Freitag, 16. August 2019

Spurensuche fortgesetzt / Seelenstriptease V


Jetzt wird's persönlich.

Habt Ihr schon einmal Eure eigenen Grundschulzeugnisse gelesen? Die Entwicklungsberichte mit allem, was dazugehört? Ein Teil der Spurensuche war die Bitte an meine Eltern, nach diesen Zeugnissen zu suchen, und mein Vater hat sich in mühsamer Arbeit daran gemacht und eine Seite nach der anderen eingescannt und nach Kiel geschickt, so dass ich jetzt umfassende Berichte über mich von Klasse Eins bis Fünf lesen kann. Gesagt, getan, und die Reaktion war wie das erste Ansehen des Films Rain Man, ich habe Tränen in den Augen, wenn ich lese, wie der kleine DrH da so beschrieben wird, weil ich das alles wiedererkenne, und weil es alles irgendwie passt...

Kleine Auszüge gefällig? Ich mache das mal nach Schulaspekten sortiert, und innerhalb dieser Aspekte chronologisch. Falls Ihr schon einmal Asperger-Schüler unterrichtet habt, erkennt Ihr da vielleicht etwas wieder. Nur so vielleicht, nur so ganz am Rande...

Positiv wird immer wieder erwähnt, dass ich eine Faszination mit Sprache zu haben scheine, sehr gerne lese und nuanciert schreibe. Das erklärt wahrscheinlich auch die Existenz dieses Blogs. Spannender wird es - ganz langsam - wenn ich die Zeugnisse auf Auffälligkeiten scanne.

Im Musikunterricht singt er gern die Spiellieder mit, er bewegt sich mit Vorliebe rhythmisch dazu (...) Er nimmt Melodien freudig auf und setzt die Musik gern in Bewegung um (...) Nicht nur beim Spiel auf Orff-Instrumenten zeigt er rhythmische Sicherheit (...) Er kann auch schwierige Rhythmen exakt klatschen (...)

Das sind Anmerkungen für das Fach Musik aus Klasse Eins bis Drei. Mir ist dabei der rote Faden mit der Rhythmusliebe und -sicherheit aufgefallen, der sich scheinbar bis heute gehalten hat. Ich liebe es immer noch, zu irgendwelchen Rhythmen durch die Wohnung zu tanzen, und auch in Blogbeiträgen hat sich das wiedergefunden, zum Beispiel in Rhythmus in der Tasche. Ich weiß nicht, ob das irgendwas mit meinem Kopf zu tun hat, vermutlich nicht. Aber irgendwie war es dann doch spannend zu lesen, dass das schon in der Grundschule aufgefallen ist und immer noch ein Teil von mir ist. Und irgendwie lässt es mich glauben, dass Berichtszeugnisse anfangs wirklich aufschlussreich sein können, bevor dann die Noten kommen.

Die Bewegungsgeschicklichkeit der Hand muss weiter geschult, die Schrift flüssiger werden (...) Mitunter fällt es ihm schwer, die Buchstabenverbindungen korrekt in das Liniensystem einzuarbeiten (...) ...doch hat er noch Schwierigkeiten im motorischen Bereich (Balancierübungen, Laufstil) (...) Die Bewegungsgeschicklichkeit der Hand muss auch weiterhin geschult werden, sein Schriftbild wirkt immer noch unausgeglichen (...) Seine Schrift sieht immer noch nicht flüssig genug aus (...) Beim Schreiben sollte er sich mehr Zeit lassen (...) Seine Bemühungen um die Schrift sollten nicht nachlassen (...) Er bemühte sich um sein Schriftbild, dies gelang ihm zusehends (...)

Da hätten wir also die Probleme im feinmotorischen Bereich, Klasse Eins bis Vier. Nett, wie es im abschließenden Bericht heißt "dies gelang ihm zusehends" - in einfachem Deutsch: Am Ende ist es ein wenig besser geworden. Vielleicht bilde ich es mir ja ein, aber bei den Aspis, die ich unterrichtet habe, war die Motorik häufiger ein Problem, da Bewegungen zu ruckartig ausgeführt wurden, zu weit gingen. Vielleicht geht das aber auch allen Kindern so. Meine Schrift war bis in die Oberstufe hin ein Problem; erst mit der Umstellung auf Druckschrift ist das besser geworden.

Bei der unterrichtlichen Arbeit mit Differenzierungsmaterial entwickelt er Initiative (...) Er zeigt sich einfallsreich im Umgang mit Instrumenten, z.B. zur Klangerzeugung (...) Er setzt eigene Ideen zielsicher um (...) Eigene Ideen setzt er bisweilen ein wenig umständlich um (...) Nicht nur Arbeitsmittel, sondern auch eigene Ideen setzte er eigenständig und planvoll zur Lösung von Problemen ein (...) 

Und nun die eigenen Ideen; ich finde es bis heute etwas langweilig, wenn ich vor ein Problem gestellt werde, die Anleitung zu lesen, sondern probiere erstmal selbst ein bisschen herum, denn es ist viel spannender, aus dem eigenen Kopf ein Rätsel zu lösen. Da passiert es oft, dass ich die einfachste Lösung nicht sehe und deswegen auf Umwegen zu einer Lösung zu kommen versuche, auch darüber hatte ich hier im Blog mehrfach berichtet, zum Beispiel in Gedreht und Wo sitze ich? Die eigenen Ideen führen zu Selbständigkeit, und nun wird es langsam etwas verzwickter:

Seine Aufgaben fertigt er selbständig an (...) Extraaufgaben und Gartenarbeit übernahm er gerne von sich aus (...) Er arbeitet beständig und selbständig auch gerade bei neuen Aufgabenstellungen mit (...) Bei der Umsetzung von Aufgabenstellungen zeigte er immer große Selbständigkeit (...) Er sucht meistens selbständig nach Lösungen und ist dann auch in der Lage, Gelerntes aufeinander zu beziehen (...)

Natürlich liest sich das irgendwie positiv, aber mittlerweile sind wir selbst Lehrer und Pädagogen und lesen darin die sachliche Feststellung, dass ich für meine Aufgaben keine Hilfe in Anspruch genommen habe, weder von Mitschülern, noch von den Lehrern. Wie meine Mutter zu sagen pflegt "Irgendwie hast du immer alles geschafft". Und auch wenn das positiv klingt, habe ich hier im Blog über die Schattenseite geschrieben (Ich muss alles allein schaffen), nämlich die daraus resultierende Unfähigkeit, um Hilfe zu bitten. Außerdem erwachsen daraus erhebliche Probleme im sozialen Miteinander.

Und nun kommt der meiner Meinung nach spannendste Punkt, der sich von Klasse Eins bis Sieben konsequent durchzieht:

Er sollte seine Klassenkameraden bei den Hilfestellungen nicht bevormunden (...) ...wenn er nicht gerade dazwischenredet... (...) Er muss jedoch noch lernen, seinen Mitteilungsdrang besser zu kontrollieren (...) Er vermag es aber nicht immer, sich in die im Sport notwendige Ordnung einzufügen (...) Er möchte umgehend sein Wissen mitteilen, vergißt dabei jedoch seine Gesprächsdisziplin und redet häufiger laut dazwischen oder teilt sich seinen Nachbarn mit. Mit dieser Reaktion hemmt er oftmals das weitere Unterrichtsgespräch, er muß daher lernen, die notwendigen unterrichtlichen Regeln einzuhalten (...) Eine impulsive, eine zeitweilig auch unbedachte sowie eigenwillige Vorgehensweise im Miteinander brachte ihm manchen Streit ein. Bei Reaktionen der Mitschüler auf sein Verhalten zeigte er sich schnell persönlich betroffen, er forderte dann die Hilfe anderer. Er muß durch gemeinsame Gespräche lernen, daß es Interessensgegensätze gibt, die auch seine Kompromißfähigkeit fordern. Er wird weiterhin lernen müssen, zwischen einerseits angebrachten und andererseits vorlauten Äußerungen unterscheiden zu können (...) Im mündlichen Bereich vergißt er noch immer seine Gesprächsdisziplin und muß deswegen häufiger ermahnt werden. Ohne die im Unterricht notwendigen Regeln und Vereinbarungen einzuhalten, redet er laut und unangebracht dazwischen. Häufig kümmert er sich um Belange, die ihn nicht betreffen. Seine Kommentare hinsichtlich des - vermeintlichen - Fehlverhaltens seiner Mitschüler wirken auf diese oftmals verletzend. Es muß ihm daher immer wieder deutlich und verständlich gemacht werden, auf die berechtigten Empfindungen und Interessen seiner Mitschüler Rücksicht zu nehmen (...) Mitunter stellte er seine eigenen Wünsche und Vorstellungen zu sehr in den Vordergrund (...) Er schließt sich noch immer selbst aus der Klassengemeinschaft aus; er sollte sich davor hüten, seine Mitschüler/innen nur nach deren intellektuellen Fähigkeiten zu beurteilen; angebracht und sinnvoll wäre es, wenn er sich ihnen gegenüber öffnen würde - im Sinne einer unterstützenden Hilfe im Bereich der Bewältigung des Lernstoffes genauso wie auch in Fragen persönlicher Befindlichkeiten (...)

Muss ich dazu irgendwas sagen? Diese Beschreibungen haben mich fast zum Weinen gebracht, keine Ahnung warum. Das meiste davon ist bis heute unverändert, ich scheine all diese Dinge in über fünfundzwanzig Jahren nicht "gelernt" zu haben, und ich glaube beharrlich daran, dass es nicht an gewollter Rücksichtslosigkeit liegt, sondern weil ich es nicht "kann". Genau das bringt mir ja auch immer wieder Probleme mit Schulleitungen ein, und genau das ist auch der Auslöser, warum ich jetzt endlich eine ärztliche Diagnose haben möchte.

Ich weiß nicht, ob ich von dieser Anekdote im Blog schon einmal berichtet hatte; Unterricht in der Grundschule bei meiner Klassenlehrerin, die so wütend über mein ständiges Dazwischengerede geworden ist, dass sie geschrien und mit der Faust auf den Overheadprojektor geschlagen hat, so dass das Glas zerbrochen ist. Werde ich mein Leben lang nicht vergessen, aber gelernt habe ich daraus scheinbar nicht sehr viel.

Ein kleines Bonmot noch hinterher: Mein Klassenlehrer in Fünf, der so wie eine Gurke klingt, hat in seinem Bericht geschrieben: Er zeigt in den Hauptfächern gleichbleibend gute bis sehr gute Leistungen, in den Nebenfächern fällt er dagegen aus unverständlichen Gründen etwas ab. Mit dem heutigen Wissen ist das überhaupt nicht mehr unverständlich, denn wenn mich eine Sache wirklich interessiert, dann mache ich sie gut, und wenn es mich nicht interessiert, kommen unterirdische Leistungen dabei heraus. Auch ich habe in meinem Leben die eine oder andere Fünf oder Sechs gesehen, und das zieht sich bis in die Gegenwart durch.

Case in point? Ich hätte diesen Beitrag wesentlich kürzer fassen können. Habe ich aber nicht - weil es mich interessiert.

Fazit? Es fühlt sich jetzt nach dem Lesen ein wenig an, als hätte ich Antworten gefunden - dabei ist das erst der Anfang. Und ich habe hier ein Best Of zusammengepuzzelt; vielleicht wird die Expertin auch feststellen - in der Gesamtschau der Zeugnisse - dass das alles ganz normale Verhaltensweisen waren. Aber jetzt, nach der Lektüre, ist der Wunsch nach Aufklärung bei mir nur noch stärker geworden.

post scriptum: Okay, dieser Beitrag hat in der Anfertigung lange gedauert, ich habe meine Wohnung anderthalb Tage nicht verlassen. Soviel zu "sich in ein Thema hineinsteigern". Dazu war das Lesen der Zeugnisse anfangs einfach zu "berührend" - oder whatever, kann ich nicht beschreiben. Und für jeden der oben besprochenen Aspekte habe ich den gesamten Zeugnisstapel auf ein Neues gelesen, um nichts auszulassen. Das erinnert mich an mein Filmprojekt damals in der Oberstufe - um die Frage nach Spannungserzeugung zu beleuchten, hatte ich damals den Film "Halloween" (1978) mindestens zehn Mal durchgesehen und jedesmal ein gründliches Protokoll angefertigt, jeweils mit unterschiedlichen Analyseaspekten. Zum Glück habe ich den Projektordner noch, der könnte für die Ärztin auch interessante Eindrücke zeigen.

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