Dienstag, 20. Juni 2017

Integrative/Inklusive Maßnahme

Grundidee: nachvollziehbar; Umsetzung: ungenügend

Drei meiner Lerngruppen schreiben morgen ihren letzten Test/Klassenarbeit. Das bedeutet, dass ich sieben verschiedene Testversionen entwerfen musste. Das ist für mich nicht mehr ungewöhnlich; seit knapp vier Jahren unterrichte ich in integrativen Schulformen. Ich unterrichte I-Kinder. Das I steht für integrative Maßnahme, eine wundervoll zynische Bezeichnung für die kleinen Steppkes.

I-Kinder haben einen in der Regel bereits festgestellten sonderpädagogischen Förderbedarf; in einigen Fällen muss dieser erst noch gewährt werden - gerade wenn man in Grundschulen und Orientierungsstufen unterrichtet. Es gibt verschiedene Förderbedarfe, die je nach Schulkonzept als Teil inklusiver Unterrichtsformen anerkannt werden. So gibt es Schulen, die nur Schüler mit einer festgestellten Lernschwäche (Förderbedarf L) als I-Schüler bezeichnen - Schüler wie Kläuschen.

Es gibt allerdings noch weitere Formen des Förderbedarfs: E/S (emotionale/soziale Entwicklung), körperliche Entwicklung (Behinderungen), geistige Entwicklung (Behinderungen), autistisches Verhalten - das sind zumindest die Formen, mit denen ich bisher zu tun hatte.

Diese Darstellung gefällt mir - man beachte, wie bei ordentlicher Inklusion der Rahmen angepasst wird!

Wara Wende, Britta Ernst und was uns noch so erwartet - sie alle setzen auf das Konzept der Inklusion: Weg mit den Förderzentren/Sonderschulen, die die Kinder aus unserer Gesellschaft ausgrenzen, hin zu speziellen I-Klassen, in denen die Kinder mit "normalen" Schülern zusammen den Schulalltag erleben dürfen. Das klingt ja eigentlich ganz nett, aber ich störe mich an einigen Punkten:

1) Die Abschaffung der Sonderschulen und Reduktion der Flexklassen wird ausgeglichen durch individuelle Förderung der Schüler durch eine sonderpädagogisch ausgebildete Förderlehrkraft. Klingt nett - aber de facto bekommt ein Kind pro Woche 1,5 Stunden Förderung. Das ist so verschwindend gering, dass die meisten Förderlehrkräfte all ihre Stunden in einer I-Klasse (meistens zwischen vier und sechs Schülern, also bis neun Unterrichtsstunden) zusammenlegen und mit den I-Gruppen verbringen, die dann oft wieder einen eigenen Raum zum Arbeiten suchen. Großartig. Da hätte man sie gleich in den Sonderschulen belassen können, in denen sie den ganzen Schultag über angemessen betreut wurden.

2) Von normal ausgebildeten Lehrkräften wird erwartet, dass sie wissen, wie sie mit diesen speziellen Bedarfen umzugehen haben. Nichts gegen unsere Kompetenzen, aber ich fühle mich unzulänglich qualifiziert.

3) Dass der Klassenteiler an einer GemS von 26 in einer normalen Klasse auf 20 in einer I-Klasse reduziert wurde, ist genau wie das gesamte Inklusionskonzept eher geeignet, damit das Bildungsministerium sich einer Sache brüsten kann. Dass es teilweise katastrophal läuft, das könnte Britta Ernst nur herausgefunden haben, indem sie mal nicht in Vorzeigeklassen gegangen wäre, sondern in wirkliche Problemgruppen. Ist sie aber nicht, denn was sie dort erlebt hätte, passt nicht in ihr Narrativ von der erfolgreichen Inklusion.

Was bedeutet das Unterrichten in heterogenen Lerngruppen für mich als Lehrkraft? In jeder I-Klasse muss ich sowohl eine normale als auch eine differenzierte Version jeder Klassenarbeit erstellen, die genau dem jeweiligen Förderbedarf angepasst sein sollte. Super, wenn die Förderlehrkraft das übernehmen kann. Gut, wenn die Schulbuchverlage adäquate Diff-Aufgaben bereit stellen. Man sollte sich aber dennoch auf einen höheren Arbeitsaufwand in einer I-Klasse einstellen.

Und um das nicht außen vor zu lassen, denn bisher haben sich erst vier der Testversionen für morgen erklärt (zwei I-Gruppen): Selbst wenn in einem Jahrgang äußere Differenzierung herrscht [zum Beispiel in schnelle, mittlere und langsame Kurse (oh toll, jetzt fühlt sich keiner mehr ausgegrenzt, nur noch dumm)], so muss ich trotzdem in meinem mittleren Kurs auf drei Niveaus differenzierte Tests entwerfen. Ich bin der Meinung, dass Schulen da noch Entwicklungspotential haben - zum Beispiel durch erhöhte Kursdurchlässigkeit statt innerer Differenzierung (zusätzlich zur äußeren).

Fazit:

Die Idee der Inklusion klingt gut. Oder zumindest nachvollziehbar. Aber so schlampig, wie sie in Schleswig-Holstein unter Wende und Ernst (nomen est omen) umgesetzt worden ist, tun mir die Kinder mit Förderbedarf ehrlich leid.


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