach und nach umzuschalten.

Wenig überraschend dürfte sein, dass Er in meinem Kopf das umfangreichste und detaillierteste Gutachten besitzt und dass ich dafür noch immer verhältnismäßig viel Zeit aufwende. Am Anfang hatte ich erhebliche Probleme, weil ich sein Verhalten für bare Münze genommen habe. Bei ihm musste ich oft umdenken. Ich habe mir allerdings vorgenommen, mich bei ihm zurückzuhalten. Denn ganz oft verstehe ich seine Verhaltensmuster (tatsächlich), und bin ein wenig unglücklich, wenn ich im selben Atemzug denke: "Du könntest es so einfach so viel besser haben!", und ich möchte dann immer helfen und genau das sollte ich nicht tun. Allerdings ist dieses auch das "lohnendste" Gutachten, denn ich lerne so viel über mich selbst und merke... wie scheiße mein Verhalten ihm gegenüber gewesen ist. Mit seinem Gutachten setze ich mich gern auseinander, auch wenn es mal die eine oder andere Träne kostet.

Ein Gutachten meiner Eltern? Natürlich, sie sind Teil meines Lebens, aber da verhält es sich irgendwie anders. Ich... möchte eigentlich gar kein Gutachten führen. Sie sind meine Eltern, ich liebe sie, und es ist spannend, ihr Verhalten zu beobachten und zu analysieren. Aber es kann auch wehtun, wenn ich merke, wo da eventuelle "Baustellen" wären, und jedesmal, wenn mir so etwas bewusst wird, schalte ich ab, lege das Gutachten weg, bloß nicht weitermachen.

Und zu guter Letzt - selbstverständlich habe ich auch ein Gutachten zu mir selbst begonnen. Ich sage begonnen, weil ich immer wieder überrascht bin, wieviel an scheinbaren Erkenntnissen über mich selbst ich im Laufe der Jahre teilweise komplett revidieren musste - ich weiß nicht, was da noch alles folgen wird. Aber ich frage mich auch... ist es überhaupt so überlebenswichtig, zu wissen, wie man selbst funktioniert, und warum man die Dinge tut, die man tut?

Erkenne Dich selbst, gnôthi seautón, so sagt man. Und ich lande immer wieder bei der Einsicht, dass da etwas dran ist. Die Wahrheit zu wissen, das bedeutet mir sehr viel. In dieser Hinsicht fühle ich mich ein bisschen wie Dr Eleanor Arroway aus Contact (habt Ihr eigentlich eine Ahnung, wie viele Anspielungen auf diesen Film sich in Folge 100 der Drei ???, Toteninsel, verbergen? Absolut herrlich!) oder Dr Dana Scully aus den X-Files.

Mich würde mal interessieren, wie viel Papierkram all' das Wissen aus einem HB-Kopf in gedruckter Form wohl ergeben würde. Das kommt mir jedesmal wieder in den Sinn, wenn ich denke "Och Leute, in meinem Kopf ist das doch alles so klar verständlich und eindeutig, warum kann ich das nicht einfach in drei, vier Worten verständlich machen?"

Soviel für den Moment zum Thema Zwischenmenschliche Beziehungen und soviel zum Thema Psychologische Gutachten.

post scriptum: Ich frage mich... wenn ich dieses Verhalten, das Anlegen von Gutachten, auf die Hochbegabung zurückführe... heißt das, dass andere HBs auch eine Art von Gutachten über ihre Mitmenschen im Kopf haben? Letztlich leitet sich ja auch aus diesen Gutachten die Fähigkeit zur manipulation ab - aber das Fass mache ich jetzt besser nicht auf...

paulo post scriptum: Die Gutachten können ganz unterschiedliche Gestalt annehmen. So visualisiere ich sie in der Regel als Puzzles, die ich bearbeite. Und die große Buba hat einen psychologischen Webstuhl im Kopf und erkennt Zusammenhänge per gesponnener Fäden.

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