Dienstag, 8. März 2016

Realismus im Film

Ich liebe Filme.

Ungewöhnlich, es ist kurz nach Mittag und ich beginne diesen Eintrag bereits jetzt. Ich werde ihn später beenden. Aber es sind einige Dinge in meinem Kopf, die jetzt aufs "Papier" müssen. Sie sind so intensiv, sie wirken von gestern nach.

Ich habe mir zwei Filme angeschaut. Zunächst Hollywoods Remake von The Girl with the Dragon Tattoo, ein unglaublich stylisher Film. Lang, man ist mit gut zweieinhalb Stunden dabei, Lisbeth Salander und Mikael Blomkvist auf der Spur einer ungewöhnlichen Familiengeschichte zu begleiten. Der Film lebt von seiner Anti-Heldin Lisbeth, die direkt dem Sonic Seducer entsprungen zu sein scheint. Spröde, gefühlskalt, voller grausamer Vergangenheit in der Seele ist sie derart faszinierend dargestellt, dass ich zu keinem Zeitpunkt des Films wegschauen konnte. Fein. Stylish in Bild und Ton, konventionell im Plot, ordnungsgemäß in der Qualität der Schauspielerei.

Der für mich ungleich faszinierendere Film folgte dann gestern am späten Abend. The Vanishing (Spoorloos, 1988) von George Sluizer. Ein absolut schrecklicher Film. Grausig. Fürchterlich. Was für Attribute fand ich danach beim Stöbern im Internet? "Terrifying, horrifying, shocking, disturbing, depressing, uncompromising, realistic."

Kurzum: Einer der besten Suspense-Psychothriller der letzten Jahrzehnte. Ich möchte vorweg allerdings einen Hinweis zitieren, den ich im Internet gefunden habe und für äußerst angemessen halte:

"STOP!!!

Vor dem Weiterlesen bitte diese drei Hinweise beachten:

1. AUF KEINEN FALL das gleichnamige Remake von 1993, ebenfalls unter der Regie von Georg Sluizer, mit Jeff Bridges und co. anschauen. Durch das drastisch veränderte Ende liegt hier ein völlig nichtiger Film vor, der um jeden Preis vermieden werden sollte.

2. Wer ein sehr sensibles Gemüt besitzt und sich mit filmischen Handlungen stark identifiziert, sollte den Film auf keinen Fall allein schauen.

3. Wer den Film schauen möchte, sollte das tun, BEVOR er die Rezensionen und Kommentare im Internet liest, um den Film völlig unvoreingenommen wirken lassen zu können."

Daher empfehle ich, die Lektüre dieses Blog-Eintrags jetzt zu beenden, wenngleich ich versuche, keine Spoiler im Folgenden zu bringen. Zunächst das sehr angemessene Filmplakat:



Zur Handlung sei nur kurz erwähnt, dass Rex Hofmann mit seiner Freundin Saskia Wagter einen Urlaub in Frankreich verbringen möchte. Wir erleben kurze, sehr warme und emotionsgeladene Szenen ihrer Beziehung auf der Autofahrt. Schließlich halten sie an einer Raststätte zum Tanken. Saskia geht in den Tankshop, um sich etwas Proviant zu besorgen, Rex wartet am Auto. Saskia kommt nicht zurück. Nicht jetzt, nicht in den kommenden Stunden, nicht in den folgenden drei Jahren. Rex' Suche nach Saskia wird zu einer Besessenheit für ihn, die ihn nach diesen drei Jahren in den emotionalen und finanziellen Ruin treibt.

Bereits früh präsentiert der Film uns, was am Rastplatz passiert ist, und er zeigt uns den Verantwortlichen: Ein Chemielehrer, ein Familienvater, der durchschnittlicher und angepasster nicht sein könnte. Von diesem Moment an gibt uns der Film alle Antworten, die wir gern hätten. Alles wird uns erklärt, bis ins kleinste Detail gezeigt. Wir sind Rex einen Schritt im Wissen voraus. Und nun sollte man meinen, dass es doch langweilig ist, bereits nach einer Viertelstunde den Hergang an der Tankstelle aufgedeckt zu bekommen.

Nein, meine Damen und Herren, so funktioniert das nicht. Wir befinden uns im Bereich der Suspense. Und nicht im Horror oder im Action. Letztere Filme zeigen uns - zur Veranschaulichung des Unterschiedes - eine Bombe im Café, die explodiert. Suspense lässt uns wissen, dass unter dem Tisch im Café eine Bombe montiert ist. Sie lässt uns den Countdown hören und sehen, und sie zeigt uns die Cafébesucher, die dessen völlig uneingedenk am Tisch sitzen und ihre Zeit genießen. Wir wissen mehr als sie, wir wollen sie retten, aber wir können nicht. Wir sitzen auf der Kante unseres Zuschauerstuhls, wir beißen an unseren Fingernägeln, wir hängen quasi hilflos in der Luft. Das lateinische Verb suspendere bedeutet "aufhängen" oder "von etwas herabhängen", und somit kommt es zum Suspense-Genre.

Auf The Vanishing bezogen bedeutet das: Der Film präsentiert uns den gesamten Tathergang über die Länge des Films, und alle teilhabenden Figuren werden frühzeitig vorgestellt. All unsere Fragen werden genauestens beantwortet - mit einer entscheidenden Ausnahme: Was ist mit Saskia Wagter nach dem Zwischenfall an der Tankstelle passiert? Und somit baut der Film eine sich stetig steigende Spannung auf trotz aller Erklärungen. Das Unheil dräut immer düsterer über Rex und über dem Zuschauer, und das Ende des Films ist so schrecklich, so intensiv und gleichzeitig so unausweichlich - es kann gar kein anderes Ende geben (und deswegen ist das englischsprachige Remake so fürchterlich unsinnig und unnötig).

Wer auf die Idee kommt, einfach mal die Schlussszene zu googeln, wird fündig werden. Und sie für absolut schwachsinnig halten, und das ist sie auch, wenn sie aus dem Kontext des Films genommen wird. Der Film arbeitet mit den Emotionen des Zuschauers, er bindet ihn immer weiter ein, bis das Ende ihn bis aufs Mark erschüttert - gleichwohl gibt es Rezensenten, die sich vom Film völlig unbeeindruckt zeigen: Deren Pech. Am Film liegt es nicht.

Dieses wunderbare Filmerlebnis hat mich dran erinnert, wie intensiv realistische Filme wirken können. Als unerfahrener Filmzuschauer denkt man sich, schlechte Bildqualität, hölzerne Dialoge, Alltagsszenen, unspannend. Aber darin liegt der Punkt: So ist unser Leben. Wir können uns damit identifizieren - und der Schrecken trifft uns umso härter, weil uns suggeriert wird, dass genau dieses Böse, dieses Unheil auch im realen Leben auf uns warten könnte.

Eine weitaus kompetentere Filmanalyse lässt sich hier finden: Spoorloos

Nun ist es Abend, ich denke noch immer über den Film nach und entlasse diesen Beitrag jetzt ins Internet. Eine kleine Anmerkung kann ich mir nicht verkneifen: 1988 hatten die Niederlande den Film in den Wettstreit um die Oscars eingereicht, in der Kategorie Bester ausländischer Film. Die Filmakademie weigerte sich allerdings, den Film in die Riege aufzunehmen, da für einen niederländischen Film der Anteil an französischer Sprache zu hoch war. Somit mussten die USA bis 1991 warten, bis sie diesen Film zu sehen bekamen. Deren Pech.

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