Sonntag, 4. Juni 2017

Er

Er und ich (ja, dieses Foto gibt es auch aus der entgegengesetzten Perspektive)

Du warst immer behütet, immer im sicheren Schoß Deiner Eltern, immer auf einem sicheren Weg durch Dein Leben - mit allen Unwägbarkeiten, die jeder Lebensabschnitt für Menschen bereithält. Natürlich hattest Du zuhause mit Problemen zu kämpfen, natürlich hatte das Leben für Dich auch die eine oder andere Zitrone parat. Aber wenn es Dich belastet hat, so war es immer ein Jammern auf ganz hohem Niveau, denn Du wurdest beschützt und behütet, als größter Reichtum, den Deine Eltern sich vorstellen konnten. Ihr Ein und Alles, und sie haben sich Mühe gegeben, für Dich den Weg in's Leben zu gestalten, ohne dass sich Dir größere Hindernisse entgegen stellten. Eine heile Welt, gemessen an der Realität, die da draußen wirklich herrscht.

I am fire, I am damage in the making

Auch ich bin wohl behütet aufgewachsen. Eine heile Kindheit, auch wenn ich hin und wieder dachte, dass es mir echt mies geht, niemand versteht mich, ich werde gemobbt, warum muss alles Schlechte immer nur mir passieren? Du kennst diese Gedanken. Wir haben oft unter vier Augen darüber gesprochen, über unsere Wahrnehmung der Welt damals. Meine Eltern haben ebenso versucht, mir einen Pfad in das Leben zu ebnen. Allerdings hat sich mir eine andere Welt aufgetan, als ich das behütete Zuhause verließ, um die Welt kennenzulernen. Das Weltbild, das meine Eltern für mich immer zu erhalten versucht haben, hielt der Begegnung mit der großen weiten Welt kaum stand. Ich entdeckte, was es da draußen alles gibt, ich erweiterte meinen Horizont und ich lernte, die heile Kindheit zu verachten, weil ich sah, wie wenig authentisch das doch alles war. Und ich entwickelte einen Drang, noch mehr Neues zu erleben, und irgendwann traf ich Dich, und fand etwas, was ich längst mit den Erinnerungen an meine Jugend begraben glaubte. Ich fand Dich.


I am an army, set out to control your every ticking

Ich konnte das eine lange Zeit nicht glauben - dass ich in einen Spiegel blickte. Dass ich mich selbst in Dir in so vielen Punkten wiedererkannte. Ich fragte Dich über alles Mögliche aus, wir redeten über Gefühle, über Ängste, Wünsche, darüber, wie wir unsere Umwelt und Mitmenschen wahrnehmen. Und je länger ich Dich beobachtete, und je länger ich Dir zuhörte, umso mehr erkannte ich, dass Du jünger bist als ich. Dass Du noch immer in der behüteten, heilen Welt lebst, noch immer beschützt von Deiner Mutter, noch immer der Horizont, den ich selbst hatte, als ich die elterliche Heimat verließ. Ich fing an, mir zu wünschen, dass Du auch diese Erfahrungen machen könntest, diese Horizonterweiterungen, denn ich merkte, dass Du genau so neugierig bist wie ich. Und ich versuchte, zunächst ganz subtil, Dich auf die vielen Möglichkeiten aufmerksam zu machen, die das Leben für uns Menschen bereithält. In ganz kleinen Schritten versuchte ich, Deinen Denkprozess, Deinen Entwicklungsprozess zu kontrollieren, zu beeinflussen, immer mit dem Wunsch, dass Du glücklich bist. Und auch wenn es sich für mich wie kleinste Schritte anfühlte, wie ein kaum merkbarer "Fortschritt", den ich bei Dir beobachtete, so verlor ich - wie so oft - aus dem Blick, dass Deine Wahrnehmung eine andere war.


I am a giant stepping on the tiny world you're living in

Ich zeigte Dir die Dinge, die ich entdeckt hatte, mit solcher Vehemenz, mit so viel Nachdruck, dass das von Deinen Eltern vermittelte Weltbild zu beben begann. Ich klopfte nicht an Deinem Leben an, ich platzte mit riesigen Schritten hinein. Ich versuchte, mir eine Bedeutung in Deiner Realität zu geben - warum? ... Ich unterstellte Dir Engstirnigkeit, ich suggerierte Dir, dass Deine kleine heile Welt nicht das Ende Deiner Entdeckungen sein konnte. Ich behauptete, dass Du in dieser kleinen Welt doch kaum richtig glücklich sein konntest. Ich zeigte Dir Blickwinkel, Denkweisen, die Du schon immer in Dir vermutet hattest, aber es fehlten die Impulse, um sie aus Dir herauszukitzeln. Zu sehr wurde Dein Weg geebnet, zu angenehm fühlten sich diese vorbestimmten Pfade an.

And you shake and you shiver 
As the roof is coming down
And the walls grow thinner

Mit der Neugier kommt die Angst, die Unsicherheit, und mit dem Neuen kommen die Zweifel, ob es das Richtige ist. Und das erkannte ich bei Dir nicht. Unaufhörlich gab ich Dir neuen Input, neue Gedanken, neue Bilder, neue Blickwinkel, und ließ Dir nie Zeit zu verschnaufen, das Erlebte richtig zu verarbeiten. Und das Beben in Deinem Weltbild wurde stärker. Die Wände, die Dich einst vor Gefahren schützen sollten, bekamen Risse.

Mass confusion, never been so excited

Das sahen sie. Die anderen Menschen in Deinem Leben, und sie versuchten - so wie immer - Dich vor Gefahren zu schützen. Sie erklärten Dir, dass ich kein guter Umgang sei. Sie waren nicht zugänglich für Deine Aufregung, Deine Begeisterung für all das Neue, was ich in Dein Leben gebracht hatte. Sie stießen Dich zurück, sie drohten, sich abzuwenden. Und Du konntest es nicht verstehen. Du warst nicht nur überfordert mit dem unablässigen Input meinerseits, Du warst verwirrt von den Reaktionen Deiner Mitmenschen und es fühlte sich für Dich an, als würdest Du den Halt verlieren - und noch schlimmer: Als würdest Du uns verlieren. Und Du wolltest niemanden verlieren, Du wolltest immer alles haben und immer alle Mitmenschen zufriedenstellen.

What your heart felt for us was evidently unrequited

Wir spürten die Chemie, wir erlebten die Anziehung, aber es war eine ganz unterschiedliche Auffassung von Freundschaft, die wir da entwickelten. Du sendetest ein Gefühl aus, das ich nicht erwidern konnte, nicht erwidern wollte, ich wollte es anders haben. Wir waren uns ganz nah, aber irgendwas stimmte nicht, irgendwas war unklar, das konnten wir beide spüren. Wir hatten damals noch kein Verständnis der Situation, und wenn ich Dich angeblickt hätte, wüsste ich nicht, ob Du mit dem gleichen Blick zurückgeschaut hättest, und wenn ich Dich geküsst hätte, wüsste ich nicht, ob Du den gleichen Kuss erwidert hättest. Das waren alles Gedankenspiele damals in unseren Köpfen.

And by the sea
I'm laying down my hopes
You've conquered all
Your rise, our fall

Und Dein Stern sollte weiter steigen, Türen waren geöffnet worden, neue Wege lagen vor Dir, die ich Dir gezeigt hatte, und Du gingst diese Wege entlang... Du nahmst das Leben in vollen Zügen, siegestrunken, denn sie war da. Sie ist der Mensch, den Du Dein Leben lang gesucht hast, Du spürst, dass sie die Richtige ist. Ich gehe ein paar Schritte zurück, dagegen komme ich nicht an, und schaue aus der Entfernung, schaue von unten hinauf, wie Ihr Euren Weg weiter geht.

Und die Zeit vergeht...

And by the sea
I'm laying down my hopes
You will conquer it all
Our rise, your fall

Ich schaue nicht mehr von unten hinauf, denn wir sind auf Augenhöhe. Ich schaue aus der Distanz zu Dir, ich sehe, wie Du stärker wirst. Ich sehe, wie Du langsam anfängst, Deine Fesseln abzuschütteln. Ich sehe, wie Du Dich aufrichtest, mehr Mut, mehr Rückgrat, langsam, aber sicher. Ich beobachte Deine Initiation und ich denke nach...

...wie wir irgendwann das haben werden, was wir uns von diesem Leben erhoffen, wie wir losgelöst sein werden von unseren Qualen, wie wir stärker zusammen sein werden, zusammen gehen werden, den Blick nach vorn gerichtet...

Let the shadow swallow all
Let the dark upon us fall

I am fire, I am damage in the making...

Und ich wandere weiter...




post scriptum: "shadowshow" lyrics by iamamiwhoami/jonna lee, taken from this song:

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