Donnerstag, 25. Februar 2021

Bis Tausendfünfhundertsiebenundneunzig


vorweg: Dieser Beitrag beschreibt, wie ich die Gedenkfeier eines Familienmitgliedes erlebt habe, und ich weiß nicht, wie viel davon auf das Asperger-Syndrom zurückzuführen ist - wenn das überhaupt eine Rolle spielt. Ihr dürft gern von Euren eigenen Erfahrungen berichten!

"Danke für die Leberwurstbrötchen."

Diesen Satz habe ich am Sarg meiner Oma im Stillen gesagt, weil das eine der intensivsten Erinnerungen an Oma ist: Ich kann mich nicht erinnern, warum, aber ich habe früher hin und wieder bei Oma übernachtet - und zum Frühstück gab es jedesmal Leberwurstbrötchen, weil ich sie geliebt habe, und ja, damals hatte ich noch gefrühstückt. Das ist ja bei Gedenkfeiern so, dass man sich an gemeinsame Momente erinnert, die irgendeine Bedeutung hatten. Mein Onkel (der mit Die Tante verheiratet ist) ist Pastor und hat den Gottesdienst geleitet, und das hat er ganz toll gemacht, mit sehr viel Herz und sehr viel Wärme und Zuversicht - meine Oma wollte nicht, dass wir an ihrem Sarg traurig sind.

Aber das ist nicht ganz so leicht hinzubekommen. Ich hatte eine dumpfe Vorahnung davon, wie das werden könnte, denn während meines Zivildienstes hatte ich an einer Beerdigung teilgenommen - ein mir völlig fremder Mensch, dessen Witwe ich zur Kirche und dann zurück nach Haus gefahren habe. Ich stelle das Fremde heraus, weil ich damals nicht verstehen konnte - und es eigentlich auch heute nicht kann - warum mir die Beerdigung damals so an's Herz gegangen ist. Ein richtig unangenehmes Gefühl, als würde man krampfhaft versuchen, die Tränen zurückzuhalten, die doch überhaupt keinen Sinn ergeben: Ich kenne diesen Menschen nicht, warum sollte ich traurig sein? 

Das war natürlich bei meiner Oma anders, denn ich kannte sie ja. Trotzdem dachte ich, dass ich doch eigentlich "unberührt" sein müsste, denn es ist ja gut gegangen, Oma ist eingeschlafen, ohne großes Leid, wunderbar, und ich war mit ihr ja quasi "fertig", darauf eingestellt, dass sie nun bald sterben würde. Und dann war da wieder dieses extrem unangenehme Gefühl. Bloß keine Tränen zulassen! Krampfhaft ablenken: Wie viele Plastikröhren sind um eine Deckenlampe herum angebracht? Welches Volumen hat die Aussparung in der Wand für das große Kreuz? Das hat einigermaßen geholfen, zumindest während der Bibelzitate und der Musik.

Dann aber kam die Ansprache, und davor hatte ich ein bisschen Angst. Ich hatte mich ein paar Reihen nach hinten gesetzt, am Rand, damit nicht so viele Menschen hinter mir sitzen, das mag ich nicht. Und ich wollte da irgendwie unauffällig sein, allerdings hatte ich die Rechnung ohne meinen Onkel gemacht - spätestens, als das Wort "Kaltenkirchen" fiel, war mir klar, dass es gerade um eine Hilarius-Anekdote geht, denn ich bin früher als Kleinkind mit meinen Eltern und meiner Oma oft den langen Weg nach Kaltenkirchen gefahren, um meine Neurodermitis irgendwie unter Kontrolle zu bekommen. Immerhin konnte ich bei der Anekdote schmunzeln, und mein Onkel hat es auch genau so darauf angelegt - viel Lächeln, wenig Traurigkeit erzeugen. 

Und trotzdem. Er versucht alles, um eine Freude in die Gedenkgemeinde zu bekommen, und trotzdem rollen hier und da die Tränen, und die Nase, was sehr nervig war unter einer FFP2-Maske. Immerhin hat mich das ständige Naseputzen abgelenkt von der Ansprache - und ich bin auf einen Klassiker zurückgekommen, die Fibonacci-Reihe. Die ist hervorragend, um zur Ruhe zu kommen. Es beginnt mit Null und Eins, und die jeweils nächste Zahl ist dann immer die Summe der beiden vorhergehenden Zahlen. Und so habe ich die Lampen und das Kreuz in der Wand angestarrt, das Kribbeln am Körper unterdrückt und immer wieder von Neuem angefangen zu zählen. Diesmal bin ich mehrmals bis Tausendfünfhundertsiebenundneunzig gekommen, dann musste ich die Nase putzen oder es gab wieder eine Passage zum Schmunzeln in der Ansprache.

Ich kann das immer noch nicht ganz verstehen, das ist nicht logisch: Oma hat gesagt, wir sollen fröhlich sein, und es ist ja auch alles wunderbar gelaufen, und mein Tante-Onkel hat eine tolle, herzliche und wärmende Ansprache gehalten, und außerdem realisiere ich es doch sowieso nicht, wenn ein Mensch aus meinem Umfeld plötzlich nicht mehr da ist. Autist eben. Und trotzdem rufen solche Veranstaltungen in mir alle möglichen Emotionen hervor. Finde ich sehr unangenehm, und auch für solche Anlässe sollte ich mir endlich mal ein Benzodiazepin verschreiben lassen.

Trotzdem bin ich sehr froh, dass ich dabei gewesen bin. Danach mussten wir ja auch Corona-bedingt zügig wieder auseinandergehen, und witterungsbedingt schnell zurück nach Kiel, und dann war ich wieder "in Sicherheit". Außerdem gab es einen recht markanten Moment, der mir mal wieder vor Augen geführt hat, wie stark sich das Asperger-Syndrom durch unsere Familie zieht, das werde ich so schnell nicht vergessen. Und so war es dann doch eine bereichernde Veranstaltung, und Die Tante hat mitgedacht und das Gedenkfoto von Oma, das am Sarg ausgestellt, für alle vervielfältigt und jetzt habe ich ein schönes Erinnerungsstück an meine Oma.

Und ich überlege mir, ob ich Fibonacci an meine Aspi-Schüler als Methode weitergeben sollte, zum Runterfahren. Könnte klappen ;-)

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