Fräulein Maria, mit dem Dolch, in der Küche! ...oder? |
vorweg: Heute gibt es wieder etwas aus den Archiven. "Familientreffen" war mein erster Versuch,einen zusammenhängenden Roman zu schreiben, der sich selbst nicht allzu ernst nimmt. Daher bevölkern Gut Trontstein stark überzeichnete Charaktere, silly, aber das Schreiben hat wirklich Spaß gemacht.
Es hat nicht geklappt, den Text in ein vernünftiges Format für den Blog zu bringen. Wer das Buch tatsächlich lesen möchte, möge mit einem Rechtsklick "Alles auswählen" nutzen und den Text dann mit Copy & Paste in ein Textbearbeitungsprogramm kopieren. Oder hat jemand einen guten, kostenlosen Filehoster zur Hand, auf den ich das Ganze als PDF hochladen könnte?
Kapitel
1
Gut Trontstein genau zu
beschreiben ist wohl zu schwierig; es hat einfach zu viele Zimmer und
zu viele künstlerische Kleinigkeiten außerhalb des Gebäudes. Man
müsste es selbst sehen, um die wahren Ausmaße zu begreifen. Das
Landhaus entspricht jedoch ziemlich den geltenden Klischees eines
adligen Wohnsitzes. Das große Gebäude liegt einige hundert Meter
von der Hauptstraße entfernt; ein kleiner, von Eichen gesäumter Weg
führt von der Straße auf den runden Vorplatz des Hauses. Das Haus
selbst erfüllte die Erwartungen, mit denen sich ein Besucher den
langen Weg von der Straße nähern würde. Mochten es von dem
Haupteingang, den zur Linken und Rechten unter einer Art Vordach je
zwei griechische Säulen zieren, zur West- wie zur Ostseite des
Anwesens ungefähr vierzig Meter sein, so führen dazu noch zwei
Stockwerke in die Höhe. Gut Trontstein hat unzählige Zimmer, viele
Gästezimmer, mehrere Bäder, zwei Kaminzimmer – alles viel zu
viel, da nur zwei Menschen dieses Haus bewohnten.
Graf Maibusch saß in der Küche
und blickte durch das Fenster hinaus auf den Vorgarten. Dieser war
schon lange nicht mehr richtig gepflegt worden und zeigte zwar alle
Anzeichen des Sommers, bot aber dennoch ein Durcheinander von Blumen
aller Art, während die Sträucher, die einst den Vorplatz in Reih
und Glied säumten, nun wild wucherten. Der Graf wandte seinen Blick
von dem Garten zurück zur Küche, in der eine ältere, kräftige
Frau am Waschbecken stand und das Geschirr spülte.
„Ach, Frau Schmidt, ich bin
wirklich froh, dass ich sie damals eingestellt habe. Sie sind ja so
effizient!“ sagte er mit einem leicht verzückten Ton in der
Stimme, der nur daher rührte, dass er froh war, nicht selbst die
Unmengen an anfallender Arbeit erledigen zu müssen.
Frau Schmidt zog den Stöpsel
aus dem Waschbecken und machte sich daran, Teller und Gläser
abzutrocknen.
„Nun übertreiben sie mal
nicht. Ich mache doch nur meine Arbeit! Aber sagen sie, wie kommen
sie voran?“
Scheinbar hatte der Graf nicht
mit so einer Frage gerechnet. Wie vor den Kopf gestoßen fragte er:
„Ich verstehe nicht ganz – meinen sie die Geschäfte?“
„Unsinn. Haben sie es denn
schon wieder vergessen? Sie haben ihre Familie eingeladen. Zumindest
einen Teil davon, die, die sie noch erreichen konnten.“
Als Graf Maibusch sie noch immer
verständnislos anschaute, fügte sie hinzu: „Zum Familientreffen!“
„Familientreffen…
Familientreffen…“ grübelte er vor sich hin, bis er sich mit dem
Finger an die Schläfe tippte.
„Natürlich! Du meine Güte,
das habe ich vor lauter Geschäften ganz vergessen.“
Graf Maibusch stand von seinem
Platz auf und ging durch die Tür ins Esszimmer nebenan. Dort führte
der Weg ihn schnurstracks zum großen Schreibtisch, der von Papieren
geradezu zugedeckt war. Nach kurzem Suchen hielt er triumphierend ein
Blatt Papier in die Höhe und ging zurück in die Küche.
„Hier, Frau Schmidt, sie haben
recht. Große Güte, das soll schon übermorgen sein! Wie konnte ich
das vergessen, ich werde doch wohl nicht alt?“
Alt konnte nicht das richtige
Wort sein. Graf Maibusch betrachtete sich selbst mit 56 Jahren im
besten Alter für das Grafendasein. Er legte immer sehr viel Wert auf
seine Erscheinung und schaute bei dem Gedanken an sich herab. Im
schwarzen Anzug und mit dem leicht ergrauten Haar bot er in der Tat
eine würdige Erscheinung dar. Seine Gedanken wurden von Frau
Schmidts Worten unterbrochen.
„Übermorgen schon? Dann muss
ich unbedingt Vorbereitungen treffen. Einkaufen und so weiter. Wie
viele Leute haben sie eingeladen?“
„Also, da wäre meine Nichte
Maria“, antwortete der Graf, indem er seinen Blick über den Zettel
schweifen ließ. „Sie wird erst übermorgen kommen. Meinen Erben
habe ich eingeladen, Herrn Flip.“
„Warum erbt denn nicht ihre
Nichte?“
„Das verstehen sie nicht. Flip
hat mir früher, im Krieg das Leben gerettet, aber die Geschichte ist
zu lang. Kommen wir zur Gästeliste zurück. Herr Fröhlich, mein
Anwalt, kommt auch. Er kommt schon morgen, weil er wohl noch
irgendeinen Fall erledigen muss.“
„Warum laden sie ihren Anwalt
zu einem Familientreffen ein?“ fragte Frau Schmidt völlig zu
Recht. Die Antwort war jedoch sehr vage.
„Ich habe einige
Erbangelegenheiten zu regeln.“
„Seltsam. Mir scheint es, als
wären sie gar nicht so uneigennützig bei diesem Familientreffen.“
„Ach, reden sie keinen Unsinn.
Es geht mir wirklich darum, meine lieben Verwandten und Bekannten mal
wieder zu sehen.“
Bei dem Wort „Bekannten“ sah
Frau Schmidt von ihrer Arbeit auf.
„Wird Frau Sauerlich kommen?“
fragte sie kurz angebunden.
„Aber natürlich. Wir kennen
uns seit Jahrzehnten und laden uns immer gegenseitig ein.“
Beleidigt legte Frau Schmidt das
Handtuch weg und begann, das Geschirr an seinen Platz in den
Schränken und Schubladen einzuräumen.
„Sie wissen genau, dass ich
diese Pute nicht leiden kann. Immer so aufgetakelt, unerträglich.
Wirklich unerträglich!“ zischte sie und betonte jede Silbe
einzeln.
Dafür hatte der Graf jedoch
überhaupt kein Verständnis.
„Dann stecken sie ihren Groll
mal für einen Moment zurück. Es kommt noch meine Tante, die kennen
sie vielleicht noch nicht. Seit ihrer Hochzeit ist sie die Komtess zu
Bärenwald. Klingt hochtrabend, nicht? Dann wäre da noch mein Onkel
mütterlicherseits. Ganz ohne Titel, ich weiß nicht einmal mehr
seinen Vornamen. Mahler heißt er.“
„Interessant. Ich arbeite seit
zehn Jahren für sie und jetzt kommen sie mir mit Menschen, von denen
ich noch nie ein Wort gehört habe.“
„Nun, sie werden sie noch
kennen lernen. Genauso wie meinen Bruder, Leonard Maibusch.“
„Aber… hatten sie nicht zwei
Brüder?“
„Ja, sie meinen bestimmt
Friedrich. Ich…“ Der Graf machte eine kleine Pause und räusperte
sich. „Ich habe ihn leider nicht erreicht.“
„Sind sie sich sicher?“ Frau
Schmidt zweifelte an der Aussage des Grafen, der jedoch winkte ab.
„Ach, auf jeden Fall.“
„In Ordnung. Ich fasse
zusammen: Maria, Flip, Sauerlich, Fröhlich, die Bärenwald, Mahler,
Leonard. Das macht dann sieben Gäste.“
„Genau. Und um eines muss ich
sie bitten.“
„Wenn ich ihnen helfen kann?“
„Das können sie. Ich möchte,
dass für die Zeit des Familientreffens Gut Trontstein wieder zu
einem adligen Herrenhaus wird.“
Entrüstet setzte Frau Schmidt
sich gegenüber dem Grafen auf die Bank.
„Das können sie mir nicht
auch noch zumuten. Haben sie sich mal ihren Garten und den Park
hinten angesehen? Sie brauchen einen Gärtner!“
„Frau Schmidt, ein Gärtner
ist teuer!“
„Na und? Sie haben es doch
dicke. Sie haben von ihrem Vater geerbt. Und es ist ja nur für die
paar Tage.“
„Sie haben recht. Ich werde
nachher mal die Stellenanzeigen durchgehen. Oh, und wo wir gerade
dabei sind – hat sich jemand auf die Stelle für den Butler
gemeldet?“
„Zwar ist mir noch immer
schleierhaft, weshalb sie einen Butler brauchen, aber ja, es hat sich
jemand gemeldet. Ein gewisser James Clifford.“
„Hört sich englisch an. Hat
er seine Telefonnummer gegeben?“
„Nein.“
Der Graf schüttelte den Kopf
über diesen Leichtsinn. „Wie soll ich ihn dann erreichen?“
„Ich habe alles arrangiert, er
kommt um vier Uhr vorbei.“
„Sie sollen nicht immer so
selbständig handeln!“
„Wieso? Wenn sie ein adliges
Herrenhaus markieren wollen, dann brauchen sie einen Butler, und zwar
schnell! Wo kämen wir denn da hin, wenn ich in meiner Zeit hier
nicht ein wenig Eigeninitiative entwickelt hätte? Vor allen Dingen:
Wo wären sie dann jetzt? Sie würden doch in ihrem Müll ersticken!“
„Ist ja schon gut, sie haben
alles ganz wunderbar geregelt. Ich werde jetzt erst mal einen Gärtner
suchen.“
„Tun sie das.“ Nachdem der
Graf die Küche verlassen hatte, meinte Frau Schmidt noch zu sich
selbst: „Das hat dieses Anwesen auch bitter nötig.“
Zur gleichen Zeit saß Fräulein
Maria einige Kilometer entfernt mit ihrer Mutter am heimischen
Küchentisch und diskutierte die Lage. Genauer gesagt schwärmte sie
mit den Händen wild gestikulierend vor sich hin, während die Mutter
sich merklich zurückhielt und ihren Kaffee trank.
„Übermorgen… ich freu´
mich schon darauf, die Familie wiederzusehen. Willst du denn nicht
mitkommen?“
Ihre Mutter antwortete gekränkt:
„Nein, ich bin ja nicht eingeladen worden. Vielleicht bin ich
deinem Onkel nicht fein genug, weil ich nur angeheiratet bin. Aber
sag, kommt dein Großvater mit?“
„Ja, er kommt mit.“
Maria schaute ihre Mutter
erwartungsvoll an, deren Blick wanderte von der Kaffeetasse
gelangweilt zur Wand und den Postkarten, die diese zierten.
„Na, da hat dein Onkel sich ja
ein exklusives Publikum ausgesucht. Ich dachte, es soll ein richtiges
Familientreffen werden.“
„Das wird es ja auch, nur halt
auf Henrys Art und Weise.“
„Ich gebe es auf. Wann willst
du denn losfahren?“
Bei diesen Worten wurde Fräulein
Maria wieder ganz unruhig und antwortete voller Vorfreude: „Ich
habe gesagt, dass ich übermorgen ankomme. Ich überlege, ob ich ihn
nicht überraschen und vielleicht schon heute kommen soll…“
„Kind, ich rate dir, lass das
lieber. Du weißt, wie empfindlich mein Schwager auf solche
Überraschungen reagiert.“
„Stimmt schon, er ist ziemlich
pingelig, aber es wird Zeit, dass ich mal Schwung in die Bude bringe.
Ich fahre morgen.“
„Wenn du das wirklich so
willst.“
Scheinbar hatte der Ton in der
Stimme ihrer Mutter seine Wirkung nicht verfehlt, denn Maria wandte
sich ihr wieder zu.
„Wenn es dir so sehr auf dem
Herzen liegt, fahre ich eben zum vereinbarten Termin. Aber sag mal,
irgendwie bist du heute nicht gut drauf, kann das sein?“
„Du merkst wirklich alles.“
Mit diesen ironischen Worten
stand Grete Mahler mit ihrer Kaffeetasse auf und schüttete den Rest
in den Ausguss. Die Tasse stellte sie in den Geschirrspüler. Langsam
platzte ihrer Tochter der Kragen.
„Dann sag mir doch endlich,
was los ist!“
„Es ist nur, dass dein Onkel
mich nicht eingeladen hat. Das ist unerhört. Ich fühle mich
alleingelassen. Damals schon, als dein Vater… Und nun will mich
nicht einmal mehr dein Onkel berücksichtigen. Ich muss mich
ablenken. Und du machst am besten, was du willst.“
„So wie immer.“
Kopfschüttelnd verließ ihre
Mutter die Küche, während Fräulein Maria auf einem Zettel
systematisch eine Checkliste für ihre Abreise vorbereitete.
Die Sonne scheint an diesem
Nachmittag, als ob sie dafür eine Extrazulage bekommt, dachte Franz
Hansen und ließ die Jalousie seines Schlafzimmers ein Stück
herunter. Kurz darauf klingelte das Telefon, das auf einem kleinen
Beistelltisch neben seinem Bett stand.
„Ich komme ja schon, ein alter
Mann ist doch kein Schnellzug“, rief Herr Hansen, während er zum
Apparat stolperte. Er nahm den Hörer ab.
„Guten Tag, spreche ich mit
Franz Hansen?“
Die Männerstimme am anderen
Ende war durchaus nicht unsympathisch, dennoch hielt Herr Hansen es
für angebracht, in etwas schroffen Tonfall nachzufragen.
„Ja, aber mit wem spreche
ich?“
„Oh, wie unhöflich“,
erwiderte die Stimme. „Graf Maibusch hier.“ Dieser Name ließ ihn
einen Moment ins Leere starren. Graf Maibusch… „Ich rufe an wegen
ihres Zeitungsinserates. Ich suche nämlich einen Gärtner für mein
Landhaus. Zunächst nur vorübergehend, vielleicht danach als feste
Anstellung.“ Herr Hansen sagte nichts. „Hallo, sind sie noch
dran?“
„Ja… ja, natürlich.
Entschuldigen sie bitte. Ein Landhaus, sagten sie? Wo liegt es?“
„Ein kleines Stück östlich
von Berlin. Birkenstein. Wenn sie erst mal dort sind, ist es
ausgeschildert, eigentlich gar nicht zu verpassen.“
Nachdem Herr Hansen seine
Verwunderung überwunden hatte, wurde er nun geschäftstüchtig.
„Das ist ja praktisch. Wenn es
ihnen passt, würde ich noch heute vorbeikommen, mir das Grundstück
ansehen und so weiter. Dann könnten wir auch über das Geschäftliche
reden.“
„Das ist durchaus machbar,
allerdings habe ich erst ab fünf Uhr nachmittags Zeit. Ich hoffe,
das macht ihnen nichts aus?“
„Auf keinen Fall, ich muss ja
auch erst einmal zu ihnen hinkommen. Die Fahrt wird auch ein kleines
bisschen dauern. Ich werde gegen fünf bei ihnen vorbeischauen. In
Birkenstein.“
„Ja, es ist sogar eher noch am
Stadtrand. Aber, was sag´ ich, sie werden es schon finden.“
„Gut, bis dann. Auf
Wiederhören!“
Dann hörte Graf Maibusch das
Klicken in der Leitung. Herr Hansen hatte aufgelegt. Unauffällig
hatte sich inzwischen Frau Schmidt wieder hinzugesellt.
„Na, Herr Graf, wie geht ihre
Suche voran?“
„Bestens! Heute Abend habe ich
vielleicht schon Butler und Gärtner. Sie übernehmen das Hausinnere.
Dann ist eigentlich alles bereit und die Gäste können kommen.“
Frau Schmidt erhob die Hand, um
den Grafen in seinem Eifer zu bremsen.
„Wie sie schon gesagt haben,
das ist noch ein Weilchen hin.“ Dann wechselte sie selbst zu einem
geschäftigen Tonfall. „Dieser Flip, ihr Erbe, kommt schon morgen,
und auch Herr Fröhlich. Der Rest wird dann übermorgen antanzen. Und
wehe, sie stören mich bei meinen Vorbereitungen!“
Mit diesen gewichtigen Worten
machte Frau Schmidt sich auf Richtung Küche. Schmunzelnd schaute der
Graf ihr hinterher.
„Wunderbar, Frau Schmidt, das
nenne ich Arbeitseifer!“
Berlin Tiergarten.
„Anwaltskanzlei Fröhlich“ stand an der Glastür des Büros
mitten in der Hauptstadt geschrieben. Drinnen, in einer Art
Vorzimmer, saß ein junges Mädchen mit unglaublich ausladender
Frisur in einem bequemen Stuhl, die Beine über Kreuz auf den
Schreibtisch geschwungen und kaute ein gelbes Kaugummi, das ihr
pinkfarbenes, hautenges Kleid an Hässlichkeit kaum noch übertreffen
konnte. Gelangweilt betrachtete sie ihre Fingernägel und schaute
zwischendurch aus dem Fenster. Der Ausblick war nicht atemberaubend,
aber es war immerhin besser, als vom Erdgeschoss aus direkt in der
vorbeifließenden Verkehr zu schauen. Aus dem dritten Stock konnte
man angenehm darüber hinwegsehen.
Ein Klopfen an der Tür ließ
das Mädchen aufschauen. Noch bevor sie „Herein!“ rufen konnte,
betrat eine pompöse Figur den Raum. Innerhalb von Sekunden waren die
Gesichtszüge des Mädchens entglitten. Schnell nahm sie die Beine
vom Schreibtisch herunter. Ehrfürchtig schaute sie die Person an und
betätigte die Sprechanlage.
„Herr Fröhlich, Frau Beul ist
jetzt da.“
Der Angesprochene saß in seinem
Büro und hatte noch einen offenbar schwierigen Gesprächspartner am
Telefon. Entnervt bellte er in den Hörer: „Frau Holzing, jetzt
machen sie bitte nicht mich dafür verantwortlich, dass ihr Sohn
seine Hände nicht bei sich behalten kann! Wir sehen uns in zwei
Wochen, dann werden wir den Fall genauestens besprechen. Und bis
dahin machen sie bitte keine Zugeständnisse! Auf Wiederhören.“ Er
warf den Hörer auf die Gabel.
„Herr Fröhlich, Frau Beul
wartet.“
„Danke, Janine. Schicken sie
sie herein.“
Herr Fröhlich war von der
Erscheinung der Frau Beul bei weitem nicht so imponiert wie Janine,
die Vorzimmerdame. Dabei stellte die hagere Dame einen Anwärter für
ein Kuriositätenkabinett dar. Sie war hoch aufgeschossen und
spindeldürr, trug sehr altmodische Kleidung und einen Hut mit
breiter Filzkrampe. Anstatt einen Zwicker auf der Nase zu tragen, zog
sie es vor, ihre Brillengläser, die an einem interessanten Gestell
befestigt waren, selbst mit der linken Hand auf Augenhöhe zu halten.
Dadurch erhielt ihr Gesicht, das auffällig an einen Habicht
erinnerte, ein weiteres Detail, das perfekt ins Ensemble passte.
Gemäßigten Schrittes betrat sie mit einem missbilligenden Blick das
Büro des Anwalts.
„Guten Tag, Frau Beul! Ich
habe sie schon länger nicht mehr gesehen, ich habe glatt gedacht,
mit ihnen ist mal alles in Ordnung. Wo drückt denn der Schuh?“
Frau Beul war der ironische
Unterton in Herrn Fröhlichs Stimme nicht entgangen. Sie warf ihm
zwar aus ihren Habichtsaugen einen verachtenden Blick zu, setzte
jedoch schnell eine Leidensmiene auf und begann, von ihrem Unglück
zu erzählen.
„Ach, Herr Fröhlich! Wissen
sie es denn noch nicht? Ich habe mich von meinem Mann scheiden
lassen.“
„Das sind ja Neuigkeiten!
Warum haben sie sich denn getrennt?“
„Wir haben gemerkt, dass
unsere Interessen doch ein wenig zu weit auseinanderliegen.“
Herr Fröhlich schmunzelte und
sah im Geiste vor sich das Ehepaar Beul. Sie eine hagere, große
Habichtsdame, er ein kleiner, gemütlicher Waschbärmann. Sie spielte
den Hausdrachen, er ging eher lockerer mit den Regeln um. Beinahe
hätte Herr Fröhlich laut gelacht, was auch Frau Beul nicht
entgangen war.
„Heh, hören sie mir überhaupt
zu? Wir haben uns also im Guten getrennt.“
„Nun, da sie sich im
Einvernehmen getrennt haben, sehe ich nicht ganz, wo das Problem
liegt, Frau Beul.“
„Es geht um das Sorgerecht für
unsere Tochter Nadine. Jeder will sie ganz für sich haben, aber ich
will nicht, dass er sie in die Finger bekommt. Seine Erziehung ist
mir doch etwas zu unkonventionell. Ich bin eher für Strenge, denn
ich will nicht, dass aus unserem kleinen Mädchen später vielleicht
mal so jemand wird wie die in ihrem Vorzimmer.“
„Der Schein trügt, Janine ist
sehr effizient. Aber wir wollten nicht vom Thema abkommen. Da der
Fall ernst ist, schlage ich vor, dass sie vor Gericht gehen.“
„Glauben sie es oder nicht –
das hat mein Ex-Mann bereits getan. Die Gerichtsverhandlung ist
übermorgen und ich brauche sie unbedingt als meinen Anwalt.“
„Das müsste möglich sein.
Einen Moment!“ Herr Fröhlich öffnete eine Schublade seines
Schreibtisches und holte einen Terminplaner heraus. Er blätterte,
bis er die entsprechende Seite gefunden hatte und blickte plötzlich
wie versteinert darauf.
„Ja, was ist denn?“ fragte
Frau Beul besorgt.
„Frau Beul, es tut mir sehr
Leid, aber ich kann nicht. Ich bin in den nächsten drei Tagen
ausgebucht. Eine wichtige Angelegenheit vor Ort.“
„Und meine Tochter ist nicht
wichtig, oder wie?“
Ganz die besorgte Mutter, dachte
Herr Fröhlich.
„Nun verstehen sie doch, Frau
Beul! Dieser Auftrag ist wirklich sehr wichtig. Natürlich, ihre
Angelegenheit ist auch ernst. Aber dieser Vor-Ort-Termin steht schon
seit fast einem halben Jahr fest! Ich kann da nicht so einfach
absagen. Außerdem steht der Ruf meines Klienten auf dem Spiel!“
Frau Beul kniff ihr
Habichtsgesicht zusammen und blitzte Herrn Fröhlich an. Mit giftigem
Ton begann sie zu wettern.
„Gut, retten sie ruhig den Ruf
ihres Klienten. Dann werde ich aber dafür sorgen, dass ihr Ruf in
den Keller wandert. Sie glauben ja nicht, wie schnell so etwas geht,
vor allem, wenn alle hören, dass sie eine Mutter in Not im Stich
gelassen haben!“
„Frau Beul, das können sie
nicht tun!“ Herr Fröhlich wand sich in Qualen.
„Und ob ich das kann. Auf
Wiedersehen!“
Energisch stand Frau Beul auf
und wandte sich zum Gehen. Dabei fegte sie zufällig-absichtlich eine
gläserne Skulptur vom Schreibtisch des Anwalts. Gespielt mitleidig
meinte sie: „Oh, wie konnte das nur passieren!“ Dann war sie
verschwunden.
Wütend machte Herr Fröhlich
daran, die Scherben vom Boden aufzusammeln.
„Vielen Dank auch, Herr Graf.
Wenn mich das meine Karriere kosten sollte, dann gnade ihnen Gott!“
Weitaus ruhiger ging es bei der
Kaffeegesellschaft im Hause Sauerlich zu. Zusammen mit drei weiteren
Frauen ihres Formates saß die Dame des Hauses am Wohnzimmertisch und
blätterte in einer Modeillustrierten. Zwischendurch gab sie immer
wieder ein verzücktes Seufzen von sich. Dann schaute sie sich ein
Modell an, das ihr schon vorher ins Auge gefallen war. Kritisch
wandte sie sich an die anderen.
„Und ihr meint wirklich, dass
mit diese Stola stehen würde?“
Die ehrenwerte Katherine von
Schneider legte einen Arm um Frau Sauerlichs Schulter.
„Aber natürlich, meine Liebe!
Noch besser würde sie aber zu dem blauen Kleid passen, das du dir
auf unserem Ausflug in Prag gekauft hast.“
„Dieses lange Ballkleid?“
„Genau! Das wäre der absolute
Höhepunkt unter der ganzen Gesellschaft.“
Frau Sauerlich geriet ins
Schwärmen. Sie malte sich aus, wie alle sie anstarren würden, wenn
sie in diesem erhabenen Kleid mit der Stola auftreten würde. Es
würde die Eleganz und Würde, die sie schon immer erstrebte, noch
unterstreichen. Frau Sauerlich war 52 Jahre alt und zählte sich
selbst allein deshalb zur gehobenen Gesellschaft. Natürlich achtete
sie sehr auf ihren Umgang. Verzückt betrachtete sie die Ringe, die
sie an den Fingern trug.
Unvermittelt schaltete sich
Johanna Güldenburg wieder ins Gespräch ein.
„Ich glaube, ich bin nicht
ganz auf dem Laufenden. Welche Gesellschaft meint ihr? Und warum bin
ich da nicht eingeladen?“
Süffisant nahm Frau Sauerlich
einen Schluck Kaffee und erwiderte: „Weil es um eine persönliche
Angelegenheit geht. Du erinnerst dich noch an meinen Freund? Henry
Maibusch?“
Zuerst grübelte Frau
Güldenburg, dann schien der Groschen gefallen zu sein.
„Aber ja, dieser Graf! Du hast
uns oft genug von ihm erzählt.“
„Ich kann gar nicht oft genug
von ihm erzählen“, meinte Frau Sauerlich. „Er ist einfach
einzigartig. Übermorgen feiert er Familientreffen. Ich weiß gar
nicht, warum. Er findet so etwas sonst immer ganz lästig. Aber
bitte, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat, ist er nicht mehr
davon abzubringen.“ Sie legte die Illustrierte zur Seite.
Ganz nebenbei machte sich Frau
Adelstein bemerkbar. Unschuldig fragte sie: „Familientreffen? Da
wird bestimmt eine Menge los sein!“
Frau Sauerlich bemerkte den
lauernden Ton in ihrer Stimme. Sie winkte ab.
„Ich weiß gar nicht mal, ob
wirklich so viele Gäste kommen. Sein Vater ist seit zwanzig Jahren
verschollen, man glaubt inzwischen nicht mehr daran, dass er noch
lebt. Seine Mutter ist ebenfalls tot. Seine Brüder wird er wohl
eingeladen haben. Aber wenn ich mich recht erinnere, konnte er einen
von beiden überhaupt nicht leiden. Wir müssen aufpassen, dass es
keinen Streit gibt, wenn sie sich begegnen.“
Die ehrenwerte Katherine von
Schneider rümpfte die Nase.
„Das sind aber noch nicht sehr
viele Gäste.“
„Meine liebe Katherine, ich
sagte schon, dass ich nicht genau weiß, wer alles eingeladen ist.
Ich muss mich überraschen lassen.“
„Wenn es wirklich nur so
wenige sind, würde es doch gar nicht stören, wenn wir auch kämen,
oder?“ Wieder hatte die Stimme von Frau Adelstein diesen
unschuldigen Unterton. Genüsslich biss sie in einen Keks.
Frau Sauerlich zeigte sich
überrascht.
„Das ist nicht dein Ernst,
oder? Mir scheint es, als würdest du den Ernst dieser Angelegenheit
nicht zu würdigen wissen. Das ist nicht eines unserer
Kaffeekränzchen. Meinem Henry ist es wichtig, mal wieder wenigstens
einen Teil der Familie vereint zu wissen.“
Um die gute Frau Adelstein zu
schützen, übernahm Frau Güldenburg das Wort.
„Das ist aber nicht nett von
dir, Josephine. Du bist schließlich auch kein Teil seiner Familie,
sondern nur eine Bekannte. Wir sind außerdem deine besten
Freundinnen. Ich finde das nicht gerade fair.“
„Johanna, anscheinend willst
du mal wieder nicht verstehen.“ Zu ihrer Verteidigung gestikulierte
Frau Sauerlich wild mit den Händen. „Du bist mir natürlich immer
willkommen, aber bei der Feier übermorgen wärst du einfach fehl am
Platze.“
Die Worte verfehlten ihre
Wirkung nicht, wenn sie auch etwas anders ausfiel, als Frau Sauerlich
sich das erhofft hätte. Johanna Güldenburg setzt ihre Kaffeetasse
ab und eine beleidigte Miene auf.
„Ach. Wenn du mich brauchst,
dann bin ich dir natürlich immer eine gute Freundin. Aber wenn du
mal deinen Spaß haben willst, drehst du mir den Rücken zu. Dann bin
ich fehl am Platze! Feine Freundin, so was, solche finde ich ja
zuhauf im Supermarkt auf den Wühltischen!“ Mit diesen hitzigen
Worten stand sie auf, warf ihren Mantel im und nahm die Handtasche
mit. Im Nu war sie verschwunden. Frau Adelstein warf Frau Sauerlich
einen bösen Blick zu.
„Das war nicht sehr nett von
dir. Ich werde die Arme wieder aufheitern müssen.“ Ebenso schnell
hatte sie das Zimmer verlassen. Frau Sauerlich wollte sie aufhalten,
doch die ehrenwerte Katherine von Schneider hielt sie zurück.
„Nein. Dieses Mal hast du es
dir mit uns verdorben. Du bist nicht mehr die alte Josephine
Sauerlich, die wir mögen. Komm zu uns, wenn du wieder normal bist.“
Sie ließ eine betroffene Frau Sauerlich sitzen und schloss die Tür
hinter sich.
„Nein! Gerade jetzt dürft ihr
mich nicht einfach alleine lassen! Wenn ihr nur wüsstet…“
Schnell schlug ihre Betroffenheit in Zorn um. Sie nahm das Halstuch,
das über ihrer Lehne hing, an sich. „Ich hoffe, dass sich alles
wieder einrenkt, sonst geht es dir an den Kragen!“ Wütend zerriss
sie das Tuch.
Der Tag war schon weiter
fortgeschritten, als Graf Maibusch sich in der Küche Gut Trontsteins
erneut mit Frau Schmidt unterhielt.
„Sie sind ja schon wieder beim
Abwasch! Was gibt es denn so viel zu tun?“
„Scheinbar haben sie vom
Haushalt hier überhaupt keine Ahnung. Wissen sie, wie lange die
guten Gläser und das Tafelsilber in den Regalen gestanden haben?
Unbenutzt! Ich muss das alles unbedingt reinigen, bevor der Besuch
kommt. Sie sollen schließlich keinen schlechten Eindruck
hinterlassen.“
„Vielen Dank, Frau Schmidt. Wo
wir gerade beim guten Eindruck sind – dieser Clifford sollte jetzt
bald kommen. Ich hasse unpünktliche Leute.“
Frau Schmidt versuchte, ihn zu
beruhigen.
„Regen sie sich nicht zu früh
auf. Er wird kommen.“
Die Kuckucksuhr an der Wand
schlug vier Mal. Bereits nach dem zweiten Ton klingelte es an der
Tür.
„Na, was sage ich?“ meinte
Frau Schmidt überlegen und wandte sich dem Geschirr zu.
„Okay, sie bleiben erst mal in
der Küche.“ Graf Maibusch stand auf. Nach einem letzten Zupfen an
seinem Anzug ging er zur großen Eingangstür und öffnete.
Vor der Tür stand ein hagerer
Mann, der ungefähr so groß sein mochte wie der Graf. Er trug einen
vornehmen schwarzen Anzug und weiße Handschuhe.
„Ich wünsche einen angenehmen
Nachmittag, Mylord“, sagte er mit einer unterwürfigen Stimme, die
jedoch einen kaum erkennbaren zynischen Ton mitschwingen ließ. „Mein
Name ist James Clifford. Ich habe mich auf ihre Anzeige bezüglich
der Stelle des Butlers beworben. Zu meinen Referenzen werde ich nur
sagen, dass ich von Ivan Chesterton ausgebildet wurde. Das sollte als
Empfehlung genügen.“ Es klang unglaublich wichtig.
Der Graf zeigte sich auch prompt
beeindruckt. Mit soviel Würde in der Vorstellung des Mannes hatte er
nicht gerechnet.
„Sie haben mich geradezu
überrumpelt. Graf Maibusch“, sagte er und reichte seinem Gegenüber
die Hand. „Ich muss zugeben, dass mir der Name Ivan Chesterton gar
nichts sagt.“
„Sie müssen ja nicht alles
wissen. Doch was ich gerne wüsste: Werde ich hier fest angestellt
oder muss ich um meine Arbeit bangen?“
Graf Maibusch überlegte. Er war
sehr angetan von der Art und Weise, wie James ihm gegenübertrat.
„Tja, das ist in der Tat eine
Frage… ich habe ein Familientreffen in zwei Tagen. Daher benötige
ich sie eigentlich nur für drei Tage. Aber wir werden mal sehen.
Wenn sie mich als Butler überzeugen, sehe ich sie vielleicht auch in
Zukunft hier auf Gut Trontstein.“
„Sie werden mit mir zufrieden
sein, Sir. Davon bin ich überzeugt.“ James verneigte sich leicht.
„Dann möchte ich sie doch
gleich mal mit meiner Hausfrau bekannt machen“, sagte der Graf und
führte James in die Küche, in der Frau Schmidt schon erwartungsvoll
stand. Den Abwasch hatte sie vorsichtshalber zur Seite geräumt. Es
macht keinen guten Eindruck, wenn man gleichzeitig spült und sich
dabei vorstellt, dachte sie.
„Das ist Luise Schmidt, der
dienstbare Geist des Hauses.“ Und zu Frau Schmidt gewandt: „Frau
Schmidt, vor ihnen steht unser neuer Butler.“
Sie grüßten sich.
„Nennen sie mich einfach
James.“
„Ah, endlich mal ein frischer
Luftzug in diesem angestaubten Haus.“ Frau Schmidt schaute
demonstrativ die Wände um sie herum an. „Dieses Anwesen ist
einfach viel zu groß für zwei Leute allein. Vor allen Dingen für
mich als Hausfrau. Gut, dass jetzt auch noch ein Butler zur Hand
ist.“
Graf Maibusch räusperte sich
und wandte sich an James.
„Sie meint mit angestaubt gar
nicht mal die Arbeit, die hier zu erledigen ist, nicht wahr Frau
Schmidt?“
„Wovon reden sie?“ Die
Hausfrau schaute ihn unschuldig an.
„Ach, sie wissen schon, was
ich meine! Als meine Mutter noch lebte, waren die Sitten in diesem
Haus ziemlich konservativ gehalten. Streng, aber gut. So bin ich
erzogen worden. Und nachdem meine Mutter dann von uns ging, habe ich
wenig getan, um diese Gewohnheiten abzuschütteln.“
„Tja, sie sind halt
eingestaubt. Insofern haben sie recht, wenn sie denken, ich hätte
mich darauf bezogen“, warf Frau Schmidt dreist ein.
James sah verwirrt vom einen zum
anderen.
„Sie scheinen schon länger
zusammenzuleben, oder? Sonst wären sie nicht so…“ Ihm fehlten
die Worte.
„Frech?“ Graf Maibusch half
ihm. „Richtig, Frau Schmidt nimmt sich hier schon einiges raus,
aber ich gehe immer einfach darüber weg.“
„Nun, da sie beide schon so
fabelhaft zusammenarbeiten, ist es wohl auch für mich einfacher,
wenn ich die allzu förmliche Sprache ablege.“
Frau Schmidt stimmt James zu.
„Tun sie das, ist besser für
uns alle.“
„Ich kann noch gar nicht
glauben, dass alles so schnell ging“, meinte der Graf.
„Warum denn nicht? Scheinbar
gibt es hier keine Probleme. Doch zur Sache“, drängte James. „Sie
sagten, sie hätten ein Familientreffen?“
„Ja, übermorgen wird das Haus
voll sein. Ich werde sie natürlich mit den Gästen bekannt machen.“
„Ich denke, es ist noch
wichtiger, dass ich die Räumlichkeiten dieses Hauses kenne.“
Als Frau Schmidt das hörte,
stand sie von ihrem Stuhl auf und meinte: „Eigentlich ist es meine
Aufgabe, sie herumzuführen, aber ich muss noch abwaschen.“ Sie war
froh, wieder ihrer Arbeit nachgehen zu können, ohne Gefahr zu
laufen, von James mit abwertenden Blicken bedacht zu werden.
Graf Maibusch klopfte ihr auf
die Schulter.
„Das macht doch nichts, Frau
Schmidt. Ich übernehme das. Wenn sie mir dann folgen wollen, James!“
Der Graf und der Butler
verließen die Küche, während Frau Schmidt weitere Gläser spülte
und dabei ihren eigenen Gedanken nachging.
„Wenn sie mir dann folgen
wollen, James!“ äffte sie ihren Arbeitgeber nach. „Ich komme mir
vor wie in einem Museum. Alles voller Fossilien. Es wird wirklich
Zeit, dass hier ein wenig Stimmung in die Bude kommt. Hoffentlich ist
Fräulein Maria bald da“, seufzte sie.
„Ich kann das alles noch gar
nicht glauben“, sagte Herr Hansen zu sich selbst, während er in
seiner Manteltasche nach dem Autoschlüssel suchte.
„Graf Maibusch, das klingt ja
wieder hochtrabend. Verflucht, wo ist dieser verflixte Schlüssel?
Ah, hier.“ Nach langer Sucherei hielt er endlich einen
Schlüsselbund in der Hand, an dem mindestens zehn verschiedene
Schlüssel baumelten. Herr Hansen griff nach einem mit einem
schwarzen Plastikanhänger und schloss die Tür seines Autos auf.
„Eine feste Anstellung bei
Graf Maibusch, das macht doch was her. Nach all den Jahren…“,
meinte er verträumt. „Hoffentlich merkt es keiner. Wenn nur sie
nicht da ist… Und er wohnt in Birkenstein, wie passend. Fast um die
Ecke.“ Er atmete noch einmal tief durch und setzte sich in den
Wagen. „Na, dann wollen wir mal!“ Und er drehte den
Zündschlüssel.
Es war ungefähr eine halbe
Stunde später, als der Wagen von Herrn Hansen die lange Allee Gut
Trontsteins entlang gefahren kam. Er bremste auf dem Kiesvorplatz.
Herr Hansen stieg aus und schaute auf seine Armbanduhr.
„Fünf Minuten vor fünf.
Nicht schlecht, Franz!“ Damit ging er zum malerischen Eingang des
Hauses und klingelte.
Eine Sekunde später hörte er
aus dem Fenster links neben dem Eingang ein Klirren von Porzellan,
dann ein lautes Fluchen. Kurz darauf öffnete Frau Schmidt ihm die
Tür.
„Ja?“ fragte sie barsch.
„Guten Tag. Ich bin Franz
Hansen. Ich bin der neue Gärtner, ich hatte einen Termin mit Graf
Maibusch um fünf Uhr vereinbart.“
Unvermittelt wechselte Frau
Schmidt in eine freundlichere Tonlage.
„Ach, Herr Hansen! Der Graf
hat mir von ihnen erzählt. Sie sind der Gärtner?“ Ein wenig
Misstrauen klang in ihrer Frage mit, während sie den Mann vor sich
musterte. Herr Hansen war viel älter, als sie erwartet hatte. Sie
schätzte ihn auf über siebzig Jahre. Andererseits war er ihr gleich
sympathisch wegen der Kleidung, die er trug. Endlich mal kein Anzug
und so ein Schickimicki-Zeug, dachte sie.
Laut sagte Frau Schmidt: „Sind
sie sicher, dass sie sich das zutrauen? Es gibt eine Menge zu tun.“
Herr Hansen wehrte ab.
„Lassen sie sich nicht
täuschen, ich mache das schon. Oder glauben sie etwa, ich sei zu
alt?“
Und ob ich das glaube, meinte
Frau Schmidt zu sich. Aber ich will ihm eine Chance geben.
„Falls ich den Eindruck
gemacht habe, entschuldigen sie bitte. Ich hatte nur befürchtet,
dass sie sich vielleicht überfordert fühlen könnten. Andererseits
ist ein Mann mit Erfahrung genau das, was hier gebraucht wird. Graf
Maibusch ist momentan leider damit beschäftigt, unseren neuen Butler
in die Räumlichkeiten unseres Guts einzuweisen. Aber wenn es sie
nicht stört, kann ich ihnen schon mal die Gärten und den Park
zeigen.“
Herr Hansen zeigte sich
beeindruckt, als er von „den Gärten“ und dem „Park“ hörte.
Er sagte zu Frau Schmidt: „Das ist mir durchaus recht. Aber, wer
sind sie denn eigentlich?“
Frau Schmidt nahm erschrocken
die Hand vor den Mund.
„Habe ich das vergessen zu
erwähnen? Wie unhöflich von mir, eine Entschuldigung ist
angebracht.“ Ohne weiter darauf einzugehen verkündete sie mit
majestätischer Stimme: „Mein Name ist Luise Schmidt, Hausfrau.“
Man hätte meinen können, eine
Königin hätte sich vorgestellt. Nur der Begriff Hausfrau erschien
in dem Zusammenhang etwas unangebracht, was Herrn Hansen zum
Schmunzeln brachte.
„Lachen sie nicht. Ich arbeite
schon seit Langem auf Gut Trontstein.“
„Aber der Butler und ich, wir
sind erst kürzlich eingestellt worden?“
Frau Schmidt räusperte sich und
meinte süffisant: „Noch sind sie nicht eingestellt. Aber ich habe
verstanden, worum es geht. Ich weiß nicht, ob der Graf sie
informiert hat oder mal wieder seine Pflichten hat schleifen lassen,
aber in diesem Haus soll übermorgen ein Familientreffen stattfinden.
Um vor seiner Familie wieder etwas darzustellen, möchte Graf Henry,
dass wir diesem alten Kasten wieder einen adligen Glanz verleihen.“
„Das kann ich verstehen.
Typisch!“ sagte Herr Hansen lächelnd. Sofort blitzte Frau Schmidt
ihn misstrauisch an.
„Was meinen sie?“
„Ach, ist es nicht immer so,
dass man vor Bekannten als alter Graf einen möglichst hohen Status
präsentieren möchte? Aber was rede ich, das gehört nicht zum
Thema.“
Frau Schmidt meinte abfällig:
„Herr Hansen, da muss ich ihnen zustimmen. Das gehört nicht
hierher. Kommen sie, ich zeige ihnen zunächst den hinteren Garten.“
Gleich nachdem Frau Schmidt mit
Herrn Hansen um die Ecke verschwunden war, kam Graf Maibusch mit
James, dem Butler, die große Treppe in der Haupthalle hinunter.
„Ich muss mich für den Lärm
vorhin entschuldigen“, meinte der Graf. Dann rief er in die Halle:
„Frau Schmidt? Frau Schmidt, waren sie das eben?“ Als er keine
Antwort bekam, sprach er wieder zu James.
„Jedenfalls kennen sie jetzt
das meiste von Gut Trontstein. Hinten im Garten befindet sich noch
ein Wintergarten. Aber den können sie sich anschauen, wenn sie sich
hier eingerichtet haben. Sie bleiben doch, oder?“
„Natürlich! Ich sehe keinen
Grund, weshalb ich die Stelle abschlagen sollte. Ich bin sicher, dass
wir gut auskommen werden.“
Der Graf lugte aus der
Eingangstür um die Ecke und schaute sich dann noch mal in der
Haupthalle um.
„Selbstverständlich werden
wir das. Ich sehe, sie haben noch kein Gepäck mitgebracht?“
„Nein. Ich wollte mir erst mal
die Voraussetzungen anschauen. Wenn es ihnen nichts ausmacht, werde
ich morgen hier einziehen. Ich werde gegen Mittag kommen.“
„Das ist in Ordnung“, meinte
der Graf beiläufig, als er auf seine Uhr schaute. „Eigentlich
sollte Herr Hansen, unser Gärtner, mittlerweile hier sein. Ich hasse
es, wenn Leute zu spät kommen.“
Unterwürfig verbeugte James
sich ein weiteres Mal.
„Bevor es hier noch Ärger
gibt, gehe ich dann besser. Auf mich können sie sich verlassen.
Einen schönen Abend noch!“
„Ihnen auch, James!“
James drehte sich um und verließ
mit aufrechtem Gang das Haus. Bewundernd sah der Graf hinterher. Der
hat bei dem Richtigen gelernt, meinte er froh. Gut, dass ich ihn
habe.
Dann betraten Frau Schmidt und
Herr Hansen, die ihrerseits den Rundgang beendet hatten, wieder das
Haus. Beinahe stießen sie mit Graf Maibusch, der noch immer in der
Eingangstür stand, zusammen. Frau Schmidt zeigte sich empört.
„Da sind sie ja endlich, Graf
Maibusch. Dies“, sie deutete auf den Mann an ihrer Seite, „dies
ist Herr Hansen, unser neuer Gärtner. Wo waren sie denn die ganze
Zeit?“
„Ich habe den Butler
herumgeführt. Aber was haben sie eigentlich gemacht? Der
infernalische Krach aus der Küche war ja nicht zu überhören!“
Frau Schmidt wich aus. „Äh…
die Türklingel hat mich so überrascht, dass mir eine der Schüsseln
aus der Hand gefallen ist. Die muss ich noch wegräumen!“ Sie
wollte gehen, doch der Graf hielt sie zurück.
„Bleiben sie doch!“ Er
reichte Herrn Hansen die Hand. „Guten Abend, Herr Hansen!“
„Guten Abend! Ich hoffe, ich
habe sie nicht in Verlegenheit gebracht?“
Während Frau Schmidt unruhig
zappelte, blieb Graf Maibusch ganz ruhig.
„Aber keineswegs!“
„Dann bin ich froh. Ich habe
mir bereits den hinteren Garten angeschaut. Der ist ja ziemlich
vernachlässigt worden. Ich habe ordentlich zu tun, wenn ich bis
übermorgen daraus ein Paradies machen soll!“ Der Graf war
verwundert.
„Ach, Frau Schmidt hat ihnen
schon davon erzählt?“
„Nur das Gröbste, nur das
Gröbste“, meinte die Hausfrau beschwichtigend.
„Jedenfalls mache ich ihnen
ein Angebot: Ich nehme den Job und komme dann morgen Vormittag, gegen
zehn Uhr, vorbei, damit ich möglichst früh anfangen kann. Da gibt
es nur ein kleines Problem… die ganze Fahrerei hier her… sie
verstehen schon.“
„Aber natürlich“, beruhigte
Graf Maibusch Herrn Hansen. „Machen sie sich keine Sorgen, sie
wohnen solange hier.“
Herr Hansen strahlte über das
runzlige Gesicht. „Das ist wunderbar. Dann kann es ja losgehen! Bis
morgen Vormittag!“
„Tschüs, Herr Hansen, bis
morgen!“ Graf Maibusch gab ihm zum Abschied die Hand, Frau Schmidt
winkte hinterher.
„So, Frau Schmidt, und nun
möchte ich sie noch etwas fragen.“ Die Stimme des Grafen war jetzt
wieder ernst und sachlich. Frau Schmidt wurde gleich verunsichert.
„Ja?“
„Warum sind sie mir eben immer
ausgewichen? Und was haben sie Herrn Hansen erzählt?“
„Nichts!“
„Warum haben sie sich denn
eben so komisch aufgeführt?“
Frau Schmidt wand sich in
Qualen. Zu gern wäre sie aus dieser Situation entflohen, aber sie
musste mit der Wahrheit rauskommen.
„Also… versprechen sie mir,
nicht böse zu sein! Die Schüssel, die kaputtgegangen ist… die war
eines der Andenken an ihre Mutter.“ Als würde sie geschlagen,
hielt Frau Schmidt zur Abwehr die Arme vors Gesicht. Der Graf jedoch
blieb erstaunlich ruhig. Es war lange her, dass er Frau Schmidt
derart schuldbewusst gesehen hatte. Nur damals hin und wieder, als
sie angefangen hatte. Aber das war nun schon zehn Jahre her und sie
hatte sich immer als kompetent und effizient erwiesen.
„Frau Schmidt, das ist nicht
so schlimm. Wichtig ist jetzt in erster Linie das Familientreffen,
alles andere sind Lappalien.“
Erleichtert atmete sie auf.
„Oh, ich danke ihnen vielmals.
Sie werden sehen, bis übermorgen erhält Gut Trontstein seinen
ehrwürdigen Charakter zurück.“
Kapitel
2
Das Krähen des Hahnes von Bauer
Willems zwei Häuser weiter weckte die Bewohner des Gutes früh am
nächsten Morgen. Schlaftrunken schaute Graf Maibusch auf den Wecker,
der neben seinem Bett auf einem kleinen Nachttischchen stand. Er
zeigte zehn Minuten nach Acht an. Der Graf fiel zurück ins große
Doppelbett und drehte sich auf die andere Seite. Nur noch fünf
Minuten, dachte er.
Frau Schmidt war da anderer
Meinung. Sie betrat einen Augenblick später schwungvoll das
Schlafzimmer, ging direkt zu den Fenstern und zog die Jalousien nach
oben. Das Licht der frühen Sonne fiel direkt auf das Kopfkissen des
Grafen.
„Aufstehen, bester Graf! Die
Arbeit ruft, sie können doch nicht ewig weiterschlafen.“
Graf Maibusch blinzelte. In
seinem Zimmer war es jetzt taghell. Unmöglich, noch
weiterzuschlafen.
„Vielen Dank, Frau Schmidt“,
sagte er missmutig, „aber sie hätten mich ruhig noch länger
schlafen lassen können.“
„Wo denken sie denn hin? Heute
kommen die ersten Gäste, haben sie selbst gesagt! Da müssen sie
doch wach sein.“ Empört wollte Frau Schmidt die Bettdecke
zurückschlagen.
„Frau Schmidt, nun reicht es
aber!“ Der Graf hielt die Decke mit beiden Händen fest. „Ich
denke, meine Freunde wollen einen wachen Grafen sehen, wenn sie
kommen. Schauen sie mich doch nur an! Ich stecke noch halb im
Schlaf.“
„Ach was, da werden sie sich
gleich schön kalt duschen, das weckt die Lebensgeister. Ich muss mit
ihnen schließlich die Speisepläne durchgehen, damit ich dann
einkaufen gehen kann.“
„Nun seien sie nicht so
kompliziert. Ich überlasse ihnen die ganze Speisekarte, sie wissen
das sowieso immer alles am besten. Und die Zutaten und was weiß ich
noch alles, das können wir uns auch bringen lassen. Oder sie
bestellen einfach alles beim Partyservice.“ Er klang ziemlich
entnervt.
Das Wort „Partyservice“
brachte Frau Schmidt auf die Palme. Sie fing an zu toben.
„Müssen sie immer so mit
ihrem Geld herumprotzen? Das ist nicht auszuhalten. Sie wagen es, mir
vorzuschlagen, ich solle einen Partyservice anrufen? So weit kommt es
noch. Ihre kleine Teegesellschaft werde ich schon alleine versorgen
können. Und meine Zutaten kaufe ich immer noch selbst!“ Sie redete
sich richtig in Rage. „Und was die Speisekarte angeht: Sie sind
immer am Meckern, dass sie dies und das nicht mögen, dass sie
allergisch gegen fast alles sind. Das ist zwar der größte Unsinn,
den ich so höre, denn sie stellen sich einfach nur pingelig an. Aber
um das zu vermeiden, werde ich in einer Stunde die Pläne mit ihnen
durchsprechen. Und bis dahin sind sie fertig!“
Wutschnaubend stampfte Frau
Schmidt aus dem Zimmer. Der Graf schüttelte den Kopf wie ein
geprügelter Hund und machte sich auf den Weg ins Badezimmer.
Es war knapp neun Uhr, als Graf
Maibusch im Anzug sein Zimmer verließ und sich in die Eingangshalle
begab, um das Klingeln der Türglocke zu beantworten. Es hatte
bereits mehrmals geklingelt, doch schien Frau Schmidt anderweitig
beschäftigt zu sein. Der Graf öffnete die Haustür und sah einen
jungen Mann, der an einer der Säulen lehnte, die das Vordach
stützen.
Dieser junge Mann war eine
auffällige Erscheinung. Er sah nicht viel älter aus als 30 Jahre,
vielleicht waren es 35, aber in jedem Fall betonte die sportliche
Kleidung das jugendliche Erscheinungsbild des Mannes. Er war
braungebrannt und hatte schwarzes, kurzes Haar. Eine dunkle
Sonnenbrille verdeckte den Blick auf seine Augen. Seine Schuhe waren
ebenso schwarz wie seine Jeans; das einzig Bunte war das Hemd, das
Graf Maibusch in grellen Tönen von Grün bis Gelb entgegenleuchtete.
Der Graf zeigte sich überrascht.
„Guten Morgen, Flip! Warum
bist du denn schon hier? Ich hatte dich nicht so früh erwartet!“
Sein Gegenüber grinste.
„Ach, die Frauen…“ Henry
Maibusch musste nun auch schmunzeln. Tatsächlich war Herr Flip sehr
attraktiv; auf die jungen Damen musste er wie ein junger Gott wirken.
Lässig betrat Flip das Haus.
„Mal ganz im Ernst – Als
Leiter einer Versicherungsagentur muss man immer bereit sein. Du
weißt genau, dass ich eine lange Anreise habe. Wenn ich später
losgefahren wäre, wäre ich den ganzen Tag unterwegs gewesen, für
meine Klienten unerreichbar. Nun habe ich zumindest mein Handy
dabei.“
„Aha. Hochinteressant.“ Die
Stimme des Grafen klang alles andere als interessiert. „Komm, lass
uns irgendwo hinsetzen. Wir haben uns lange nicht mehr gesehen. Wir
müssen uns unterhalten“, meinte Graf Maibusch ernst und führte
Herrn Flip mit sich zu einer Tür unter der großen Haupttreppe.
„Das hört sich ja sehr
wichtig an.“ Herr Flip folgte dem Grafen in einen großen Raum, der
bunt eingerichtet war, mit Teddybär-Tapeten an den Wänden und viel
Spielzeug auf dem Boden. Flip schaute sich missbilligend um.
„Was soll das? Das hier ist ja
ein Kinderzimmer?! Empfängst du deine Gäste nicht mehr in der
Küche?“
„Die Küche hat Frau Schmidt
für sich beschlagnahmt. Erinnerst du dich noch an unsere Hausfrau?“
Herr Flip lachte.
„Aber natürlich! Wer könnte
Frau Schmidt und ihr Reich vergessen? Wenn sie die Küche reserviert
hat, ist es purer Leichtsinn, diesen Raum zu betreten. Aber sag,
wofür braucht sie die Küche?“
„Morgen ist das
Familientreffen. Sie meint, sie müsse ganz viel vorbereiten“,
sagte der Graf und machte eine wegwerfende Handbewegung.
Flip schüttelte den Kopf und
meinte verständnisvoll: „Aber ihr hättet euch doch das Essen
kommen lassen können. Das ist gar nicht so teuer und mitunter
ziemlich gut.“
„Das habe ich ihr auch gesagt.
Sie hätte mich beinahe dafür gelyncht! Ich will sie ja nicht davon
abhalten, wenn ich auch meine, dass sie ganz gewaltig übertreibt.“
„Das hat sie halt so an sich“,
meinte Herr Flip und setzte sich auf ein rotes Sofa mit bunten
Mustern. „Erzähl, was gibt es Neues?“
Mit einem Seufzer ließ Graf
Maibusch sich auf einen Sessel fallen.
„Am Haus selbst eigentlich
nichts. Das Personal habe ich ein wenig aufstocken müssen, das war
unbedingt nötig.“
„Vielleicht solltest du etwas
konkreter werden?“ schlug Herr Flip vor.
„Ich habe einen neuen Butler
und einen neuen Gärtner. James und Herr Hansen.“
„Welch interessante Art, die
Leute anzusprechen. James und Herr Hansen. Hört sich an, als wären
die beiden schon seit Jahren hier. Die werde ich später sicherlich
kennen lernen. Warum hältst du eigentlich dieses Familientreffen ab?
Du hast dich nie richtig für Familie interessiert, und jetzt gleich
dieser Aufwand! Was ist hier los?“
Obwohl niemand im Zimmer und
sonst nur Frau Schmidt im Haus war, drehte sich der Graf um und
schaute nach beiden Seiten, als würde er belauscht. Dann beugte er
sich vor und meinte geheimnisvoll: „Ich denke, dir kann ich es
erzählen. Aber sag es bloß keinem weiter! Es geht um dein Erbe.“
Herr Flip lehnte sich zurück
und schlug ein Bein übers andere.
„Wieso um mein Erbe?“
„Als unser Vater starb,
hinterließ er meinen beiden Brüdern und mir ein Vermögen. Das
Vermögen, das er sich ein Leben lang erarbeitet hatte. Es sollte
gerecht geteilt werden, doch ich vermute, dass es da irgendeinen
Betrug gegeben hat. Ich habe meinen Anwalt, Herrn Fröhlich,
hinzugebeten. Er wird ebenfalls heute hier eintreffen. Morgen wird es
dann vielleicht großartige Enthüllungen geben.“
„Das ist ja interessant. Du
misstraust deinen Brüdern derartig?“ fragte Herr Flip.
Graf Maibusch schaute aus dem
Fenster in den hinteren Garten, der zu dieser frühen Stunde noch im
Schatten der gewaltigen Villa lag.
„Eigentlich nur Friedrich. Ich
habe mich nie gut mit ihm vertragen. Ich kann mir absolut nicht
vorstellen, dass Leonard etwas damit zu tun haben könnte.“
„Und das Familientreffen dient
nur als Fassade für deine Nachforschungen? Das ist doch,
entschuldige den Kommentar, ziemlich verrückt.“
„Nein, ich freue mich auch
darauf, meine Familie mal wiederzusehen. Ich werde ja noch mehr Gäste
haben“, verteidigte der Graf sich.
„Ist schon in Ordnung. Aber
nun lass dir doch nicht jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen. Wer
kommt alles?“
„Nun, du bist ja schon da.
Herr Fröhlich kommt noch. Zusätzlich meine Freundin, die gute
Josephine.“
„Josephine?“
„Natürlich. Josephine
Sauerlich!“
„Eine Freundin? Du hast mir
nie von ihr erzählt!“
„Kann gar nicht sein. Sie ist
so eine gute Seele, ich freue mich wirklich auf ein Wiedersehen mit
ihr.“ Der Graf zählte an den Fingern ab. „Dann kommt meine
Tante, die Komtess zu Bärenwald, mein Onkel… wie war bloß noch
der Name? Jo… Johannes? Nein! Joachim Mahler, genau! Dann mein
Bruder Leonard…“
„Und Friedrich natürlich.“
„Nein! Auf keinen Fall!“
„Du hast Friedrich nicht
eingeladen?“
„Nein, warum sollte ich? Wir
haben uns nichts zu sagen.“
„Wie willst du dann hinter die
Sache mit dem Betrug kommen?“
„Das werde ich schon machen,
keine Sorge. Ja, und schließlich sind da noch der Butler und Herr
Hansen. Und meine Nichte, Fräulein Maria. Die könnte dir gefallen,
sie ist ganz bezaubernd“, meinte Graf Maibusch und zwinkerte Flip
zu.
Der ließ sich nichts anmerken.
„Und wann wird sie ankommen?“
„Leider erst morgen. Aber das
wird schon nicht so schlimm. Jetzt müssen wir erst einmal auf Herrn
Fröhlich warten. Komm mit, ich zeige dir dein Zimmer. Ich kann mir
denken, dass du nicht im Kinderzimmer schlafen möchtest, oder?“
„Nein, da hast du wohl recht.“
Lachend verließen beide das
Zimmer.
In der Küche waren mit
unglaublicher Präzision silberne Löffel, Messer und Gabeln auf dem
Tisch angeordnet. Sie alle warteten nur darauf, von James geputzt zu
werden. Der Butler war im Begriff, die Silberpolitur zu holen,
während Frau Schmidt auf der Bank saß und in der Tageszeitung, dem
„Märkischen Anzeiger“ blätterte. Zwischendurch sah sie immer
wieder mit lustiger Miene von ihrer Lektüre auf und beobachtete
James, der auf der Suche nach der Politur langsam, aber sicher
verzweifelte.
„Ach, James, man merkt doch,
dass sie gerade erst angefangen haben. Wenn sie auf der Suche nach
etwas sind, warum fragen sie mich denn nicht einfach? Ich kenne mich
hier bestens aus.“
James errötete.
„Ach, Madam, das ist mir
peinlich. Dass ausgerechnet ich sie damit belästigen muss…“
„Ach, nun seien sie mal nicht
so verkrampft“, meinte Frau Schmidt. Es war ihr unerklärlich, wie
ein Mensch so verklemmt mit gesenktem Haupt durch die Küche laufen
konnte.
„Wie?“
„Ganz, wie ich es sage:
Verkrampft. Das nützt uns doch nichts, wenn sie hier den Duckmäuser
spielen. Was haben sie denn gelernt bei ihrer Ausbildung? Aufrecht
gehen, Würde zeigen! Gestern kamen sie mir noch viel vernünftiger
vor.“
„Ich dachte, weil ich mich
doch erst hier einarbeiten muss, sollte ich vielleicht etwas defensiv
arbeiten.“
Frau Schmidt legte empört die
Zeitung zur Seite und stand auf.
„Was ist denn das für ein
Unsinn? Defensiv arbeiten? Sie haben hier keine Zeit, sich
einzuarbeiten. Morgen geht es hier rund, also setzen sie bitte sofort
ihr unerträglichstes Butlergesicht auf, das sie draufhaben. Wir
beide müssen zusammenarbeiten, wenn der Laden hier laufen soll!“
Um ihren Willen zur Mitarbeit zu
demonstrieren, ging Frau Schmidt raschen Schrittes in die
Speisekammer, reichte mit der Hand auf ein sehr hohes Regal und
fischte die Flasche mit der Silberpolitur hinunter. Sie ging wieder
in die Küche und überreichte sie James, der noch immer etwas ratlos
in der Küche stand.
„Vielen Dank, Madam.“
„Madam? James, es reicht. Ich
heiße Frau Schmidt, klar? Sie werden bei ihrem Lehrer doch gesehen
haben, wie man sich als Butler verhält, oder?“
„Ja.“
„Nun?“ meinte Frau Schmidt.
Sie bohrte mit dem Zeigefinger in James´ Richtung. „Halten sie
ihren Kopf hoch, die Nase noch höher. Sie müssen hier auf niemanden
Rücksicht nehmen. Ein abfälliger Blick ist das mindeste.“
„Danke, Frau Schmidt, ich habe
verstanden. Ich weiß, wie ich zu arbeiten habe. Ich brauchte nur die
Zustimmung, dass ich mein normales Verhalten an den Tag legen darf.“
„Sie dürfen nicht nur, sie
sollen sogar. Ich hoffe, das Thema wäre damit erledigt.“
„Natürlich, Frau Schmidt.“
James setzte ein hochnäsiges Gesicht auf. „Danke für die Politur.
Ich werde noch einen Staubwedel holen, um die Regale zu säubern.
Gäste mögen es nicht, wenn es Staub regnet.“
Frau Schmidt lachte. „Ganz
bestimmt nicht! Den Staubwedel finden sie auch in der Speisekammer,
der hängt neben dem Sicherungskasten an einem Nagel.“
Mit dem Gerät in der Hand kam
James wieder in die Küche. Frau Schmidt hatte sich inzwischen wieder
auf die Bank gesetzt und schaute nach draußen. Langsam machte die
Morgensonne ihre Runde. Das Licht blendete nicht mehr in die Küche.
„Ach, das Wetter ist einfach
wunderbar!“
„Und das schon so früh am
Morgen“, ergänzte James. „Es wird bestimmt wieder ein schöner
Tag und mit etwas Glück bleibt es morgen genauso.“
„Wo sie gerade von früh am
Morgen sprechen – warum sind sie eigentlich schon hier?“
„Das fragen sie mich jetzt, wo
ich bereits mitten in meiner Arbeit stecke? Frau Schmidt, morgen ist
die Feier und es gibt hier noch eine Menge zu tun. Vielleicht ist
ihnen das noch nicht ganz bewusst? Je früher ich hier bin, desto
besser.“
„Ich hoffe, sie wollen mir
nicht vorwerfen, dass ich schlechte Arbeit leiste?“ fragte Frau
Schmidt misstrauisch. Mit undefinierbarem Unterton antwortete der
Butler: „Das käme mir nie in den Sinn.“
Die Türglocke hinderte Frau
Schmidt daran, weiter nachzufragen. James machte sich auf den Weg zur
Haustür. „Einen Moment, wir haben Besuch.“
Als Frau Schmidt allein war,
ließ sie den Blick über den Tisch schweifen, über das Geschirr,
die Politur und den Staubwedel.
„Na endlich, ganz der Butler.
Er scheint nicht unfähig zu sein, also wollen wir ihm mal eine
Chance geben. Aber den Staubwedel hätte er wegräumen können. Das
Silber muss zuerst poliert werden. Wenn der hier herumliegt, das
macht keinen guten Eindruck.“
Die Hausfrau nahm den Staubwedel
und ging in die Speisekammer, um ihn zurückzuhängen. Dabei fiel ihr
Blick nach oben auf den Sicherungskasten und den Gegenstand, der
darauf lag. Es war eine große Rohrzange, die normalerweise ihr
Dasein im Schuppen draußen fristete.
„Mein Gott, das ist ja
lebensgefährlich! Das Ding könnte runterfallen, und warum liegt es
überhaupt dort?“ Sie reichte nach oben und nahm das Werkzeug
vorsichtig vom Sicherungskasten herunter. In dem Moment vernahm sie
eine Stimme hinter ihrem Rücken.
„Frau Schmidt, was machen sie
denn da?“
Unverkennbar James. Als ihr
bewusst wurde, dass es nicht allzu alltäglich war, dass die Hausfrau
eine Rohrzange in der Speisekammer versteckt – und den Anschein
musste die Szene haben – versteckte sie das unhandliche Ding hinter
ihrem Rücken, bevor sie sich umdrehte und scheinheilig lächelte.
„Ach, gar nichts! Ich habe
mich nur umgeschaut.“
James schien kein Interesse
daran zu finden, dass Frau Schmidt vielleicht gerade Böses im
Schilde führte.
„Wie dem auch sei, Herr Hansen
ist da. Kommen sie in die Küche, dann können sie ein wenig
plaudern.“
„Aber selbstverständlich“,
sagte Frau Schmidt erleichtert. Nachdem James sich umgedreht und den
Raum verlassen hatte, legte sie die Rohrzange in die Kiste zu den
Kartoffeln. Dann ging sie in die Küche, um den neuen gast zu
begrüßen. Herr Hansen hatte sich auf die Bank gesetzt, wo Frau
Schmidt zuvor noch gesessen hatte.
„Guten Morgen, Frau Schmidt!“
„Herr Hansen! Sie sind ja auch
so früh.“ Frau Schmidt setzte sich gegenüber Herrn Hansen auf
einen Stuhl und betrachtete missbilligend die dreckigen Schuhe, die
der Gärtner trug. Sie rümpfte die Nase.
„Ich habe doch gesagt, dass
ich früh herkommen muss. Der Garten ist das reinste Schlachtfeld.
Ich muss dort etwas tun.“
„Da haben sie allerdings
recht.“ Die Hausfrau musterte Herrn Hansen von oben bis unten. Was
für ein lustiges, altes Menschlein, dachte sie bei sich. Dann fiel
ihr Blick auf das große Messer, das im Burt seiner Arbeitshose
steckte.
Herr Hansen war Frau Schmidts
bleiches Gesicht nicht entgangen.
„Was haben sie denn? Ist ihnen
nicht gut?“
Frau Schmidt deutete auf die
blitzende Klinge.
„Was haben sie denn mit dem
Messer da vor?“
„Aber Frau Schmidt“, sagte
Herr Hansen lachend, „ich arbeite damit! Blumen und Stöcke
schneiden und so weiter. Nun stellen sie sich mal nicht so an. Oder
glauben sie etwa, ich hätte vor, die ganze Gesellschaft unter die
Erde zu bringen?“ Scherzend nahm er das Messer aus dem Gurt und tat
so, als würde er Frau Schmidt erstechen.
Diese schüttelte den Kopf und
lachte.
„Nein, ist schon in Ordnung.
Mir kommen nur plötzlich so viele Waffen über den Weg, ich glaube,
ich werde noch wahnsinnig.“
„Lassen sie das mal schön
bleiben, es gibt doch keinen Grund dazu.“
„Nein, sie haben recht.“
Frau Schmidts Stimme wurde geschäftig. „Also, wenn sie Blumen,
kleine Ableger oder Sträucher oder was auch immer brauchen: Das
bekommen sie alles in Sievers´ Gärtnerei. Da fahren sie nach
Birkenstein rein, Richtung S-Bahn und direkt vor dem Bahnhof links
ab. Dann können sie´s nicht mehr übersehen. Setzen sie alle
Unkosten auf die Rechnung das Grafen. Und nun an die Arbeit, ich sehe
es nicht gerne, wenn das Personal auf der faulen Haut liegt.“
Demonstrativ nahm Frau Schmidt das Tuch, das James vorher liegen
gelassen hatte, und polierte das Geschirr weiter.
„Aye aye, Frau Schmidt! Ich
fahre dann erst mal in die Stadt!“
Sprach´s und war verschwunden.
Das Telefon klingelte. Am
schmalen Ende des Salons, der sich in der südwestlichen Ecke des
Anwesens befand und damit einen wunderbaren Blick auf den Garten bot,
befand sich ein Schreibtisch, auf dem der Apparat stand. Graf
Maibusch nahm den Hörer ab. Er war derart in seine Vorbereitungen
vertieft, dass er nicht bemerkte, wie James durch die geöffnete
Flurtür schaute. Der Butler war jedoch diskret genug, um wieder im
Korridor zu verschwinden. Dennoch konnte er einige Gesprächsfetzen
nicht überhören.
„Hallo, hier Maibusch. …Ah,
Leonard! Schön, mal wieder von dir zu hören… Ja, immer noch
gesund… Nein, wieso? …Morgen … Was, du kannst nicht kommen?“
Der Graf klang höchst erschrocken. „Wie bitte? Deine Frau ist im
Krankenhaus?... Aha. …Ja. …Aber es geht ihr schon ein wenig
besser? …Das ist gut zu hören. …Aber das braucht dir doch nicht
leid zu tun! Wäre es denn nicht möglich, das Treffen auf
überübermorgen, also um zwei Tage zu verschieben? …Nein, von mir
aus kein Problem. …Na also. Dann wäre doch alles geregelt. Wir
verschieben das Familientreffen um zwei Tage. Mach du dir keine
Sorgen darum, ich sage den anderen Bescheid. …Ja, kümmere dich
erst mal um deine Frau. Wir sehen uns dann! …Bis bald!“
Graf Maibusch legte den Hörer
auf die Gabel und atmete tief durch. James betrat das Zimmer und ging
auf den Grafen zu.
„Ich glaube, der Zufall hat es
so gewollt, dass ich noch den Rest ihres Gespräches mitbekommen
habe, Mylord. Soll ich ihre Verwandtschaft verständigen?“
„James!“ meinte der
Angesprochene erschrocken. „Was machen sie hinter meinem Rücken?
Haben sie mich etwa belauscht?“
„Sie beleidigen mich. Lauschen
ist unter meiner Würde. Ich habe die Vasen im Flur abgestaubt. Ich
denke mal, das sind alles Erbstücke. Jedenfalls lässt die dicke
Staubschicht darauf schließen. Frau Schmidt scheint sich nicht so
sehr darum zu kümmern.“
„Frau Schmidt kümmert sich
schon um alles Nötige; bleiben sie bei ihren Aufgaben.“
„Aber natürlich. Jedenfalls
waren sie im Flur nicht zu überhören, da zumal die Tür noch offen
stand.“
„Meinetwegen kann es die ganze
Belegschaft erfahren. Die Feier wird verschoben, um zwei Tage.“
Graf Maibusch suchte zwischen den Unterlagen einen Zettel hervor. Es
war die Liste der Besucher, die er am Vortag schon Frau Schmidt
gezeigt hatte.
„Ich habe hier die Liste aller
Teilnehmer. Einen Moment“, meinte er und markierte einige Namen mit
einem Bleistift. „Ein paar sind ja schon hier. Jene, die ich mit
einem Kreuz versehen habe, müssten sie anrufen und ihnen die
Nachricht mitteilen. Die bereits hier Anwesenden können es auch
nachher erfahren, wenn sie sowieso schon hier sind. Wir haben
reichlich Zimmer frei. Bringen sie sie einfach irgendwo unter.“
„Natürlich. Ich fange am
besten mit den Anrufen an.“
Es klingelte an der Haustür.
Graf Maibusch stand auf und meinte zum Butler: „Ich werde zur Tür
gehen, dann haben sie hier ihre Ruhe.“
„Ich danke ihnen“,
antwortete James und setzte sich an den Schreibtisch.
Der Graf ging aus dem Salon, den
Korridor hinunter in die Empfangshalle und zur Haustür, wo der
Besucher ungeduldig ein weiteres Mal klingelte.
„Ich komme schon!“ rief der
Graf und öffnete kurz darauf die Tür.
Draußen stand eine Dame
mittleren Alters mit langem, feuerroten Haar und einem kleinen
Muttermal auf ihrer rechten Wange. Das Rot hob sich deutlich von der
ansonsten dezenten Erscheinung ab. Sie trug ein schwarzes Kleid und
um ihren Arm eine dunkelblaue Handtasche. Graf Maibusch setzte sofort
ein freundliches Lächeln auf und machte eine einladende Geste.
„Hallo Konstanze! Welcher Weg
führt sie denn hierher?“
„Ich bin immerhin ihre
Nachbarin“, meinte Konstanze Braunfeld verlegen. Sie hatte eine
ruhige, tiefe Stimme. Mit der roten Frisur versuchte sie offenbar,
ihre Schüchternheit zu übertünchen. Die Haare sind gefärbt,
dachte Graf Maibusch, ließ sich aber nichts anmerken.
„Natürlich, natürlich. Es
ist ja kein Verbrechen, wenn sie mich mal besuchen. Aber wir sollten
besser in den Wintergarten gehen. Der Salon ist gerade besetzt.
Kommen sie!“
Beide gingen durch die
Empfangshalle unter der Treppe hindurch ins Kinderzimmer.
„Hier war ich ja noch nie“,
meinte Frau Braunfeld.
„Hier ist das Kinderzimmer. Es
ist die beste Abkürzung, wenn man in den Wintergarten will. Hier,
durch die Schiebetür kommen wir in den Garten.“ Der Graf öffnete
das Große Fenster und die Tür. Beide verließen das Haus und gingen
in den Garten. Ein Weg führte direkt in einen kleinen Pavillon mit
einem Brunnen. Hier teilte sich der Weg.
„Herr Maibusch, warum haben
sie mir nie den Garten gezeigt? Er ist wunderschön!“
Der Graf räusperte sich
vernehmlich.
„Wunderschön? Meiner Meinung
nach braucht er dringend einen Gärtner. Aber man kann vieles daraus
machen. Sehen sie: Hier ist der Mittelpunkt das Gartens. Wenn man
nach rechts geht, kommt man in den Park. Geradeaus geht es weiter zum
Wintergarten und nach links kommt man vom Anwesen aus über einen
langen Weg zum Birkensee. Ein sehr beliebtes Erholungsgebiet, wenn
Birkenstein auch nicht mehr das ist, was es einmal war.“
Konstanze Braunfeld lächelte
milde.
„Das müssen sie mir nicht
erzählen. Dieser Weg führt auch hinter meinem Haus vorbei. Ich bin
ja selbst gerne am See. Ich mag es eher, wenn nicht so viel los ist.
Das ist idyllischer. Deswegen war ich ja auch so empört, als der
Stadtrat beschlossen hat, die S-Bahn hierzubehalten.“
„Aber Konstanze, die
Bahnanbindung ist doch furchtbar praktisch. So kommt man schnell nach
Berlin oder weiter hinaus, außerdem würde unsere Stadt doch bald
aussterben, wenn es nicht die Touristen gäbe.“
„Sie haben ja Recht, lassen
wir das Thema beiseite. Wissen sie was, ich finde es hier im Pavillon
so schön, da können wir auch gleich hierbleiben.“
„Natürlich! Den Wintergarten
kann ich ihnen auch ein anderes Mal zeigen. Setzen sie sich doch!“
Der Graf wies auf eine der vier Bänke, die um den Brunnen herum
aufgestellt waren. Die Klematis, die das ganze Bauwerk bedeckte,
spendete etwas Schutz vor der heißen Sonne. Frau Braunfeld setzte
sich auf eine Bank, der Graf daneben.
Während Frau Braunfeld den
Blick auf das Anwesen genoss, sagte sie beiläufig: „Es ist seit
gestern Nachmittag recht viel bei ihnen los… ich wollte nur fragen,
ob alles in Ordnung ist. Und warum können wir eigentlich nicht in
den Salon? Sie sagten, der ist besetzt?“
„Das sind nur meine
Angestellten. Ich habe das Personal erweitern müssen“, meinte Graf
Maibusch nicht ohne Stolz, „weil ich in drei Tagen Familientreffen
feiere.“
Frau Braunfeld konnte die
Begeisterung des Grafen nicht recht teilen. Sie machte einen
bedrückten Eindruck, bemühte sich aber, dennoch fröhlich zu
wirken.
„Das ist aber schön! So etwas
würde ich wohl nicht mehr übers Herz bringen.“
Jetzt bemerkte der Graf erst,
dass er in ein Fettnäpfchen getreten war. Er entsinnte sich der
Vergangenheit seiner Nachbarin. Einfühlsam sagte er: „Wie taktlos
von mir. Es tut mir so leid! Wie konnte ich nur das mit ihrer Familie
vergessen!“
„Trösten sie sich, vielleicht
gilt es als Entschuldigung, dass die verhängnisvolle Reise
mittlerweile zwei Jahre her ist.“
„Nein, das entschuldigt längst
nicht mein Verhalten. Wenn ich das aber richtig beobachtet habe, seit
ihr Mann und ihre Kinder damals…“ Er rang mit den Worten. „Seit
das damals passiert ist, sind sie ja kaum mehr unter Leute gekommen.
Vielleicht haben sie Lust, zum Familientreffen zu erscheinen? Sie
brauchen auch nicht extra einen Aufwand darum machen. Kommen sie
einfach!“ Aufmunternd legte er den Arm um ihre Schulter. Sie
streifte ihn jedoch ab.
„Nein, das könnte als sehr
unhöflich aufgefasst werden. Ich habe bei ihrem Familientreffen
nichts zu suchen.“
„Nun gehen sie mal nicht so
hart mit sich ins Gericht. Sie brauchen eine Aufmunterung. In drei
Tagen ist es so weit; ich möchte sie dann hier sehen!“
„Ach, Henry, sie waren schon
immer so zuvorkommend. Ich weiß gar nicht, wie ich ihnen danken
soll!“
Graf Maibusch wiegelte ab.
„Das lassen sie mal. Ich freue
mich auf ihre Anwesenheit, da ist es Dank genug, wenn sie kommen.“
Dankbar blickte Konstanze
Braunfeld Graf Maibusch aus dunklen Augen an.
„So soll es sein. Ich werde
kommen.“
Der Graf klopfte ihr auf die
Schulter und stand auf. Er reichte ihr die Hand.
„Es wird alles ganz wunderbar
werden und nichts wird sie mehr an das Unglück erinnern.“ Die
beiden verabschiedeten sich und Frau Braunfeld ging den direkten Weg
zu ihrem Grundstück hinunter. Graf Maibusch ging zurück zur Villa.
Es schien niemand in der Nähe
zu sein; dennoch schloss Frau Schmidt das Badezimmer im oberen
Stockwerk des Hauses ab, um in Ruhe mit ihrem Gast reden zu können.
Herr Fröhlich, der Anwalt, lehnte sich gegen die Wand und blickte
Frau Schmidt neugierig an.
Als Frau Schmidt zugeschlossen
hatte, giftete sie ihn an: „Wie konnten sie nur hier her kommen!“
„Frau Schmidt“, entgegnete
Herr Fröhlich, „das musste sein. Als Anwalt von Graf Maibusch ist
es meine Pflicht, hier zu erscheinen, wenn er rechtliche
Unterstützung braucht.“
„Rechtliche Unterstützung,
wenn ich das schon höre!“ höhnte die Hausfrau. „Gehört
Bestechung etwa auch dazu?“
„Um Himmels Willen, seien sie
ruhig. Es könnte uns jemand hören.“
Frau Schmidt nahm ein Handtuch
und wischte das Waschbecken aus.
„Na und? Warum eigentlich
nicht? Wir stecken beide tief genug in der Sache drin. Warum sollte
ich sie nicht gleich mit in das Verderben ziehen, das sie mir hier
bereiten?“
„Sie scheinen da etwas
missverstanden zu haben.“
Frau Schmidt rastete aus.
„Missverstanden?“ rief sie
und warf das Handtuch mit Schwung in die Ecke. „Sie haben sich
schamlos am Konto des Grafen bedient! Da gibt es keine
Missverständnisse! Gerade nachdem er geerbt hatte. Und sie haben
seinen Schmerz, als er seinen Vater verloren hatte, nur so
ausgenutzt.“
„Ja, aber spielen sie nicht
den Unschuldengel. Sie haben es zwar herausgefunden, doch haben sie
auch versprochen, Stillschweigen zu bewahren. Gegen eine gewisse
Summe natürlich“, fügte er grinsend hinzu. „Und das nennen sie
ehrlich?“
Frau Schmidt starrte den Anwalt
an. Dreist lehnte er da an der Wand, zurechtgemacht wie ein Zuhälter.
Jedenfalls schien es ihr so. Einen dunkelgrünen Pullover hatte er
locker um die Schultern gelegt, sein helles Polohemd darunter rundete
den Gesamteindruck ab. Sie musste sich zusammenreißen.
„Okay, wir haben uns beide
schändlich verhalten. Lassen wir das jetzt!“
„Von mir aus, aber es gibt da
kleine Problemchen.“
Frau Schmidt wurde misstrauisch.
„Problemchen? Was meinen sie?“
„Was glauben sie eigentlich,
warum der Graf dieses Familientreffen inszeniert hat?“
„Vielleicht, weil er seine
Familie mal wieder sehen will?“ Frau Schmidt schüttelte den Kopf
über so wenig Verstand.
„Davon kann gar keine Rede
sein. Er vermutet, dass sein Bruder – sie wissen schon, Friedrich…
jedenfalls befürchtet er, dass Friedrich einen zu großen Teil des
Erbes für sich beschlagnahmt hat. Und um das herauszufinden, will er
die gesamte Familie ein bisschen aushorchen.“
„Die ganze Familie?“ Frau
Schmidt schien unsicher. „Aber nicht seinen Bruder Friedrich. Er
hat ihn leider nicht erreicht.“ Herr Fröhlich dachte aufgrund
dieser Neuigkeit kurz nach, bevor er antwortete.
„Nicht erreicht… nicht
erreicht. Also das ist seine Ausrede… er hat ihn nicht einladen
wollen. Er mag ihn nämlich nicht besonders“, erklärte er.
„Das ist ja interessant.“
„Wie dem auch sei“, fuhr der
Anwalt fort, „jedenfalls habe ich jetzt seinen Bruder verständigt,
Friedrich. Er wird auch kommen.“
„Was!“ Frau Schmidt schlug
sich mit der Hand vor die Stirn. „So blöd kann man doch gar nicht
sein! Jetzt kann man nur noch hoffen, dass nichts passiert.“
„Nennen sie mich nie wieder
blöd!“ fuhr Herr Fröhlich sie an.
„Wie dumm, und das alles haben
wir angezettelt. Vielleicht sollten wir es dem Grafen sagen, damit
alles ein Ende hat?“
„Sind sie noch zu retten?“
Eindringlich ermahnte er Frau Schmidt: „Wir könnten in den Knast
kommen. Glauben sie mir, dazu habe ich keine Lust.“ Mit diesen
Worten holte Herr Fröhlich eine Pistole scheinbar aus dem Nichts
hervor. Frau Schmidt hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund.
„Sie haben zwei Möglichkeiten. Entweder sie schweigen, oder sie
bringen den Grafen zum Schweigen. Aber wenn sie reden, dann kann die
Situation für sie sehr ungemütlich werden“, sagte er drohend,
drückte Frau Schmidt die Pistole in die Hand und schloss die Tür
des Badezimmers auf. „Überlegen sie sich ihre Entscheidung gut!“
Damit verließ er das Badezimmer und ließ eine sehr verwirrte
Hausfrau zurück.
Alle Anwesenden des Hauses
hatten sich im Salon versammelt. Es war am frühen Abend und die
untergehende Sonne schien vom Garten her durch die großen Fenster.
Der Einfachheit halber hatte James Kekse und Gebäck angedeckt und
servierte Tee. Die Gruppe schien offensichtlich noch nicht sehr
aufgetaut zu sein. Jeder hatte eines der Möbel um den großen Tisch
in Beschlag genommen. Es schien, als versuchten alle, möglichst weit
weg voneinander zu sitzen. Nur Frau Schmidt und Graf Maibusch saßen
zusammen auf einem Sofa. Der Graf ergriff das Wort.
„Es wird langsam Abend…
bevor der Tag zu ende geht, sollte ich vielleicht doch noch etwas
bekannt geben.“
Frau Schmidt starrte ihn
erstaunt von der Seite an.
„Wovon sprechen sie? Wenn es
darum geht, dass ich kein Abendessen gemacht habe… Also, sie wissen
genau, dass ich momentan eine ganze Menge anderer Sachen habe. James,
ich hätte auch gern eine Tasse Tee!“ rief sie vorwurfsvoll in
Richtung der Tür, durch die der Butler verschwunden war.
„Ach was, Abendessen. Unsere
Gäste können sich heute auch gut selbst versorgen“, sagte der
Graf und warf einen Blick in die illustre Runde. „Morgen sollte ja
wie geplant das Familientreffen stattfinden, doch es gibt leider ein
paar Umstände, die uns dazu zwingen, das Treffen um zwei Tage zu
verschieben. Ich hoffe, ich finde euer Verständnis.“
Im allgemeinen Schweigen, das
darauf folgte, nutzte James die Gelegenheit, um Frau Schmidt ihren
bestellten Tee zu reichen, und setzte sich dann auf einen Stuhl. Ihm
Gegenüber saß der junge Sunnyboy, Flip, der die unangenehme Pause
zögerlich durchbrach.
„Hmmm… ist das dein Ernst?
Ich meine, müssen wir wirklich noch so lange warten?“
„Es tut mir ja leid, aber es
lässt sich nun mal nicht ändern. Meine Schwägerin liegt im
Krankenhaus und mein Bruder musste schnell zu ihr, und was wäre ein
Familientreffen, wenn nicht einmal mein Bruder da wäre, oder?
Außerdem, zwei Tage sind ja nicht die Welt und James hat bereits
alle benachrichtigt, also gibt es keine Diskussion.“ Entschlossen
nahm Graf Maibusch einen Schluck und musterte die Runde. Die Aussicht
auf zwei weitere Tage schien keinen wirklich zu erheitern, dennoch
versuchten alle, eine nette Miene aufzusetzen.
James beobachtete ebenfalls die
Anwesenden. Verständnisvoll meinte er: „Nun seien sie nicht so
missmutig! Es gibt hier viele Möglichkeiten, die Zeit zu verbringen.
Sie alle könnten sich miteinander bekannt machen. Wenn sie nichts zu
tun haben, können sie in die Stadt fahren. Oder sie unternehmen
einfach mal einen Spaziergang durch den Garten oder den Park.“ Dann
wandte er sich an Graf Maibusch. „Allerdings muss ich sie
korrigieren. Ich habe alle bis auf ihre Nichte und ihre Freundin,
Frau Sauerlich, erreicht. Ich werde es nachher noch einmal versuchen.
Ansonsten stellen sie sich bitte darauf ein, dass die beiden schon
morgen kommen.“
„Das wäre doch gar nicht so
schlimm“, warf Flip ein und streckte sich auf der Chaiselongue aus.
Sein Gesicht hatte sich aufgehellt. „Dann hätte ich etwas Zeit,
mir deine Nichte mal anzusehen“, meinte er zum Grafen. Frau Schmidt
blickte ihn scharf an.
„Herr Flip! Höre ich da etwa
ein gewisses Interesse aus ihrer Stimme?“
„Nun ja…“
„Seien sie doch nicht so
direkt, Frau Schmidt“, fuhr der Graf sie von der Seite an.
„Jaja, schon klar“,
schnarrte diese zurück. James, der die Szene beobachtete, musste
schmunzeln. Der Graf und seine Hausfrau, die waren schon ein
verrücktes Paar.
Herr Hansen, der sich bisher
merklich zurückgehalten hatte und nur ein paar Male an der Tasse mit
dem heißen Tee genippt hatte, meldete sich zu Wort.
„Das heißt dann, dass ich
noch etwas länger hier bleiben werde?“
„Natürlich! Wenn es ihnen
nichts ausmacht, meine ich.“
„Warum sollte es“, meinte
der alte Gärtner strahlend. „Ihr Garten braucht viel Pflege, je
mehr Zeit bis zur Feier bleibt, umso besser.“
Frau Schmidt schaute durch die
großen Fenster hinaus in den Garten, der von der Abendsonne in
wunderschönes Licht getaucht wurde.
„Ich muss ja sagen, sie haben
schon eine ganze Menge geschafft.“ Tatsächlich waren sämtliche
Beete umgegraben und neue Blumen eingesetzt, die Büsche
zurückgeschnitten und das Unkraut entfernt worden. Herr Hansen
wiegelte dennoch ab.
„Das scheint nur so. Ich habe
den Teil erledigt, der man gemeinhin Vorarbeit nennt. Morgen geht es
dann richtig los.“
Herr Flip flüsterte zu Herrn
Fröhlich, der zu seiner Rechten in einem Ohrensessel saß.
„Was man gemeinhin Vorarbeit
nennt – hält der sich für was Besseres?“
„Nun, er ist immerhin
Fachmann“, antwortete der Anwalt. „Er kann so etwas behaupten,
ohne gleich als Angeber abgestempelt zu werden.“
„Finde ich nicht. Ich kann ihn
jedenfalls nicht leiden“, zischte Herr Flip.
„Sie haben doch kaum mit ihm
gesprochen. Sie als junger Hüpfer sollten ein wenig mehr Respekt vor
dem Alter zeigen.“
Mittlerweile war auch der Graf
auf die Unterhaltung der beiden aufmerksam geworden.
„Gibt es was Wichtiges, Herr
Fröhlich?“
Der Anwalt meinte ausweichend:
„Nein, nichts. Ich habe Herrn Flip nur von der Arbeit in meiner
Kanzlei erzählt.“
„Unwichtig.“ Der Graf machte
eine wegwerfende Handbewegung. „Die Feier steht im Vordergrund. Ich
werde mich jetzt zurückziehen.“
Graf Maibusch stand auf und
verließ bedeutsam den Salon.
Alle schauten hinterher. Nur
Frau Schmidt ereiferte sich sofort: „Wissen sie, ich habe ja
eigentlich nichts gegen den Grafen, aber die Art, wie er immer im
Mittelpunkt stehen will, macht mich eines Tages noch verrückt. Diese
aufgeblasene Seite kann ich nicht ausstehen!“
James stand auf und blickte zur
Flurtür.
„Frau Schmidt! Beruhigen sie
sich, der Graf könnte sie hören“, sagte er leise und begann dann,
den Tisch abzuräumen. Frau Schmidt schaute trotzig aus dem Fenster.
„Soll er doch. Dann weiß es
wenigstens, was ich manchmal von ihm halte.“
Herr Fröhlich sprach aus, was
alle dachten: „Tja, die Stimmung ist nicht gerade rosig. Wollen wir
hoffen, dass es morgen besser wird.“ Er stand auf und setzte sich
an den Flügel, der in einer Ecke des Raumes stand. Er begann, Blues
zu spielen, während Frau Schmidt noch immer schmollte. Herr Flip
nickte auf der Couch ein und Herr Hansen nahm sich eine der
Zeitschriften, die in einem Korb unter dem Tisch standen. James besaß
schließlich soviel Taktgefühl, dass er Herrn Flip weckte und ihm
riet, auf sein Zimmer zu gehen. Nach kurzer Zeit verschwanden die
anderen ebenfalls einer nach dem anderen, um sich zur Nachtruhe zu
begeben.
Am nächsten Morgen blieb alles
ruhig auf Gut Trontstein. Gegen neun Uhr waren die einzigen Personen,
die bereits aufgestanden waren, Herr Flip und Herr Hansen. Ein
Großteil des hinteren Gartens lag noch im Schatten. Diese Zeit
wollte Herr Hansen ausnutzen, bevor die Sonne ihn unbarmherzig zum
Kreislaufkollaps führen würde. Er hatte sich mit Handschuhen, Eimer
und Schaufel und einem Karton Setzlingen bewaffnet und machte sich
daran, den Teil südlich des Pavillons zu bepflanzen. Dabei dachte er
viel über das nach, was er am Vortag gehört hatte und versuchte,
das Bild der Anwesenden gerade zu rücken. So in Gedanken versunken
bemerkte er nicht, wie Herr Flip lässig den Pfad vom Haus zum
Pavillon entlang geschlendert kam. Dort angekommen ging er zum
knienden Gärtner hinüber.
„Guten Morgen, Herr Hansen.
Heute sollte das Familientreffen sein“, sagte er verächtlich und
ließ den Blick über den Garten schweifen. „Sehr weit sind sie mit
ihrer Arbeit ja noch nicht.“
Herr Hansen bemühte sich, ruhig
zu bleiben. Sein Blutdruck war sowieso schon zu hoch, da musste er
sich nicht von so einem Grünschnabel verrückt machen lassen.
„Das Familientreffen ist
verschoben worden“, erklärte er gelassen, „sie haben es selbst
mitbekommen. Ich habe also noch genug Zeit.“
„Jetzt schon, aber im
Ernstfall sähe der Garten aus wie eine Müllhalde.“
„Sie haben leider Unrecht,
Herr Flip. Ich wusste früh genug, dass das Familientreffen
verschoben wird, so dass eine Intensivpflege von kurzer Dauer nicht
mehr nötig war.“ Herr Hansen legte die Schaufel beiseite und stand
auf. Dabei klopfte er sich die Erde von der Hose. Er blickte zuerst
Herrn Flip an und schaute dann über den garten zum Park hin.
„Stattdessen nehme ich mir jetzt die Zeit und werde diesen ehemals
schönen Garten ordentlich auskurieren.“
Sein Gegenüber verdrehte die
Augen gen Himmel.
„Ordentlich auskurieren… wie
sie sich ausdrücken! Haben sie sich eigentlich mal den Vorplatz
angeschaut? Die Büsche dort müssen dringend gestutzt werden, der
rasen muss gemäht werden. Das schafft doch jeder. Und sie erzählen
mir hier etwas von ordentlich auskurieren. Als ob sie ein Arzt
wären!“
„Bin ich aber nicht“,
entgegnete der Gärtner. „Warum sind sie überhaupt so
unfreundlich?“
Der Sunnyboy stemmte die Hände
in die Hüften und konterte: „Unfreundlich? Ich? Sie haben da wohl
etwas nicht richtig verstanden. Ich verhalte mich nicht unfreundlich,
sondern meinem Gesprächspartner angemessen.“ Er funkelte Herrn
Hansen an.
Der wiederum zeigte sich empört.
„Jetzt werden sie nicht frech,
junger Mann!“
„Ich will ihnen mal was
sagen“, zischte Herr Flip leise und kam einen Schritt auf Herrn
Hansen zu, als würden sie belauscht. „Ich glaube, dass sie nicht
derjenige sind, für den der Graf sie hält. Sie sind mir schon
gestern Abend so seltsam aufgefallen, als wären sie hier zu Hause!
Ich rate ihnen, den Grafen in Ruhe zu lassen, sonst bekommen sie es
mit mir zu tun.“
Nun wurde Herr Hansen böse. Er
zog das Messer aus seinem Gürtel und hielt es Herrn Flip drohend
entgegen. Er erhob seine Stimme und sagte laut: „Jetzt hören sie
mir mal zu!“
Herr Flip wich sofort einen
Schritt zurück, den Herr Hansen aber gleich wieder aufholte. Durch
die laute Stimme aufmerksam geworden, schlich eine Dame mittleren
Alters sich vom See aus an. Herr Hansen bemerkte sie nicht, da er zum
Pavillon gewandt und damit mit dem Rücken zum See stand. Er wurde
sich aber bewusst, dass er zu laut gesprochen hatte, und fuhr etwas
leiser fort.
„Es interessiert mich nicht,
was sie glauben und was nicht. Graf Maibusch hat mich hier als
Gärtner engagiert und diesen Job werde ich auch allen Erwartungen
entsprechend erfüllen. Sie sind doch nur ein…“ Er zögerte und
musterte Herrn Flip mitleidig lächelnd von oben bis unten.
„…Versicherungsvertreter. Ich dulde es nicht, dass mich ein
Emporkömmling wie sie dabei behindert.“
„Ich bin Leiter einer
Versicherungsagentur, sie alter Tattergreis!“ wehrte Flip sich.
Herrn Hansen schien das nicht zu
kümmern. Er fuchtelte mit dem Messer und sagte: „Sie verschwinden
jetzt besser aus dem Garten!“ Die Dame vom See war inzwischen näher
gekommen. Sie sah, dass Herr Hansen ein Messer in der Hand hatte und
nahm behutsam eine der Vasen, die am Wegrand standen, auf. Sie konnte
gut verstehen, was der Gärtner nun sagte: „Ein letztes Mal warne
ich sie: Mischen sie sich nicht in meine Geschäfte ein, sonst ergeht
es ihnen schlecht!“
„Nichts da!“ rief die Frau
und zog dem alten Mann die Vase über den Kopf. Sie zerbrach in
unzählige Scherben. Der kleine Mann fiel offensichtlich bewusstlos
zu Boden. Herr Flip starrte erschrocken zuerst auf den
zusammengekrümmten Körper zu seinen Füßen. Dann blickte er noch
erschrockener die Dame gegenüber an. Ihre Reaktion überraschte ihn
am meisten.
Sie blickte abwertend auf die
ganze Szene, dann zum Anwesen hinüber. Sie rückte den
unübersehbaren Federschmuck, den sie auf dem Kopf trug, zurecht und
zupfte dann hier und da an ihrem dunkelblauen Kleid herum. Um ihren
Hals hingen mindestens vier verschiedene Ketten und sehr teure Ringe
zierten ihre Finger. Soweit es möglich war, klopfte sie ihre Hände
ab.
„Ist doch immer wieder schön,
hier nett empfangen zu werden“, sagte sie verächtlich.
Herr Flip war noch immer
erschrocken und rief: „Wer sind sie? Und warum haben sie diesen
Mann niedergeschlagen?“
„Nun seien sie mal nicht so
ein kleines Kind. Der wird schon wieder, ist doch nur eine Beule. Die
Vase war dünn wie Papier. Er braucht nur eine kleine Pause“, sagte
die Frau taktlos. Sie fügte majestätisch hinzu: „Ich bin
Josephine Sauerlich, aber sie dürfen mich „Frau“ Sauerlich
nennen.“
„Sie sind das also!“ Flip
gab sich überrascht. „Frau Sauerlich, die Freundin des Grafen. Ich
habe mich gewundert, wie sie wohl aussehen würden.“
„Ihr Gerede ist mir
unverständlich. Natürlich bin ich es und ich sehe immer so aus.
Jeder kennt mich, Henry erzählt ja immer Geschichten von mir“,
ergänzte sie bescheiden.
„Da muss mir was entgangen
sein, mir hat er nie von ihnen erzählt.“ Herr Flip hatte sich von
dem Schock erholt und gewann seine Burschikosität zurück
„Das kann doch nicht sein!
Ach, ich glaube, ich bin schwerhörig, aber könnten sie mir
vielleicht noch einmal ihren Namen sagen?“
„Flip.“
Frau Sauerlich lachte laut auf,
was aufgrund ihres Bestrebens, würdig zu erscheinen, ziemlich
lächerlich wirkte.
„Flip? Flip??? Einfach nur
Flip? Was soll das denn für ein Name sein, da hat wohl jemand bei
der Auswahl zu tief ins Glas geschaut. Das habe ich ja noch nie
gehört!“
„Immerhin habe ich keinen
unschuldigen Menschen niedergeschlagen“, versuchte Herr Flip, sich
zu verteidigen.
„Aber er hat sie doch
bedroht?“
„Nein, nein. Er war nur etwas
erhitzt, weil ich nicht gerade sehr freundlich zu ihm war.“
„Egal, nun haben wir den
Schlamassel. Doch gehen wir ins Haus, da wird uns schon einfallen,
was zu tun ist“, meinte sie und ging, ohne sich weiter darum zu
kümmern, Richtung Anwesen. Beim Pavillon drehte sie sich noch einmal
um und rief: „Und vergessen sie diesen Mann da nicht!“ Sie
deutete auf Herrn Hansen, der ohnmächtig am Boden lag.
Flip schaute kopfschüttelnd
hinterher. Was für eine seltsame Frau, dachte er und bemühte sich,
den Gärtner ins Haus zu schaffen.
Das Arbeitszimmer des Grafen lag
im ersten Stock des Hauses im südlichen Korridor. Herr Fröhlich
befand sich dort und suchte in einem Regal diverse Aktenordner durch.
Nachdem er einen Ordner herausgenommen hatte, kam James zur Tür
herein, mit dem Staubwedel bewaffnet.
„Guten Tag, Herr Fröhlich.
Ich hatte gestern gar nicht bemerkt, wie sie angekommen sind.“ Der
Butler begann, die Regale abzustauben.
„Natürlich nicht. Ich mache
nicht so viel Aufhebens um meine Person.“
„Wann sind sie denn
angekommen?“
Der Anwalt setzte sich an einen
Schreibtisch und schlug den Ordner auf. Während er in den Akten
blätterte, meinte er beiläufig: „Am späten Nachmittag. Frau
Schmidt hat mich empfangen.“
„Gut zu wissen“, sagte James
und sammelte eine vertrocknete Spinne vom Boden auf, die aus dem
Regal gefallen war. Nachdem er das Tier in den Mülleimer befördert
hatte, setzte er sich auf einen anderen Stuhl und wandte sich Herrn
Fröhlich zu.
„Also, ich bin ja neu hier und
würde mich gerne ein wenig mit den Menschen vertraut machen.
Erzählen sie mir doch etwas über sich!“
„Ich weiß zwar nicht, was sie
das angeht“, sagte Herr Fröhlich, „aber wahrscheinlich hat Henry
sie auf mich angesetzt. Davon ganz abgesehen sind sie mir
sympathisch. Nicht so ein Schleimer wie gewisse andere Personen hier.
Sind alle nur hinter seinem Geld her… Wie sie mittlerweile wissen
dürften, bin ich Graf Maibuschs Anwalt. Ich habe meine eigene
Kanzlei in der Stadt.“ Er zögerte und blickte James fragend an,
der etwas nachdenklich aussah.
„Aber, wenn sie eine eigene
Kanzlei haben, noch dazu in der Großstadt“, wandte er vorsichtig
ein, „wie können sie es sich dann erlauben, einfach so für ein
paar Tage zu verschwinden?“
„Sehen sie, äh…“
„Nennen sie mich James.“
„Gut.“ Der Anwalt setzte zu
einer Erklärung an. „Also, James, das stellt in der Tat ein
Problem dar. Ich habe ein hohes Ansehen als Anwalt und hatte gerade
den Fall einer Stammkundin, wenn ich das so sagen darf, zu behandeln.
Die Dame bildet sich immer irgendwelche Kleinigkeiten ein, aber
schließlich muss ich auch solche Fälle übernehmen. Das bleibt aber
unter uns!“ ermahnte er den Butler.
James nickte verständnisvoll.
„Jedenfalls hatte sie dieses
Mal eine ernste Angelegenheit. Und dann habe ich diesen Termin, das
Familientreffen, in meinem Kalender gesehen. Das stand ja schon lange
fest, also musste ich den Fall meiner Klientin vernachlässigen.“
„Und die war darüber bestimmt
nicht erfreut?“
„Das ist noch milde
ausgedrückt. Sie drohte mir, sie würde meinen Ruf ruinieren. Aus
Rache, sie verstehen?“
„Schon klar.“
„Und ich werde Graf Maibusch
dafür zur Verantwortung ziehen, wenn dieses Familientreffen
erfolglos bleibt.“
Mit einem Mal wurde der Butler
hellhörig.
„Erfolglos? Was meinen sie
denn damit?“
„Habe ich erfolglos gesagt? Da
habe ich mich wohl versprochen, ich meinte: Wenn das Familientreffen
ausfällt“, meinte Herr Fröhlich peinlich berührt. James war
jedoch von dem Versprecher nicht überzeugt.
„Das hörte sich aber anders
an. Aber das geht mich ja nichts an“, lenkte er ein. „Ich möchte
ihnen nur einen Rat geben: Sollte etwas nicht nach ihren Wünschen
laufen, dann bleiben sie ruhig. Sie sehen etwas gereizt aus.“
„Da könnten sie recht haben.“
Der Anwalt klappte den Ordner zu und stellte ihn ins Regal zurück.
„Ich brauche wirklich etwas Ruhe.“ Dann verließ er den Raum.
James ging hinterher. Draußen
auf dem Flur blickte er sich um; Herr Fröhlich war verschwunden. Was
soll´s, dachte er. Dieser Staubwedel muss wieder weg. Er ging zur
Haupttreppe und nach unten in die Küche. Dort traf er auf Frau
Sauerlich, die am Tisch saß, den Kopf über die Tageszeitung
gebeugt. Herr Hansen, der Gärtner, lag noch immer ohnmächtig auf
der Bank.
James erschrak bei diesem
Anblick.
„Was ist denn hier los!“ Es
war ungewöhnlich, den Butler derart außer Fassung zu sehen.
Schwungvoll, so es ihre Gewänder erlaubten, stand Frau Sauerlich auf
und drehte sich um.
„Sie begrüßen mich ja auch
so freundlich“, keifte sie. „Scheinbar bin ich hier nicht
erwünscht. Ich bin Josephine Sauerlich. Welchen Namen gab man
ihnen?“ fragte sie unwirsch.
„James. Ich bin der Butler.“
Er hatte seine Fassung wiedererlangt und bemühte sich um ein
möglichst hochnäsiges Gesicht.
„Du meine Güte! Hat mein
Henry sich jetzt auch noch einen Butler zugelegt. Ich glaube, ich
sollte hier einziehen. Aber zuerst muss dieser Herr“, sie deutete
auf den Gärtner, „wieder aufwachen.“
„Das ist Herr Hansen“,
stellte James kühl fest. „Was haben sie mit ihm gemacht?“
„Wenn sie es so genau wissen
wollen: Er wurde niedergeschlagen. Er hat einen anderen Herrn im
Garten bedroht, diesen Schönling mit dem komischen Namen.“
„Herr Flip? Aber warum sollte
Herr Hansen Herrn Flip bedrohen?“
„Woher soll ich das wissen?
Ich bin gerade erst hier angekommen. Ich…“ Aus einem
unerfindlichen Grund taumelte Frau Sauerlich plötzlich einen Schritt
nach vorne. Sie sank auf ihren Stuhl zurück und stützte ihren Kopf
mit beiden Händen. James beugte sich besorgt über sie.
„Frau Sauerlich! Ist alles in
Ordnung mit ihnen?“
„Ja, das geht gleich vorüber.“
In diesem Moment betrat Graf
Maibusch die Küche. Sein Blick fiel zuerst auf seine langjährige
Freundin. Erfreut rief er: „Hallo! Da bist du ja!“ Er wollte sich
auf sie stürzen, doch James hielt ihn davon ab.
„Einen Moment nur, sie hat
einen Schwindelanfall oder so.“
Frau Sauerlich warf den Kopf
zurück und atmete tief durch.
„Es geht wieder. Das kommt
manchmal vor, machen sie sich keine Sorgen.“ Dann fiel ihr Blick
auf den Grafen. „Henry!“
„Na endlich. Ich dachte schon,
du würdest mich gar nicht mehr erkennen“, frotzelte er.
„Ich bin ja so froh, dich
wiederzusehen. Endlich mal ein normaler Mensch hier. Du musst wissen,
ich bin hier nicht sehr nett empfangen worden. Es scheint mir, als ob
mich alle wieder loswerden möchten! Aber ich bleibe doch zur Feier.
Sag schon, wann kommen die Gäste?“
„Es gibt eine kleine
Komplikation, nicht weiter schlimm. James hat versucht, dich gestern
noch zu erreichen.“
„Leider waren sie nicht zu
Hause“, fügte der Butler hinzu. Er hatte sich mittlerweile auf die
Bank gesetzt. Auf der anderen Bank lag Herr Hansen, vom Grafen noch
unbemerkt. Dieser hatte sich Frau Sauerlich gegenüber auf einen
Stuhl gesetzt und erklärte ihr nun die Sachlage.
„Das Treffen wird um zwei Tage
verschoben.“
„Aber das macht doch gar
nichts. Solange ich die Zeit über hier wohnen darf?“
„Natürlich. Das bin ich dir
schuldig.“
James wagte einen kleinen
Einwand: „Nur bitte schlagen sie niemanden mehr nieder.“ Es war
nicht eindeutig, ob er scherzte oder es ernst meinte.
„Wie bitte?“ Graf Maibusch
stutzte. Dann endlich sah er Herrn Hansen auf der Bank liegen.
„Himmel! Was ist denn passiert?“
In Anbetracht der unangenehmen
Situation hielt James es für taktvoller, sich zurückzuziehen.
Unauffällig verschwand er aus der Küche.
„Ich habe Herrn Flip
beschützt“, rechtfertigte Frau Sauerlich sich. „Er wurde
bedroht. Wie auch immer, es ist ja nicht so schlimm. Herr Hansen wird
schon wieder aufwachen.“
„Ich will darüber
hinwegsehen, aber er wird dann ziemlich sauer auf dich sein.“
„Wieso? Er hat mich nicht
erkannt, und du wirst es ihm doch sicherlich nicht erzählen, oder?
Wir sagen einfach, es sein ein Dachziegel heruntergefallen.“
Graf Maibusch streckte die Hände
von sich.
„Das kannst du nicht von mir
verlangen. Ich muss ihm die Wahrheit sagen.“
„Das solltest du nicht tun.
Ich bin schließlich deine Freundin. Ich wäre sonst sehr enttäuscht
von dir.“ Abrupt stand sie auf und verließ die Küche. Graf
Maibusch blickte auf Herrn Hansen, der noch immer grabesstill auf der
Bank lag.
„Und was soll ich dann
machen?“ fragte er in die Stille.
Das Fenster vom Kinderzimmer in
den Garten stand weit offen. Ein zarter Windstoß hatte einen Stapel
Blätter vom Schreibtisch geweht. Herr Flip, der leichtsinnigerweise
die Tür zum Garten als auch die zum Haus hatte offen stehen lassen,
mühte sich damit ab, die Papiere einzusammeln. Unbemerkt von ihm
trat Herr Hansen leicht schwankend in das Zimmer. Er hatte sich noch
nicht vollständig von seiner Ohnmacht erholt.
„Herr Flip! Sie habe ich hier
gar nicht erwartet“, sagte er mit überraschter Stimme. Herr Flip
stand erschrocken auf und wich ein paar Schritte vom Gärtner zurück.
„Mit ihnen habe ich auch nicht
gerechnet, das können sie mir glauben. Sie sind ja schon wieder
munter“, setzte der junge Mann hinzu.
„Wollen sie mir das etwa übel
nehmen?“ fragte der Gärtner gekränkt. „Ach nein“, ergänzte
er dann bissig, „sie wollten mich ja für eine längere Zeit aus
dem Weg haben. Deswegen haben sie mich wohl niedergeschlagen, oder?“
Entrüstet trat Flip wieder
näher an Herrn Hansen heran.
„Was sagen sie da? Ich hätte
sie niedergeschlagen? Sie sind wirklich seltsam. Sie haben mich
schließlich mit ihrem Messer bedroht!“
„Ist das ein Grund, mir eins
über den Schädel zu braten? Was habe ich ihnen denn getan?“
„Eigentlich nichts, aber mit
dem Messer hätten sie eine Menge anrichten können. Außerdem war
ich es gar nicht, der sie niedergeschlagen hat.“ Herr Flip grinste
überlegen. Das verunsicherte den kleinen alten Mann, doch versuchte
er, hart zu bleiben.
„Ach nein? Wer war es dann,
hä? Außer ihnen war doch keiner im Garten!“
„Es war unser neuer Gast, Frau
Sauerlich.“
„Und das soll ich ihnen
glauben?“
Herr Flip zuckte mit den
Schultern und sagte: „Sie müssen ja nicht. Aber sagen sie
niemandem, dass ich ihnen das erzählt habe. Man würde das bestimmt
nicht gutheißen.“
„Weshalb sollte ich ihnen
diesen gefallen tun?“
„Tun sie es besser, sonst
werde ich dem Grafen stecken, was sie außer ihrer Gartenarbeit noch
so unternehmen.“
„Wenn sie auf die
Messergeschichte anspielen – so, wie sie mir an den Karren gefahren
sind, war das doch wohl verständlich.“
„Das ist ihre Auslegung der
Dinge. Sie kamen mir etwas seltsam vor. Ich bin mir noch immer nicht
sicher, ob ich ihnen einfach so glauben kann. Aber es scheint, als
bliebe mir keine andere Wahl.“
„So sieht es aus. Was denken
sie denn, was ich kleiner armer Mann anrichten sollte? Glauben sie,
ich arbeite für den Geheimdienst oder fürs KGB? Lachhaft! Was diese
Angelegenheit betrifft, haben wir jeder etwas gegen den anderen in
der hand. Wir sollten also einfach weiterleben, als wäre nichts
passiert.“ Herr Hansen senkte seine Stimme. Trotz seines harmlosen
Aussehens wirkte er auf den smarten Sunnyboy ziemlich gefährlich,
als er drohte: „Sollte es dennoch passieren, dass jemandem ein Wort
herausrutscht, kann das schlimme Folgen haben!“
Dann setzte der Gärtner wieder
ein harmloses Gesicht auf, blickte verächtlich auf den
Blätterstapel, den Herr Flip bereits angehäuft hatte und verließ
das Zimmer. Dem jungen Mann fehlten die Worte. Schweigend suchte er
weiter nach den Papieren und versuchte, das Bild des Gärtners zu
vergessen.
Kapitel
3
Nur
ein wenig später, immer noch am Vormittag, klingelte es wieder an
der Haustür. James ging sofort seiner Pflicht nach und öffnete.
Etwas verwundert betrachtete er die Besucherin. Es war eine junge
Frau, die noch schnell eine Zigarette austrat und sich direkt
vorstellte.
„Guten Morgen! Ich bin Maria
Mahler, die Nichte von Graf Maibusch. Ich bin zum Familientreffen
hier.“
James blinzelte. Illustre
Mischung, die sich der Graf hat kommen lassen. Einen Anwalt, einen
alten Gärtner, einen jungen Gigolo, eine pompöse Freundin und jetzt
das: Fräulein Maria hatte volles, dunkelbraunes Haar, das sie zu
einer wilden Frisur aufgesteckt hatte. Dazu trug sie ein kirschrotes
Kleid, mindestens so grell wie ihre stark nachgezogenen Lippen. Die
Augen waren ebenfalls auffällig geschminkt. Sie trug, passend zum
ganzen Outfit, rote Lackschuhe. Provozierend hatte sie die Arme vor
der Brust verschränkt.
James ließ sich nicht anmerken,
was er von der Erscheinung hielt, die ihn da anstarrte. Höflich
meinte er: „Fräulein Maria! Schön, sie hier zu sehen. Der Graf
hat mir schon so viel von ihnen erzählt! Ich bin James, der Butler.
Bitte kommen sie herein!“
Fräulein Maria trat in die
Eingangshalle und blickte erstaunt die beinahe leere Garderobe an.
Dann spähte sie in die Flure, konnte aber niemanden entdecken. Auch
war es erstaunlich still im ganzen Haus.
„Es ist ja noch gar keiner
da“, bemerkte sie verwundert.
James versuchte, zu vermitteln.
„Das Familientreffen ist
verschoben worden. Ich habe noch versucht, sie telefonisch zu
erreichen, aber es war niemand da. Das Familientreffen wird
übermorgen stattfinden. So lange werden sie hier wohnen und sich ein
wenig mit den anderen Gästen des Hauses anfreunden müssen.“
„Ach, wissen sie, das macht
mir gar nichts aus. Ich freue mich, mal wieder unter Leute zu kommen.
Die paar Tage werde ich ja wohl überstehen. Wer sind denn die
anderen Gäste?“
„Also, an Frau Schmidt werden
sie sich wohl noch erinnern.“
„Die Hausfrau ist immer noch
da?“ Es hatte einen etwas abwertenden Unterton, der auch Frau
Schmidt nicht entging, die gerade aus dem Flur in die Halle kam.
„Fräulein Maria, vorlaut wie
eh und je“, begrüßte sie die junge Frau. „Ja, ich bin immer
noch hier. Gefällt ihnen das nicht?“
„Hallo, Frau Schmidt“,
stammelte Maria.
„Sie sollten besser in den
Salon gehen, um sich zu unterhalten. Hier kann sie jeder, der
vorbeikommt, hören.“
Die Gruppe ging zum Salon. Auf
dem Weg dorthin meinte Fräulein Maria entschuldigend zur Hausfrau:
„Ich habe es doch nicht so gemeint. Ich freue mich, dass sie es
hier so schön finden, dass sie noch länger geblieben sind: Damals
wusste ja niemand, ob sie Gut Trontstein verlassen würden.“
„Nun, meine Liebe, ich bin
geblieben.“
Die drei betraten den Salon und
setzten sich. Bis auf James, der sofort etwas Gebäck holen wollte.
Frau Schmidt hielt ihn davon ab.
„Lassen sie das. Setzen sie
sich lieber hier hin. Sie wollten der jungen Dame doch gerade etwas
erzählen?“
„Ja. Ich erzählte gerade von
den Gästen. Wenn ich dann noch Herrn Hansen, den Gärtner, Frau
Sauerlich, die Freundin des Grafen, Herrn Flip, seinen Erben…“
„Und ein unverschämter
Bengel“, warf Frau Schmidt ein. James bedachte sie mit einem
hochnäsigen, strafenden Blick.
„Danke. Zuletzt ist da noch
der Anwalt. Sie alle werden bis übermorgen hier wohnen.“
Maria dachte kurz nach und sagte
entschlossen: „Es ist wohl nützlich, wenn ich sie alle im Laufe
der Tage ein wenig besser kennen lerne.“
„Ein wahres Wort, Fräulein
Maria.“ Dann wandte die Hausfrau sich an den Butler. „Schämen
sie sich denn nicht“, herrschte sie ihn vorwurfsvoll an, „das
arme Mädchen so zu überrumpeln? Sie hat doch noch nicht einmal ihre
Sachen ausgepackt.“
Maria meldete sich zu Wort.
„Welche Sachen? Ich bin mit
der S-Bahn gekommen, und der Bahnhof liegt ein Stück weit von hier
entfernt. Da wäre es mir doch zu schwer gewesen, all so´n Zeug zu
schleppen. Außerdem habe ich ja nicht geahnt, dass ich meine Sache
brauchen würde.“
„Aber das ist kein Problem“,
meinte James und musterte sie. „Wir finden bestimmt noch was für
sie zum Anziehen.“
Frau Schmidt kicherte hämisch.
„Was denn? Die verstaubten
Sachen des Grafen werden einer jungen Dame wohl nicht recht
gefallen.“
„Das versteht sich von selbst.
Sie werden sich etwas konservativer mit den Gewändern von Graf
Maibuschs verstorbener Mutter kleiden“, beschloss der Butler und
nickte zufrieden. Endlich hatte er die Gelegenheit, diesem
jugendlichen Auftritt etwas Würde zu verleihen. Süffisant überging
er die entsetzten Mienen seiner Gesprächspartner.
„Das wollen sie mir doch nicht
ernsthaft zumuten, oder? Ich fahre gleich zurück, um meine Sachen zu
packen. Das dauert ja nicht lange.“
„Das ist wohl die beste Idee“,
meinte Frau Schmidt zustimmend. James zuckte mit den Schultern, eine
Geste, die für einen Butler seines Ranges äußerst unangemessen
war. Doch auch er war nur Mensch und konnte den modischen Geschmack
der Jugend nicht nachvollziehen.
„Wenn sie es so für richtig
halten“, brummte er.
„Und ob. Bis später!“ rief
Maria, stand auf und machte auf dem Absatz kehrt. Schon war sie aus
dem Salon verschwunden.
„Ein schwungvolles junges
Mädchen“, kommentierte James ihren Abgang. „Sie wird ein wenig
Leben hier hereinbringen.“ Ungeachtet dessen, ob es angemessen ist
oder nicht, fügte er im Geiste hinzu.
Frau Schmidt setzte eine
rechthaberische Miene auf.
„Hatte ich es ihnen nicht
gesagt? Aber legen sie sich nicht mit ihr an. Sie hat das gewisse
Etwas, das einen sofort in Verlegenheit bringen kann.“ Sie funkelte
ihn rätselhaft an und ging in Richtung Küche davon.
James stand auf und rief
hinterher: „Wie meinen sie das? Frau Schmidt! Was wollen sie damit
sagen?“ Keine Antwort.
Graf Maibusch saß mit seinem
Anwalt im Wintergarten. Auf einem Tisch standen zwei Gläser und
verschiedene Getränke, die der Graf schnell noch aus einer Minibar
geholt hatte. Zwar mag eine Minibar in einem Wintergarten einen
merkwürdigen Eindruck machen, doch ließ auch die übrige
Einrichtung keinen Zweifel daran, dass dies kein gewöhnlicher
Wintergarten war. An mehreren Bändern waren quer durch den Raum
japanische Laternen aufgehängt und diverse Wandbehänge, teils aus
Seide, teils aus Kaschmir schmückten die Seiten des Raumes, die
nicht komplett verglast waren. Viele Blumen und Grünpflanzen standen
auf dem Boden, auf Fensterbänken oder hingen von der Decke. Mehrere
Mobiles hingen von der Decke und ein Windspiel baumelte an der Tür.
Ein sehr kostbarer Läufer zierte den Fußboden. Tagsüber machte der
Wintergarten einen sehr hellen, aber auch kalten Eindruck, da all die
Kostbarkeiten ihre Wirkung nicht voll entfalten konnten.
Dafür hatten die beiden
Gesprächspartner jedoch keinen Blick. Es gab Wichtigeres zu
besprechen.
„Ich hoffe, die Verschiebung
hat keine Auswirkungen auf unseren Plan“, fragte Graf Maibusch.
Herr Fröhlich schüttelte beruhigend den Kopf.
„Die Hauptsache ist, dass ihr
Bruder Leonard kommt. Dafür war eine Verschiebung erforderlich. Das
ist aber nicht weiter schlimm.“
„Da bin ich beruhigt. Ich
hatte für eine kurze Zeit mein Vorhaben schon scheitern gesehen.“
Der Graf nahm einen Schluck aus seinem Glas. „Sagen sie, haben sie
auch die Scherben auf dem Weg beim Pavillon gesehen? Richtung See
hinaus?“
„Jetzt, wo sie es erwähnen…
ich habe nicht weiter darauf geachtet, weil sie nicht auf meinem Weg
lagen, aber es schien Porzellan gewesen zu sein.“
„Da liegen sie richtig. Die
Scherben sind von einer Vase. Zum Glück war sie nicht besonders
wertvoll. Aber wieso liegen jetzt die Scherben auf dem Weg?
Irgendjemand muss sie fallengelassen haben.“
Herr Fröhlich wiegte
nachdenklich den Kopf hin und her.
„Vielleicht hat sie auch
jemand absichtlich heruntergeworfen. Ich meine, vor einiger Zeit
einen Streit hier gehört zu haben. Und dann hörte ich das Krachen
der Vase.“
„Also gab es einen Kampf?“
fragte Graf Maibusch nach. Dann überlegte auch er. Plötzlich kam
der Geistsblitz. „Natürlich! Warum ist mir das nicht gleich
eingefallen! Konnten sie hören, wer beim Streit anwesend war?“
„Also, da war eine unbekannte
Frauenstimme; die Stimme vom Gärtner war deutlich zu erkennen. Und
ein Mann war da noch. Könnte ihr Erbe, dieser Flip gewesen sein, mit
dem habe ich mich ja gestern unterhalten.“
„So muss es gewesen sein. Die
Frauenstimme, die sie gehört haben, war von Frau Sauerlich. Sie hat
mit der Vase Herrn Hansen niedergeschlagen. Er muss Herrn Flip
bedroht haben.“
Herr Fröhlich trank aus seinem
Glas und winkte dann ab.
„Das ist aber eine ziemlich
mutige Behauptung. Wie können sie sich da so sicher sein?“
„Frau Sauerlich hat es mir
selbst erzählt – indirekt zumindest.“
„Frau Sauerlich…“ Der
Anwalt dachte kurz nach. „Das ist doch ihre Freundin, oder?“
„Genau“, bestätigte der
Graf. „Sie ist heute hier angekommen. Und es wird noch jemand heute
eintrudeln.“
„Ja? Das ist mir ja völlig
neu.“
„Haben sie mir etwa gestern
Abend nicht zugehört, Herr Fröhlich?“
„Ich muss in dem Moment gerade
abgelenkt gewesen sein. Aber lassen wir das. Wer ist es denn?“
„Also, wenn sie mir nicht
zuhören, sehe ich mich nicht gezwungen, ihnen alles zweimal zu
erklären. Lassen sie sich einfach überraschen, sie müsste jeden
Moment kommen.“
Mit diesen vieldeutigen Worten
stand Graf Maibusch auf, trank sein Glas aus und ging damit zum Haus
zurück. Er ließ einen verwirrten Anwalt zurück.
„Sie… wen kann er nur
gemeint haben?“ fragte er sich und schenkte ein weiteres Glas ein.
Schreckensvisionen von Frau Beul, die auf einen Besuch vorbeikommt,
gingen ihm durch den Kopf. Bloß nicht, die verrückte Schachtel
würde alles durcheinanderbringen, dachte er und spülte die Gedanken
mit einem Cognac weg.
In seinem Schlafzimmer stand
Herr Hansen an dem großen Fenster und schaute hinaus. Die Sonne war
ein gutes Stück weiter gewandert, so dass er nicht mehr geblendet
wurde. Dadurch hatte er einen guten Überblick über den Vorplatz und
die wild wuchernden Sträucher sowie den Vorgarten. Viel zu tun,
dachte er bei sich. Seine Gedanken wurden jäh unterbrochen, als sich
mit einem Ruck die Tür öffnete.
„Herr Hansen!“ hörte er die
überraschte Stimme hinter sich.
„Hallo, Frau Sauerlich. Lange
nicht gesehen. Aber was sind sie so überrascht? Das hier ist mein
Zimmer.“
Frau Sauerlich holte Luft.
„Ich dachte, es wäre meins.
Ich habe mich wohl in der Tür geirrt. Einen Moment mal – woher
wissen sie, wer ich bin?“
Die Augen des Gärtners
verengten sich.
„Sie sind diejenige, die mich
niedergeschlagen hat“, fuhr er sie an. „Im Garten, und das ohne
triftigen Grund! Ich sollte sie anzeigen!“
Ob dieser unverschämten
Anschuldigung wurde nun auch Frau Sauerlich böse. Viel mehr
überraschte sie jedoch, wie viel dieser kleine alte Mann wusste.
„Wer hat ihnen das gesagt?“
„Ich habe versprochen, meine
Quelle nicht zu verraten“, antwortete Herr Hansen kühl. Frau
Sauerlich setzte eine überlegene Miene auf.
„Ha, ich ahne sowieso, wer es
ihnen erzählt hat.“ Sie wandte sich zum Gehen. Kein Zweifel, dass
ihr guter Freund Henry geplaudert hatte. „Ich denke, ich werde ein
paar Takte mit dieser Person reden müssen.“
Sie wollte hinausstolzieren,
doch der Gärtner hielt sie zurück.
„Denken sie jetzt etwa, damit
sei alles erledigt? Sie hätten mich umbringen können!“
„Sie sehen das alles ein wenig
zu dramatisch“, winkte die Dame ab. „Wie hätte ich ihnen mit
einer hauchdünnen Vase etwas zu leide tun können?“
„Unterschätzen sie das bloß
nicht. Ich werde sie anzeigen.“
Frau Sauerlich trat an Herrn
Hansen heran. Sie war bestimmt einen Kopf größer als er. Sie beugte
sich herab und zischte: „Das wagen sie nicht, ist das klar? Ich
könnte sonst nämlich allen erzählen, dass sie Herrn Flip mit einem
Messer verletzen wollten. So war es doch, nicht wahr?“
Der Gärtner wandte sich in
Qualen.
„Das können sie mir nicht
anhängen. Ich habe ihn nur aufgefordert, seine Nase aus anderer
Leute Angelegenheiten herauszuhalten. Das Messer sollte meiner
Forderung etwas mehr Ausdruck verleihen.“
„Aber es hätte zu viel
Schlimmerem führen können.“
„Wie dem auch sei“, fuhr
Herr Hansen fort, „sie denken doch wohl nicht, dass ihnen jemand
diese Geschichte glauben sollte, oder? Ich werde sie anzeigen, da
können sie sagen, was sie wollen. Herr Flip war lästig, und jetzt
sind sie es auch noch… ich denke“, er machte eine kurze Pause.
„Ich denke, ich werde sie beide aus dem Weg räumen müssen.“
Das hätte er besser nicht
gesagt, denn Frau Sauerlichs Gesicht war rot angelaufen.
Wutschnaubend ging sie zur Kommode, auf der ein schwerer Kerzenhalter
stand und nahm diesen an sich. Wie eine Waffe drohte sie damit dem
alten Mann.
„Sie werden gar nichts tun.
Ich bin auf der Hut, und denken sie daran: Wer anderen eine Grube
gräbt, fällt selbst hinein. Nur dieses eine Mal kann die Grube
tödlich tief sein!“
Noch mit dem Kerzenständer in
der hand verließ Frau Sauerlich schwungvoll das Zimmer und ging in
den Korridor. Dabei murmelte sie zu sich: „Henry hat mich verraten.
Das hätte ich nie von ihm gedacht.“
Neben ihr öffnete sich eine Tür
und Fräulein Maria trat hinzu.
„Hallo, was ist denn hier
los“, fragte sie verwundert.
Frau Sauerlich wurde sich der
Tatsache bewusst, dass sie noch immer den Kerzenhalter mit sich
schleppte. Verlegen stellte sie ihn auf einen der Schuhschränke im
Flur.
„Sie sind Fräulein Maria,
richtig?“ fragte sie, um abzulenken.
„Ja, aber wer sind sie?“
„Ich bin Frau Sauerlich, die
Freundin des Grafen“, meinte die Angesprochene nicht ohne Würde.
„Ach so.“ Dann drehte Maria
sich um und rief in den Flur: „James!“ Sie wandte sich wieder
Frau Sauerlich zu.
„Es tut mir leid, Frau
Sauerlich, aber ich habe mein gesamtes Gepäck draußen stehen“,
meinte sie entschuldigend. „Das muss erst mal reingebracht werden.“
Dann rief sie, noch etwas lauter als zuvor: „James!! Dieser Butler
scheint schlecht zu hören. Vielleicht ist er draußen, ich werde mal
im Wintergarten nachsehen. Entschuldigen sie mich, wir können später
reden.“
„Ist in Ordnung, ganz, wie sie
meinen.“ Frau Sauerlich war froh, als sie sah, wie Maria Richtung
Ausgang rauschte. Sie war gerade noch davongekommen, ohne dass die
junge Frau ihr peinliche Fragen gestellt hatte. Sie atmete
erleichtert auf und ging ihres Weges.
Fräulein Maria dagegen hatte
keine Ruhe. Sie lief eilig in den Garten, durch den Pavillon und zum
Wintergarten. Dort traf sie jedoch nicht auf den Butler, sondern auf
Herrn Fröhlich, der nach dem Gespräch mit Graf Maibusch dort
verblieben war.
Beide starrten sich einen Moment
an, der ihnen wie eine Ewigkeit vorkam. Dann sagte Fräulein Maria
nur: „Du!“ Es klang wie ein Pistolenschuss.
Herr Fröhlich wollte zur Rede
ansetzen: „Maria…“ Viel weiter kam er nicht. Maria fing an,
hysterisch zu schluchzen.
„Wie kannst du es wagen,
hierher zu kommen. Nach allem, was du Mama angetan hast!“ schrie
sie ihn an.
Herr Fröhlich versuchte, ruhig
zu bleiben.
„Hör mal, es war nicht…“
„Natürlich nicht“,
unterbrach sie ihn. „Du musstest es ja tun. Wie konntest du nur, es
hat ihr Leben zerstört!“ Sie konnte sich gar nicht mehr beruhigen.
„Hör mir doch wenigstens zu!“
„Ich wüsste nicht, warum.“
Fräulein Maria mühte sich, ihre Stimme unter Kontrolle zu bringen.
„Ich hatte gehofft, dich nie wiedersehen zu müssen. Warum hat mein
Onkel dich bloß eingeladen?“
„Er… weil…“ Dem sonst so
schlagfertigen Anwalt fehlten die Worte.
„So etwas würde er mir nie
antun. Warum nur?“
In diesem Moment betrat Frau
Schmidt den Raum. Sie schien in Eile zu sein. Sie würdigte Fräulein
Maria nur eines kurzen Blickes.
„Hallo, Fräulein Maria. Da
sind sie ja wieder, ich hoffe, sie haben jetzt alles.“ Ohne eine
Antwort abzuwarten oder weiter auf die sich ihr darbietende Szene
einzugehen, fuhr sie fort: „Herr Fröhlich, der Graf muss ihnen
noch etwas Wichtiges geben. Bitte kommen sie gleich zu ihm.“ Dann
war sie wieder verschwunden.
Maria schaute den Anwalt
höhnisch an.
„Fröhlich? Gott, muss das
lange her sein. Kein Wunder, dass Onkelchen dich nicht erkannt hat.
Dass du so hinterhältig bist, hätte ich nie gedacht. Wir sprechen
uns noch!“ Sie ging davon, nicht ohne ihren Gegenüber mit einem
verachtenden Blick zu würdigen.
„Maria!“ Herr Fröhlich
wollte sie aufhalten, doch sie ließ sich nicht beirren. „Ich
wusste doch nicht… Wie konnte der Graf das nur tun! Verdammt!“
Wütend ließ er seine Faust auf den Tisch sausen und trank sein Glas
aus.
Etwas später, am Abend,
erhellte nur die Sparlampe über dem Spiegelschrank das Bad im oberen
Stockwerk des Herrenhauses. Mehr Licht war aber ohnehin nicht
notwendig. Graf Maibusch konnte auch so erkennen, dass Herr Flip
ziemlich unruhig war und ihn etwas wurmte. Sonst hätte er ihn
schließlich nicht zu diesem Gespräch bestellt.
„Nun“, setzte der Graf an,
„warum wolltest du mich sprechen?“
„Es mag vielleicht nicht so
wichtig erscheinen, aber die Lage hier spitzt sich etwas zu.“
Graf Maibusch grinste höhnisch.
„Witzig. Wovon sprichst du?“
Die Gelassenheit des Grafen
brachte Herrn Flip beinahe aus der Fassung.
„Tu nicht so cool. Es geht
schließlich um dich. Diesem Gärtner, den du eingestellt hast, würde
ich nicht weiter über den Weg trauen, als ich einen Elefanten werfen
kann.“
„In der Tat, das ist nicht
sehr weit. Aber warum sagst du so etwas? Er ist doch sehr
zuverlässig.“
Nervös ging Flip auf und ab und
schaute dann aus dem Fenster in die Dämmerung.
„Ich hab´ da so ein Gefühl…
ich würde mich nicht auf das Äußere verlassen. Leider habe ich
noch nichts herausgefunden.“
„Nur so ein Gefühl hilft uns
wohl kaum weiter.“
Der junge Mann drehte sich um
und blickte dem Grafen beschwörerisch in die Augen.
„Vielleicht erinnerst du dich,
dass dir mein Gefühl schon mal das Leben gerettet hat?“
„Ja. Aber das war ganz
anders.“ Graf Maibusch schüttelte den Kopf. „Du beschuldigst
meiner Meinung nach einen unschuldigen Menschen! Ich denke, ihr habt
euch noch nicht gut genug kennen gelernt.“
„Gut genug, meine ich.“
„Unsinn. Heute Abend treffen
wir uns wieder im Salon, sagen wir in einer Stunde. Dann werde ich
ein bisschen plaudern. Fräulein Maria ist auch da, das wird dich
ablenken.“
„Ach, von ihr hast du mir ja
schon erzählt.“
„Genau. Ich bin sicher, ihr
werdet euch anfreunden“, meinte der Graf gönnerhaft und lachte
fett. „Wir setzen uns dann gemütlich in die Runde, besprechen das
Nötigste und plaudern über alles Wichtige, was es denn da noch
geben könnte. Dann wirst du sehen, dass mit Herrn Hansen alles in
Ordnung ist. Ich glaube ja vielmehr, dass es da noch andere dunkle
Geschäfte gibt“, fügte er mit unsicherer Stimme hinzu.
„Du sprichst von meinem Erbe?“
„Auch das. Aber… da ist noch
so viel mehr… bitte, komm nachher unbedingt!“
„Kein Problem. Jetzt habe ich
aber noch etwas zu tun. Ich glaube, es ist besser, wenn ich vor dir
herausgehe. Sonst schöpft noch jemand Verdacht.“ Herr Flip nickte
dem Grafen zu und verließ das Badezimmer. Graf Maibusch schaltete
einen Moment später das Sparlicht ab und ging hinaus. Er würde die
nächste Stunde dazu nutzen, Klarheit in seinen Gedanken zu schaffen.
Genau wie am Vorabend hatten
sich die Bewohner und Gäste Gut Trontsteins im Salon
zusammengefunden, um den Abend entspannt ausklingen zu lassen. Von
Entspannung selbst war jedoch nicht allzu viel zu spüren. Fräulein
Maria warf Herrn Fröhlich giftige Blicke zu, falls sie ihn überhaupt
anschaute. Herr Flip blickte immer wieder misstrauisch zu Herrn
Hansen herüber. Frau Schmidt wiederum warf ihrerseits immer wieder
verachtende Blicke zum Anwalt hinüber. Graf Maibusch schien von
alledem nichts mitzubekommen. Er ließ sich von James ein Getränk
einschenken und blickte dann erwartungsvoll in die Runde. Als er
bemerkte, dass ihm nicht die gebührende Aufmerksamkeit
entgegengebracht wurde, ließ er sein Glas klingen. Die Anwesenden
lösten sich von ihren Gedanken und blickten zum Hausherrn.
„Ich finde es schön“,
setzte dieser an, „dass wir uns alle hier einmal in der gemütlichen
Runde zusammengefunden haben. Das ist die Gelegenheit, sich etwas
besser kennen zu lernen.“ Er wandte seinen Blick zu Maria.
„Maria, seit deiner Ankunft
hast du dich ziemlich rar gemacht. Also, für alle, die sie noch
nicht kennen: Das ist meine Nichte Maria.“ Und er zeigte nicht ohne
Stolz auf die junge Dame.
Fräulein Maria selbst stand von
ihrem Platz auf, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
„Richtig, Onkelchen. Und für
alle, die diesen Herrn dort“, wobei sie auf Herrn Fröhlich zeigte,
„noch nicht richtig kennen sollten: Das ist Herr Fröhlich. Für
dich, mein allerliebster Onkel, sollte er mehr sein als nur dein
Anwalt.“ Ihre Stimme bekam einen bitteren Beigeschmack. „Er ist
dein Cousin… und mein Vater“, fügte sie nach einer Kunstpause
hinzu.
„Maria!“ rief der Graf
höchst überrascht.
„Klar, dass du mir nicht
glaubst. Wann hast du ihn denn überhaupt mal zu Gesicht bekommen? Er
hat meine Mutter verlassen, als ich vier war!“
Herrn Fröhlich schien die Luft
knapp zu werden. Nervös zupfte er mit den Fingern am Kragen seines
Hemdes herum, während ein Augenpaar nach dem anderen verwundert zu
ihm blickte. Fräulein Maria hatte sich inzwischen in Fahrt geredet.
„Glaub bloß nicht, dass ich
dir jemals verzeihen werde, was du ihr und mir angetan hast!“
schrie sie.
Frau Sauerlich hatte als erste
die Fassung wiedergewonnen und sprach Herrn Fröhlich mit
vorwurfsvoller Stimme an.
„Also, das ist ja unglaublich,
wirklich empörend! Was haben sie dazu zu sagen, Herr Fröhlich?“
Der Anwalt schüttelte sich wie
ein geprügelter Hund. Noch immer lasteten die Blicke aller wie eine
tonnenschwere last auf ihm. Händeringend sagte er: „Maria, es tut
mir leid. Ich wollte dir nicht wehtun, und ich habe ja auch nicht
ahnen können, dass es deine Mutter so mitnimmt!“
In den Augen seiner Tochter
brannte der Hass, als sie ihr Weinglas erhob.
„Ich stoße auf dein Verderben
an.“ Sie trank einen Schluck und begann wieder zu schreien. „Du
Schwein, wie konntest du nur so unsensibel sein! Ich will dich nie
mehr sehen!“ Mit diesen Worten schüttete sie ihrem Vater den Rest
des Weines ins Gesicht und stürmte aus dem Zimmer.
Der Wein brannte schrecklich in
den Augen. Herr Fröhlich rief hinterher: „Maria, bitte lass mich
erklären!“
James, der die Situation richtig
eingeschätzt hatte, reichte dem Mann ein Tuch, um sich die Augen zu
trocknen. Er riss es ihm aus der hand und ging dann ebenfalls aus dem
Zimmer.
Im Salon war die Stimmung im
Leerlauf. Keiner hatte verdaut, was eben vor sich gegangen war. Graf
Maibusch schaute ins Leere und stammelte: „Mein Cousin?“
Der Butler war als einziger
erstaunlich unberührt. Lakonisch verkündete er: „Es scheint, als
wäre ihre Familie größer, als wir alle dachten.“
Jetzt übertreibt er es bald mit
dem Hochnäsigsein, dachte Frau Schmidt, hing dann aber sofort ihren
eigenen Gedanken nach. Sie würde unbedingt mit Herrn Fröhlich
sprechen müssen. Frau Sauerlich lehnte sich in ihrem Sessel zurück.
„Welch eine Schande. Wie kann
ein Mensch nur zu so etwas fähig sein.“ Kaum hatte sie diesen Satz
beendet, nickte ihr Kopf zur Seite weg. Herr Flip sah, wie seine
Sitznachbarin zusammengeklappt war und fragte: „Frau Sauerlich, ist
alles in Ordnung?“
Die vornehme Dame holte tief
Luft und bemühte sich um Fassung.
„Jaja, es geht schon wieder.
Ich meine, ihnen schon gesagt zu haben, dass ich das in letzter Zeit
öfters habe. Ist nicht weiter schlimm.“
„Ihr Wort in Gottes Ohr“,
meinte Herr Flip. Er war nicht ganz überzeugt, hielt sich aber
dennoch zurück.
Graf Maibusch versuchte,
abzulenken. Er wandte sich an seinen Erben.
„Nun, Flip, jetzt hast du
meine Nichte gesehen. Wie gefällt sie dir?“
„Sie sieht super aus“,
antwortete der junge Mann mit einem Grinsen, „aber sie hat jetzt
wahrscheinlich andere Probleme, als sich mit mir anzufreunden.“ Er
genehmigte sich einen Sherry.
Frau Schmidt konnte nicht mehr
länger tatenlos herumsitzen. „Wo sie recht haben, haben sie
recht“, verkündete sie. „Ich werde mal nachsehen, ob alles in
Ordnung ist.“ Schwerfällig stand sie von ihrem Stuhl auf und
verließ den Salon.
„Die Runde löst sich aber
früh auf“, merkte James an. „Ich hoffe, das ist kein schlechtes
Zeichen.“
„Naja, es kommt ganz darauf
an.“ Herr Hansen hielt es für nötig, seiner schlechten Laune ein
wenig Luft zu machen. Er sagte, wobei er auf Herrn Flip blickte: „Mit
gewissen Leuten kann es in diesem Haus ja nicht gut gehen.“
Flip blickte zurück, als könne
er kein Wässerchen trüben.
„Ich weiß gar nicht, was sie
meinen“, sagte er unschuldig. Das brachte das Fass zum Überlaufen.
Frau Sauerlich stand wütend von ihrem Platz auf.
„Und ob sie das wissen“,
fuhr sie Herrn Flip an. „Ich habe sie vor Herrn Hansen beschützt
und stehe jetzt als schwarzes Schaf da!“ Dann wandte sie sich an
Graf Maibusch. „Wenn du mich nicht verraten hättest, hätten wir
die Sache leicht vergessen können.“
Der Graf war total überrumpelt.
„Ich? Ich habe dich nicht
verraten.“
Für James schien das alles zu
schnell abzulaufen. Schnell trat er aus dem Dunkel hervor und
unterbrach die Streithähne.
„Moment, das verstehe ich
nicht mehr. Können sie mir mal erzählen, was hier vorgefallen ist?“
„Was geht sie das an? Sie sind
hier nur der Butler“, blaffte Frau Sauerlich James an und ging mit
schnellen Schritten aus dem Zimmer.
Der Gärtner betrachtete
gelassen die kleine Runde, die im Salon zurückgeblieben war. Einen
ironischen Kommentar konnte er sich nicht ersparen.
„Das kann ja ein sehr kurzes
Familientreffen werden. Falls wir alle den Tag morgen überleben
sollten.“
Er hätte sich besser zweimal
überlegt, was er da von sich gab. Er war näher an der Wahrheit, als
er selbst glaubte.
Herr Fröhlich war Fräulein
Maria bis in das Arbeitszimmer des Grafen gefolgt. Hier gab es keine
Fluchtmöglichkeit mehr. Der Anwalt nahm Maria am Arm und sagte: „Nun
lass mich doch bitte erklären!“
Die junge Frau riss sich los und
trat ans Fenster. Sie schaute in den Abendhimmel, der aufgrund der
Jahreszeit noch erstaunlich hell war. Erstaunlich ruhig drehte sie
sich zu ihrem Vater um.
„Da gibt es nichts zu
erklären. Du hast meine Mutter verlassen und dafür hasse ich dich.
Du hast sie sitzen gelassen wegen einer Anderen. Und das, als ich
gerade vier Jahre alt war. Wie kann ein Mensch nur so
verantwortungslos sein, ich kann es gar nicht oft genug sagen.“
Herr Fröhlich atmete durch.
Endlich war Maria nicht mehr am Schreien. Vielleicht ließ sie jetzt
mit sich reden.
„Versteh mich doch bitte“,
setzte er an. „Du warst auf der Welt, als ich merkte, wie ich mich
immer mehr um dich und deine Mutter kümmerte. Ich hatte kaum noch
Interesse an meiner Arbeit, ihr standet für mich im Mittelpunkt.“
Maria schaute verständnislos
und fragte: „Aber das ist doch super, warum bist du denn gegangen?“
„Meine Karriere stand
plötzlich an zweiter Stelle. Ich wollte ein erfolgreicher Anwalt
werden, und nun drohte, aus mir ein Pantoffelheld zu werden. Das
konnte ich nicht zulassen. Verstehst du? Ihr wart mir nur ein Klotz
am Bein!“
Fräulein Maria stampfte mit dem
Fuß auf und erhob ihre Stimme.
„Ein Klotz am Bein?“ rief
sie laut. Herr Fröhlich deutete ihr, leiser zu sprechen, doch seine
Tochter nahm das gar nicht wahr. „Du nennst deine eigene Tochter
einen Klotz am Bein? Und das wegen deiner Unfähigkeit, im Beruf
voranzukommen, geschweige denn, Beruf und Privatleben zu verbinden?
Wie kannst du es nur wagen, mir das ins Gesicht zu sagen!“
Nach dieser flammenden Anklage
schaute Maria sich krampfhaft im Zimmer um, bis sie im Regal bei den
Briefen einen Brieföffner fand, einen kleinen Dolch mit Jadegriff.
Sie nahm ihn an sich und streckte ihn ihrem Vater entgegen.
„Wenn ich ein Mann wäre,
hätte ich dich längst umgebracht“, verkündete sie. „Für
dieses Mal bleibt es bei einer Drohung, aber ich warne dich: Fahr mir
nie wieder an den Karren, sonst sehe ich schwarz für deine Zukunft!“
Wütend ging Maria aus dem Zimmer, das Messer noch in der Hand.
Herr Fröhlich ballte die
Fäuste.
„Verdammt! Wie konnte der Graf
es nur zulassen, dass wir uns wiedersehen?“
Mittlerweile wäre Fräulein
Maria auf dem Flur beinahe in Frau Schmidt gelaufen, die den beiden
gefolgt war. Die junge Frau sagte kein Wort, sondern stürmte zur
Haupttreppe. Die Hausfrau ging zum Anwalt in das Arbeitszimmer, nicht
ohne einen Blick auf den Brieföffner in Marias Hand geworfen zu
haben.
Ohne Begrüßung herrschte sie
Herrn Fröhlich an: „Sie haben sich keine Sympathien eingefangen,
ist ihnen das klar?“
Dieser versuchte, die
Angelegenheit lockerer zu sehen.
„Solange weiter nichts
passiert…“, meinte er gelassen.
„Jaja, sie sehen wieder alles
von der leichten Seite. Haben sie anscheinend schon immer gemacht.
Aber denken sie bitte auch mal an andere.“ Frau Schmidt sprach
etwas leiser. „Denken sie an mich! Sie spielen sich hier skandalös
in den Vordergrund und wollen dann noch vertuschen, dass sie das Geld
damals an sich gerissen haben? Sie sollten nicht die ganze
Aufmerksamkeit auf sich lenken, das wäre für uns beide gesünder.“
„Frau Schmidt, ich kann nichts
dafür! Der Graf ist an allem Schuld. Er macht mich noch wahnsinnig.“
„Das stimmt ausnahmsweise mal.
Der Graf ist unser einziges riesiges Problem. Wissen sie was? Bringen
sie ihn um“, schlug sie skrupellos vor. „Dann haben wir freie
Bahn. Und ich verspreche ihnen: Wenn sie es nicht tun, tue ich es!“
Herr Fröhlich hatte keine
Gelegenheit, zu antworten. Frau Schmidt hatte das Arbeitszimmer
verlassen. Der Anwalt setzte sich auf das Bett und stützte den Kopf
in die Hände. Wie kann Frau Schmidt nur so über ihren langjährigen
Arbeitgeber denken! Aber sie hat recht, er ist im Weg. Und wenn Maria
nicht gekommen wäre, hätte alles so einfach werden können! Mit
einem Seufzer stand Herr Fröhlich auf und ging zu seinem Zimmer. Es
hatte keinen Sinn, sich jetzt den Kopf zu zerbrechen. Morgen früh
würde alles ganz anders aussehen.
Es war der letzte Tag vor dem
Familientreffen. Graf Maibusch war mit James unterwegs, um letzte
Besorgungen zu tätigen. Auch Fräulein Maria war außer Haus. In
aller Seelenruhe saßen Herr Hansen und Frau Sauerlich zusammen mit
Herrn Flip am Küchentisch und frühstückten. Der ganze Trubel ließ
sie unberührt.
„Ist die ganze Meute
ausgeflogen?“ fragte Herr Hansen, während er auf einem Brötchen
herumkaute.
„Das scheint mir so“,
antwortete Herr Flip grinsend, als der Gärtner sich an einem Krümel
verschluckte. „Fräulein Maria habe ich noch gar nicht gesehen,
James und der Graf sind einkaufen gefahren, Herr Fröhlich macht sich
sehr rar…“
Frau Sauerlich setzte ihre
Kaffeetasse ab. Die Plörre war ihr viel zu schwach.
„Das wird sie doch hoffentlich
nicht auch noch verwundern, oder? Herr Fröhlich ist ein
niederträchtiger, gemeiner…“ Weiter kam sie nicht, Herr Hansen
wiegelte ab.
„Wir haben verstanden. Lassen
wir das Thema beiseite. Ich habe nachher draußen noch genug zu tun,
da passt es mir nicht, wenn sie mir jetzt schon die Stimmung
verderben. Wie kommt es eigentlich, dass wir hier so gemütlich am
Tisch sitzen, obwohl wir uns doch eigentlich die Haare raufen
sollten, nach dem gestrigen Abend?“
„Ich bin es, die empört ist“,
warf Frau Sauerlich ein. „Schließlich bin ich verraten worden. Und
meine Heldentat wurde als Schande dargestellt. Ich gelte jetzt als
das Enfant terrible in diesem Trio Infernale.“
„Oh, wie gebildet sie sich
ausdrücken!“ spottete Herr Hansen.
Frau Sauerlich ignorierte die
Spitze. „Ich bin der Bösewicht! Und das nur, weil ich sie“, sie
nickte zu Herrn Flip, „vor dem bösen Monster gerettet habe.“
Dabei zeigte sie auf den Gärtner. Der schüttelte den Kopf.
„Nun ist aber mal gut. Auch
ich habe bloß versucht, mich zu verteidigen. Gegen sie, Herr Flip,
weil sie mir so taktlos gekommen sind. Mich irgendeines Verbrechens
zu bezichtigen!“
„Habe ich mich nicht schon
einmal entschuldigt?“ Herr Flip klang entnervt. „Das reicht ihnen
wohl nicht. Sie reizen mich wieder, mein Bester!“
„Ach bitte, bitte! Reden sie
doch nicht so viel über sich!“ unterbrach Frau Sauerlich hochnäsig
das freundliche Gespräch der beiden Männer. Pikiert fuhr sie fort:
„Ich bin es, die hier schlecht behandelt wird. Sie können ihre
kleinen Streitereien auch später klären. Das tut hier jedenfalls
nichts zur Sache.“
Herr Flip zeigte sich
einsichtig. „Bitte, wir müssen nicht über unseren Zwist reden.
Aber auch nicht über ihren. Kommen wir zu angenehmeren Themen“,
beschloss der Sunnyboy. „Kennt einer von ihnen Fräulein Maria
etwas besser? Ich fand sie gestern ziemlich reizend.“
„Wohl eher etwas reizbar.“
Herr Hansen kicherte über seinen kleinen Witz. „Da wird sich doch
wohl nicht jemand verlieben?“ Und er dachte an seine eigenen jungen
Jahre. Seine Frau, die mittlerweile das Zeitliche gesegnet hatte…
Sie war die schönste Frau der ganzen Welt gewesen. Wenn sie nur
sehen könnte, wie sich die Kinder entwickelt hatten!
„Pah!“ Herr Flip holte den
träumenden Gärtner in die Wirklichkeit zurück. „Ich glaube,
Liebe wäre etwas übertrieben. Sympathie ist wohl passender.“
Frau Sauerlich rückte
mütterlich ein Stück näher an Herrn Flip und meinte entzückt:
„Aber sie brauchen sich doch nicht zu schämen. Junge Liebe ist
etwas Wunderbares! Auch ich war einmal jung“, schwärmte sie.
Trocken konterte Flip, dem die
alternde Dame etwas zu nahe gekommen war: „Das muss aber schon sehr
lange her gewesen sein.“
„Das zahle ich ihnen heim.“
Urplötzlich war Frau Sauerlichs Gesicht wieder verschlossen. Sie
kniff die Augen zusammen und starrte Flip an. Herr Hansen verdrehte
die Augen gen Zimmerdecke.
„Himmel!“
„Und sie sind mal schön
ruhig.“ Auch den Gärtner kanzelte Frau Sauerlich prompt ab. Das
reichte Herrn Flip. Er stellte seinen Teller in die Spüle und
verließ mit einem schlichten „Sie öden mich an. Bis demnächst!“
die Küche.
„Der ist heute ja wieder
schrecklich. So gewöhnlich!“ ärgerte die Angesprochene sich.
Herr Hansen beugte sich vor.
Jetzt war Gelegenheit zum Reden.
„Ich muss sie mal was fragen“,
begann er. „Haben sie zufällig irgendeine besondere Beziehung
zwischen Herrn Fröhlich und Frau Schmidt bemerkt? Die beiden hängen
bemerkenswert oft miteinander herum.“
Frau Sauerlich zeigte sich
überrascht und gestand sich im Geiste sogleich ein, dass sie die
anderen im Hause kaum eines Blickes würdigte. Sie selbst stand
schließlich im Mittelpunkt des Universums! So sollte es zumindest
sein.
„Ja? Das ist das erste Mal,
dass ich davon höre“, sagte sie wahrheitsgemäß. „Die beiden
kennen sich doch kaum. Sie glauben wirklich, dass die unter einer
Decke stecken?“
„So weit würde ich nicht
gehen. Aber da ist etwas faul. Ich weiß nur noch nicht, was. Aber da
komme ich schon hinter.“
„Jetzt fangen sie genau an wie
der verrückte Flip. Stecken ihre Nase in Angelegenheiten, die sie
gar nichts angehen. Sie finden das doch selbst so nervig, warum also
machen sie das?“
„Neugier. Ich werde schon
herausfinden, was Herr Fröhlich im Schilde führt.“
Neugier. Die Quelle jeglicher
Tratschsucht. Ohne Neugier gäbe es wohl kaum die illustre Runde um
Frau Sauerlich. Die ehrenwerte Katherine von Schneider, Johanna
Güldenburg und Frau Adelstein wären wohl ohne ihr tägliches
Klatschbedürfnis nie zusammengekommen. Wenn sie, Josephine
Sauerlich, nun ein wenig lauschen und vielleicht sogar geheime
Intrigen entdecken könnte… das wäre herrlich! Herr Hansen hatte
sie überzeugt.
„Sie könnten recht haben. Ich
nehme mir mal Frau Schmidt vor“, willigte Frau Sauerlich ein.
Herr Hansen nickte zustimmend.
„Gut. Viel Erfolg bei ihren Nachforschungen!“ Der Gärtner
verließ die Küche und machte sich auf in den Garten. Schließlich
musste dort noch etwas getan werden.
Frau Sauerlich stand auf und
stellte ihren Teller zusammen mit dem von Herrn Hansen in die Spüle.
Dann blickte sie missbilligend auf den Teller, den kurz zuvor Herr
Flip dort hineingestellt hatte. Typisch, dachte sie. Immer die Arbeit
auf andere abwälzen. Ich werde Frau Schmidt das Spülen abnehmen.
Gerade wollte sie das Wasser ins Spülbecken einlaufen lassen, da
fiel ihr ein, dass das Spionieren viel wichtiger war. Wozu hat man
außerdem eine Hausfrau, dachte sie unbekümmert und machte sich auf
den Weg, Frau Schmidt zu suchen. Erst wird sie mir ein paar Fragen
beantworten, dann kann sie hier abwaschen. Mit diesen Gedanken
verließ Frau Sauerlich die Küche.
Anders, als alle
Zurückgebliebenen dachten, war Graf Maibusch nicht einkaufen
gefahren. Zusammen mit seiner Nichte Maria spazierte er durch den
Wald am Birkensee. Obwohl es wieder ein wunderbarer Sommertag war und
die Morgensonne aus voller Kraft schien, drangen nur wenige
Lichtstrahlen durch das Blätterdach des Waldes. Es war sehr finster,
nur hier und da eine einsame Lichtung. Mitten in diesem Wald war der
Friedhof von Birkenstein gelegen. Da es überall derart finster,
bekam der Friedhof eine unheimliche Atmosphäre, zumal sich außer
bei Beerdigungen kaum ein Mensch dorthin verirrte. Eine kleine
Kapelle stand in einer Ecke des Friedhofes. Von dort aus konnte man
über eine alte, kaum benutzte Straße nach Birkenstein gelangen.
Alternativ konnte man natürlich auch den Weg durch den Wald nehmen,
so wie Graf Maibusch und Fräulein Maria.
Schweigend waren sie durch den
Wald gewandert und hatten den Geräuschen der Tiere gelauscht, das
leise Rauschen der Blätter und des Baches wahrgenommen. Am Friedhof
angekommen hielt der Graf die Spannung nicht mehr aus.
„Maria, jetzt sind wir also
hier – das ist ja alles schön und gut. Aber nun musst du mir
endlich erzählen, wozu der ganze Aufwand nötig war. Den anderen zu
erzählen, ich sei mit James einkaufen gefahren. Das kann der auch
gut allein. Was soll das Theater?“ fragte er.
Maria holte aus ihrer Handtasche
ein paar Seiten einer Zeitung, die sie wohlweislich eingesteckt
hatte, und breitete sie auf einer bemoosten Bank aus, um sich zu
setzen. Auf keinen Fall durfte ihre extravagante Kleidung, die mal
wieder in kirschrot gehalten war, schmutzig werden!
„Das ist doch harmlos.“ Die
junge Frau warf einen Blick gen Himmel, soweit das möglich war. Die
Stadtverwaltung hatte zwischen die Gräber weitere Bäume gesetzt,
nicht zu dicht, sondern gerade so, dass sie angenehmen Schatten
spendeten. Daher war es auf dem Friedhof nur ein wenig heller als in
dem Wald.
Maria holte aus ihrer Tasche
einen kleinen Spiegel und betrachtete ihr Make-up. Während sie sich
bewunderte, fuhr sie fort: „Sei froh, dass alles so glimpflich
abläuft. Ich hätte Herrn Fröhlich auch einfach erschießen können.
Wie kann er es nur wagen, zu diesem Treffen zu kommen? Wie kann er es
wagen, mir noch einmal unter die Augen zu treten?“
„Du sagst ´Herr Fröhlich`?
Das ist ziemlich unpersönlich, er ist immerhin dein Vater!“
„Jetzt nicht mehr“,
erwiderte Fräulein Maria trotzig.
„Wie du willst, aber bitte gib
nicht Herrn Fröhlich die ganze Schuld. Er wusste nicht, dass du
kommen würdest.“
„Das ändert nichts an der
Tatsache, dass er meine Mutter verlassen hat. Seitdem lebt sie einsam
vor sich hin. Du hast sie nicht zum Familientreffen eingeladen. Das
gibt ihr nicht gerade das Gefühl, als würde sie von allen geliebt.
Warum übergehst du sie?“
„Weil ich dieses Treffen nicht
allein aus familiären Gründen einberufen habe.“
„Ach?“ Es klang sehr
höhnisch.
„Es ist notwendig, dass ein
ganz bestimmtes Publikum kommt.“
„Dann kannst du mir doch
sicher verraten, warum?“
„Nein“, antwortete Graf
Maibusch. Er befand sich in einer Zwickmühle. Irgendwie musste er
das Zusammentreffen von Maria und seinem Anwalt entschuldigen und
sich dafür rechtfertigen, seine Cousine nicht eingeladen zu haben,
durfte dabei aber kein Wort über seine wahren Absichten bei der
Feier verlieren. Sein Erfolg war sehr dürftig.
„Fein, meine Laune wird immer
besser“, sagte Maria bissig. „Ich weiß nicht, was mich daran
hindert, dich einfach so umzubringen.“
Erschrocken erwiderte der Graf:
„Ich bin immerhin dein Onkel!“
„Ich halte Familienbande nicht
für fähig, einen Mord zu verhindern. Aber es wäre wohl sinnvoller,
wenn ich tatsächlich Herrn Fröhlich beseitige“, fügte sie
trocken hinzu.
„Das kannst du nicht tun! Ich
brauche ihn für meinen Plan!“ In Not stand Graf Maibusch auf und
ging mit gesenktem Haupt vor der Bank auf und ab. Wie könnte er die
Situation lösen?
„Aha, ein Plan?“ fragte
Maria hellhörig. „Dann plane man bitte gleich mit ein, deinen
lieben Anwalt irgendwie aufs Kreuz zu legen. Er hat es verdient. Du
kannst doch deiner lieben Nichte so einen kleinen Gefallen nicht
abschlagen, oder?“
Der Graf blieb stehen und sah
auf. „Und ob ich das kann.“ Ich habe es nicht nötig, dass meine
Nichte sich in meine Sachen einmischt, dachte er.
Das brachte Fräulein Maria auf
die Palme. Sie stand von der Bank auf und zischte ihren Onkel an:
„Dann stell dich besser darauf ein, dass du in Zukunft nicht mehr
viel zu lachen hast!“ Hoch erhobenen Hauptes verließ sie den
Friedhof.
Der Graf wanderte durch die
Reihen und blieb schließlich bei einem Grab stehen. Er schaute auf
den Grabstein und sagte: „Ach, Vater! Wenn du noch da wärst, du
wüsstest, was zu tun ist. Dieses Treffen gerät mir langsam, aber
sicher aus den Händen. Warum kann es nicht gut laufen? Irgendwie
habe ich Angst vor dem morgigen Tag.“ Dann schüttelte er den Kopf
und ging forsch zum Waldweg. „Jetzt rede ich schon mit einem
Grabstein. Das nützt doch nichts. Ich werde morgen dieses Treffen
durchziehen, koste es, was es wolle. Wenn alles klappt, werde ich
Maria für den Schmerz entschädigen. Wäre doch gelacht, wenn das
nicht ginge!“ Mit entschlossener Miene machte er sich auf den
Heimweg.
Frau Sauerlichs Neugier nahm
inzwischen Überhand, und so war sie sehr erleichtert, als sie Frau
Schmidt im östlichen Kaminzimmer der Villa vorfand. Die Hausfrau
schaute gerade eine der vielen Mittags-Talkshows. Unbemerkt schlich
sich die Besucherin an, nahm vom Beistelltischchen die Fernbedienung
und schaltete den Apparat ab.
„Frau Schmidt, ich möchte
mich mal mit ihnen unterhalten.“
Nachdem die Angesprochene sich
von ihrem Schreck erholt hatte, wies sie freundlich auf einen alten
Ohrensessel.
„Natürlich, Frau Sauerlich.
Setzen sie sich“, meinte sie einladend. „Möchten sie etwas
Bestimmtes wissen oder einfach so plaudern?“
„Ich wäre sehr daran
interessiert, wie lange sie hier schon arbeiten.“
„Ich hätte nicht gedacht,
dass sie das wissen wollen“, erwiderte Frau Schmidt erstaunt. „Aber
ich gebe ihnen gerne Auskunft. Vor zehn Jahren habe ich hier als
Hausfrau angefangen.“
„Nach der Erbschaft war mein
Henry ja ziemlich vermögend. Hat er ihr Gehalt erhöht oder hatten
sie vielleicht vorher schon ein relativ hohes Gehalt?“ fragte sie
interessiert.
Es gelang ihr, Frau Schmidt
gesprächig zu stimmen. Sie erklärte: „Also, zunächst möchte ich
sagen, dass der Graf nicht nur durch die Erbschaft reich geworden
ist. Er hatte auch so immer ein Händchen für Geschäfte, wenn auch
nicht für das Geld, das er damit verdiente. Mein Gehalt jedoch ist
gerade angemessen, also nicht überdurchschnittlich viel.“
Frau Sauerlich lehnte sich
zurück und blickte vielsagend in die Luft.
„Ist er also mal wieder
knauserig. Das hatte ich mir schon fast gedacht.“ Dann blickte sie
Frau Schmidt fest in die Augen. Es war Zeit, zum Thema Nummer Eins zu
kommen. „Kannten sie Herrn Fröhlich schon vor diesem Treffen?“
fragte sie direkt.
Frau Schmidt war nicht auf
diesen abrupten Themenwechsel vorbereitet.
„Es bleibt mir rätselhaft,
wie sie jetzt auf Herrn Fröhlich kommen“, stotterte sie. „Wir
haben uns damals bei dieser Erbschaftsangelegenheit kurz getroffen,
ansonsten kenne ich ihn praktisch überhaupt nicht.“
Warum lügt die Frau mich an,
dachte Frau Sauerlich wütend. Sie musste etwas direkter werden.
„Also, Frau Schmidt, ich will
ja nicht neugierig oder aufdringlich sein“, heuchelte sie, „aber
ich habe gesehen, wie sie verdächtig oft mit dem Anwalt unterwegs
sind.“
Frau Schmidt schluckte.
„Unterwegs?“
„Ich meine, wie oft sie sich
mit ihm unterhalten. Und dann habe ich auch noch mit ansehen müssen,
wie Herr Fröhlich in ihrer Gegenwart eine Pistole geschwenkt hat.“
Jetzt wurde es Frau Schmidt doch
ziemlich ungemütlich. Sie stammelte: „Aber das kann ja gar nicht
sein. Das war vorgestern, da waren sie doch noch gar nicht…“ Die
Hausfrau hielt sich die Hand vor den Mund. Zu spät bemerkte sie,
dass sie sich verraten hatte.
Frau Sauerlich biss sofort an:
„Also geben sie zu, dass da etwas faul ist?“
„Sie können mir gar nichts
beweisen.“ Frau Schmidt verschränkte trotzig die Arme. „Wie sind
sie überhaupt zu diesen Informationen gekommen?“
„Ich höre mich nur um. Und
ich habe einen guten Bekannten in diesem Haus, der sich gerade in
diesem Moment mit Herrn Fröhlich unterhält. Also, es hat keinen
Zweck, zu lügen. Was ist hier los?“
Frau Schmidt suchte fieberhaft
nach einer plausiblen Erklärung, mit der sie Frau Sauerlich
abwimmeln konnte.
„Ja… das ist nicht einfach…“
Hilflos stammelte sie vor sich hin.
Erbarmungslos drängte ihr
Gegenüber weiter.
„Ich will es aber hören.“
„Na gut“, meinte Frau
Schmidt. Es half nichts, ein Teil der Wahrheit musste preisgegeben
werden. „Aber ich muss mich darauf verlassen, dass sie es für sich
behalten.“
„Das werde wohl noch ich
entscheiden.“
„Wie sie meinen. Sagen sie
nicht, ich hätte sie nicht gewarnt. Graf Maibusch, ihr alter Freund,
vermutet, dass einer seiner Brüder sich damals den größten Teil
des Erbes gekrallt hat, obwohl es gleichmäßig aufgeteilt werden
sollte.“
„Ich verstehe!“ rief Frau
Sauerlich erfreut. „Jetzt veranstaltet mein Henry also dieses
Familientreffen, um seinen Brüdern mal genauer auf den Zahn zu
fühlen.“
„Ja. Herr Fröhlich soll dabei
die Rechtsgrundlagen als Beweis heranziehen und Graf Maibusch
vertreten.“
„Aber ich verstehe nicht, was
sie damit zu tun haben.“
„Frau Sauerlich, ich bin seit
zehn Jahren hier. Der Graf hat mir immer alles anvertraut, was
irgendwie wichtig war. Ich habe mich also mit Herrn Fröhlich
abgesprochen und unterstütze den Grafen bei seinem Plan.“
„Und was hat eine Pistole bei
dieser Unterredung zu suchen?“ Frau Sauerlich war noch immer nicht
zufrieden, doch die Hausfrau wusste auch darauf eine Antwort.
„Herr Fröhlich will die
Brüder zur Rede stellen, wenn es soweit ist. Er befürchtet, dass
einer von ihnen gewalttätig werden könnte. Also braucht er etwas
zur Verteidigung. Nur für den Notfall, sie verstehen?“
„Das klingt ja alles schön
und gut, aber irgendwie noch zu halbseiden. Hört sich ja fast an,
als hätten sie sich das aus einer dieser Talkshows abgeschaut.
Irgendwie ist mir das noch zu halbseiden. Henry vertraut Leonard. Nur
der andere Bruder, Friedrich, könnte zu Gewalt neigen. Aber der ist
ja noch nicht einmal eingeladen. Also irgendwie traue ich ihnen
nicht.“
Frau Schmidt stand auf und warf
einen prüfenden Blick durch das Zimmer. Ohne Frau Sauerlich eines
weiteren Blickes zu würdigen, meinte sie: „Das bleibt ihre Sache.
Ich habe alles gesagt. Aus Herrn Fröhlich werden sie nicht mehr
herausbekommen.“ Erleichtert über ihre elegante Flucht verließ
Frau Schmidt das Zimmer. Sie musste nachher unbedingt mit dem Anwalt
sprechen, an einem ungestörten Ort.
Derweil hatte Herr Fröhlich
ähnliche Sorgen wie Frau Schmidt. Er saß auf dem Drehstuhl im
Arbeitszimmer des Grafen und blickte Herrn Hansen an, der
provozierend am Regal lehnte. Solch alte Menschen sollten nicht
versuchen, cool zu wirken, dachte der Anwalt und fragte: „Was
gibt’s?“
„Herr Fröhlich, ich arbeite
ja erst seit kurzem hier. Ich kenne mich mit den Eigenarten
bestimmter Leute noch nicht so aus. Erzählen sie mir doch ein wenig
darüber.“
Entspannt lehnte sich der
Angesprochene im Stuhl zurück. Endlich mal ging es nicht darum, ihm
die Schuld für das Leiden seiner Tochter zuzuschieben. Er war froh,
endlich wieder normal mit jemandem reden zu können. Davon wollte er
sich aber auf keinen Fall etwas anmerken lassen.
Daher sagte er gelangweilt:
„Scheint sie tatsächlich zu interessieren. Sonst hätten sie mich
wohl kaum hierher gebeten. Also, Frau Sauerlich ist die Freundin des
Grafen. Sie ist immer ein wenig rücksichtslos, manchmal furchtbar
aufgetakelt und überkandidelt. Das lässt aber nach ein paar Stunden
nach, sie müssen sich nur daran gewöhnen.“
Herr Hansen schloss die Augen.
Daran gewöhnen, dass die Frau mich niederschlägt?
Davon unbeeindruckt fuhr Herr
Fröhlich fort: „Herr Flip, also, über den weiß ich selbst nicht
viel. Er soll dem Grafen mal das Leben gerettet haben. Da weiß ich
nichts von.“
„Stimmt, er hatte das mal
angesprochen. Das muss aber ganz schön wichtig sein, wenn Herr Flip
deswegen zum Erben ernannt wurde.“
„Sie wissen davon?“ fragte
der Anwalt überrascht. „Hier scheint ja nichts geheim zu bleiben.
Aber ich kann ihnen versichern, dass sie gut unterrichtet sind. Über
meine Tochter kann ich ihnen nicht viel erzählen. Da fragen sie sie
besser selbst. So, das war´s schon.“
„Moment“, schaltete der
Gärtner sich ein wenig zu laut ein, „was ist mit Frau Schmidt?“
Sofort wurde Herr Fröhlich
misstrauisch.
„Frau Schmidt? Die kenne ich
doch kaum. Damals, als das mit der Erbschaft von Graf Maibuschs Vater
geregelt werden musste, haben wir uns kennen gelernt. Aber es blieb
beim einfachen Gruß, dann war alles erledigt. Sie werden die
Hausfrau schon noch lieb gewinnen.“
„Wahrscheinlich nicht so
schnell wie sie. Ich habe gesehen, wie sie ihr letztens eine Pistole
vor die Nase gehalten haben“, sagte Herr Hansen bohrend. „Hat es
dafür einen triftigen Grund gegeben?“
Herr Fröhlich stand auf. Es
wurde ihm sehr ungemütlich. Woher wusste Herr Hansen so viel? Er war
nur der Gärtner!
Er antwortete kühl: „Sie
werden es nicht glauben, aber Frau Schmidt mag alte Dinge. Sie wissen
schon, Reliquien, die einst dieses Herrenhaus schmückten. Ich habe
auf dem Dachboden diese alte Pistole gefunden und Frau Schmidt war
ganz begeistert“, log er.
„Sie sah aber nicht sehr
fröhlich aus.“
„Kein Wunder. Solche alten
Gegenstände sind richtig schön, wenn noch eine Staubschicht darauf
ist. Auch eine Patina kann dem Ganzen eine ehrwürdige Ausstrahlung
verleihen. Und ich Trampel habe das Ding vorher extra noch
abgewischt, damit es nicht so hässlich aussieht.“
„So eine hanebüchene
Geschichte soll ich ihnen glauben? Dass Frau Schmidt die Pistole in
all ihrer Dienstzeit hier übersehen hat?“ Herr Hansen tippte sich
an die Stirn.
„Ich sagte doch, sie war auf
dem Dachboden. In einer der Kisten, und sofern Frau Schmidt diese
nicht alle durchgeforstet hat, kann sie das Teil gar nicht gesehen
haben.“
„Dann stellt sich mir jetzt
die Frage, was sie in den Kisten da oben zu suchen hatten. Sie kommen
mir sehr seltsam vor. Ich werde sie im Augen behalten“, meinte Herr
Hansen und umkreiste den Anwalt wie der Fuchs seine Beute.
Herr Fröhlich, der eben noch
recht unsicher gewirkt hatte, blickte auf und schritt mit aufrechtem
Gang zur Tür.
„Machen sie doch, was sie
wollen. Das muss ich mir nicht länger bieten lassen“, zischte er
den alten Mann an und trat hinaus auf den Korridor. Ich muss Frau
Schmidt finden, dachte er. Das duldet keinen Aufschub.
Nachdem die Hausfrau fieberhaft
nach Herrn Fröhlich gesucht hatte, stieß sie auf der Haupttreppe
beinahe mit ihm zusammen.
„Da sind sie ja, ich habe sie
schon gesucht. Kommen sie mit, wir müssen uns unterhalten!“
Sie zog den Anwalt am Ärmel mit
sich in die Waschküche unten. Dort war sie sich sicher, nicht
gestört zu werden. Herr Fröhlich rümpfte die Nase. Die feuchtwarme
Luft und der starke Geruch von Waschmittel behagten ihm nicht. Dafür
war jetzt jedoch keine Zeit. Frau Schmidt schaute sich um und schloss
dann die Tür.
„Herr Fröhlich“, begann
sie, „Frau Sauerlich hat mich mit sehr unangenehmen Fragen genervt.
Ich glaube, sie vermutet etwas von unserem kleinen Spiel.“
„Genauso erging es mir mit
Herrn Hansen. Unglaublich penetrant hat er versucht, alles aus mir
herauszuquetschen. Erst nur mit harmlosen Fragen, aber dann… Haben
sie keine Angst – die beiden wissen bestimmt nichts. Wie sollten
sie auch? Sie haben uns nur bei unserer Unterredung beobachtet und
wollen jetzt auf den Busch klopfen.“
„Da gibt es schon einen
kleinen Widerspruch. Frau Sauerlich kann uns gar nicht gesehen haben,
die war noch gar nicht da zu diesem Zeitpunkt.“
Herr Fröhlich hockte sich auf
einen Holzblock.
„Stimmt. Das heißt, die
beiden stecken auch unter einer Decke. Was haben sie Frau Sauerlich
erzählt?“
„Sie werden nicht sehr
zufrieden sein. Ich habe ihr von dem Plan des Grafen berichtet. Dass
er seine Brüder überprüfen will und so weiter.“
„Was!“ rief Herr Fröhlich.
Frau Schmidt deutete ihm, still zu sein. Etwas leiser fuhr er fort:
„Den Grafen wird das nicht freuen! Das sollte doch geheim bleiben,
und nun weiß es ausgerechnet Frau Sauerlich, die größte
Klatschbase der Welt.“
Frau Schmidt nahm einen der
Wäschekübel und begann, die Kleidungsstücke in die Waschmaschine
zu geben. Es hatte keinen Sinn, den ganzen Tag zu schwatzen. Die
Hausarbeit musste gemacht werden. Während sie ein Teil nach dem
anderen hineinsortierte, arbeitete ihr Verstand auf Hochtouren.
„Machen sie sich keine Sorgen,
sie wollte mir eh nicht recht glauben. Ich denke, Frau Sauerlich ist
eine von der Art, die nichts weitererzählt, von dem sie selbst nicht
total überzeugt ist. Mich interessiert nun vielmehr, was sie Herrn
Hansen erzählt haben.“
„Eine absurde Geschichte. Ich
habe gesagt, dass sie Antiquitäten mögen und deshalb so begeistert
von der Pistole waren.“
Frau Schmidt blickte den Anwalt
an und stemmte die Hände in die Hüften.
„Was für ein Blödsinn. Wenn
dieser Mensch auch nur einen Funken Verstand hat, wird er Verdacht
schöpfen. Und der Graf kriegt von alledem scheinbar gar nichts mit.“
„Das ist auch gut so. Er darf
unter keinen Umständen erfahren, dass wir hinter dem verschwundenen
Geld stecken. Wir müssen verhindern, dass Frau Sauerlich und Herr
Hansen neugierig werden.“
„Na toll. Die springen doch
wie die Spürhunde auf unsere Fährte an, wenn sie sich besprechen
und dabei herauskommt, dass wir ihnen völlig verschiedene Märchen
aufgetischt haben.“
„Ich sehe das Problem nicht“,
meinte Herr Fröhlich ruhig. „Sie werden sich darum kümmern, dass
die beiden nicht irgendwo zusammenkommen und sich austauschen. Das
könnte verheerende Folgen für mich und auch für sie haben.“
„Das haben wir ja schon einmal
durchdiskutiert. Ich bin nicht für den Knast geboren. Also, wir
müssen die beiden trennen.“
„Und wie lange?“
„Tja… auf Dauer kann das
nicht gut gehen.“
„Also, wenn wir es bis zum
Ende des Familientreffens schaffen, habe ich einen Ausweg. Ich könnte
Graf Maibusch irgendeinen Unsinn erzählen, dass sein Bruder Leonard
das Geld an sich gerissen hat.“
Davon war die Hausfrau nicht
überzeugt.
„Denken sie etwa, dass Leonard
das zugeben wird?“ fragte sie.
„Natürlich nicht, er hat es
ja nicht getan“, lenkte der Anwalt ein. „Deshalb werden sie ihn
aus dem Weg räumen“, fügte er hinzu und hob eine schwere
Rohrzange auf, die neben dem Holzblock auf dem Steinboden lag. Frau
Schmidt blickte zunächst misstrauisch auf das Werkzeug. Es war
dieselbe Zange, die sie gestern in die Kiste in der Speisekammer
gelegt hatte… oder war es vorgestern? Und wie kommt sie jetzt
hierhin?
„Ich verlasse mich auf sie,
sie sind ja auch sonst so eine kompetente Person“, meinte Herr
Fröhlich süffisant und drückte ihr das Werkzeug in die Hand.
Daraufhin verließ er den Raum.
Frau Schmidt stellte die
Waschmaschine an und betrachtete die Rohrzange in ihrer Hand. „Es
muss auch noch eine einfachere Methode geben. Na warten sie, lieber
Graf…“, sagte sie in die Stille, die nur vom Summen der
Waschtrommel unterbrochen wurde. Plötzlich erschien ihr der Gedanke
an Mord nicht mehr ganz so abwegig. Mit Gedanken, die nicht viel
reiner waren als die noch ungewaschene Wäsche ging sie schwerfällig
auf den Ausgang zu.
Kapitel
4
Das herrliche Wetter lud dazu
ein, draußen zu sitzen. Graf Maibusch hatte James eingeladen, sich
eine Pause zu gönnen. Daher saßen beide im Pavillon im Garten und
tranken Tee. Herr Hansen war dabei beschäftigt, diverse Blumen und
kleine Sträucher umzusetzen und die Beete zu gießen. Der Graf
schaute freudig auf den Garten, der immer schöner wurde. James hatte
eine Illustrierte in der Hand und blätterte interessiert. Hin und
wieder blickte er verächtlich auf eine Schlagzeile. Dann gab er das
Blatt dem Grafen und tippte auf einen Artikel.
„Sehen sie sich das mal an!
Familiendrama – Tochter tötet Vater wegen Make-up. Also, so einen
Unsinn habe ich schon lange nicht mehr gelesen“, sagte er.
Graf Maibusch riss ihm die
Zeitschrift aus der Hand und warf sie auf den Boden.
„Sie sollten ja auch nicht so
einen Schwachsinn lesen, James. Käseblätter sind nichts für die
gehobene Klasse. Ich will nicht, dass morgen auch nur ein Blatt
dieser Sorte in meinem Anwesen zu finden ist. Beseitigen sie diesen
Müll bitte, wenn sie genug pausiert haben“, ordnete er an.
„Ich werde dafür sorgen,
Sir“, erwiderte der Butler untertänig. „Haben sie sonst noch
irgendwelche speziellen Wünsche bezüglich der Feier morgen?“
„Ja. Alles muss perfekt
werden. Aber ich merke schon, bei dieser Gästewahl könnte das etwas
schwierig werden. Wir müssen das Beste daraus machen.“
James drehte die Augen gen
Himmel.
„Sie sprechen gerade so, als
sei dieses Familientreffen ein notwendiges Übel! Sie haben es doch
selber angeleiert. Freuen sie sich etwa nicht, die Familie wieder
vereint zu wissen?“
Der Graf schaute etwas verlegen
in die Gegend. „Vielleicht sollte ich ihnen dazu etwas gestehen“,
druckste er.
„Das halte ich für gar keine
schlechte Idee. Wenn es zumindest ein paar der Probleme hier klärt.
Ich versuche krampfhaft, eine Erklärung für das Verhalten einiger
Personen hier zu finden.“
Graf Maibusch war durch das
forsche Auftreten des Butlers ein wenig eingeschüchtert. „Vielleicht
könnten sie etwas deutlicher werden?“ fragte er.
„Selbstverständlich! Frau
Schmidt ist ebenfalls Angestellte hier. Sie ist Hausfrau, verhält
sich aber wie ein internationaler Spion. Es kommt mir so vor, als
wüsste sie viel mehr als wir alle.“
„Ich habe sie in mein
Vertrauen gezogen“, erklärte der Graf und blickte dabei auf Herrn
Hansen, der jetzt mit einem kleinen Bäumchen den Weg in den Park
betrat, „das ist doch selbstverständlich. Sie arbeitet seit zehn
Jahren hier und ich weiß, dass ich ihr vertrauen kann. Sie sehen ja
selbst, dass Frau Schmidt nichts verrät.“
„Und sie verraten mir auch
nichts“, stellte James fest. „Sie mogeln sich um meine Fragen
herum.“
Graf Maibusch übertünchte
seine Verlegenheit, indem er forsch aufstand und herablassend
erklärte: „James, ich muss sie darauf hinweisen, dass ich durchaus
ein Recht auf Privatsphäre habe. Ich bitte sie, das zu
respektieren.“ Damit ging er zurück zum Haus.
James blieb auf der Bank sitzen
und schaute seinem Arbeitgeber hinterher. Ich bekomme keine
Antworten, dachte er. Immer wieder neue Fragen. Der Graf hat also
etwas zu verbergen, das hat er selbst zugegeben. Ich werde wohl Frau
Schmidt fragen müssen. Vielleicht ist sie etwas redseliger.
Der Butler sah, wie eine Frau
den Weg des Grafen kreuzte. Sie grüßte ihn. Graf Maibusch schien
ein paar Worte zu sagen und deutete dann zum Pavillon hin, wo James
saß. Die Frau nickte und ging dann zum Pavillon.
Sie kam direkt zum Butler und
schüttelte seine Hand. Freundlich grüßte sie: „Guten Tag! Sie
müssen James sein. Ich bin Konstanze Braunfeld, ihre Nachbarin. Ich
habe eben den Grafen getroffen, aber er wollte nicht mit mir reden
und hat mich an sie verwiesen“, sagte sie entschuldigend.
„Das ist schon in Ordnung.“
Der Butler wies auf den eben freigewordenen Platz. „Setzen sie sich
zu mir, dann können wir uns ein wenig unterhalten.“
Frau Braunfeld setzte sich auf
die Bank und beugte sich dann vor.
„Also, James, irgendwie kommt
mir der Graf in letzter Zeit ein wenig merkwürdig vor. Können sie
sich das erklären?“
„Das ist ganz erstaunlich“,
sagte James. „Wissen sie, ich arbeite erst seit ein paar Tagen
hier, und doch habe auch ich eine Veränderung mitbekommen. Es ist
mir genauso rätselhaft wie ihnen. Aber das muss an den Gästen in
diesem Haus liegen.“ Er sah, wie Herr Hansen wieder aus dem Park
herauskam und zur Hausvorderseite ging.
„Wegen des Familientreffens
morgen?“ fragte Frau Braunfeld.
„Nicht unbedingt. Die
Anwesenden reichen schon völlig aus. Da laufen irgendwelche krummen
Geschäfte ab, scheint es mir. Ich will der Sache mal nachgehen.“
Konstanze Braunfeld lehnte sich
zurück. Ein Butler, der Nachforschungen anstellt?
„Ich will ihnen ja nichts
vorschreiben, aber denken sie nicht, dass das weit über den
Aufgabenbereich eines Butlers hinausgeht?“ fragte sie zweifelnd.
James sah es an der Zeit, seine
Aufgaben zu erklären.
„Ganz unrecht haben sie
natürlich nicht, aber ich will ihnen mal sagen, warum ich es
trotzdem machen werden. Erstens sind meine Aufgaben als Butler hier
sehr beschränkt. Es gibt in der Tat wenig zu tun, gerade, da das
Treffen verschoben wurde. Ich sitze hier fast nur herum. Hier und da
mal etwas zur Seite räumen, aber auf mehr läuft es nicht hinaus.
Meine Hauptrolle ist die des Adelsrepräsentanten. Morgen beim
Familientreffen will der Graf etwas darstellen, daher der ganze
Hofstaat. Sie dürfen ihm das nicht übel nehmen“, setzte er hinzu,
als er sah, wie Frau Braunfeld leise kicherte. „Zweitens beunruhigt
mich die Lage sehr. Diese geheimen Machenschaften überall stellen
eine Bedrohung für den Grafen dar. Sie hätten gestern Abend hier
sein sollen!“
„Gestern Abend? Warum denn?“
fragte die Braunfeld neugierig.
„Kennen sie Fräulein Maria,
die Nichte des Grafen?“
„Ja. Sie ist so ein nettes
Mädel…“
„Manchmal auch ziemlich keck.
Allein diese aufreizende Kleidung, dem Anlass völlig unangemessen.
Wie dem auch sei, dann kennen sie bestimmt auch Herrn Fröhlich?“
„Allerdings. Ich habe ihn auch
schon mal aufgesucht. Er ist ein sehr kompetenter Anwalt, wenn er
nicht so eine Schwäche für gewisse Gelder hätte.“
„Sie meinen, er ist
bestechlich?“ fragte der Butler ungläubig. Wie kann ein so
angesehener Mensch es sich erlauben, krumme Geschäfte zu machen?
„Ich kann es ja ruhig sagen,
es ist unter seinen Klienten und Bekannten ein offenes Geheimnis.
Seine Hobbies sind Golf und Korruption.“
„Moment, besticht er oder wird
er bestochen?“
„Wie es halt am besten passt.“
„Ich danke ihnen für diese
Information. Das ist wirklich sehr interessant. Jedenfalls hat der
Graf beide, Fräulein Maria und Herrn Fröhlich, für das Fest
eingeladen. Er hat nicht mehr gewusst, dass Herr Fröhlich der Vater
von Maria ist.“
Diese Nachricht war auch für
Frau Braunfeld eine Neuigkeit. Erschrocken hielt sie die Hand vor den
Mund.
„Du meine Güte! Der Kerl, der
das arme Mädchen und ihre Mutter verlassen hat, ist Herr Fröhlich?“
fragte sie empört.
James blieb sachlich. „So ist
es. Gestern hat es eine heftige Auseinandersetzung zwischen den
beiden gegeben. Ich kann nur hoffen, dass es eine Versöhnung gibt.“
Die elegante Frau schaute ihn
spöttisch an.
„Sie sind ein Optimist. Herr
Fröhlich hat Frau Mahler…“, als sie James´ fragenden Blick sah,
ergänzte sie: „Das ist Marias Mutter. Jedenfalls hat er ihr so
viel angetan. Ich glaube nicht, dass das jemals behoben werden kann.
Somit dürften jetzt zwei Leute ziemlich sauer auf Graf Maibusch
sein.“
James überlegte und sprach
schließlich aus, was beide dachten: „Es bleibt nur zu hoffen, dass
die Situation nicht eskaliert.“
„Ich weiß auch gar nicht
mehr, ob ich morgen kommen soll oder nicht“, sagte Frau Braunfeld
bedrückt.
„Ach, sie sind auch
eingeladen?“
„Der Graf war so freundlich“,
erwiderte sie.
„Ich bitte sie, kommen sie!
Wir müssen zusammen versuchen, das Schlimmste zu verhindern“,
sagte der Butler aufmunternd und blickte die Nachbarin an. Sie hatte
neuen Mut geschöpft.
„Gut. Wir sehen uns morgen.
Und sagen sie keinem ein Wort von unserer Unterhaltung“, sagte sie
entschlossen.
„Natürlich nicht“,
versicherte James und schüttelte ihr zum Abschied die Hand.
Wo ist Frau Schmidt, wenn man
sie mal braucht, dachte Herr Flip und durchsuchte fluchend die Regale
der Speisekammer nach Essbarem. Er merkte nicht, wie von hinten
Fräulein Maria sich anschlich. Sie tippte ihm auf die Schulter,
worauf er zusammenzuckte und sich umdrehte.
„Sie sind doch Herr Flip,
nicht wahr?“ fragte sie freundlich.
Ihr Gegenüber hatte sich von
dem Schrecken erholt und antwortete: „Und sie sind Fräulein Maria.
Suchen sie auch etwas zu essen?“
„Scheint so, sonst würde ich
diesen engen, vollgestopften Raum nie betreten.“ Fräulein Maria
blickte sich nach allen Seiten um und rümpfte die Nase. „Ich bin
Besseres gewöhnt.“
„Vielleicht kann ich ihnen
helfen“, schlug Flip vor. „Suchen sie etwas Bestimmtes?“
Doch die junge Dame winkte ab.
„Ach lassen sie nur. Wenn ich
all diese Schlemmereien sehe, wird mir übel. Davon werde ich fett.“
Herr Flip blickte Maria an. Von
fett konnte gar keine Rede sein. Sie trug mal wieder sehr
figurbetonte Kleidung, die keinen Zweifel an ihrem schlanken Körper
ließ. Gleichzeitig warf Fräulein Maria einen neugierigen Blick auf
Flip. Er scheint gut in Form zu sein, dachte sie und schmunzelte.
Dann setzte sie wieder eine kühle Miene auf und sagte: „Sie können
mir aber anderweitig helfen.“
„Geht es um ihren Vater?“
fragte Flip ahnend.
„Genau. Ich hatte gehofft, es
würde nicht Gesprächsthema Nummer Eins werden, aber dazu ist es ja
jetzt wohl zu spät.“ Ungeniert griff sie sich einen Apfel vom
Regal und biss herzhaft hinein.
„Dafür war ihr Auftritt aber
auch zu beeindruckend.“ Der junge Mann schmunzelte und erinnerte
sich an den Vorabend. Die Szene erinnerte ihn an eine schlechte
Seifenoper.
Dafür hatte Maria überhaupt
kein Verständnis. „Sie tun ja gerade so, als hätte mir das Spaß
gemacht“, sagte sie vorwurfsvoll. „Sie wissen doch, was dieser
Mensch mir und meiner Mutter angetan hat. Da ist es nur natürlich,
wenn ich die Nerven verliere.“
„Trotzdem sollten sie sich
zurückhalten.“ Herr Flip versuchte es nun auf die einfühlsame
Tour. „Es gibt Menschen, die nimmt so ein Ereignis derart mit, dass
sie zu erschreckenden Mitteln greifen. Ich bitte sie, diesen Fehler
nicht auch zu begehen.“
„Wem wäre denn damit
geholfen? Es gibt nichts, was diese Schande rückgängig machen
kann.“
Herr Flip beobachtete Fräulein
Maria, die trotzig ein weiteres Mal in ihren Apfel biss. Er hielt es
für besser, dem jungen Mädchen reinen Wein einzuschenken, damit es
nicht zu noch mehr Enttäuschungen für sie kommt. Er setzte an: „Es
wird ihnen sicher keine Freude bereiten, was ich ihnen zu erzählen
habe. Der Graf und Herr Fröhlich arbeiten zusammen.“ Fräulein
Maria blickte ihn scharf an. Er fuhr fort: „Graf Maibusch hat
dieses Treffen extra organisiert, um…“
Fräulein Maria brauste auf:
„Was!!! Das hat er alles mit Absicht gemacht? Ich hasse ihn, diesen
verdammten Mistkerl. Wie kann er seiner Nichte nur so etwas antun!
Oh, wenn sie wüssten, was für eine Wut ich habe“, zischte sie
Flip an, der einen Schritt zurückgewichen war. Die Aufgebrachte ging
auf ihn zu. „Gehen sie mir aus dem Weg, ich brauche was Handfestes,
um meinen Zorn abzulassen.“
„Fräulein Maria, sie haben
mich falsch verstanden!“
„Ich verstehe noch sehr gut.
Graf Maibusch hat das alles zusammen mit meinem Vater geplant, um
mich in den Wahnsinn zu treiben, doch damit ist jetzt Schluss. Ich
werde diesen miesen Wurm beseitigen, damit ich ihn nie mehr ertragen
muss.“
„Wen meinen sie?“
„Was macht das schon aus? Ich
werde beide erledigen. Herrn Fröhlich für seine Hinterhältigkeit
und meinen Onkel, um mich an ihm zu rächen. Die beiden werden nichts
mehr zu lachen haben. Gehen sie schon weg, da muss doch irgendwas
sein, um mich zu verteidigen!“
Fräulein Maria wollte an das
hintere Regal gelangen, doch Herr Flip versperrte ihr den Weg. Mit
beiden Händen drängte er die Furie zurück. Fräulein Maria sah
ein, dass sie hier nicht weiterkommen würde. Sie drehte sich auf der
Stelle um und sagte: „Gut, wenn sogar sie schon gegen mich sind –
ich kann mir auch alleine helfen.“
Fräulein Maria rauschte davon.
Herr Flip war beeindruckt von dieser turbulenten jungen Frau. Er rief
hinterher: „Aber sie haben das falsch verstanden! Die beiden
arbeiten zusammen, um mir zu helfen!“ Doch das hatte sie
wahrscheinlich schon nicht mehr gehört.
Nach dem Gespräch mit Frau
Braunfeld war James ernüchtert von Graf Maibuschs Verschlossenheit
ins Haus gegangen, in der Hoffnung, aus Frau Sauerlich die Wahrheit
herauszubekommen. Er fand die Hausfrau im Bügelzimmer. Sie legte
gerade die Wäsche zusammen. Das Rollo war zum größten Teil
heruntergezogen, um vor der blendenden Sonne zu schützen. Dadurch
herrschte eine gedämpfte, düstere Atmosphäre in dem Raum, ganz
anders als im Rest des Hauses. Frau Schmidt schien sich hier wohl zu
fühlen. Leise betrat der Butler das Zimmer und setzte sich auf einen
Stuhl. Eine Zeitlang schaute er Frau Schmidt beim Bügeln zu.
„Ist was?“ fragte sie
schließlich gereizt.
„Frau Schmidt, bitte erzählen
sie mir, was sie wissen. Ich weiß, dass sie und der Graf mir einiges
verheimlichen. Ich bin immerhin der Butler. Ich fürchte, dass das
Familientreffen unter dunklen Vorzeichen steht und würde gerne das
Schlimmste verhindern, aber ich kann nicht, wenn sie mich über alles
im Unklaren lassen.“
„Lassen sie es, James“,
antwortete Frau Schmidt kühl. „Sie sind hier genauso Angestellter
wie ich. Ich wüsste nicht, was ich wissen sollte, dass sie nicht
bereits erfahren haben.“ Demonstrativ knallte sie das Bügeleisen
auf den Tisch. „Es spricht sich doch sonst alles so schnell herum“,
höhnte sie.
„Der Graf hat es mir selbst
gesagt. Ihnen hat er etwas anvertraut, weil sie nun schon seit
mittlerweile zehn Jahren hier arbeiten. Ich bin zwar erst kurz hier,
aber mir ist klar, dass hier einige Leute unter einer Decke stecken.
Das wäre ja noch harmlos, wenn es nicht gleich mehrere Decken auf
einmal wären.“
Frau Schmidt drehte sich um und
stemmte die Hände in die Hüften. Was redete dieser Mensch für ein
wirres Zeug!
„Könnten sie sich vielleicht
etwas klarer ausdrücken“, forderte sie.
„Herr Hansen hat irgendetwas
mit dem Grafen zu tun. Das spürt man einfach, wenn ich auch nicht
weiß, worum es geht. Gleichzeitig ist da aber auch etwas mit Herrn
Flip und Frau Sauerlich. Während Frau Sauerlich wiederum scheinbar
etwas mit ihnen im Schilde führt.“
„Mit mir?“ fragte Frau
Schmidt erstaunt, wobei sie das „mit“ betonte. Hatte diese
aufgetakelte Frau sie nicht erst kürzlich ganz unverschämt verhört?
„Da müssen sie sich täuschen, ich kann Frau Sauerlich nicht
leiden. Sie ist mir ein wenig zu resolut, wenn sie auch in letzter
Zeit scheinbar unter Schwächeanfällen leidet.“
„Das liegt vielleicht am
Wetter“, vermutete der Butler. „Jedenfalls kann ich wohl keinem
im Haus trauen, außer vielleicht Fräulein Maria.“
Wie aufs Stichwort stürmte
Fräulein Maria in das Zimmer. In der rechten Hand hielt sie eine
Pistole.
„Wo ist mein Onkel?“ bellte
sie, schaute sich kurz um und ging wieder, ohne eine Antwort
abzuwarten. James schaute zur offenen Tür.
„Scheinbar habe ich mich
geirrt. Ich werde nachher ein ernstes Wort mit der jungen Frau reden
müssen.“
„James, sie machen mich
wahnsinnig. Als ich ihnen sagte, sie sollten wie ein typischer Butler
auftreten, meinte ich nicht die Neugier mit eingeschlossen! Für wen
halten sie sich denn? Halten es für nötig, die Besucher
auszuhorchen. Als ob das nötig wäre. Aber tun sie doch, was sie
wollen. Nur belästigen sie mich nicht weiter!“
Frau Schmidt verließ das
Zimmer, ohne sich die Mühe zu machen, die Kleidungsstücke vom
Bügeltisch wegzuräumen. James runzelte die Stirn und öffnete das
Rollo.
Frau Schmidt schritt inzwischen
forsch den Flur entlang, als sie aus dem Arbeitszimmer von Graf
Maibusch Stimmen hörte. Sie öffnete die Tür und sah erschrocken,
wie Frau Sauerlich sich mit dem Gärtner unterhielt.
„Frau Sauerlich! Und Herr
Hansen!“ schrie sie.
Entsetzt dachte sie an ihr
Gespräch mit Herrn Fröhlich und um welchen Preis verhindert werden
musste, dass die beiden sich unterhielten. So abrupt, dass die beiden
fast einen Herzinfarkt bekamen, änderte Frau Schmidt ihren Tonfall
und brüllte in den Flur: „Herr Fröhlich!! Kümmern sie sich mal
um Herrn Hansen hier.“ Dann ging sie zu Frau Sauerlich, packte sie
am Arm und zog sie hinaus auf den Flur in das Bad gegenüber. Hinter
sich schloss sie die Tür ab.
„Frau Schmidt, was erlauben
sie sich eigentlich? Ihr Verhalten ist empörend!“ schnaufte Frau
Sauerlich.
„Es ist nur zu ihrem Besten“,
antwortete Frau Schmidt, jetzt etwas ruhiger.
„Wie meinen sie das, zu ihrem
Besten?“ Frau Sauerlichs Knie wurden weich und sie taumelte ein
paar Schritte. Sie setzte sich auf die Toilette und hielt sich den
Kopf.
Geduldig stand Frau Schmidt
daneben.
„Diese Anfälle scheinen sich
zur reinen Plage zu entwickeln“, sagte sie. Es war nicht zu
erkennen, ob sie es fürsorglich oder entnervt meinte. Frau Sauerlich
jedenfalls winkte ab.
„Aber ich bitte sie, das ist
nicht so schlimm. So, und nun erklären sie mir, was das hier soll.
Ich wollte mich gerade gemütlich mit Herrn Hansen unterhalten.“
Frau Schmidt atmete auf. Also
hatten die beiden noch nichts besprochen. Dann blickte sie
misstrauisch auf die edle Dame, die auf der Toilette zusammengesunken
mit dem Kopf in die Hände gestützt wie eine Betrunkene aussah.
„Und worüber?“ fragte sie
spitz. „Wollten sie wieder über mich und Herrn Fröhlich
tratschen? Ich lasse es nicht zu, dass irgendjemand Lügen über mich
verbreitet. Also seien sie still. Das wird das Beste für alle sein.“
Sie nickte selbstzufrieden.
Frau Sauerlich war damit nicht
einverstanden.
„Unerhört“, klagte sie.
„Das ist einfach unerhört! Woher nehmen sie das Recht, so mit mir
zu reden? Sie sind hier nur die Putzfrau. Ich werde zu Henry gehen
und mit ihm über ihr bourgeoises Verhalten reden. Wenn sie so
weitermachen, wird er sie entlassen.“
„Da wäre ich mir nicht so
sicher. Ich arbeite seit langer Zeit hier, und sie sind doch nur so
ein Emporkömmling. Ah“, fluchte sie, „ich weiß schon, warum ich
Angst hatte, dass sie kommen würden. Sie machen nur Ärger.“
„Sie wagen es, mich als
Emporkömmling zu bezeichnen? Ich garantiere ihnen, lange werden sie
hier nichts mehr zu lachen haben, auf die eine oder andere Art!“
Mit diesen Worten nahm sie das
Seidentuch von ihren Schultern, knüllte es zusammen und warf es Frau
Schmidt ins Gesicht. Hochhackig schloss sie die Tür auf und ging
davon. Wenn sie Krieg wollen, sollen sie Krieg haben, dachte Frau
Schmidt und nahm das Tuch fest zwischen beide Hände. Soll noch einer
sagen, ich wäre hier nur die Hausfrau…
Graf Maibusch hatte den Butler
in den Salon bestellt. Da die Dämmerung bereits eingesetzt hatte,
erhellten die Leuchter an der Decke den Raum. Graf Maibusch saß an
seinem Schreibtisch. Da dieses Zimmer am nächsten Tag mit Gästen
gefüllt sein würde, hatte der Graf sich die Mühe gemacht und die
Arbeitsfläche von allen herumliegenden Papieren befreit. Solch eine
Unordnung konnte er seinen Gästen nicht zumuten, obwohl er selbst
nach der Devise handelte: Nur ein Genie beherrscht das Chaos.
James stand daneben und blickte
beiläufig durch den Raum. Es war alles für den Besuch gerüstet.
Graf Maibusch nahm eine Liste zur Hand und hakte mit einem Bleistift
systematisch einen Punkt nach dem anderen ab.
„Dann wollen wir doch mal
sehen, ob für morgen alles vorbereitet ist. Sind die Gästezimmer
fertig?“ fragte er.
„Aber natürlich“,
antwortete James unterwürfig.
„Wie sieht es mit dem Essen
aus?“
„Also, nachher wird wie immer
Frau Schmidt das Essen vorbereiten. Wegen der vorzüglichen Menüfolge
morgen werde ich ihr dann zur Hand gehen.“
„Also will sie tatsächlich
das Essen für so viele Leute vorbereiten? Ich hatte ihr doch zu
einem Partyservice geraten.“
„Und sie dabei in ihrer Ehre
gekränkt“, fügte der Butler hinzu. „Sie wird das schon
schaffen, sie ist ja nicht unfähig.“
„Kommen wir zum nächsten
Punkt.“ Das Thema Frau Schmidt wurde dem Grafen unleidig. „Wer
wird morgen überhaupt kommen?“
„Eigentlich sollten sie die
Liste im Kopf haben, aber ich kann ja verstehen“, sagte James mit
unerkennbar ironischem Unterton, „dass sie ein vielbeschäftigter
Mann sind und nun durch die Verschiebung alles ein wenig
durcheinanderbringen. Zu den Gästen, die bereits hier sind, werden
noch die Komtess zu Bärenwald, ihr Onkel Joachim Mahler, ihr Bruder
Leonard und ihre Nachbarin Frau Braunfeld kommen.“
„Wir haben Glück, dass das
Treffen wegen Leonard nicht ganz ausfallen musste.“
„Sie sagen es. Aber
schließlich haben sie hier auf Gut Trontstein genügend
Möglichkeiten, die Gäste unterzubringen. Wir haben immer noch
Zimmer frei.“
„Kein Grund, uns unnötig
Arbeit zu machen.“ Graf Maibusch tippte mit dem Stift auf den
nächsten Punkt. „Mir ist das Programm für morgen noch nicht ganz
klar. Die Gäste sollen am frühen Nachmittag, gegen 14 Uhr
eintreffen. Ist das richtig?“
„So hatten sie es zumindest
auf die Einladungen geschrieben. Wir werden dann, nachdem sich alle
frisch gemacht haben, einen Willkommenstrunk reichen. Das ist ihre
Gelegenheit, ein paar Worte zu sagen. Ich hoffe, sie haben sich
darauf schon vorbereitet?“
Graf Maibusch spielte verlegen
mit dem Bleistift herum und sagte dann: „Eigentlich noch nicht so.
Was soll ich mit einer Rede? Das ist ein Familientreffen, nichts
weiter.“
„Wenn es „nichts weiter“
wäre, hätten sie es nicht extra verschoben, um es trotz aller
Hindernisse stattfinden zu lassen. Wie dem auch sei. Nach der
Begrüßung gibt es Musik und die Unterhaltungen beginnen.“
„Musik haben sie ausgesucht?“
„Graf Maibusch, ich muss sie
schon bitten. Ich bin Butler und kein Veranstalter. Nicht ich bin es,
der ihre Party organisiert. Ich überlasse ihnen die Auswahl der
musikalischen Begleitung. Wir sollten jetzt fortfahren.“
„Fahren sie fort“, meinte
der Graf.
„Gegen 16 Uhr gibt es Kaffee
und Kuchen. Dazu setzen wir uns alle zusammen. Um 19 Uhr gibt es
Abendessen, danach beginnen wir mit Bridge.“
„Wie lange ist es her, dass
ich das letzte Mal Bridge gespielt habe?“
Langsam wurde der Butler
unruhig. Wenn Graf Maibusch sich doch nur etwas auf die Arbeit
konzentrieren würde!
„Kann doch egal sein“, sagte
er genervt. „Morgen werden sie es bestens schaffen. Tja, und der
Rest des Abends ist noch nicht verplant.“
„Das ist gut, dann habe ich
Zeit, noch etwas zu erledigen“, meinte Graf Maibusch und machte
eine zusätzliche Notiz auf seinem Zettel. James versuchte, einen
Blick zu erhaschen, was ihm aber nicht gelang.
„Wenn sie mir doch nur endlich
sagen wollten, worum es geht…“
„James, ich werde langsam
gereizt. Seien sie nicht so unverschämt neugierig.“
„Nun denn“, sagte der Butler
süffisant, „warten wir also bis zum Abendessen. Frau Schmidt wird
uns bestimmt etwas Wunderbares herbeizaubern.“
James ließ den Grafen allein im
Salon zurück. Im ganzen Haus herrschte eine gespannte Stimmung, die
sich auf jeden Bewohner übertrug. Es blieb nur zu wünschen, dass
alles glimpflich abliefe.
Ein wenig später hatte Herr
Fröhlich Herrn Flip ins Kinderzimmer gebeten, in der Hoffnung, einen
unvoreingenommenen Gesprächspartner zu finden. Das Feuer der
Abendsonne leuchtete über den Garten direkt durch das große
Fenster, doch der Anwalt hatte keinen Blick für das wunderschöne
Panorama. Ihn quälten andere Sorgen.
„Herr Flip, vielleicht reden
sie noch mit mir. Inzwischen hat ja wohl jeder den Eindruck, als wäre
ich das mieseste Schwein, das man sich nur vorstellen kann.“
Herr Flip ahnte, dass es kein
leichtes Gespräch werden würde und setzte sich auf das Bett.
„Es war ja wirklich nicht die
feine Art, wie sie mit dem Fräulein Maria umgegangen sind.“
„Ich bereue es ja auch“,
antwortete der Anwalt verzweifelt. „Glauben sie nicht, dass ich
Angst hatte, sie würde hier sein?“
„Sie müssen sich einmal in
Ruhe mit ihr unterhalten.“
„Das geht leider nicht. Ich
habe es versucht, mehrmals schon, aber es hat nichts genützt. Sie
will mir einfach nicht zuhören. Kaum nähere ich mir, rennt sie
schreiend davon!“
„Sie muss wirklich sehr
verletzt sein. Soll ich vielleicht mal mit ihr reden?“ fragte der
junge Mann nicht ohne Hintergedanken.
„Das ist zwar sehr nett von
ihnen, aber es ist doch offensichtlich, dass sie eine gewisse
Sympathie zu Fräulein Maria entwickeln.“
„Das ist doch gerade gut, dann
kann ich mich mit ihr unterhalten.“
„Aber ich will doch nicht,
dass ihre Zuneigung wegen mir zerstört wird.“
„Ein unglaublich feinfühliger
Gedanke für jemanden, der seine Tochter im Stich gelassen hat. Es
gibt da noch eine Alternative, die sie eher wählen sollten.“
Herr Fröhlich wurde hellhörig.
Schnell fragte er: „Und die wäre?“
„Sprechen sie mit Frau
Sauerlich. Sie ist eine sehr resolute Person, gleichzeitig kann sie
aber auch sehr einfühlsam sein. Das war zumindest mein Eindruck bei
unserem ersten Gespräch. Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder wird
sie sie, Herr Fröhlich, niedermachen, weil sie Fräulein Maria
geschadet haben, oder sie wird ihnen helfen, weil sie ungelöste
Konflikte nicht ausstehen kann. So habe ich sie in den letzten beiden
Tagen erlebt.“
Herr Fröhlich seufzte. Es gab
keinen anderen Ausweg.
„Ich hoffe, dass sie mir
helfen wird.“
„Mehr als hoffen steht nicht
in unserer Macht“, konterte Herr Flip realistisch. Dann klopfte er
dem Anwalt kumpelhaft auf die Schulter. „Und nun lassen sie den
Kopf nicht so hängen. Es gibt gleich Essen, von Frau Schmidt
zubereitet. Sie soll eine begnadete Köchin sein.“
„Fangen sie nicht auch noch
mit Frau Schmidt an!“ Schaudernd dachte Herr Fröhlich an seine
Geschäfte mit der Hausfrau. Herr Flip schüttelte den Kopf ob der
Beziehungsprobleme seines Gegenübers.
„Herrje, sie müssen echt
Probleme haben.“ In diesem Moment hörten die beiden ein helles
Klingeln eines Glöckchens aus der Eingangshalle. Das Abendmahl war
angerichtet.
„So, nun kommen sie essen“,
forderte Herr Flip Herrn Fröhlich auf, „es wird Zeit, aus dem
Selbstmitleid zu erwachen.“
Dankbar stand der Anwalt auf und
folgte ihm Richtung Küche.
Es war schon spät, als Graf
Maibusch im Schlafanzug über den Flur schlurfte. Das Essen war sehr
reichlich gewesen und er hielt sich den Bauch. Frau Schmidt hat sich
mal wieder selbst übertroffen, dachte er und betrat sein
Schlafzimmer. Nun bin ich jedoch ziemlich müde… Seltsam, ich bin
doch sonst so eine Nachteule. Graf Maibusch gähnte vernehmlich. Die
Anderen hatten sich zurückgezogen, bis auf Herrn Hansen, Herrn Flip
und Frau Sauerlich, die noch eine Runde Karten im Salon spielten. Da
sein Schlafzimmer über dem Salon auf der anderen Seite des Flures
lag, konnte der Graf deutlich das Lachen der Sieger und die Flüche
der anderen hören. Es wird Zeit, ins Bett zu gehen, damit ich morgen
ausgeschlafen bin, sagte er sich zufrieden und legte sich in das
große Doppelbett. Im Nu war er eingeschlafen.
Die Nacht war weiter
fortgeschritten, inzwischen hatten sich alle zu Bett begeben. Graf
Maibusch schlief tief und fest und bemerkte nicht, wie eine Gestalt
unmerklich den Flur entlang schlich und die Tür zu seinem Zimmer
öffnete. Innen war es stockduster, auf dem Flur brannte das Licht.
Die Gestalt stand jetzt im Türrahmen und erhob ihre Hand. Darin
blitzte ein Gegenstand. Der Finger saß am Abzugshebel. Es knallte.
Nicht laut, aber eine Pistole muss nicht laut knallen, um ihre
Wirkung zu erreichen. Dann herrschte Totenstille.
Kapitel
5
Am nächsten Morgen lag Graf
Maibusch regungslos in seinem Bett. Er hatte die Augen geschlossen.
Die Wecker zeigten 12 Uhr und 29 Minuten an. Kein Laut war zu hören.
Dann klingelte einer der Wecker. Das Geräusch zerriss die Stille,
die im Schlafzimmer geherrscht hatte. Keine Reaktion des Grafen.
Etwa fünf Minuten später
schrillte die andere Uhr. Gleichzeitig schellte die Türglocke.
Abrupt riss Graf Maibusch die Augen auf und drehte den Kopf zur
Seite.
„Verdammt!“ rief er mit
einem Blick auf die Uhren. „Ich habe verschlafen!“
Schnell stand er auf. Dabei
entdeckte er, dass mit dem Kissen in der anderen Hälfte des Bettes
etwas nicht stimmte. Es war zerrissen. Er hob es hoch und entdeckte
darunter ein Loch in der Matratze. Nach kurzem Suchen hielt er eine
Pistolenkugel in der Hand.
Inzwischen war Frau Sauerlich
unten zur Haustür gegangen und öffnete. Zwei Gäste standen im
Vorbau. Ein Herr, der Herrn Hansen nicht unähnlich war, ebenso groß
und vielleicht nur ein paar Jahre jünger. Er trug einen braunen
Anzug. Neben ihm eine alte, aufgetakelte Dame in einem Nerzmantel mit
einem Kopfschmuck, der so teuer aussah, als könne eine Kleinfamilie
einen Monat davon leben.
Hoch erhobenen Hauptes und mit
einer schnarrenden Stimme verkündete die Dame, die Frau Sauerlich im
Auftreten in nichts nachstand: „Guten Morgen. Sie müssen das
Dienstmädchen sein. Melden sie Komtess Gladiola zu Bärenwald und
Joachim Mahler an.“
Frau Sauerlich blieb die Luft
weg. Nie hatte sie geglaubt, dass jemand noch impertinenter sein
konnte als sie selbst. Es schien, als sei sie ihrem Meister
gegenübergetreten.
Empört sagte sie: „Sie nennen
mich Dienstmädchen? Was für eine Frechheit, ich bin Henrys
Freundin.“
Diese Feststellung veranlasste
die Komtess dazu, abfällig die Nase zu rümpfen.
„Ich kann nicht sagen, dass
mein Neffe immer den besten Geschmack hatte.“
Herr Mahler schien offenbar ein
sanfteres Gemüt zu haben. Beruhigend bemerkte er zu seiner
Begleiterin: „Ach, lass nur, Gladiola. Ihr wart öfters
entgegengesetzter Meinung, das muss aber doch mal ein Ende haben.“
Frau Sauerlich erhob den
Zeigefinger, um auf sich aufmerksam zu machen. Jahrelang war das
nicht nötig gewesen, doch jetzt schien sich alles nur um die Komtess
zu drehen. Sie zog alle Beachtung auf sich.
„Wenn ich vielleicht auch
etwas anmerken dürfte?“ fragte sie vorsichtig. „Kommen sie doch
herein.“
Ohne sie weiter zu beachten,
gingen die Bärenwald und Herr Mahler in die Eingangshalle.
„Graf Henry ist noch kurz…
abwesend…“, erst jetzt bemerkte Frau Sauerlich, dass sie gar
nicht wusste, wo sich ihr Freund aufhielt. „Er wird aber gleich
hier sein. Inzwischen sollten wir uns bekannt machen. Kommen sie
mit.“
Herr Mahler nahm der Komtess
vorsichtig den kostbaren Mantel ab und brachte ihn zur Garderobe im
Flur, wo er auch seine Jacke ablegte. Dann führte Frau Sauerlich die
beiden in die Küche, wo sie sich setzten. Mal wieder war die Küche
der Zufluchtsort in einer ungemütlichen Situation.
Wie ungemütlich es war, bekam
Frau Sauerlich von Seiten der aufgebrachten Komtess zu spüren. Sie
blickte sich in der Küche um und legte los: „Wenn er sich schon
Graf nennen will, dann sollte er zumindest ordentliches Personal
haben. Ich sehe keine Köchin, die hier bereits ein schmackhaftes
Essen vorbereitet. Auch hat mir kein zuvorkommender Butler den Mantel
abgenommen. Das sind unmögliche Zustände. Bei mir zuhause wäre das
nie passiert. Ich habe meine Angestellten unter Kontrolle.“
„Nun bleib doch ruhig,
verehrte Schwägerin“, versuchte Herr Mahler, die erhitzte Löwin
zu besänftigen.
„Wir haben Personal“,
antwortete Frau Sauerlich gereizt. „Es scheint nur gerade nicht
hier zu sein, das müssen sie verstehen.“
„Ich verstehe gar nichts“,
klagte die Komtess.
Ein lautes Poltern und
anschließendes Fluchen aus dem Flur lenkte die Blicke der Anwesenden
auf die Küchentür, durch die einen Moment später Graf Maibusch
hereingeplatzt kam. Er trug einen Morgenmantel und Hausschuhe.
Überrascht vom Anblick seiner Gäste sagte er: „Tante Gladiola,
Onkel Joachim! Ihr seid ja schon so früh hier.“
„Na, mein Junge, sehr fit
siehst du aber nicht aus“, scherzte der Onkel. Verlegen blickte der
Graf an sich herunter.
„Ich habe verschlafen“,
murmelte er leise. „Ich kann mir gar nicht erklären, wie das
passieren konnte. Ich habe nur noch eine Stunde Zeit, um alles
vorzubereiten, mich inklusive. Josephine“, meinte er zu Frau
Sauerlich, „ich brauche jetzt deine Hilfe. Du trommelst James und
Frau Schmidt zusammen, und mit der Hilfe von meinem Onkel und meiner
Tante bringst du dieses Haus auf Vordermann, während ich mich
vorzeigebereit mache.“
Der Graf umarmte seine Tante,
die dieses gnädig über sich ergehen ließ und dabei an das dachte,
was ihr Neffe eben verkündet hatte. Konnte das sein Ernst sein? Der
Neffe schüttelte seinem Onkel die Hand und meinte eilig: „Es ist
schön, euch nach so langer Zeit mal wieder zu sehen.“
„Das war längst überfällig.
Sag mal“, fragte Herr Mahler, „hast du meine Verwandtschaft auch
eingeladen? Maria und ihre Mutter?“
Graf Maibusch spielte am Gürtel
seines Morgenmantels herum. „Deine Enkelin ist bereits hier. Und
Marias Mutter wollte nicht kommen. Das kann ich mir gar nicht
erklären, aber ich muss das akzeptieren“, log er.
Die Komtess zu Bärenwald hatte
die Nachricht, die der Graf eben mitgeteilt hatte, noch nicht
verdaut. Sie glaubte, alles war nur ein Scherz. So fragte sie
vorsichtig: „Sag mal, war das dein Ernst, als du sagtest, du
wolltest mich hier zum Aufräumen einteilen?“
Graf Maibusch kannte die Art
seiner Tante gut genug. Er ließ sich nicht auf die Klagelieder
seiner Tante ein, die sicher folgen würden. Stattdessen kanzelte er
sie direkt ab.
„Mein voller Ernst. Ihr seid
noch zu früh, da könnt ihr gleich ein wenig mithelfen.“
Theatralisch hob seine Tante
ihre Hand an die Stirn und sagte leidend: „Ach, was waren das noch
für Zeiten, als der Titel einer Person respektiert wurde…“
„Du lebst scheinbar noch im
Mittelalter. Und nun zack, zack, das muss schnell gehen“, forderte
Graf Maibusch die anderen kurz angebunden auf und rauschte davon.
Frau Sauerlich ging in den Flur
und rief: „James! Frau Schmidt! Kommen sie in die Küche, es ist
ein Notfall!“
Nur einen Augenblick später
kamen zuerst der Butler, dann die Hausfrau angelaufen.
James fragte überrascht: „Ach,
die ersten Gäste sind schon da? Mit wem haben wir die Ehre?“ Auch
er hatte nicht damit gerechnet, dass die Besucher schon so früh
ankommen.
Die Komtess zu Bärenwald sah
nun ihre Chance, ihre Wut abzulassen.
„Eine Unverschämtheit!“
rief sie. „Wer sind sie denn überhaupt?“ Dann drehte sie sich zu
Frau Sauerlich. „Und sie? Ich rede schon seit fünf Minuten mit
ihnen und kenne noch nicht einmal ihren Namen. Unerhört!“
„Josephine Sauerlich“,
antwortete die Angesprochene und unterbrach damit die Wahntiraden der
alten Dame. „Und nun lassen sie das Theater mit den Namen, das
können wir gleich bei der Arbeit regeln. James, sie helfen der
Komtess, Herrn Mahler und mir, das Wohnzimmer und den Wintergarten
vorzubereiten. Frau Schmidt, sie bereiten das Essen vor. James wird
ihnen zwischendurch zur Hand gehen. Und jetzt los!“
Es folgte eine ungeheure
Putzaktion. Man hätte meinen sollen, alles wäre bereits in den
vorhergehenden Tagen auf Vordermann gebracht worden, doch da hätte
man sich geirrt. Herr Mahler und Frau Sauerlich begannen, im Salon
die Möbel umzustellen, während James die Regale abstaubte und die
Komtess sich von ihrem Wutausbruch ausruhte und die Anwesenden hin-
und herdirigierte. Frau Schmidt hatte in der Küche alle Hände voll
zu tun zwischen allen Töpfen und Pfannen, die den Herd besetzten.
Weiter ging es in der Eingangshalle, wo Teppiche ausgeklopft wurden
und Frau Sauerlich mit dem Staubsauger für Ordnung sorgte. Auch die
Komtess trug ihren Teil zur Arbeit bei, indem sie ihren Nerzmantel in
Sicherheit brachte, aus Angst, etwas Staub könnte ihn ruinieren. Aus
der Küche zogen mittlerweile wahre Dampfschwaden hervor. Niemand
traute sich, der Küche nahe zu kommen, also begaben die vier sich in
den Wintergarten, wo Stühle verschoben wurden, Frau Sauerlich die
Scheiben putzte, James dafür sorgte, dass die Minibar gefüllt war
und die Komtess alle Hände voll damit zu tun hatte, die Einrichtung
des Wintergartens missgünstig zu beurteilen und den Geschmack ihres
Neffen erneut anzuzweifeln.
Schließlich, um Punkt 14 Uhr
waren alle Vorbereitungen getroffen. Geschafft, aber zufrieden sah
man dem Familientreffen entgegen.
Fräulein Maria und Herr Flip
hatten sich der Arbeitswut diskret enthalten. Sie hatten den Mittag
damit verbracht, die richtige Kleidung auszuwählen. Dabei ist
Fräulein Marias Wahl auf ein langes, figurbetontes Cocktailkleid in
hellem Rot gefallen, während Herr Flip sich für einen grünen Anzug
entschieden hatte. Man wusste bei beiden nun nicht mehr, ob sie
gehobene Gesellschaft darstellen wollten oder nicht.
Die beiden hatten sich in Graf
Maibuschs Arbeitszimmer zusammengefunden. Maria schien sehr aufgeregt
zu sein.
„Es müssen schon die ersten
Gäste da sein, es hat jetzt fünf Minuten nach zwei.“
„Und warum lassen sie sich
dann nicht blicken, Fräulein Maria? Ich dachte, sie gehören gerne
zu den gehobenen Kreisen.“
„Natürlich, immer doch“,
meinte Maria beschwichtigend. „Ich kann meinem Onkel aber zurzeit
nicht unter die Augen treten, ohne wütend zu werden. Und bitte, wir
sollten auf das alte „Du“ zurückgreifen, es ist doch reichlich
unangenehm sonst.“
Herr Flip rieb sich die Hände.
Der erste Schritt war geschafft. Irgendwie musste diese reizende
junge Frau schließlich zu erobern sein.
„Ganz, wie du meinst“, sagte
er. „Du musst aber mit deinem Onkel sprechen. Klar, er arbeitet mit
Herrn Fröhlich zusammen, aber doch nur, um mir zu helfen. Graf
Maibusch hat das Gefühl, dass sein Bruder ihn um das Erbe betrogen
hat. Deswegen hat er dieses Familientreffen organisiert.“
Fräulein Maria sagte einen
Moment gar nichts. Endlich gab es eine plausible Erklärung für
diesen Zirkus. Doch eines war ihr unklar.
„Was hat das mit dir zu tun?“
fragte sie.
„Ich bin der Erbe des Grafen“,
antwortete Flip.
„Aha. Es geht dir also nur ums
Geld.“ Maria seufzte. Hatte sie nicht eben noch gehofft, einen
interessanten jungen Mann kennen zu lernen? Jetzt stand vor ihr
dieser Möchtegern und druckste herum: „Nun ja…“
Fräulein Maria rückte ihren
Kopfschmuck zurecht und drehte sich brüsk um.
„Ich halte das hier nicht mehr
aus, ich muss unter Leute kommen, sonst gehe ich ein. Irgendjemand
ist schon hier, das habe ich eben gehört, und ich werde nachsehen,
wer es ist. Bleib du nur hier und gammel´ vor dich hin.“
Sie ging aus dem Zimmer. Auf dem
Flur hörte sie eine bekannte Stimme.
„Maria?“
Sie drehte sich um und ging den
Flur hinauf zu einem der leerstehenden Schlafzimmer. Im Türrahmen
stand Herr Mahler. Fräulein Maria fiel ihm um den Hals.
„Opa! Wie schön, dich
wiederzusehen! Was machst du hier?“
„Was mache ich hier, was soll
das denn für eine Frage sein? Dies ist ein Familientreffen, da
gehöre ich hin! Und ganz nebenbei brauche ich ein wenig Ruhe von der
guten Gladiola. Sie treibt mich noch in den Wahnsinn.“
„Meine Großtante ist auch da?
Oh Mann, da muss ich mich ja in Acht nehmen. Wenn jetzt noch Mama
hier wäre, dann wäre alles perfekt gewesen.“
„Aber sie wollte ja nicht“,
stellte Herr Mahler fest. „Erzähl mir, warum wollte sie ihren
alten Vater nicht wiedersehen?“
Überrascht hielt Maria inne.
„Wie bitte? Sie wollte nicht?
Das ist mir ganz neu. Sie hat mir erzählt, dass mein Onkel sie nicht
eingeladen hat. Er hat es mir gegenüber sogar selbst zugegeben. Er
wollte nur ein ganz bestimmtes Publikum haben.“
Herr Mahler kam nun auch ins
Grübeln.
„Ich frage mich, warum. Wenn
das hier ein ganz normales Familientreffen werden soll… also, das
glaube ich nicht mehr. Da steckt mehr dahinter“, meinte er
entschlossen. Es gab keinen Zweifel.
„Ich habe etwas von
Geldaffären gehört“, deutete Maria vage an, „aber mittlerweile
kann man niemandem in diesem Haus mehr trauen.“
„Wovon sprichst du?“
„Das wirst du schon noch früh
genug merken. Ich kann dir allerdings sagen: Wir können von Glück
sprechen, wenn dieser Tag ohne Zwischenfälle über die Bühne geht.“
„Das klingt nicht sehr
vertrauenerweckend“, antwortete Mahler. Was seine Enkelin ihm da
erzählte… war das vielleicht wieder nur ihre blühende Fantasie?
Mit einem Kommentar machte sie diese Vermutung zunichte.
„Wenn das nur alles wäre.
Mein Onkel hat deinen Schwiegersohn eingeladen.“
Empört sagte Herr Mahler:
„Herrn Fröhlich, dieses Ekel, das sich dein Vater nennt?“
„Genau.“
„Wie konnte Henry das nur
zulassen? Das war unverantwortlich. Es muss dich schwer getroffen
haben!“
Maria antwortete gleichgültig:
„Ich versuche, mit der Situation klarzukommen, so gut es geht. Das
ist leider nicht leicht, wenn einem dauernd der Mann über den Weg
läuft, der dein Leben ruiniert hat.“
„Das kann ja heiter werden.
Ich muss wohl mal ein ernstes Wörtchen mit Herrn Fröhlich reden.
Aber komm mit hinunter, Maria, sonst vermissen uns die anderen Gäste.
Du brauchst etwas Abwechslung und die Gesellschaft wird dir sicher
behagen.“
Dankbar ging Fräulein Maria mit
ihm zur Empfangshalle. Sie war froh, dass wenigstens ihr Großvater
anwesend sein konnte. Ihm vertraute sie. Es kam ihr gar nicht in den
Sinn, dass das vielleicht die falsche Wahl war…
Mit etwas Verspätung war auch
Konstanze Braunfeld, die Nachbarin eingetroffen. Überrascht blickte
sie auf den Vorplatz, der erst von zwei Autos geschmückt war. Sie
hatte deutlich mehr erwartet. Gerade wollte sie klingeln, als Herr
Hansen von der Seite des Hauses zu ihr kam.
„Hallo! Sind sie auch zum
Familientreffen gekommen?“ grüßte er freundlich.
„Ja. Ich bin Konstanze
Braunfeld, die Nachbarin. Graf Maibusch war so freundlich und hat
mich eingeladen.“
Der Gärtner schüttelte ihr die
Hand. Ausnahmsweise war sie mal nicht schmutzig. Auch trug Herr
Hansen heute nicht seine Arbeitskluft, sondern einen dunkelbraunen
Anzug, dem Anlass angemessen. Frau Braunfeld hatte sich für ein
cremefarbenes Kleid entschieden. Du musst keine graue Maus mehr sein,
hatte sie sich zu Hause gesagt.
„Freut mich, sie kennen zu
lernen. Ich bin der Gärtner, Herr Hansen. Kommen sie doch herein!“
Zuvorkommend öffnete er der
Dame die Tür und wies auf die Garderobe: „Hier können sie ihren
Schal und die Handtasche ablegen, wenn sie möchten.“
„Das ist sehr nett von ihnen,
vielen Dank!“ Frau Braunfeld war von der galanten Art des älteren
Herrn sichtlich angetan. „Heutzutage gibt es so wenige freundliche
Menschen. Sie sind da noch vom alten Schlag.“ Es sollte ein Lob
sein, doch das Wort „alt“ konnte seine Wirkung verfehlen.
Erschrocken hielt sie sich die Hand vor den Mund und wollte zu einer
Entschuldigung ansetzen, doch Herr Hansen schmunzelte.
„Ich weiß, was sie meinen“,
sagte er. „Es gibt eben noch echte Kavaliere.“
Frau Braunfeld blickte ihn
dankbar an. Dann sah sie sich um. Die Garderobe war erstaunlich leer.
„Bin ich etwa eine der
ersten?“ fragte sie.
„Frau Braunschweig, das weiß
ich auch nicht so genau. Wir sollten einfach abwarten, was noch
passiert.“
„Natürlich. Nebenbei, der
Name ist Braunfeld.“
„Oh, entschuldigen sie bitte.“
Frau Braunfeld lachte. „Wir
entschuldigen uns hier die ganze Zeit nur, soll das ewig so
weitergehen?“
Auch Herr Hansen musste lachen.
„Kommen sie in die Küche, da
kann man am besten reden.“
Herr Hansen führte die
Nachbarin in die Küche. Dort duftete es noch immer nach dem von Frau
Schmidt zubereiteten Essen. Die Hausfrau hatte in weiser Voraussicht
das Feld geräumt. Sie wusste, dass die Küche der beliebteste
Treffpunkt für Neuankömmlinge war und hatte sich deshalb in den
Salon verzogen. Nun aber, als sie hörte, wie die Küchentür
geschlossen wurde, verließ sie den Salon und schlich über den Flur.
Sie presste ein Ohr an die Küchentür und lauschte. Es war nicht zu
überhören, dass zwei Menschen lachten.
„Haha, auf jeden Fall wird der
Nachmittag sehr unterhaltsam werden“, kicherte Herr Hansen.
Frau Braunfeld hatte sich
inzwischen wieder gefangen.
„Ja, ich freue mich schon
darauf. Das wird mich ein wenig von meinem eigenen Schicksal
ablenken.“
„Ihr eigenes Schicksal?“
fragte der Gärtner.
„Meine Familie ist bei einem
Autounfall ums Leben gekommen. Seitdem lebe ich allein.“
„Mein Beileid“, meinte ihr
Gegenüber mitfühlend. „Es muss schrecklich für sie sein, so
plötzlich allein leben zu müssen.“
„Wissen sie, mittlerweile
komme ich damit zurecht. Es nützt ja nichts, sich selbst zu
bemitleiden. Ich habe jetzt für mich selbst zu sorgen, und das werde
ich auch schaffen. Es sind nur manchmal solch kleine Abwechslungen
wie dieses Familientreffen notwendig, um nicht dauernd daran erinnert
zu werden, dass nicht alles so ist, wie es hätte sein können.“
Herr Hansen schaute sie ernst
an.
„Ich sage ihnen das nicht
gerne, aber so einfach wird das nicht werden“, setzte er an. „Es
gehen hier seltsame Dinge vor, irgendwie ist niemand das, was er zu
sein scheint.“ Herr Hansen hielt kurz inne und dachte über die
Bedeutung seiner Worte nach. Dann fuhr er fort: „Irgendjemand
versucht hier und heute, seine dunklen Geschäfte abzuwickeln. Wenn
ich nur Genaueres wüsste…“
Frau Braunfeld hatte aufmerksam
zugehört und nickte zustimmend. Sie erinnerte sich an das Gespräch
mit James zuvor.
„Also muss da etwas dran sein.
Ich habe von dem Butler schon gehört, was hier mit dem jungen
Fräulein passiert ist… es sollte mich wirklich nicht wundern, wenn
hier noch mehr krumme Dinge gedreht werden.“
Als Frau Schmidt vor der Tür
das hörte, trat sie verstört einen Schritt zurück. Sie drehte sich
um und wollte in den Salon zurückgehen, doch im Türrahmen stand
Herr Fröhlich, der sie beobachtet hatte.
„Ein Glück, dass der Graf
dieser aufgetakelten Schnepfe gerade den Wintergarten zeigt, sonst
könnten sie hier nicht so unfein lauschen, oder?“ Der Anwalt
grinste überlegen.
„Jaja, sie reden fein daher“,
meinte die Hausfrau nervös. „Wissen sie was? Wir sind in ernsten
Schwierigkeiten. Inzwischen hat jeder hier so eine Ahnung, dass etwas
nicht stimmt. Es dauert bestimmt nicht mehr lange, bis der Gedanke
auf unseren Betrug fällt.“
„Sie hätten den Grafen halt
beseitigen sollen“, konterte der Anwalt gelassen.
„Ich habe es doch versucht!“
Dann schleppte Frau Schmidt Herrn Fröhlich in den Salon, damit nicht
jeder ihrer Unterredung lauschen konnte. „Ich habe gestern Abend
extra Schlafmittel in sein Essen gegeben und ich war mir sicher, ich
hätte ihn gestern Nacht erschossen.“
„Und warum stolziert er noch
immer wie ein Pfau hier herum?“
„Ich habe auf die falsche
Betthälfte gezielt“, gab Frau Schmidt zähneknirschend zu. Selten
war ihr bisher so ein grober Fehler unterlaufen. „Das kann ich ja
nicht ahnen, dass der Graf da nicht lag.“
Herr Fröhlich überlegte und
stellte nüchtern fest: „Jedenfalls wird unser Problem nicht
kleiner.“
„Dann sollten sie endlich mal
handeln.“ Frau Schmidt nahm demonstrativ eine Zeitschrift aus dem
Korb neben dem Kamin, rollte sie zusammen und dirigierte damit in der
Luft herum. „Der Graf geht uns ja immer durch die Lappen. Warten
sie also, bis sein Bruder hier ist und töten sie ihn. Dann können
wir die gesamte Schuld auf ihn schieben und niemanden wird es
stören.“ Frau Schmidt war sichtlich stolz auf ihren Plan, Herr
Fröhlich dagegen schien sehr verstört.
„Frau Schmidt, wie können sie
nur so skrupellos sein?“
„Es geht um ihr eigenes Wohl,
also handeln sie.“ Damit drückte sie dem Anwalt die Zeitschrift in
die Hand. „Viel Zeit bleibt uns nicht.“
Frau Schmidt verließ den Salon.
Es war besser, nicht zu lange bei dem Anwalt zu bleiben. Der schaute
ihr mit großen Augen nach. Diese Hausfrau scheint ein kleines
Problem mit Loyalität zu haben, dachte er. Ich kann mich nicht um
alles kümmern. Ich möchte mit Maria reden, damit der heutige Tag
friedlich verläuft.
Herr Fröhlich stand von seinem
Sessel auf und machte sich auf die Suche nach seiner Tochter.
Graf Maibusch und die Komtess zu
Bärenwald hatten sich zuvor ebenfalls im Garten aufgehalten. Der
Graf hatte ihr den Weg zum Birkensee gezeigt und von den Vorzügen
des Ortes geschwärmt. Der Rundgang durch den Garten war nun beendet.
Die beiden gingen um das Haus herum auf den Haupteingang zu.
„So, Tante Gladiola, jetzt
hast du mein Anwesen gesehen. Wie findest du es?“
„Ich muss sagen, mein erster
Eindruck hat mich getäuscht. Es ist doch nicht so heruntergekommen,
wie ich zuerst dachte. Ich bin hier ja so in Hektik herumgescheucht
worden, da konnte ich das alles nicht in Ruhe betrachten.“ Die
Komtess blickte auf das Haus und breitete ihre Arme aus. „Allerdings
habe ich ja auch hier mit aufgeräumt, sonst würde es sicher nicht
so herrschaftlich aussehen.“
„Du hast ja wieder so recht“,
erwiderte ihr Neffe. Der Graf konnte sich lebhaft vorstellen, wie die
Komtess „geholfen“ hatte. Bestimmt hatte sie dagesessen und
Kommandos verteilt. Sie wird sich nie ändern, dachte er und öffnete
die Haustür. Die beiden betraten die Empfangshalle, die nach der
Putzaktion wirklich wunderbar aussah. An der Garderobe entdeckte Graf
Maibusch eine Handtasche.
„Meine Nachbarin, Frau
Braunfeld, ist auch schon da. Dann fehlt ja nur noch Leonard. Dann
wären wir vollzählig. Geh schon mal in den Salon, Tantchen.“
Einladend deutete der Graf auf
den linken Korridor.
„Du sollst mich nicht Tantchen
nennen“, rügte die alte Dame ihn und spazierte hochnäsig an ihm
vorbei.
Da Graf Maibusch schon in der
Halle stand, als es wieder an der Tür klingelte, öffnete er gleich
selbst. Draußen stand ein Mann, der nicht viel älter als Graf
Maibusch sein konnte. Wenn man die Gesellschaft auf Gut Trontstein
beobachtet hatte, so musste nun die Kleidung des Besuchers auffallen.
Es schien, als wäre der einzige normale Charakter auf der Feier
erschienen. Keine auffälligen Details. In schlichter
Freizeitkleidung war er erschienen. Graf Maibusch freute sich umso
mehr über den neuen Gast. Sein Gegenüber war ebenso glücklich, den
Grafen wiederzusehen. Er fiel ihm um den Hals.
„Henry!“
„Leonard!“ rief der Graf.
„Es ist so schrecklich lange her seit dem letzten Mal. Du hast dich
gar nicht verändert!“ sagte er.
Leonard Maibusch blickte an
seinem Bruder hinab.
„Du aber auch nicht“, sagte
er schließlich. „Meine Güte, was du dir für ein schönes Haus
gesucht hast, das ist wirklich prächtig.“
Nachdem Leonard bewundernd
erneut auf die griechischen Säulen geblickt hatte, warf er einen
Blick auf seine Armbanduhr und fragte unsicher: „Ich hoffe, ich bin
nicht der letzte im Bunde?“
Der Graf legte seinen Arm um die
Schulter seines Bruders und führte ihn ins Haus.
„Wen kümmert das schon?“
fragte er locker. „Komm in den Salon, Tante Gladiola wartet dort
schon. In zehn Minuten beginnt unser Programm.“
Herr Fröhlich blickte mehrmals
hektisch auf seine Armbanduhr. Wo konnte Maria nur sein? Es waren
nicht einmal mehr zehn Minuten bis zur Begrüßung im Salon. Nachdem
der Anwalt in der ersten Etage alle Zimmer abgesucht hatte, ging er
die Treppe hinunter. Dann durchfuhr ihn die Erkenntnis wie ein Blitz.
Wie erwartet traf er seine
Tochter im Bad bei der Eingangshalle an. Sie machte sich ein letztes
Mal frisch und war dabei, ihren feuerroten Lippenstift aufzutragen.
Als ihr Vater stürmisch die Tür öffnete, rutschte sie ab und
verteilte das Rot großzügig über ihrer rechten Wange.
„Verdammt!“ Laut fluchend
riss sie ein großes Stück Toilettenpapier ab und wischte über ihr
Gesicht. Dann erkannte sie im Spiegel, wer sie zu dieser Untat
gebracht hatte. Sie senkte die Augen wieder und bemühte sich, die
verräterischen Spuren aus ihrem Gesicht zu entfernen.
„Du schon wieder“, sagte sie
mit grollendem Unterton.
Herr Fröhlich reichte seiner
Tochter hilfsbereit weitere Tücher. Diese beachtete die Geste gar
nicht.
„Ich habe dich gesucht.“
Herr Fröhlich klang ernst, schlug aber einen versöhnlichen Ton an,
in der Hoffnung, nicht sofort wieder abgewiesen zu werden. „Wir
müssen reden, bevor es losgeht.“
„Bevor es losgeht?“ Maria
lachte höhnisch. „Ich wollte mich zurechtmachen, bevor es losgeht.
Da kommst du angerauscht und machst mal wieder alles kaputt.“ Sie
schaute in den Spiegel. Das Schlimmste war beseitigt. Nun konnte sie
ihrem Vater ins Gesicht schauen. „Ich hasse dich, das möchte ich
klarstellen.“
„Das hast du mir in den
letzten zwei Tagen oft genug gesagt“, antwortete Herr Fröhlich
ruhig.
„Heute aber“, setzte
Fräulein Maria mit einem Lächeln hinzu, „nur für heute, möchte
ich den Streit begraben. Ich will meinem Onkel nicht das Fest
ruinieren. Ich bin nicht so ein gefühlskalter Mensch wie du. Hilf
mir bitte dabei.“
„Natürlich. Ich bin ja nicht
derjenige, der sich unversöhnlich zeigt. Ich werde alles tun, um das
Treffen glatt über die Bühne zu bringen, schließlich habe ich
einen Beruf auszuüben.“
Fräulein Maria legte den
Lippenstift, einen kleinen Handspiegel, Mascara sowie Lidschatten und
kleinere Kosmetiktücher in ihre rote Handtasche und sagte beiläufig:
„Ich weiß, der Graf hat mir alles darüber erzählt. Du versuchst
also, einen großen Schwindel aufzudecken?“
„Wenn es denn ein Schwindel
ist.“ In diesem Moment war von irgendwoher ein lauter, tiefer Gong
zu hören. 14 Uhr. Beide verließen das Bad, Herr Fröhlich zuerst.
„Ich werde mich nachher mal unauffällig mit Leonard, Henrys
Bruder, unterhalten“, erwähnte er. „Er wird mir bestimmt
nützliche Informationen liefern.“
„Dann hoffe ich, dass bei dir
alles gut geht, ebenso wie bei mir. Und erzähl keinem, der es nicht
unbedingt wissen will, dass wir Vater und Tochter sind.“
„Mach dir doch darum keine
Sorgen!“ Der Anwalt wollte seine Tochter in den Arm nehmen, doch
diese wiegelte ihn mit ausgestreckten Armen ab.
„Versteh mich nicht falsch:
Ich bin noch nicht über deine Tat hinweg gekommen. Ich habe dir noch
nicht verziehen. Wer weiß, ob ich dir jemals verzeihen kann.“
Mit diesen Worten drehte
Fräulein Maria sich von ihrem Vater ab und ging energisch den Gang
hinunter zum Salon.
„Bitte, versuch es zumindest!“
rief Herr Fröhlich hinterher.
„Einen schönen Tag wünsche
ich noch. Bis später!“ war die Antwort.
Ein letztes Mal blickte auch
Herr Fröhlich in den großen Wandspiegel der Eingangshalle und ging
dann zum Salon. Ein wenig Zerstreuung würde wohl auch ihm gut tun.
Er war der letzte, der der
Gesellschaft im Salon beitrat. Graf Maibusch hatte sich bereits
inmitten der Gäste postiert. Fräulein Maria hatte sich unauffällig
zu Herrn Flip gedrängelt und schaute nun erwartungsvoll ihren Onkel
an. Auf ihrem Weg durch den Flur hatte sie sich drei sehr große rote
Kunstfedern in die aufgetürmten Haare gesteckt. Kirschrot blickte
sie um sich und konnte sicher sein, das auffälligste Outfit zu
tragen. Nicht einmal Frau Sauerlich in einem dunkelblauen, wallenden
Gewand, wodurch sie einer schwebenden Erscheinung ähnelte, konnte
ihr gleichkommen. Elegant strich Maria eine Falte aus dem Stoff. Die
abfälligen Blicke der Komtess entgingen ihr nicht.
„Wie kann sie sich nur so
aufreizend kleiden! Dem Anlass völlig unangemessen“, zischte die
Dame zu Mahler, ihrem Nachbarn. Dieser winkte ab.
„Sie ist jung. Lass sie nur.
Sie wird schon wissen, was sie tut.“
„Ach ja? Das hast du auch nie
gewusst. Immer musste ich dir unter die Arme greifen.“
„Nun sei schon still. Das tut
hier nichts zur Sache.“
Endlich kam auch Frau Schmidt
zur kleinen Gruppe. Sie hatte den Tisch gedeckt und wischte sich nun
die Hände an ihrer weißen Schürze ab. Sofort zog sie mehrere
Augenpaare auf sich; schließlich hatten die Komtess, Herr Mahler und
Frau Braunfeld die Hausfrau bisher nur flüchtig zu sehen bekommen.
Graf Maibusch nickte zufrieden
und setzte dann zu einer Begrüßung an.
„Wie wunderbar, dass ihr heute
zusammengekommen seid! So kann zumindest ein Teil unserer Familie mal
wieder vereint sein.“
Fräulein Maria neigte ihren
Kopf und flüsterte zu Herrn Flip: „Ein Teil der Familie…
immerhin das.“ Dabei blickte sie vielsagend zu ihrem Großvater
gegenüber.
Herr Flip blickte sie ob ihres
sarkastischen Untertones verständnislos an. Dann schaute er zu
Leonard Maibusch, der das Wort ergriff.
„Das wird auch langsam Zeit.“
Er schmunzelte. „Ich hätte Tante Gladiola doch fast vergessen.“
Das konnte Komtess Gladiola zu
Bärenwald nicht auf sich sitzen lassen. Sie streckte die Brust vor
und erwiderte stolz, fast hochnäsig: „Du redest wirr, mein Neffe.
Mich vergisst man nicht, schreib dir das hinter die Ohren.“ Dann
runzelte sie die Stirn und schaute zum Grafen. „Ich fühle mich
übergangen. Meinetwegen auch hintergangen, aber dieser Empfang ist
einer Komtess nicht würdig. Mein armes kleines Gräflein, ich sehe
zwar einen Butler, der scheinbar nur herumsteht, aber kein einziges
Sektglas, auf dass wir auf dein Wohlergehen anstoßen können.“
Graf Maibusch musste sich
zusammenreißen. Sie hatte es schon wieder geschafft, ihn
bloßzustellen. Langsam und jedes einzelne Wort betonend sprach er
zum Butler: „James, holen sie bitte den Moet&Chandon.“
Frau Braunfeld antwortete
prompt.
„Sogar Champagner, dass ist
doch nicht nötig.“
Mitleidig lächelnd merkte die
Komtess an: „Mein Kind, sie müssen noch viel lernen.“
„Zurück zum Thema.“ Der
Graf war es leid, sich von seiner Tante die Show stehlen zu lassen.
„Kaffee und Kuchen gibt es um vier Uhr, nach Wunsch auch Tee.
Abendessen wird um sieben gereicht. Vielen Dank dafür an Frau
Schmidt!“
Die Hausfrau trat einen Schritt
vor und sagte: „Es gibt Rehrücken mit Kartoffeln und Soße,
verschiedenes Gemüse und als weitere Beilage gefüllte
Paprikaschoten. Außerdem werden Rindermedaillons gereicht. Als
Vorspeise wird Spargelcremesuppe serviert und zum Nachtisch gibt es
Vanilleeis mit heißen Kirschen und Himbeeren sowie
Schokoladensoufflé.“
Die Reaktion auf diese
appetitliche Menüfolge war ein allgemeines Raunen im Wohnzimmer.
„Einfach wunderbar, Frau
Schmidt!“ rief Fräulein Maria aus. „Das hört sich alles ganz
vorzüglich an. Ich hoffe nur, ich werde mir nicht mein neues Kleid
ruinieren.“ Dabei deutete sie sich einen Bauchumfang an, der einem
Sumoringer alle Ehre gemacht hätte.
„Das liegt ganz bei dir“,
antwortete der Graf. „Nach dem Abendessen werde ich eine Partie
Bridge beginnen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass du,
Joachim“, er deutete auf den Mann im braunen Anzug an der Seite der
Komtess, „immer gerne Bridge gespielt hast.“ Herr Mahler
räusperte sich. „Den dritten Spieler stellt Josephine dar. Bei
Bedarf können wir auch gerne zwei Gruppen eröffnen.“
Frau Sauerlich war der Gedanke
an eine gemütliche Kartenrunde zwar nicht unangenehm, dennoch etwas
unklar. „Aber wer ist dann der vierte im Bunde? Wir brauchen
insgesamt vier Spieler.“
Der Graf stimmte ihr zu, als
unerwartet die Türglocke läutete. „Nun, vielleicht spaziert ja
gerade unser Mitspieler herein“, sagte er scherzhaft. „James,
öffnen sie bitte!“ Der Butler verließ den Raum nicht ohne eine
minimale, untertänige Verbeugung. Anerkennend blickte die Komtess
ihm hinterher.
Graf Maibusch ließ sich durch
nichts von seinen Ausführungen abhalten. „Ich möchte weiterhin
auf die sonstigen Angebote Gut Trontsteins verweisen. Ein Spaziergang
durch den gepflegten Garten beruhigt den Geist und erfreut ungemein.
Das verdanken wir nicht zuletzt Herrn Hansen, der sehr viel Liebe in
die Pflanzen und ganz besonders in die Genesung der Parkanlage
gesteckt hat.“
Verlegen schwächte der Gärtner
dieses Lob ab: „Aber bitte, es ist doch mein Beruf.“
Nun erst bemerkte die Komtess
Herrn Hansen. Auch Herr Fröhlich war ihr unbekannt. Dies gab sie
ihrem Neffen deutlich zu verstehen.
„Henry, es fehlt dir mal
wieder an jeglichem Taktgefühl. Du hast uns noch gar nicht
vorgestellt.“
Der Graf seufzte. „Das hielt
ich für überflüssig. Aber bitte“, er deutete wahllos auf die
Anwesenden, „das ist Herr Flip, mein Erbe und Herr Fröhlich, mein
Anwalt. Komtess Gladiola zu Bärenwald, meine Tante väterlicherseits
und Joachim Mahler, mein Onkel mütterlicherseits. Und allen bekannt
sein dürfte mein Bruder Leonard“, schloss er nicht ohne Stolz.
James betrat unauffällig den
Raum.
„Ein neuer Gast ist
angekommen.“
„Wer könnte das schon sein?“
fragte Graf Maibusch ahnungslos. Die Antwort kam postwendend, als ein
Mann eintrat, der Leonard, Graf Maibuschs Bruder, nicht unähnlich
sah.
„Du wirst doch wohl nicht
deinen eigenen Bruder vergessen, oder?“
„Friedrich!“ Dem Grafen
fehlten die Worte. Frau Schmidt warf einen vielsagenden Blick zu
Herrn Fröhlich, der diesen mit einem Schulterzucken erwiderte. James
blieb scheinbar unberührt und beobachtete die Situation. Friedrich
Maibusch konnte Leonards Zwillingsbruder sein. Dieselbe Statur,
dieselbe Frisur. Auch er war in einer Freizeitkleidung erschienen,
trug aber zusätzlich einen grünen Pullover um die Schultern.
Noch immer rang der Graf mit den
Worten.
„Ich dachte, du wärst…“
„Was dachtest du?“ fuhr
Friedrich ihn an. „Wolltest du mich aus dieser Runde ausschließen?
Wäre ja kein Wunder, du konntest mich nie richtig leiden. Zum Glück
war Herr Fröhlich so nett, mich von der Feier zu unterrichten.“
Graf Maibusch warf giftige
Blicke zu seinem Anwalt.
„Ich dachte, sie hätten ihn
vergessen“, konterte dieser gelassen.
„Mir hatten sie gesagt, sie
hätten ihn nicht erreicht“, warf James ein.
Fräulein Maria konnte sich ein
„Typisch!“ nicht verkneifen und erntete eine verständnisvolle
Miene von Herrn Mahler, ihrem Großvater.
Der Graf, für den die Lage
ziemlich unangenehm wurde, versuchte abzulenken. „Nun, wir sollten
uns davon nicht beirren lassen. Willkommen, Friedrich, auf Gut
Trontstein. Auch dir wünsche ich eine angenehme Feier.“ Endlich
ließ er sich dazu hinreißen, seinen Bruder zu umarmen. Gespielt
fröhlich wandte er sich dann an den Butler. „James, sie sind mir
aber einer. Ich hatte sie gebeten, den Champagner zu holen, oder?“
„Ich bitte vielmals um
Verzeihung“, murmelte der Angesprochene und wandte sich zum Gehen,
doch der Graf hielt ihn auf.
„Lassen sie nur, ich mache das
schon. Herr Fröhlich, würden sie mir dabei bitte helfen?“
Die beiden verließen den Raum
Richtung Küche. Die Komtess schüttelte den Kopf. „Helfen? Bei
einem Champagner? Ich glaube, das hier übersteigt meine Kräfte.“
Mit diesen Worten setzte sie sich in einen Sessel. Was für eine
unziemliche Gesellschaft!
In Unkenntnis dieser Gedanken
knöpfte sich der Graf seinen Anwalt in der Küche vor.
„Was haben sie nur getan! Wie
konnten sie Friedrich einladen?“
„Ich habe den dringenden
Verdacht, dass er es war, der sie um das Erbe betrogen hat“, klärte
Herr Fröhlich ruhig den Sachverhalt. „Um das herauszufinden, muss
ich mit ihm persönlich sprechen. Das geht nicht einfacher.“
„Dann hoffe ich für sie, dass
der Tag Erfolg bringt. Ich würde sie ungern mit ihrer Kaugummi
kauenden Janine auf der Straße vor dem Tiergarten sitzen sehen. Ich
kann Friedrich nicht leiden, das wissen sie genau.“
„Ist schon klar. Jetzt
veranstalten sie erst mal ein schönes Fest.“
„Das werde ich. Und sie helfen
mir dabei, indem sie jetzt zurückgehen und die Meute bei Laune
halten, bis ich mit den Getränken fertig bin.“
Mit diesen Worten schob er
seinen Anwalt zur Tür hinaus. Leicht gereizt ging Herr Fröhlich
zurück in den Salon, wo bereits ein unkontrollierbares Stimmengewirr
herrschte. James trat an ihn heran.
„Ist in der Küche alles in
Ordnung?“
„Ganz bestimmt. Machen sie
sich keine Sorgen.“ Dann trat Herr Fröhlich zur Komtess hinüber
und unterhielt sich mit ihr über Belanglosigkeiten, die mitunter von
ihrem kreischenden Lachen unterbrochen wurden.
Ein wenig spät kam Graf
Maibusch mit einem Tablett, auf dem mehrere gefüllte Gläser
standen, zurück. Schnurstracks ging er auf seinen Bruder Friedrich
zu.
„Das erste Glas für dich,
Friedrich, damit du siehst, dass ich nicht gemein sein wollte.“
Frau Sauerlich, die die ganze
Zeit über einen missbilligenden Blick auf Komtess Gladiola geworfen
hatte, sah ihre Chance, die alternde Adlige an Impertinenz zu
übertrumpfen. Wieselflink, wie man es aufgrund ihres Kleides nicht
für möglich gehalten hätte, sauste sie zum Grafen und stahl sich
das vorderste Glas. In einem Zug trank sie es aus.
„Das wurde auch Zeit, mein
Bester. Josephine Sauerlich lässt man nicht warten“, lamentierte
sie übertrieben aufgesetzt und fing sich einen verächtlichen Blick
der Komtess ein. Zufrieden setzte sie sich. Dieser Nachmittag könnte
doch noch amüsant werden, dachte sie.
Nach und nach teilte die
Gesellschaft sich in kleine Grüppchen auf. Die einen besichtigten
das Haus, andere blieben im Wohnzimmer. James als Butler war immer
darauf bedacht, dass es den Gästen an nichts mangelte, während Frau
Schmidt hin und wieder nach ihren Vorbereitungen in der Küche sehen
musste. Herr Fröhlich stahl sich unauffällig von einem Gast zum
nächsten, um Informationen zu sammeln – immer darauf bedacht,
seiner Tochter nicht zu nahe zu treten.
Als ihm für einen Moment die
Zeit blieb, bat James Friedrich Maibusch um eine Unterredung im
Kinderzimmer. Friedrich ging voraus, da die Komtess es für das
Mindeste hielt, vom Butler mit besonderem Respekt bedacht zu werden.
Majestätisch fragte sie: „Wo ist der Butler?“ Da James direkt
neben ihr stand und sie bemerkte, wie er sich zusammenreißen musste,
genoss sie sehr die folgenden Worte: „Was ist Er nur für ein
Mensch, dass Er mich hier mit einem leeren Champagnerglas sitzen
sieht?“
James merkte an, dass ihr Glas
doch gar nicht leer sei. Prompt trank die Komtess es aus und klagte:
„Ich finde, Er sollte den Gästen mehr Achtung entgegenbringen. Ich
werde meinem Neffen sagen, dass er Ihn sofort entlassen soll.“
Pikiert drehte sie den Kopf zur
Seite und hielt mit ausgestrecktem Arm das leere Glas hin. Innerlich
kochend ob dieser Unverfrorenheit nahm James das Glas, verschwand in
die Küche und gab es der Komtess gefüllt wieder. Ohne einen
Kommentar nahm sie es an und James bemühte sich, den Raum schnell zu
verlassen, um mit Friedrich zu reden.
Er traf ihn wie verabredet im
Kinderzimmer, wo er etwas nervös auf und ab marschierte.
James versuchte, ihn zu
beruhigen: „Herr Maibusch, weshalb sind sie so aufgebracht? Dafür
gibt es keinen Anlass. Ach, und wo ist ihr Pullover geblieben? Sie
trugen ihn eben noch um die Schulter, wenn ich mich recht erinnere.“
„Das stimmt, aber es ist mir
damit zu warm geworden. Ich habe ihn an die Garderobe gehängt.“
„Wie dem auch sei“, kürzte
James das Unwichtige ab, „sie sind also der zweite Bruder von Graf
Maibusch. Haben sie noch mehr Geschwister?“
Friedrich schaute abwesend die
Bilder an den Wänden an und antwortete: „Nein, wir sind Drillinge.
Noch ein Bruder mehr hätte wahrscheinlich auch ordentlich Zoff
bedeutet.“
Das konnte James nicht ganz
nachvollziehen, hatte er doch eben die für den Grafen sehr
kompromittierende Situation im Salon mitverfolgt.
„Wollen sie mir erzählen,
dass zwischen ihnen dreien immer alles glatt gelaufen ist?“ fragte
er ungläubig.
„Nein, das wäre auch
gelogen“, gab Friedrich zu und setzte zu einer Erklärung an: „Bis
zum Tode unseres Vaters waren wir gute Freunde. Dann ging es jedoch
an die Verteilung des Erbes. Die hat der alte Herr nämlich nicht
genau festgelegt. Entscheidet ihr, was ihr damit macht, hieß es im
Testament. Und wir alle haben uns ziemlich raffgierig benommen. Das
hat uns dann auseinandergebracht. Seither ist das Treffen heute unser
erstes Wiedersehen.“
„Aber… die Feindschaft ist
ihnen noch erhalten?“
Friedrich seufzte. „Ich hatte
eigentlich gehofft, und hoffe immer noch, dass wir diesen Streit
schlichten können. Ich werde heute einmal in Ruhe mit Henry und
Leonard reden.“
„Das ist eine gute Idee“,
bekräftigte James ihn.
Die ernste Stimmung wurde
unterbrochen, als eine völlig aufgelöste Frau Sauerlich das Zimmer
betrat.
„Ich hoffe, ich störe sie
nicht. Diese Komtess macht mich noch ganz verrückt mit ihrem
hochnäsigen Getue. Dagegen bin selbst ich machtlos.“
Mit diesen Worten ließ sie sich
in einen der Sessel fallen. Es sah nicht sehr erhaben aus…
„Beleidigen sie meine Tante
nicht“, warf Friedrich ein.
„Schon gut.“ Frau Sauerlich
winkte ab, was Friedrich zu einem Lachen veranlasste.
„Sie haben ja Recht“, räumte
er ein. „Sie lebt immer noch irgendwo im siebzehnten Jahrhundert,
da wird wohl keiner was dran ändern können.“
„Die Komtess… ich werde
besser nachschauen, ob im Salon alles zur Zufriedenheit des Grafen
ist.“ James verließ das Zimmer und ließ Frau Sauerlich und
Friedrich Maibusch zurück.
Als letzterer einen Blick auf
die Dame in Blau warf, erschrak er. Sie war ganz bleich im Gesicht
und stützte ihren Kopf mit der Hand auf der Sessellehne ab. Sie sah
furchtbar elend aus.
„Was ist denn mit ihnen? Geht
es ihnen nicht gut?“ fragte er besorgt.
Mit schwacher Stimme antwortete
sie: „Ach… das geht schon… machen sie sich keine Sorgen.“
„Unsinn“, meinte Friedrich
barsch. „Aber das kommt vielleicht von der Aufregung. Ich werde
ihnen ein Glas Wasser holen.“ Und im Nu war Friedrich verschwunden.
Frau Sauerlich murmelte: „Vielen Dank, das wird mir sicher gut
tun.“ Dann klappte sie zusammen und schloss die Augen.
Weiß. Alles um sie herum war
weiß, als Frau Sauerlich die Augen wieder aufriss. Weiß und seltsam
verschwommen. Wie in einem Puppentheater tauchten plötzlich Herr
Hansen und Graf Maibusch vor ihren Augen auf.
„Herr Hansen… irgendwie
kommen sie mir bekannt vor…“, sagte der Graf mit überdrehter
Stimme, die in einem Echo wiederklang.
„Jajajajaja… da spielt ihnen
die Phantasie einen Streich!“ Der Gärtner klang ebenso verrückt.
Dann betrat Leonard Maibusch die Szene. Er wandte sich direkt an
seinen Bruder.
„Du hättest es wissen
müssen!“ Seine Stimme klang hart und unerbittlich.
„Wie? Was wissen müssen?“
fragte der Graf und lachte hysterisch. Auch Herr Hansen fing an zu
lachen.
„Was für ein Spaß…“,
kreischte der alte Mann, hörte abrupt mit dem Lachen auf und machte
eine finstere Miene. „Mit macht es keinen Spaß, das alles mit
ansehen zu müssen.“
Plötzlich zogen finstere Wolken
ins weiße Nichts, das Frau Sauerlich vor sich sah.
„Du gieriger Egoist!“ klagte
Leonard Henry an.
Herr Hansen, versuchte, den
Grafen in Schutz zu nehmen. „Sei nicht so gemein zu ihm.“
„Aber siehst du denn nicht,
dass er mich ruiniert?“ Leonards Stimme hatte einen klagenden Ton.
Verwirrt schaute der Graf vom
einen zum anderen. „Leonard?... Friedrich?... Herr Hansen?... Was
soll das alles?“
Bei allen dreien war nicht mehr
die geringste Spur von Fröhlichkeit oder Wahnsinn zu entdecken. Es
konnte stattdessen bald nicht mehr finsterer werden. Dann fiel ein
Schuss. Leonard fiel vornüber. Frau Sauerlich hörte ein
unterdrücktes Stöhnen und entdeckte sich selbst. Sie war an einen
Stuhl gefesselt und geknebelt und musste die ganze Szene hilflos mit
ansehen.
„Frau Sauerlich!“ rief eine
Stimme aus dem Nichts. „Frau Sauerlich, wachen sie auf!“ Die
Figuren verschwunden und das Weiß löste sich langsam auf und
verwandelte sich auf wundersame Weise wieder in das Kinderzimmer.
„Frau Sauerlich!“ Noch einen Moment dauerte es, bis Frau
Sauerlich wieder klar sehen konnte. Über sie gebeugt stand Frau
Braunfeld mit einem Glas Wasser in der Hand. „Frau Sauerlich, sie
sind eingeschlafen.“
„Frau Braunfeld?“ murmelte
die Angesprochene verwirrt. „Wo… wo ist der Graf?“
„Der ist im Wohnzimmer und
redet mit der Komtess. Hier, trinken sie einen Schluck!“ Sie hielt
Frau Sauerlich das Glas hin, doch die lehnte ab. Schwungvoll, doch
schwankend, stand sie aus dem Sessel auf und ging entschlossen zur
Tür.
„Ich muss ihm helfen. Erzählen
sie niemandem von dem, was hier los war, das wäre schrecklich
peinlich.“
„Ganz, wie sie meinen“,
antwortete Frau Braunfeld ergeben. Langsam ging sie hinter Frau
Sauerlich her. Man konnte ja nie wissen, ob die Dame wirklich gesund
war.
Zwei Gruppen unterhielten sich
angestrengt im Salon. Fräulein Maria, Herr Mahler und Leonard
standen am Klavier und unterhielten sich über die Schlechtigkeit der
heutigen Jugend. Mehrmals bekräftigte Herr Mahler die Tatsache, dass
seine Tochter zu Unrecht von dieser Feier ausgeschlossen worden war,
was Fräulein Maria mit einem „Allerdings. Unerhört!“
quittierte. Leonard schüttelte über das Verhalten seines Bruders
nur den Kopf.
„Was der sich dabei schon
wieder gedacht hat…“ Verstohlen blickte er zum Grafen, der mit
seiner Tante am Schreibtisch stand und ihn gerade erhitzt über die
neuesten Berichte aus der Welt der Schönen und Reichen aufklärte.
„…und außerdem kann man das
gar nicht so allgemein sagen“, schnatterte sie. „Du kannst nicht
einfach irgendwelche Adelshäuser vergleichen. Da sind so große
Unterschiede wie zwischen Baronin und Baroness.“
Verwirrt schüttelte Graf
Maibusch den Kopf.
„Unterschiede? Für mich ist
das dasselbe.“
„Das war mir schon klar. Dabei
ist es so einfach“, gab die Komtess zu verstehen, nicht ohne ihre
Nase über die Unwissenheit ihres Neffen zu rümpfen. „Die Baronin
ist die Mutter einer Baroness, den Rest kannst du dir selber denken.“
„Danke, Tantchen, für diese
Aufklärung“, murmelte der Graf ergeben.
„Du sollst mich nicht Tantchen
nennen. Und nun erzähl doch mal, was du so in den letzten Jahren
gemacht hast!“
„Ich bin meinen Hobbys
nachgegangen. Geschäfte, weißt du.“
„Nein, wie profan!“ Das
Tantchen zeigte sich nicht sehr begeistert vom Zeitvertreib ihrer
Verwandtschaft. Graf Maibusch versuchte, sich zu verteidigen.
„Das kann ganz schön
aufregend sein, will ich dir mal sagen. Um ein Haar wäre ich
bankrott gewesen. Dann hätte ich euch hier nicht so feierlich
empfangen können. Die Geschäftswelt bietet aufregende Abwechslung
und nicht so ein konservatives, eingefleischtes Gehabe wie deine
Adelswelt.“
„Wie kannst du meine lieben
Mitmenschen nur so…“
Komtess Gladiola plusterte sich
auf, doch der Graf fiel ihr ins Wort.
„Jaja, wie kann ich nur. Ist
dir denn nicht klar, dass ich ein wenig Abwechslung brauchte, nachdem
Vater gestorben war? Das hat mich ziemlich mitgenommen.“
„Aber du warst dir nicht zu
schade, um gegen deine Brüder um das Erbe zu kämpfen.“
„Es ist ja nun nach Vaters
letztem Willen aufgeteilt worden. Das liegt schon lange zurück.“
„Lassen wir dieses Gerede, es
macht mich ganz krank“, schloss die Komtess mit einer Leidensmiene.
Sie schreckte jäh auf, als Frau Sauerlich in den Salon gestürmt kam
und zum Grafen strebte. Fräulein Maria und Herr Mahler schauten nur
kurz zu ihr hinüber. Leonard war inzwischen verschwunden.
„Henry, Henry!“ rief die
Leidgeplagte.
„Was ist denn?“
„Henry!“ Schluchzend und
sehr unelegant fiel Frau Sauerlich in die Arme des Grafen. Die
Komtess distanzierte sich ein gutes Stück.
„Beruhigen sie sich, das ist
ja ein unziemliches Auftreten!“
„Es geht Schreckliches hier
vor“, rief Frau Sauerlich. „Nimm dich in Acht!“
„Wie kommst du darauf?“ Graf
Maibusch führte sie sichtlich verwirrt zu einem Stuhl und setzte
sie.
Die Dame prophezeite: „Es wird
gemordet werden! Ich habe es in einer Vision gesehen.“
„Du hattest wahrscheinlich
wieder einen kleinen Schwächeanfall.“ Der Graf winkte ab. „Nein,
meine Liebe, das legt sich schon wieder. Und hör auf, mir den Tag
mit solchen Geschichten zu vermiesen. Gewissen Leuten könntest du
Angst machen.“
Wie aufs Stichwort traten
Fräulein Maria und Herr Mahler an die Szene heran. Die pure
Sensationslust sprühte aus der jungen Frau: „Worum geht es denn
hier? Das hat sich ziemlich aufgeregt angehört.“
„Ach, Frau Sauerlich hatte nur
einen kleinen Anfall. Das gibt sich schon wieder“, antwortete der
Graf kurz angebunden und verließ taktlos das Zimmer.
„Gladiola, was ist hier
passiert?“ wandte Herr Mahler sich an seine Schwester. James
meldete sich unauffällig dazu. Keiner hatte ihn kommen sehen.
„Das wüste ich allerdings
auch gerne. Der Graf war ziemlich gereizt. Und was ist mit ihnen,
Frau Sauerlich? Sie scheinen so aufgelöst.“ Kopfschütteln wandte
er sich an die Umherstehenden. „Warum bringt denn keiner der armen
Frau einen Brandy?“
Der Butler ging zu einem der
hinteren Schränke.
„Langsam wird es mir ein wenig
zu bunt.“ Fräulein Maria sah die Komtess und ihren Großvater an.
„Wisst ihr, diese Anfälle scheint sie öfters zu haben. Bis jetzt
war es nur harmloses Gedöns. Ich weiß nicht, was heute los ist.“
James kehrte mit einer dunklen
Flasche und einem kleinen Glas zurück. Dankbar nahm Frau Sauerlich
den Brandy an und leerte ihn in einem Zug.
„Danke, James. Das war nötig.“
Als sie nun tief durchatmete, bemerkte sie die versammelte Gruppe und
murmelte etwas verlegen: „Meine Güte, was muss ich für einen
Unsinn geredet haben. Ich war nicht bei Sinnen. Bitte, entschuldigen
sie mein peinliches Verhalten.“
„Es sei ihnen vergeben, wenn
sie sich endlich wieder beruhigen“, sagte die Komtess gnädig. Frau
Sauerlich erwiderte beschwichtigend: „Natürlich, das war nur
vorübergehend.“
James, der sie zwischendurch
aufmerksam beobachtet hatte, meinte: „Frau Sauerlich, langsam
bereitet mir das alles Sorgen. Was ist mit ihnen los?“
Die Frau vor ihm hatte ihre
Fassung und ihre angeborene Unverschämtheit wiedergewonnen. Sie
stand auf und rückte ihr Gewand zurecht.
„James, nun seien sie mal
nicht so verweichlicht. So ein kleiner Zusammenbruch, das habe ich
mal häufiger, mal seltener. Jetzt ist halt gerade eine Phase, in der
das öfter vorkommt. Aber es tut ja niemandem weh. Und nun lassen sie
mich noch ein schönes Familientreffen verbringen!“
„Sie hat Recht“, meldete
Mahler sich zu Wort. „Wir sollten uns davon unbeeindruckt zeigen.“
Fräulein Maria atmete auf.
„Endlich. Nun denn, kommen wir
zu unserem Gesprächsthema Nummer Eins zurück: Die Leiden der
Rockefellers.“
Frau Sauerlichs Gesicht verzog
sich zu einem breiten Lächeln.
„Ja, die waren letzten Herbst
ja gerade zu einer dieser Mörderpartys hier…“
Nachdem Frau Braunfeld im
Kinderzimmer Frau Sauerlich versorgt hatte, holte sie Herrn Hansen
und bat ihn um einen Spaziergang durch den Park. Herr Hansen, der
durchaus nicht abgeneigt war, für die Früchte seiner Arbeit gelobt
zu werden, hatte natürlich sofort zugestimmt und so wanderten die
beiden nun an der Hausfront entlang auf den Park zu. Noch immer war
es sehr warm draußen, obwohl vereinzelte Wolken ab und an die Sonne
verdeckten.
„Wozu jetzt dieser
Spaziergang, Frau Braunfeld?“ fragte Herr Hansen.
„Um zu reden“, lautete die
knappe Antwort der Nachbarin. Sie ließ kurz ihren Blick über den
Vorplatz des Anwesens schweifen. Bewundernd dachte sie an die Stunden
Arbeit, die der Gärtner allein mit dem verwilderten Vorgarten
verbracht haben musste. Natürlich sah es jetzt nicht aus wie im
Paradies, aber er hatte doch all die Missstände beseitigen können.
Dann erblickte sie Leonard Maibusch, der zwischen den Säulen im
Vorbau des Hauses stand und ihnen zuwinkte. Unauffällig stieß Frau
Braunfeld Herrn Hansen an und sie winkten zurück. Dann setzten sie
ihren Weg in den Park fort.
„Leonard ist wirklich sehr
nett. Graf Maibusch hatte schon Recht, als er sagte, dass er Leonard
lieber mag als Friedrich.“ Herr Hansen dachte an die frostige
Begrüßung des unbeliebten Bruders. „Friedrichs Auftritt hat mich
heute schon sehr verwundert.“
Frau Braunfeld stimmte ihm zu.
„Na, das können sie aber laut
sagen.“ Obwohl sie mittlerweile den malerischen Park erreicht
hatten und sicher sein konnten, dass keiner lauschte, senkte Frau
Braunfeld die Stimme, als sie fortfuhr: „Ich glaube, keiner hat
wirklich erwartet, dass er auftaucht. Aber Herr Fröhlich hat ihn
verständigt…“
„Gut, dass sie Herrn Fröhlich
erwähnen!“ Herr Hansen führte die Frau an seiner Seite zu einer
alten Bank; „Ich habe den Anwalt im Verdacht, irgendwelche krummen
Dinge zu drehen. Leider weiß ich überhaupt nicht, was das sein
könnte. Er benimmt sich nur immer sehr merkwürdig, treibt sich viel
mit Frau Schmidt herum und jetzt auch noch diese Sache… dass er
gegen den Willen des Grafen seinen Bruder eingeladen hat.“
„Sie haben Recht, Herr Hansen.
Da muss etwas vorgehen, was jedoch unsere Kompetenzen etwas
übersteigt“, sagte Frau Braunfeld verschwörerisch. „Oder wie
wollen sie herausfinden, welche Geschäfte da abgewickelt werden?“
Herr Hansen stand resolut, aber
aufgrund seines Alters doch gemächlich auf und stellte sich vor Frau
Braunfeld. „Ich denke, wir wissen so viel mit Sicherheit: Frau
Schmidt und Herr Fröhlich hintergehen den Grafen.“
Herr Hansen wandte sich zum
Gehen. Die Nachbarin stand auf und ging schwungvoll hinter ihm her.
„Mit Sicherheit wissen wir gar
nichts“, mahnte sie ihn und versuchte, zu erklären: „Überlegen
sie doch mal vom logischen Standpunkt aus. Frau Schmidt ist seit so
vielen Jahren an diesem Gut beschäftigt, wieso sollte sie ihrem
langjährigen Arbeitgeber so böse mitspielen wollen? Außerdem ist
das nicht die einzige Erklärung für ihr Verhalten.“
Eine Zeit lang schwiegen beide.
Erst, als sie den Park verlassen hatten, fragte Herr Hansen: „Woran
denken sie denn zum Beispiel?“
„Wäre es nicht möglich, dass
sich Herr Fröhlich und Frau Schmidt vielleicht eine Überraschung
ausgedacht haben?“
„Na, eine Überraschung ist es
auf jeden Fall“, erwiderte der Gärtner stirnrunzelnd. „Aber ich
wüsste nicht, wozu.“
Die beiden erreichten
schließlich den Vorplatz des Landhauses. Schon aus einiger
Entfernung erkannte Frau Braunfeld etwas Grünes auf den Stufen des
Vorbaus, was sich bei Näherkommen als der grüne Pullover entpuppte,
den Friedrich Maibusch bei seiner Ankunft getragen hatte.
„Warum hat denn niemand den
Pullover da weggenommen?“ fragte Frau Braunfeld und ging forsch zu
den Stufen. Herr Hansen kam langsamer hinterher. Als Frau Braunfelds
Blick in den Vorbau fiel, schrie sie laut auf und hielt sich die Hand
vor den Mund. Herr Hansen lief sofort zur Nachbarin, um sie zu
stützen. Dann sah auch er, was passiert war.
„Friedrich!“ rief der
Gärtner, doch Frau Braunfeld korrigierte ihn.
„Nein… es ist Leonard…“
Fassungslos starrten beide auf
den leblosen Körper des Mannes, der in einer Blutlache im Vorbau
lag.
Kapitel
6
Sofort hatte sich die Neuigkeit
von Leonard Maibuschs Tod herumgesprochen. Alle hatten sich im Salon
versammelt, nachdem Graf Maibusch zu einer Art Krisengespräch
einberufen hatte. Nun, da sich alle einen Platz zum Sitzen gesucht
hatten und der Graf in ihre verstörten Augen blickte, fehlten ihm
selbst die Worte. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass eine unbekannte
Macht seinen eigenen Bruder aus diesem Leben hinfort gerissen hatte.
Graf Maibusch stützte seinen Kopf auf den Schreibtisch.
„Warum nur mein Bruder? Warum
ausgerechnet Leonard?“ fragte er wehmütig ins Nichts. „Hätte es
nicht…“
James, der ahnte, worauf der
Graf hinaus wollte, bremst ihn.
„Seien sie jetzt besser
ruhig.“
Friedrich hatte es jedoch genau
verstanden und polterte los: „Raus damit, wir wissen doch alle, was
du sagen wolltest: Hätte es nicht Friedrich treffen können?“
Hastig ging Frau Sauerlich zum
Grafen und legte ihren Arm um seine Schulter. Dabei warf sie einen
vorwurfsvollen Blick auf seinen Bruder.
„Was erlauben sie sich!“
ging sie ihn an. „Der Graf hat gerade seinen Bruder verloren,
können sie da nicht etwas taktvoller sein!“
„Falls sie es nicht wissen“,
entgegnete Friedrich, „Leonard war auch mein Bruder. Denken sie
etwa, dass mich die Sache völlig kalt lässt?“
Ohne ein Wort stand Frau
Schmidt, die Hausfrau, mit einem vielsagenden Blick zu Herrn Fröhlich
auf und verließ den Salon.
Ein leises Stimmchen ließ sich
vom Klavier vernehmen.
„Aber warum ist es so
gekommen?“ fragte Fräulein Maria. Zwar konnte sie nicht die rechte
Trauer aufbringen, ihre Neugier wollte sie dennoch nicht
unterdrücken.
James dankte ihr für diesen
Einwurf: „Fräulein Maria, das ist eine gute Frage. Ich weiß, sie
sind alle sehr mitgenommen. Aber irgendjemand hat Leonard Maibusch
ermordet, das steht außer Zweifel. Wir sollten vielleicht überlegen,
wer es war und warum er es getan hat.“
Lautstark räusperte sich die
Komtess zu Bärenwald und zögerte noch einen Augenblick, zu
sprechen, bis sie sicher sein konnte, dass sie alle anblickten.
„Ich hätte da eine Idee…“,
sagte sie langsam und gedehnt.
„Na, dann raus damit!“ Der
Graf blickte sie ungeduldig an.
„So lasse ich doch nicht mit
mir reden!“ Ein weiteres Mal blickte die alternde Dame gekränkt in
die Runde und schenkte sich einen Whisky ein. Erst, als sie diesen in
großen Schlucken getrunken hatte, fuhr sie fort: „Ich bin mir
sowieso noch nicht sicher, es ist nur ein Verdacht. Ich möchte noch
ein wenig darüber nachdenken. Ich weiß nur – aber das sollte
ihnen allen bekannt sein, dass es einer aus diesem Zimmer war.“
Herr Fröhlich stöhnte ob
dieser vagen Erklärung und verkündete: „Dann werde ich mich
reinwaschen. Ich gehe.“ Sprach´s und war verschwunden, nicht ohne
einen Kommentar vom Butler zu ernten: „Sie sollten aber besser im
Haus bleiben! Es wäre schade, wenn wir einen Mörder laufen ließen.“
Verzweifelt wiederholte der Graf
erneut, was alle im Geiste bewegten: „Wie konnte jemand nur so
etwas tun?“
Unsentimental meinte Friedrich:
„Nun, es gibt reichlich Motive, jemanden den Schädel
einzuschlagen. Wie wäre es denn mal mit Gier? Ich spreche da auf ein
gewisses Erbe an…“
Herr Flip wurde sehr rot im
Gesicht und stemmte die Hände in die Hüften.
„Muss ich mir das denn noch
länger bieten lassen? Mir vorzuwerfen, ich hätte jemanden ermordet.
Frechheit!“ Stürmisch ging er zur Tür.
„Warte auf mich!“ rief
Fräulein Maria und ging hinterher. Geräuschvoll fiel die Tür ins
Schloss.
Schmunzelnd blickte Frau
Sauerlich zur Tür. „Die beiden schon wieder… da scheinen sich ja
zwei gefunden zu haben.“
Friedrich wusste nicht, was er
gegen Flip gesagt haben konnte. „Ich verstehe nicht… was hat er
damit zu tun? Ich wollte ihn gar nicht beschuldigen. Ich dachte eher,
dass du es warst.“ Kalt zeigte er auf Graf Maibusch. Eine Geste des
Schreckens lief durch die Gesellschaft.
„Wie können sie nur!“ nahm
Frau Sauerlich ihren Freund in Schutz.
Friedrich versuchte, sich zu
rechtfertigen: „Na, der alte Erbstreit… du wolltest schon immer
mehr Geld als wir und warst sauer über die Entscheidung unseres
Vaters. Und jetzt hast du unseren eigenen Bruder ermordet!“
James besänftigte den
aufgebrachten Friedrich. Offenbar hatten die Gefühle hier den
Verstand überwältigt. „Nun seien sie mal still, Herr Maibusch.
Wenn der Graf wirklich an das Geld kommen wollte, dann würde er doch
wohl eher sie umgebracht haben. Er mochte Leonard immer mehr als sie.
So ist es doch, oder?“
„Genau.“ Der Graf pflichtete
ihm bei. „Allein dein taktloses Auftreten heute macht mich schon
wieder verrückt.“
Der Butler fuhr fort. „Warum
also sollte er seinen geliebten Bruder umbringen, wenn er mit dem
Mord am anderen Bruder gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen
konnte?“
„Eine bodenlose
Unverschämtheit. Dass sie als Butler in meiner Gegenwart so reden!
Ich muss mich abreagieren.“ Wutschnaubend stampfte Friedrich aus
dem Zimmer, gefolgt von Herrn Mahler und Herrn Hansen.
Nüchtern blickte James sich im
Salon um.
„Nun, die Runde hat sich
schnell wieder verteilt. In einer halben Stunde gibt es Kaffee und
Kuchen. Bis dahin müssen wir warten und nachdenken, warum es
passieren konnte.“
Der Graf nickte. „Tun sie das,
James. Ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Und bitte kümmern
sie sich um den Vorbau. Ich will nicht jedes Mal die Flecken sehen
müssen und…“ Der Graf stotterte und brach dann schluchzend
zusammen. Bis auf Frau Sauerlich verließen die anderen den Salon. Es
war besser, den Grafen einen Moment allein zu lassen.
Sobald Frau Schmidt den Salon
verlassen hatte, wartete sie im Flur. Sie wusste, dass Herr Fröhlich
jeden Moment nachkommen musste. Wir erwartet verließ der Anwalt den
Raum.
„Sie sollten aber besser im
Raum bleiben! Es wäre schade, wenn wir einen Mörder laufen ließen!“
rief der Butler ihm hinterher.
Frau Schmidt zog ihn zur Seite
und führte ihn in die Küche.
„Lassen sie James nur reden,
der hat hier gar nichts zu sagen. Kommen sie in die Speisekammer, da
hört uns keiner.“
Ergeben folgte Herr Fröhlich
der Hausfrau. Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte,
blickte er zu Frau Schmidt. Die starrte ihn provozierend an.
„Wunderbar, Herr Fröhlich.
Sie sind ja doch zu etwas fähig. Das war aber auch Zeit, nachdem
sich die Ereignisse so zugespitzt hatten.“
Entgeistert schaute der
Angesprochene an die Wand.
„Meinen sie etwa, ich hätte
Leonard umgebracht?“
„Natürlich! Wer denn sonst?
Außerdem hatten wir es so abgesprochen“, argumentierte Frau
Schmidt bar jeder Logik und ohne eine Spur von Mitgefühl für den
Grafen. „Jetzt können sie die Sache mit dem fehlenden Geld Leonard
in die Schuhe schieben und wir sind vom Verdacht befreit. Ich
überlege“, meinte die kleine Hausfrau keck, „ich überlege, ob
ich sie dafür nicht irgendwie belohnen sollte.“
„Hören sie zu, ich habe ihn
nicht umgebracht. Wie hätte ich das auch tun sollen, ich war zu der
Zeit unterwegs.“
„Ach? Kann das jemand
bezeugen?“
„Nein.“ Herr Fröhlich
atmete tief durch. „Wie denn auch, ich bin grundsätzlich allein
unterwegs.“
„Macht ja nichts, solange sie
niemand befragt. Falls es doch zu so einer unangenehmen Situation
kommen sollte, dann sagen sie, sie waren mit mir zusammen. Fertig.
Ich will ihnen ja keinen Strick daraus drehen, dass sie mir geholfen
haben“, meinte Frau Schmidt gönnerhaft, was den Anwalt dazu
veranlasste, die Hände gen Himmel zu ringen.
„Verstehen sie mich nicht? Ich
habe niemanden ermordet!“
„Seien sie still!“ mahnte
Frau Schmidt. „Wollen sie, dass alle uns hören?“
Deutlich leiser fuhr Herr
Fröhlich fort: „Es war eine Schnapsidee von ihnen, das Problem
dadurch zu lösen, dass der Bruder des Grafen aus dem Weg geräumt
wird.“
„Es war aber die einzige
Lösung, nachdem sie so verrückt waren und den anderen Bruder
eingeladen haben. Sie sehen ja, was daraus wird: Ein neuer Streit
kommt auf. Und dabei gibt es doch gar keinen Grund dazu, nur ihre
Hinterhältigkeit.“
Herr Fröhlich war es leid, in
diesem Gespräch immer als der Sündenbock dargestellt zu werden. Es
war an der Zeit, den Spieß umzudrehen.
„Sie sind mal besser still,
sie haben schließlich mitgemacht. Und nun vielleicht sogar jemanden
umgebracht.“
Frau Schmidt gab einen
höhnischen Laut von sich und lachte fett. „Machen sie sich nicht
lächerlich“, konterte sie überlegen. „Ich setze meine Existenz
nicht durch solche Kinkerlitzchen aufs Spiel. So, und jetzt gehen sie
und unterhalten sie sich mit den Leuten, wir müssen bis heute Abend
die Fassade bewahren.“ Langsam, aber sicher schob Frau Schmidt
ihren Gesprächspartner aus der Speisekammer hinaus in die Küche.
„Besser, sie gehen nicht in den Salon, sonst werden ihnen noch
Fragen gestellt. Aber verschwinden sie bloß aus meiner Küche. Ich
habe das Kaffeegedeck vorzubereiten.“
„Keine Angst, Frau Schmidt,
ich werde sie schon nicht belästigen“, zischte der Anwalt und ging
zähneknirschend Richtung Eingangshalle.
„Wie kann er mir nur
vorwerfen, dass ich den Bruder umgebracht habe?“
Nervös marschierte Herr Flip
vor dem Fenster seines Gästezimmers auf und ab. Die Hände hatte er
hinter dem Rücken verschränkt.
Fräulein Maria saß gelangweilt
auf einem Stuhl und machte sich ihre eigenen Gedanken, während sie
dem jungen Mann zuschaute. Warum halten alle es für nötig, sich den
ganzen Tag nur anzugiften?
Schließlich sagte sie entnervt:
„Nun setz dich schon hin, das macht einen ja wahnsinnig. Du hast
Leonard doch gar nicht umgebracht, also brauchst du dir keine Sorgen
zu machen. Ich glaube auch nicht, dass Friedrich dich gemeint hat. Er
sprach vom Erbe des Vaters des Grafen, nicht das des Grafen selbst
oder etwa seines Bruders. Außerdem wäre das doch seltsam“,
kommentierte Maria, wobei sie ihre rot lackierten Fingernägel
gelangweilt betrachtete, „dass du den Bruder umbringen solltest,
wenn du doch nur im Testament des Grafen selbst berücksichtigt
bist.“
Beiläufig zog Maria ihre Tasche
hervor und wühlte darin herum. In scheinbar unendlichen Tiefen hatte
sie endlich eine Zigarettenschachtel gefunden. Gerade wollte sie sich
eine Zigarette gönnen, als Herr Flip bat: „Lass das bitte. Nicht
in meinem Zimmer.“
Gleichgültig zuckte Maria mit
den Schultern und steckte die Schachtel wieder weg.
„Du hast schon Recht, ich
müsste den Grafen selbst umbringen“, stimmte er ihr unmittelbar
zu.
„Nimm nicht solche Worte in
den Mund, du machst mir Angst!“ rief Maria erschrocken.
Herr Flip grinste.
„Nanu? Woher die plötzliche
Fürsorge?“
Fräulein Maria wurde – zu
ihrem Outfit nicht gerade passend – rot im Gesicht und brachte
jedes Wort mühsam hervor: „Es tut mir Leid, dass ich in den
letzten zwei Tagen so unhöflich war. Ich war nur sehr gereizt wegen
meines Vaters. Der Graf hätte ihn nicht einladen dürfen, aber
mittlerweile sehe ich ein, dass es keine andere Lösung gab.“
„Na endlich!“ Herr Flip war
sichtlich erleichtert, dass das Eis nun endlich gebrochen schien.
„Diese Einsicht hat aber lange auf sich warten lassen. Dieses
Treffen ist nur eine Maskerade, weil Henry herausfinden wollte, was
es mit dem Erbe auf sich hat. Nun aber ist Leonard tot. Das wird die
Nachforschungen erschweren. Sag mal“, fügte er zweifelnd hinzu,
„er war doch dein Onkel. Bist du gar nicht traurig über seinen
Tod?“
Fräulein Maria stand von ihrem
Platz auf und ging hinüber zum Fenster. Es bot einen hervorragenden
Blick auf den hinteren Garten. Noch hatte die Sonne die Umrundung
nicht geschafft; es fiel kein direktes Sonnenlicht ins Zimmer.
Draußen sah Maria Friedrich Maibusch, Herrn Hansen und ihren eigenen
Großvater in den Wintergarten verschwinden. Plötzlich entsann sie
sich der Frage von Herrn Flip.
„Meine Trauer hält sich in
Grenzen“, gab sie zu. „Ich habe ihn nie richtig kennen gelernt,
also kann ich auch nicht richtig traurig über sein Dahinscheiden
sein. Aber der Tag ist jetzt verdorben.“
„Allerdings.“ Herr Flip
brachte eine trockene Note in Fräulein Marias verschlungene
Gedankenwelt. „Wird schwer, jetzt noch Frohsinn aufzubringen.
Vielleicht werden alle beim Kaffee und Kuchen nachher wieder etwas
vergnügter.“
„Wir werden sehen“, meinte
Fräulein Maria und wandte sich vom Fenster ab.
Die drei Herren auf dem Weg in
den Wintergarten hatten nicht bemerkt, dass Fräulein Maria sie
beobachtete. Schnurstracks gingen sie auf den Bau zu und setzten sich
darin auf die wunderbaren Korbsessel, die nun dank James´ Pflege
nicht mehr wie Stroh und Staub aussahen. Herr Mahler zündete um der
heimlichen Atmosphäre Willen ein Windlicht an und stellte es mitten
auf den Tisch, um den die Sessel standen. Herr Fröhlich zog die
schweren, düsteren Vorhänge vor die Glasscheiben, bis nur noch ein
kleiner Lichtstrahl den Raum schwach erleuchtete und das Windlicht
gegen die Dunkelheit ankämpfen musste. Friedrich Maibusch schenkte
sich einen Schnaps ein und lehnte sich mit geschlossenen Augen
zurück. Er atmete tief durch.
Mahler schaute verächtlich
durch den kleinen Spalt zwischen den Stoffbahnen auf das Anwesen und
sagte: „Wie unvorsichtig. Es wäre jetzt für den Mörder so
leicht, zu fliehen. Wer sagt, dass ich es nicht war? Ich könnte
jetzt einfach davon marschieren; es würde keinen interessieren.“
„Kann uns das nicht egal sein?
Soll Henry nächstes Mal halt besser aufpassen“, antwortete
Friedrich harsch.
„Beruhigen sie sich. Der Graf
war sehr aufgebracht.“ Herr Hansen blieb bei den Fakten.
Friedrich schaute zu dem alten
Mann, der kaum sichtbar in einer Ecke des Wintergartens verweilte.
„Es ist doch nicht nur der
Graf. Ich werde von allen als Monster dargestellt. Das muss ich mir
nicht bieten lassen. Ich bin mit den besten Absichten gekommen, den
alten Streit endgültig zu schlichten.“
Der Gärtner legte den Kopf
schief.
„Ich muss schon sagen, James
war da etwas grob an die Sache gegangen. Aber es ging doch nur darum,
ihren Bruder zu entlasten. Sie hatten ihn so unfair beschuldigt.“
„Genau, alter Knabe.“ Herr
Mahler stimmte Herr Hansen durchaus zu. „Sie wollen sich mit ihrem
Bruder vertragen? Dann sollten sie nicht unter böswilligen
Anschuldigen mit ihm sprechen.“
Langsam stellte sich die
Einsicht bei Herrn Maibusch ein.
„Es muss eine Sicherung bei
mir durchgebrannt sein. Ich hoffe, er verzeiht mir.“
Herr Hansen blickte im Geiste
auf die zurückliegenden Tage. Unversöhnlich? Eigentlich konnte
davon keine Rede sein. Ob Herr Hansen das nun objektiv beurteilen
konnte, war eine andere Frage.
„Also, ich habe den Grafen
bisher nicht als gemeines, unversöhnliches Ekel gesehen. Warten sie
ab bis zum Kaffe, dann wird er bestimmt wieder besser auf sie zu
sprechen sein.“
„Und diese Mordsache brauchen
sie dann ja nicht auf ihn zu beziehen.“
Der Gärtner nickte. „Herr
Mahler hat Recht. James ist in diesen Dingen scheinbar fähiger als
wir. Wir überlassen ihm die Angelegenheit und genießen den Tag,
soweit das noch möglich ist.“
Friedrich nippte an seinem
Whiskyglas. Verlegen sagte er: „Das ist mir alles schrecklich
peinlich. Und vor allen Dingen habe ich Angst. Einer aus unserer
Gruppe ist ein Mörder und es macht mir Angst, das zu wissen.“
„Sie befürchten, dass er
wieder zuschlagen wird?“ mutmaßte Herr Hansen, wurde jedoch von
Mahler unterbrochen.
„Ach, kommen sie, Hansen, das
halte ich doch für sehr unwahrscheinlich. Ich meine, solange wir
keine Ahnung vom Motiv haben, können wir auch nicht wissen, wie
diese Person sich verhalten wird. Und wenn, dass wird es uns ganz
unvorbereitet treffen. Dann können wir selbst nichts mehr tun.“
Herr Hansen, der die
Gedankengänge Mahlers zwischendurch mit leichtem Nicken bekräftigt
hatte, ergänzte: „Ich habe gleich gewusst, dass heute etwas schief
gehen würde. Sie müssen mal auf Frau Schmidt und Herrn Fröhlich
achten. Die beiden sind immer zusammen.“ Schlagartig war ihm die
Idee gekommen, zusätzlich zu Frau Braunfeld auch noch diese beiden
in seine Theorien einzuweihen. Ihnen konnte er vertrauen.
Unschuldig fragte Friedrich:
„Wer ist Frau Schmidt?“
„Die etwas kräftigere
Hausfrau.“
„Aha. Sie meinen, die beiden
hecken etwas aus?“
„Oder haben etwas ausgeheckt.
Frau Sauerlich ist der gleichen Meinung wie ich.“
„Jaja, Frau Sauerlich…“,
schaltete Herr Mahler sich wieder ein, „sie ist aber momentan
selbst nicht ganz auf dem Damm, wie mir scheint.“
„Das geht vorüber. Obwohl ich
ein wenig wütend auf sie bin. Unser erstes Zusammentreffen war wenig
erfreulich, sie hat mich mit einer Vase niedergeschlagen. Und so was
führt sich derart pompös auf“, setzte Herr Hansen frech hinzu.
„Scheint eine impulsive Frau
zu sein“, urteilte Friedrich folgerichtig.
„Oh ja… aber ich wasche
nicht gerne anderer Leute schmutzige Wäsche“, meinte Herr Hansen
bescheiden. „Sie können sich ja mal nach Kaffee und Kuchen mit ihr
unterhalten.“
Bei dem Stichwort schaute Herr
Mahler auf seine Taschenuhr. Es war höchste Zeit für den Kaffee. Er
stand auf und zog die Vorhänge zurück.
„Wo sie es erwähnen – wir
sollten jetzt wirklich wieder ins Haus. Die anderen warten bestimmt
schon.“
Zustimmende Laute der anderen
beiden gaben das Signal zum Aufbruch, nicht, ohne dass vorher noch
die Kerze ausgeblasen und sämtliche Spuren eines Beisammenseins
vernichtet wurden.
Zu guter Letzt waren alle im
Salon eingetroffen. Herr Mahler starrte beeindruckt auf die gedeckte
Tafel und setzte sich gegenüber seiner Schwester, der Komtess, genau
zwischen seine Enkelin und Frau Braunfeld. Friedrich und Herr Hansen
nahen seitens der Komtess Platz. Graf Maibusch blickte vom Kopfende
des ausgezogenen Tisches auf die Gesellschaft.
Das Besteck war ebenso penibel
angerichtet wie die Kuchen und Torten, die Sahnekännchen und
Zuckerschälchen auf dem Tisch ausgerichtet waren. Nur Frau Schmidt,
Urheberin dieser Ordnung, schien den Sinn zu überblicken. Als daher
endlich Ruhe eingekehrt war, ergriff sie das Wort, während James
Kaffee einschenkte.
„Wenn ich ihnen die Kuchen
erklären darf: Wir haben Schwarzwälder Kirschtorte, Wickeltorte,
Champagnertorte, vor der Komtess ein Erfrischungskuchen, dann
Rotweinkuchen und bei Frau Sauerlich Mousse-Johannisbeer-Schnitten.
Wie passend, säuerlich und doch widerlich süß.“
„Dafür geht ein großes
Kompliment an die Köchin Luise Schmidt“, sagte der Graf strahlend.
Erfreute Gesichtszüge bei allen außer Frau Sauerlich, die sicher
nicht mit einem solchen Seitenhieb seitens der Hausfrau gerechnet
hatte. Dennoch zwang sie sich zu einem Lächeln.
Jeder bemühte sich um die guten
Kuchen. Ganz unbescheiden schnitt sich die Komtess zu Bärenwald ein
sehr großes Stück Schwarzwälder Krisch ab und hatte Probleme, es
unbeschadet auf ihren Teller zu befördern. Frau Sauerlich und Frau
Braunfeld, die auf der anderen Seite saßen, kicherten.
„Meine Güte, die muss aber
einen Hunger haben“, flüsterte Frau Braunfeld.
„Ja“, antwortete Frau
Sauerlich, „sie hat nicht einmal gewartet, bis der Butler ihr zu
Hilfe gekommen ist.“
„Nur zu, Gladiola!“ Herr
Mahler blickte sie aufmunternd an. „Es ist genug da!“ Damit
erntete er gehässige Blicke von gegenüber.
Friedrich Maibusch griff zu
seiner Kuchengabel und ließ sein Wasserglas klingen. Es wurde still
im Salon.
„Henry, das mit dem Streit tut
mir Leid“, sagte er langsam und deutlich. „Ich bin mit der festen
Absicht hierher gekommen, um mich mit dir zu versöhnen. Ich habe
nicht ahnen können, dass es zu so einem Zwischenfall kommen würde.“
Der Graf schwieg einen Moment,
bevor er seinem Bruder antworten konnte.
„Das ist nett, dass du das
sagst. Es beruhigt mich, zu wissen, dass ich nicht von allen
Mitmenschen gehasst werde.“
Am anderen Ende der Tafel stand
eine empörte Frau Sauerlich auf.
„Ich hasse dich nicht, das
weißt du ganz genau.“
„So wenig, wie wir alle“,
fügte Fräulein Maria hinzu, während Frau Sauerlich sich wieder
setzte. „Aber ich kann nicht jeden Menschen um mich herum lieben.
Es gibt Leute, zu denen muss ich eine gewissen Distanz bewahren,
sonst würden sie mich wahnsinnig machen.“ Wenn Blicke töten
könnten, würde Herr Fröhlich in der Hölle erwachen. Eiskalt
schaute der Anwalt zurück.
„Das soll jetzt aber nicht
Thema des Gesprächs sein, denke ich“, schaltete Herr Hansen sich
ein. Die unleidige Diskussion musste nicht schon wieder aufgerollt
werden.
Graf Maibusch blickte zu seiner
Tante und tippte dann Frau Schmidt an.
„Frau Schmidt, sie haben den
Tee vergessen! Ich weiß doch, wie gerne Tante Gladiola Tee trinkt.
Einen Moment, bitte.“
Graf Maibusch stand auf und
verließ den Salon, um das Getränk für die Komtess zu bringen. Mit
einem gönnerhaften Blick schaute die derart Umsorgte hinterher.
„Aus dem Jungen kann ja doch
noch etwas werden. Egal, wie taktlos er manchmal ist, man muss ihm
doch ein gewisses Stilgefühl zugestehen. Wenigstens die Sache mit
dem Tee hat er noch ohne einen Wink meinerseits bemerkt“, lobte die
Komtess.
Daraufhin setzte Fräulein Maria
abrupt ihre Kaffeetasse ab und sah die alte Dame schräg gegenüber
scharf an.
„Ich will ihnen mal was sagen.
Ich finde mich ja schon manchmal sehr arrogant. Frau Sauerlich
übertrifft mich da sogar noch. Sie aber schießen den Vogel ab.
Liegt es an ihrer adligen Abstammung, oder warum behandeln sie all
ihre Mitmenschen so herablassend?“
Komtess Gladiola zu Bärenwald
fehlten die Worte. Sie rang nach Luft.
„Also… das ist ja…“
Herr Mahler legte den Arm um
seine Enkelin und versuchte, sie zu besänftigen: „Ganz ruhig,
Maria. Sie hat sich daran gewöhnt, etwas Besseres zu sein.“ Dem
gänzlich widersprechend schob die Komtess ein großes Stück Torte
in ihrem Mund, so dass sie beinah daran erstickte. „Das kann wohl
niemand mehr ändern“, schloss er nach dieser Beobachtung.
Graf Maibusch war mit dem Tee
zurückgekehrt, den er seiner Tante nun in einer wunderbar verzierten
Tasse servierte.
„Danke, Henry.“
Frau Sauerlich, die sich von dem
Charakter der Hausfrau nicht gerade angetan fühlte, hielt es nun
dennoch für nötig, sie aufgrund ihrer Kochkünste zu loben.
„Also, Frau Schmidt, dieser
Rotweinkuchen schmeckt ganz ausgezeichnet. Ich habe selten einen so
guten Kuchen gegessen. Sie könnten als Köchin ein Vermögen
verdienen, warum sind sie immer noch hier?“
„Aus Treue zu meinem
Arbeitgeber“, erwiderte Frau Schmidt und konnte nicht umhin, etwas
rot zu werden.
Frau Sauerlich fühlte sich
nicht verstanden. Sie erläuterte der Hausfrau ihre Gedankengänge
so, dass sie wirklich alle verstehen mussten.
„Aber… der Graf ist so
reich. Reizt es sie denn da nie, an sein Geld zu kommen? Vielleicht
ein Betrug oder ähnliches? Es würde ja niemand auf sie kommen, auf
die Treue Seele des Hauses.“
„Wollen sie mir etwa
unterstellen…“, begann die Beschuldigte, wurde aber gleich von
der Dame in Blau am anderen Ende des Tisches unterbrochen.
„Es war nur so eine Idee.“
Herr Fröhlich, der Frau Schmidt
gegenübersaß, nahm die Hausfrau in Schutz: „Seien sie doch nicht
so gemein. Dies ist ein Familientreffen, an dem sich alle über das
Wiedersehen freuen sollten. Und ich habe bis jetzt wenig Freude
mitbekommen. Das ändert sich hoffentlich noch.“
„Hm. Wie sie es meinen, Herr
Fröhlich“, sagte der Graf. Er schien nicht allzu zuversichtlich.
Fräulein Maria nahm ihn von der anderen Seite in die Zange.
„Genau. Herr Fröhlich.“ Sie
betonte jedes Wort und der Anwalt zuckte jedes Mal leicht zusammen.
Der Komtess schien dies eine
endlose Diskussion zu werden, daher versuchte sie, abzulenken.
„Also, ich nehme mir noch ein
Stück Torte. Kann mir jemand das Messer reichen?“
Beiläufig hielt Friedrich, der
sich gerade an Herrn Flip zur anderen Seite gewandt hatte, ihr das
Tortenmesser hin. Die Komtess nahm es jedoch nicht an. Der Rest der
Anwesenden war wieder in heiteres Geplauder verfallen. Friedrich
drehte sich um und sagte: „Gladiola, das Messer!“
Die Komtess sagte nichts. Sie
fiel vornüber mit dem Gesicht voran in die Schwarzwälder
Kirschtorte. Ihr Kopfschmuck fiel auf den Tisch und rollte zu Frau
Braunfeld. Friedrich schüttelte seine Tischnachbarin. „Tante? Ist
alles in Ordnung?“
Die Aufmerksamkeit aller war mit
einem Mal auf das Geschehen um die Komtess herum gerichtet. In
Windeseile kam James herbei und zog die Komtess an den Schultern
wieder in eine gerade Haltung zurück. Die Haare waren von der Sahne
ganz verklebt und hingen im Gesicht. Der Butler nahm ein feuchtes
Tuch herbei und wischte sie fort. Er schaute die Dame genau an,
fühlte dann ihren Puls und sagte schließlich: „Mit Verlaub – es
scheint, als sei gar nichts in Ordnung. Ihre Tante ist soeben, wie
mir scheint, verstorben.“
Die Nachricht verfehlte ihre
Wirkung nicht. Frau Sauerlich und Frau Schmidt hielten sich die Hände
vor den Mund, Fräulein Maria wurde weiß im Gesicht. Die anderen
starrten mit leeren Gesichtern auf den Tisch.
„Gladiola!“
Der Aufschrei kam von Herrn
Mahler.
„Nein! Wie konnte das
passieren?“
James, der unauffällig die
Komtess untersucht hatte, nahm eine aufrechte Haltung ein und sprach
nüchtern: Schauen sie sie sich doch nur an! Die bläuliche Färbung
der Haut, das leicht geschwollene Gesicht! Mir scheint, als sei die
Tante vergiftet worden, obwohl ich nichts erkennen kann. Ob es hier
beim Essen geschehen ist?“ James roch an dem Geschirr, das die
Komtess zuvor noch benutzt hatte, ebenso am Kuchen und an der
Teetasse, konnte jedoch nichts feststellen. „Sofern Gift benutzt
wurde, muss es farblos und geruchlos sein. Da bin selbst ich
überfragt. Und wieder stammt der Täter aus unseren Reihen. Ich
finde das äußerst merkwürdig, gar nicht mehr angenehm. Wo kann der
Täter das Gift nur besorgt haben?“ James blickte sich in der Runde
um, zog dann eine Augenbraue hoch. „Gibt es Freiwillige, die den
Mord gestehen möchten? Vielleicht gleich noch den an Leonard
Maibusch dazu?“
Die Angesprochenen blickten sich
gegenseitig verstohlen an, niemand sagte ein Wort. Die Luft war zum
Schneiden dick und keine Spur von Entspannung in Sicht. Der Anwalt
fuhr den Butler an: „Warum ignorieren sie die Tatsache, dass ebenso
gut sie der Mörder hätten sein können? Der Butler ist immer der
Täter!“
„Der Gärtner…“, murmelte
Herr Hansen. Zum Glück hörte es niemand.
„Das ignoriere ich
keinesfalls“, gab James ruhig zurück. „Wenn ich jedoch der
Mörder wäre, würde ich nicht mit allen Mitteln auf mich aufmerksam
machen wollen. Aber dieses Verhalten fällt mir bereits bei einigen
Personen hier auf. Zum Beispiel bei ihnen, Frau Braunfeld.“
Die Nachbarin hatte mit einer
solch unbegründeten Anschuldigung nicht gerechnet. Sie schreckte auf
und sagte: „Bei mir? Sie wollen sich wohl einen Scherz erlauben!“
„Wenn es um Mord geht, mache
ich keine Scherze.“
„Infam. Unerträglich.“ Frau
Braunfelds Stimme schlug einen klagenden Ton an. „Dass ein so
qualifizierter Butler, der weiß, welche Grenzen er hat, so weit über
sie hinaustritt! Wieso verdächtigen sie mich? Ich habe überhaupt
kein Motiv. Der Graf hat mich eingeladen, um mich von dem Verlust
meiner Familie abzulenken. Glauben sie, die zwei Menschen, die hier
ihr Leben verloren haben, gehen mir nicht zu Herzen? Wie gefühllos
von ihnen!“ Tränen standen in ihren Augen, als sie sich an Graf
Maibusch wandte: „Nächstes Mal kümmern sie sich besser um ihr
Personal, bevor sie Pläne für eine Feier machen, und stellen nur
Leute ein, denen sie auch vertrauen können. Ich kann hier nicht
bleiben, es würde mich ruinieren. Meine Gefühle ruinieren!“ Ein
letztes Mal sprach sie zu James: „Und sie will ich nie wieder
sehen!“
Wutentbrannt stampfte Frau
Braunfeld nach diesen flammenden Worten aus dem Salon. Frau Schmidt
zeigte hinter ihr her.
„Sie sollten sie nicht einfach
gehen lassen. Vielleicht ist sie nicht ganz unschuldig!“
„Seien sie beruhigt, Frau
Schmidt“, sagte James, der mit Frau Braunfelds Reaktion gerechnet
hatte. „Unsere liebe Nachbarin hat nichts mit irgendwelchen dunklen
Machenschaften hier zu tun. Davon habe ich mich bereits im Vorfeld
des Treffens überzeugt. Aber es war doch interessant, zu sehen, wer
zuerst auf den Abgang von ihr reagieren würde. Schade nur, dass sie
es waren. Wissen sie, ich hatte gehofft, dass sich jemand bemüht,
den Verdacht weiterhin auf Frau Braunfeld zu halten, indem er oder
sie sie hier festhält. Dadurch könnte der Täter von sich
ablenken.“
Frau Schmidt schüttelte den
Kopf. „Spielen sie hier Detektiv, oder wie?“ Immer mehr bereute
sie, dass sie ihm anfangs einen lockeren Umgang empfohlen hatte.
„Bei ihnen, Frau Schmidt, kann
ich mir aber auch gut vorstellen, dass sie nur…“ James zögerte.
Ein paar Details waren unstimmig. „Nein“, räumte er schließlich
ein, „es war doch ganz gut. Es ist nämlich durchaus möglich, dass
sie eine zweifache Mörderin sind. Sie hatten die besten
Möglichkeiten, die Speisen zu vergiften.“
„Nicht schlecht, Herr Butler“,
antwortete die Hausfrau zynisch, „aber ich meine mich erinnern zu
können, sie hätten hier nichts von dem Gift bemerkt? Vielleicht hat
sie ja schon vorher was abbekommen. Haben sie auch daran gedacht,
dass mehrere von der Torte gegessen haben? Wieso hätte es nicht der
Tee sein können? Dann käme nämlich auch der Graf als Täter in
Frage, denn schließlich hat er ihr den Tee eingeschenkt.“
Zufrieden ob ihrer schlüssigen
Verteidigung lehnte Frau Schmidt sich zurück und schaute James
provozierend an. Graf Maibusch blickte noch immer teilnahmslos auf
den Tisch und stammelte: „Aber… warum hätte ich Leonard
umbringen sollen? Ich habe ihn geliebt. Mehr als Friedrich
jedenfalls.“
„Das reicht.“ Fräulein
Maria wollte sich entnervt die Haare raufen, bedachte aber zum Glück
noch rechtzeitig ihren Kopfschmuck und die wilden Federn in ihrer
Frisur. „Ich rufe die Polizei.“
„Nein!“ Der Einwand kam
synchron und ein wenig zu schnell von Frau Schmidt und Herrn
Fröhlich.
„Warum denn nicht“, fragte
Frau Sauerlich. „Die werden den Fall schon lüften. Dann hat dieses
Theater ein Ende. Oder wollen sie so tun, als sei nichts passiert?“
Frau Sauerlich blinzelte die
anderen an. Mittlerweile blendete die Spätnachmittagssonne direkt in
den Salon.
„Ich kann mir nicht
vorstellen, dass wir uns alle uneingeschränkt die Polizei wünschen
sollten. Oder kann sich hier jemand mit einer weißen Weste brüsten?“
Frau Schmidt, die ihre weiße
Küchenschürze trug, drehte sich weg.
Herr Flip hatte die Zeit über
geschwiegen. Ihm waren verschiedene Dinge durch den Kopf gegangen.
Vor allem: Angst. Er fragte: „Unter uns ist also ein Mörder, und
keiner will die Polizei rufen. Sollen wir jetzt alle hier sitzen
bleiben und warten, bis der nächste umfällt? Ich will das nicht
sein!“
Fräulein Maria blickte den Mann
im grünen Anzug an. Hatte sie ihm vorhin noch die starke Rolle des
Beschützers zugeteilt, so war er nun das kleine Mäuschen. Brüsk
stand sie auf.
„Niemand wird gezwungen, hier
sitzen zu bleiben. Ich vertrete mir die Beine. Sollte ich flüchten,
wissen sie ja wenigstens, wen sie anzeigen müssen. Die haben mich
doch in Nullkommanichts geschnappt! Wir werden jetzt auch noch den
Abend verstreichen lassen, dann wird sich schon noch der oder die
Schuldige finden.“
„Worauf sie sich verlassen
können“, rief der Butler ihr grimmig hinterher.
Später, am frühen Abend, hatte
Fräulein Maria ihren Spaziergang beendet und ging in das
Kinderzimmer, um sich vor dem Abendessen noch ein wenig auszuruhen.
Zu viel Aufregung bringt unerwünschte Falten und Krähenfüße,
dachte sie sich. Als sie das Zimmer betrat, fand sie dort Frau
Schmidt und Herrn Fröhlich vor. Der Anwalt ging mit einem
Aktenordner in der Hand auf und ab, während Frau Schmidt auf einem
Sessel saß. Fräulein Maria setzte sich ihr gegenüber.
„Also, Frau Schmidt, so
wunderbar ihre Kuchen auch waren… dieser Abend ängstigt mich jetzt
doch. Ausgerechnet die Komtess! Wer hätte Grund gehabt, sie zu
beseitigen?“
„Nanu, Fräulein Maria? Eben
noch so furchtlos und jetzt diese Aufregung? Sie müssen sich leider
damit abfinden, dass jeder ein gutes Motiv hatte. Oder ist ihnen die
Komtess nicht auf die Nerven gegangen?“ Die Hausfrau verdrehte die
Augen beim Gedanken an die Hektik mittags. „Dieses alberne Getue
immer und dieses aufgesetzte Benehmen gegenüber den anderen. Sie
hatte vor niemandem Respekt und hat mich wie eine Sklavin behandelt.
Also, da haben die paar Stunden doch ausgereicht, um mich ziemlich
sauer zu machen.“ Herr Fröhlich schaute sie kurz an und
schmunzelte, doch sie fuhr fort, ohne ihn zu beachten. „Und wie sie
sich aufgeführt hat, als sie ein wenig mit aufräumen sollte!“
Frau Schmidt ahmte eine leidende Geste nach, die Fräulein Maria zum
Kichern brachte.
„Das stimmt allerdings. Aber
das kann doch kein Grund sein, einen Menschen zu töten! Stellen sie
sich das doch nur mal vor, wie grausam!“
Herr Fröhlich schüttelte den
Kopf, hatte er als Anwalt doch schon ganz andere Fälle miterlebt.
„Maria, dir fehlt die nötige
Objektivität. Der Grund für den Mord an der Komtess wird ebenso
bodenständig sein wie das Motiv für die Tat an Leonard Maibusch.“
„Als würdest du dich damit
auskennen“, sagte Maria ungnädig. „Das ist doch ziemlich
hanebüchen. Vielleicht warst du es sogar selbst.“
„Ach? Wieso sollte ich so
etwas tun?“
„Es scheint dir ja Spaß zu
machen, andere Menschen zu verletzen. Obwohl du eigentlich allen
einen Gefallen getan hättest. Was rede ich überhaupt herum, das
nützt ja doch nichts. Frau Sauerlich wird mir bestimmt helfen, denn
die ist nämlich fürsorglicher als du es je warst“, warf die junge
Frau ihrem Vater trotzig an den Kopf, bevor sie den Raum verließ.
„Helfen, helfen, helfen. Als
ob sie es nötig hätte!“ sagte Frau Schmidt, nachdem die Tür ins
Schloss gefallen war. Jetzt endlich konnte sie wieder mit dem Anwalt
über die aktuelle Situation sprechen. Herr Fröhlich wandte sich ihr
zu.
„Nun sagen sie mir mal einen
vernünftigen Grund, warum sie auch noch die Komtess aus dem Weg
geräumt haben. Sie hat doch niemandem etwas getan! Und uns nützt
das jetzt auch nichts mehr.“
„Denken sie jetzt, dass ich
einen… mittlerweile zwei Morde begangen habe? Herr im Himmel,
selbst wenn ich Leonard zu unserem eigenen Wohl beseitigt hätte…
nur mal so angenommen… dann würde ich nicht auch noch einen
zweiten Mord begehen. Das ist unglaublich!“
„Da kommt mir doch eine kleine
Idee“, überlegte Herr Fröhlich und starrte die Hausfrau an. „Ich
gehe einfach mal davon aus, dass sie Leonard erschlagen haben. Und
die Komtess ist ihnen dabei irgendwie auf die Schliche gekommen.
Vielleicht haben sie sich ja beobachten lassen. Erinnern sie sich
noch, wie die Komtess sagte, sie hätte eine Ahnung, wer der Mörder
von Leonard ist? Der Täter muss das als Signal gesehen haben. Jetzt
oder nie! Weg mit der verrückten Komtess, sonst verrät sie alles.
Haben sie so gedacht, Frau Schmidt?“
„Natürlich nicht“,
antwortete die Hausfrau schnell. „Obwohl ihre Erklärung ganz
logisch klingt. So muss es gewesen sein. Leider wird Komtess Gladiola
zu Bärenwald nun niemandem mehr ihren Verdacht verraten können und
wir sind wieder auf uns gestellt.“
„Ich frage mich, warum außer
Frau Braunfeld noch niemand gegangen ist. Irgendwas scheint sie hier
festzuhalten.“
Frau Schmidt stand auf und
klopfte Herrn Fröhlich an die Schläfe.
„Die Vernunft hat uns unter
Arrest gestellt. Schon vergessen, was ihre Tochter gesagt hat? Wer
abhaut, ist der Täter. Das würde die Polizei dann regeln. Es darf
keiner verschwinden. Auch zu unserem eigenen Wohl nicht“, setzte
Frau Schmidt nachdenklich hinzu. „Polizei können wir nicht
gebrauchen. Und nun lassen sie sich von der Abendgesellschaft
ablenken, es gibt ja schließlich noch anderes zu tun, als immer nur
Akten zu wälzen und Menschen zu ermorden. In einer halben Stunde
folgt das Abendessen, ich muss jetzt alles aufwärmen und den Tisch
decken. Sie helfen mir mal wieder nicht, aber das kennen wir schon.
Und das Bridgespiel danach sollten sie nicht verpassen“, rief sie,
als sie schon aus der Tür verschwunden war. Herr Fröhlich setzte
sich und warf unwillig einen eingehenderen Blick in die Abrechnungen.
Pflicht ist schließlich Pflicht.
In weiser Voraussicht hatte
James am Vormittag den säulenverzierten Vorbau des Anwesens mit
mehreren klassischen Gartenlampen verziert. Bisher war es nie nötig
gewesen, abends den Ausgang des Hauses zu erleuchten, da Graf
Maibusch es sich nach den Nachrichten einfach mit einer Tasse heißer
Schokolade gemütlich gemacht hatte. Auch jetzt, im Sommer, war es
eigentlich unnötig, die Lampen anzuzünden, da es lange hell blieb.
Da aber der Vorbau im Schatten des Hauses lag, trug es wesentlich zur
Atmosphäre bei, als Herr Mahler die Flammen entfachte. Zusammen mit
Herrn Hansen und Frau Sauerlich hatte er das Haus verlassen, um ein
wenig Luft zu schnappen und den Geist für klare Gedanken
freizuräumen.
„Dieser Abend kann nur noch
besser werden“, begann Frau Sauerlich und nippte an ihrem Cocktail.
„Herr Hansen, ich denke, ich habe einen starken Verdacht, wer der
Mörder sein könnte. Sie nicht auch?“
Sie blickte den Gärtner
vieldeutig an, der schaute zurück und nickte.
„Allerdings. Und das passt so
wunderbar ins Bild!“
Herr Mahler tat einen Satz
rückwärts, fuchtelte mit der rechten Hand in der Luft herum und
fluchte. Offenbar hatte er sich die Finger verbrannt. Munter
flackerte das Feuer in den gusseisernen Laternen, als wolle es den
törichten Mann verspotten.
„Widerlich. Ich hasse es, mir
die Finger zu versengen. Ich war abgelenkt und habe nicht aufgepasst,
da kann so was natürlich schnell passieren. Aber habe ich das
richtig verstanden oder sprachen sie da gerade zufällig von Frau
Schmidt und Herrn Fröhlich?“
Frau Sauerlich drehte sich
verwundert herum. Sie hatte schließlich nichts von der Unterredung
der Herren im Wintergarten zuvor mitbekommen.
„Woher wissen sie denn davon?
Herr Hansen, sie haben doch wohl nicht überall von unseren
Entdeckungen herumerzählt, oder?“
„Seien sie beruhigt, wir
können Herrn Mahler ins Vertrauen ziehen.“ Dann drehte Herr Hansen
sich überrascht zur Eingangstür. Fräulein Maria war zu ihnen
getreten. Wie immer fesch gestylt, dachte er. Nur die Haare sehen ein
wenig wild aus. Liegt wohl an den Federn.
„Frau Sauerlich, sie müssen
etwas tun“, sagte die junge Frau aufgebracht. „Herr Fröhlich –
ich meine, mein Vater und Frau Schmidt haben nichts Besseres zu tun,
als sich über mögliche Mörder zu unterhalten. Sind die denn von
den Ereignissen gar nicht betroffen? Wie kann man nur so kühl sein!“
Fräulein Maria schüttelte den Kopf über die Unverfrorenheit dieser
beiden. Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit den Lampen zu. „Ach,
wie süß! Sie haben die Laternen angezündet! Das sieht ja toll aus,
wie herrlich muss es erst bei Nacht wirken!“ In all ihren
Ausführungen war Fräulein Maria entgangen, dass Frau Sauerlich und
Herr Hansen seit ihrer Erwähnung der vorigen Unterhaltung wie
versteinert da standen und sich anstarrten. „Was haben sie denn?
Ist ihnen nicht gut?“ fragte sie und winkte mit ihrer Hand vor
Hansens Gesicht herum.
Dieser fand langsam wieder zu
Worten.
„Sagten sie, sie haben Frau
Schmidt und Herrn Fröhlich zusammen gesehen? Wo denn?“
„Im Kinderzimmer. Sie wollten
mich unbedingt loswerden, also bin ich hierher gekommen.“
Herr Hansen atmete tief durch
und ging ins Haus.
„Scheint, als hättest du eben
einer kleinen Unterhaltung von Verbrechern beigewohnt“,
kommentierte Mahler gegenüber seiner Enkelin den Abgang des
Gärtners.
„Wovon sprichst du,
Großvater?“
Frau Sauerlich übernahm das
Wort: „Es nützt nichts mehr, irgendwas noch geheim halten zu
wollen. Fräulein Maria, ich hege den starken Verdacht, dass Frau
Schmidt und ihr Vater in gemeinsamer Arbeit ihren Onkel hintergangen
haben oder noch hintergehen wollen. Daher glauben wir, dass sie auch
etwas mit dem Mord an Leonard und der Komtess zu tun haben.“
„Gute Güte, das klingt hart.
Dennoch sollte es mich nicht verwundern.“ Fräulein Maria zündete
sich eine Zigarette an. Sie nahm einen tiefen Zug und versuchte,
Kringel aus Rauch in die Luft zu blasen. Es gelang ihr mit viel Mühe.
„Mein Vater hat wohl seinen Heidenspaß daran.“
„Ich hätte nie gedacht, dass
mein Schwiegersohn zu so etwas in der Lage sein könnte. Er hat dich
verlassen, Maria, das steht fest. Er ist durch und durch verdorben,
und das hat er sicher nicht von mir. Aber Mord! Das ist doch eine
andere Klasse“, gab Mahler zu bedenken.
Eher zu sich selbst sagte
Fräulein Maria: „Ich wünschte, mein Onkel hätte nie zu diesem
Treffen eingeladen. Dann wäre das alles nicht passiert.“
„Wollen sie jetzt alles
ungeschehen machen? Dazu ist es zu spät. James ist bereits auf der
Fährte des Mörders. Wenn ihre Großtante doch nur hätte sagen
können, wer es war, von dem sie so überzeugt war! Macht erst wilde
Andeutungen und schweigt dann für immer, das nützt uns nun nichts
mehr.“
„Wie?“ fragte Maria.
„Stimmt!“ Herr Mahler schlug
sich mit der Hand gegen die Stirn. „Frau Sauerlich, das ist es.
Gladiola hat gewusst, wer Leonard umgebracht hat. Und wegen dieses
Wissens musste sie sterben. Es war purer Leichtsinn, allen zu
verkünden, dass sie den Mörder kenne, und es dann nicht zu sagen.“
„Leichtsinn… oder Gier!“
Frau Sauerlich kniff die Augen zusammen und starrte in Richtung der
Hauptstraße, als stünde die Lösung dort geschrieben. „Erpressung
klingt doch auch ganz hübsch als Motiv. Vielleicht hat sie das
gesagt, um den Mörder zu warnen und ein wenig Kohle aus ihm oder ihr
herauszubekommen.“
„Nur leider ging der Plan
daneben“, ergänzte Mahler.
„Das klingt gut. So könnte es
tatsächlich gewesen sein. Das müssen wir sofort den anderen
erzählen.“
Herr Mahler stoppte Maria, die
in freudiger Erregung ihre Zigarette in einer der Laternen hatte
verschwinden lassen und sich zum Gehen wandte.
„Lieber nicht, sonst ergeht es
uns genauso. Wir sollten unser Wissen für uns behalten. Wir bleiben
ruhig und beobachten die Lage. Das wird das Beste sein.“
Maria beruhigte sich und schaute
sich um. Ruhig bleiben. Wenn dies die einzige Möglichkeit war…
Glänzend edel war das Geschirr
im Salon angerichtet und bis auf die Speisen alles für das
Abendessen vorbereitet. Verschiedene dunkle Flaschen standen auf dem
Tisch, die wohl Wein oder Sherry enthielten. Auch für
nicht-alkoholische Getränke war gesorgt, hatte der Graf doch im
Blick, dass vielleicht jemand noch an diesem Abend nach Hause fahren
wollte. Die Stühle standen in Reih und Glied um die Tafel verteilt.
Nur noch eines fehlte: die Gäste. Es war zwanzig vor sieben, also
noch etwas Zeit und bis auf James und Herrn Flip war der Raum
menschenleer. James zündete gerade, ebenfalls allein um der
Atmosphäre Willen Kerzen auf dem Tisch an. Herr Flip saß auf einem
Sessel und beobachtete den Butler.
„Das war sehr direkt vorhin
mit ihren Anschuldigungen gegen Frau Braunfeld und Frau Schmidt.
Glauben sie wirklich, dass Frau Schmidt die Komtess vergiftet hat?“
„Ich muss jede Möglichkeit in
Betracht ziehen. Auch sie könnten es gewesen sein“, antwortete
James in gewohnt kühlem, doch unterwürfigen Ton.
„Ich?“
„Warum denn nicht?
Erbschleicherei ist ein gutes Motiv. Nun, da Leonard tot ist, wird
sein Vermögen unter Graf Maibusch und seinem Bruder aufgeteilt. Der
Graf hat das verlauten lassen. Das bedeutet letztendlich natürlich
mehr Geld für sie, ohne dass der Verdacht direkt auf sie fällt.“
James war mit den Kerzen fertig und setzte sich auf einen Stuhl
gegenüber Herrn Flip. Er blickte ihn konzentriert an.
„Wenn sie unbedingt meinen,
dann setzen sie auch mich auf die Liste der verdächtigen. Aber ich
könnte das nicht tun. Haben sie Fräulein Maria gesehen, wie sehr
sie durch die Ereignisse geschockt ist? Das würde ich ihr niemals
antun wollen.“
„Gut, dass sie gleich zu
Fräulein Maria überleiten. Um sie zu verschonen, lasse ich mal die
Möglichkeit außer Acht, dass sie ebenso gut mit ihr unter einer
Decke stecken könnten. Es ist offensichtlich, dass das junge
Fräulein Maria einen Gefallen an ihnen gefunden hat, seit sie hier
angekommen ist. Das ist ja nicht weiter sonderbar; schließlich sind
sie ein stattlicher junger Mann. Aber ich denke, selbst ein Mensch,
dem die Herzen der Damen nur so zufliegen, lebt nicht ohne Probleme.
Erzählen sie mir bitte, was sie in den letzten Tagen hier erlebt
haben. Ich will nicht das hören, was die anderen gesagt haben.
Stattdessen hätte ich es gerne aus ihrer Sicht berichtet.“
„Das wird nicht leicht.“
Herr Flip atmete durch, öffnete den letzten Knopf seines grünen
Jacketts und schaute an die Zimmerdecke. Dann begann er, zu erzählen:
„Als ich hier angekommen bin, waren ja noch nicht viele Gäste
hier. Eines stand für mich aber gleich fest: Ich kann Herrn Hansen
nicht leiden. Ich hoffe, ich habe das nicht allzu deutlich gegenüber
allen zu Ausdruck gebracht. Jedenfalls hat sich bis jetzt daran wenig
geändert. Es gab da auch eine kleine Auseinandersetzung, bei der
Frau Sauerlich Herrn Hansen mit einer Vase niedergeschlagen hat, um
mich zu beschützen. Herr Hansen hatte mich mit einem Messer bedroht,
verstehen sie?“ Und als der Butler eindringlich nickte: „Oh Mann,
eigentlich dürfte ich ihnen das gar nicht sagen. Es gab da so
gegenseitige Bedingungen. Herr Hansen sollte niemandem verraten, dass
Frau Sauerlich ihn niedergeschlagen hatte. Ich habe es aus Versehen
erzählt. Im Gegenzug würde ich niemandem verraten, dass er mich mit
einem Messer bedroht hat. Wenn sie sich recht entsinnen, wissen sie
noch, dass Hansen, dumm wie er ist, alles ausgeplaudert hat. Also
kann ich ihnen guten Gewissens die ganze Sache anvertrauen.“ Er
blickte den Butler fragend an. „Sie sind so ruhig. Stimmt etwas
nicht?“
„Herr Flip, die Hälfte einer
guten Ermittlung besteht darin, aufmerksam zuzuhören. Sie haben mir
schon so viele wichtige Details gesagt, bitte reden sie weiter!“
„Nun gut. Sie hatten mir ja
von dem Plan des Grafen erzählt. Also, warum er dieses Treffen
wirklich veranstaltet, und so. Als dann Fräulein Maria hier
eingetroffen war… ich war sofort hingerissen von ihr. Sie aber
hatte kein Auge für mich, war natürlich wütend wegen der Sache mit
Herrn Fröhlich. Da habe ich ihr vom Plan des Grafen erzählt. Sie
war ziemlich sauer, auf mich ebenso wie auf Graf Maibusch. Kurz
darauf ist dann Herr Fröhlich zu mir gekommen und hat mich gebeten,
mit Maria zu reden, weil er selber das wohl nicht schaffen würde.
Ich habe ihm gesagt, er soll es selbst ausbaden. Wer so einen Mist
baut… Und dann war da auch schon das Treffen heute. Das war alles,
so weit ich mich erinnern kann.“
James lehnte sich zurück und
machte eine Kunstpause.
„Ich bin ihnen wirklich sehr
dankbar“, sagte er schließlich. „Es ist gut, die Ereignisse auch
mal aus den Augen der anderen beteiligten kennenzulernen. Gestatten
sie mir noch eine letzte Frage: Wer, glauben sie, war der Mörder von
Leonard Maibusch und der Komtess zu Bärenwald?“
„Wenn ich auch nur die
geringste Ahnung hätte, würde ich es ihnen sagen. Ich kann nur
behaupten, es sei Herr Hansen gewesen, weil ich mit ihm so meine
Schwierigkeiten hatte.“
„Vielen Dank, Herr Flip. Wir
sehen uns dann gleich zum Abendessen wieder!“
James stand von seinem Platz auf
und ging zur Tür. Er wollte Frau Schmidt suchen und fragen, ob zur
Tafel geladen werden durfte. Schließlich war es kurz vor sieben, und
bis alle versammelt waren, konnte das ja auch wieder dauern. Seufzend
begab der Butler sich in die Küche, wo er die Hausfrau am ehestens
vermutete. Noch vor der Tür stoppte er. Er hörte die Stimme des
Grafen. Zwar geziemt es sich nicht, an Türen zu lauschen, aber es
kann nur nützlich, um unsere Lage zu entspannen, dachte er und
presste sein Ohr an das Holz.
„…aufgrund der Ereignisse
nichts. Wir müssen die Spielgruppen neu sortieren. Aber ich habe da
schon eine Idee.“ Dann herrschte Stille. Nein, dort war Frau
Schmidt sicher nicht, und er wanderte den Flur hinab, um sie in den
anderen Zimmern zu suchen.
Die Vermutung des Butlers war
richtig. Frau Schmidt war nicht in der Küche. Dort saßen Graf Henry
und sein Bruder Friedrich am Tisch. Während James seine Befragung an
Herrn Flip durchführte, teilte der Graf Friedrich seine Gedanken
mit.
„Jetzt auch noch meine Tante.
Warum denn nur, sie hat doch keinem etwas getan!“
„Das ist doch ganz
offensichtlich, Henry. Die Komtess hat ausgeplaudert, dass sie den
Mörder von Leonard kennt, oder war da irgendetwas nicht zu
verstehen?“
Der Graf wischte den Gedanken
beiseite: „Das ist doch Unsinn. Sie meinte, sie hätte eine
Vermutung. Das kann doch den Mörder nicht veranlasst haben, noch
einen Mord zu begehen. Dadurch wird der Verdächtigenkreis
schließlich weiter eingeschränkt.“
„Kommt es dir nicht in den
Sinn, dass Tante Gladiola den Täter vielleicht genau kannte und
durch ihre Andeutung warnen wollte?“
„Warum sollte sie den Täter
warnen? Das ist verrückt, es sei denn, sie steckte mit ihm unter
einer Decke.“
Friedrich nickte zustimmend.
„Sehr gut. Damit hätten wir schon mal eine Möglichkeit. Aber
warum hätte ihr Partner sie dann umgebracht? Das ist nicht
nachzuvollziehen, daher vermute ich, dass es anders war. Tante
Gladiola kannte den Mörder und hat ihm das durch ihre vagen
Andeutungen zu verstehen gegeben. Damit spielte sie einen Trumpf aus,
nämlich dass sie ihn verraten würde, wenn er nicht gewissen
Gegenleistungen erbrächte.“ Graf Maibusch machte große Augen.
„Du meinst, sie hat ihn
erpresst? Das wäre ja geradezu ungeheuerlich. Aber wozu? Geld hat
sie doch selbst genug.“
„Das denkst du! Tante
Gladiolas reiche Zeiten sind vorbei.“
„Aber es wäre doch
unglaublich dumm von der Komtess. Sie hätte ahnen müssen, dass das
nicht gut gehen kann.“
„Genau darauf wollte ich
hinaus. Der Mord an der Komtess gerät dadurch in den Hintergrund. Es
gilt, den Mörder – und zwangsläufig das Motiv – für den Mord
an Leonard zu finden. Und das wird sich schwierig gestalten.“
Der Graf blickte bedeutungslos
aus dem Fenster.
„Soweit waren wir mittlerweile
schon gekommen. Keine neuen Ideen?“
„Leider nicht. Ich hänge noch
immer an dieser Erbschaftssache fest.“
„Dann müssen wir James sagen,
er soll den Fall lösen. Er hat den Verstand, der von Nöten ist, um
dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Ich frage mich überhaupt,
warum er Butler geworden ist. Er ist doch zu klug, um solche
unterwürfigen Aufgaben zu verricht. Aber, jedem, wie er es mag.
Heute Nachmittag wollte er sogar einen aktuellen Kontoauszug von mir
einsehen.“
„Den hast du ihm doch
hoffentlich nicht gegeben?“
„Friedrich, er hätte ihn
früher oder später sowieso in die Hände bekommen. Außerdem steht
ja nichts Verwerfliches darauf.“
„Nachher, beim Bridgespiel,
wird James genügend Gelegenheit haben, Nachforschungen anzustellen.“
„Ich befürchte, daraus wird
aufgrund der Ereignisse nichts. Wir müssen die Spielgruppen neu
sortieren. Aber ich habe da schon eine Idee…“
Graf Maibusch holte Zettel und
Stift und erstellte vor seinem Bruder, der immer wieder zustimmend
nickte, eine Skizze, die hier wiederzugeben zu kompliziert wäre.
Danach begaben sie sich in den Salon.
So verstrich also das Abendessen
zum Glück ohne widrige Begebenheiten.
„Auf ein Wort!“
Graf Maibusch lenkte die
Aufmerksamkeit auf sich, nachdem sich alle wieder für das
Kartenspiel im Salon zusammengefunden hatten.
„Frau Schmidt, das Essen war
fabelhaft. Sie haben sich mal wieder selbst übertroffen, ich denke,
das kann jeder der Anwesenden nur bestätigen.“
Verlegen sagte die Hausfrau,
während sie die fleckige Schürze ablegte: „Danke, das ist ja
zuviel der Ehre.“
„Nur nicht so bescheiden. Und
ihr alle“, sagte er, indem er sich an die Gruppe wandte, „ihr
solltet euch schämen, dass ihr Frau Schmidt nicht beim Abräumen des
Tisches geholfen habt. Es ist ihr ebenfalls zu verdanken, dass jetzt
alles wieder vorzeigebereit ist und die Cocktails für das Folgende
bereitstehen. Wir kommen nun zum abschließenden Programmpunkt
unseres Familientreffens. Doch zuvor möchte ich noch ein Wort zu den
Morden sagen: Einer von uns hat meinen Bruder und meine Tante
kaltblütig ermordet. Das kann ich nicht auf mir sitzen lassen. Ich
werde, jetzt gleich, mich hier an den Schreibtisch setzen und meine
grauen Zellen bemühen. Es muss möglich sein, den Täter zu finden.
Ich verspreche euch, heute verlässt keiner das Haus, ehe ich
denjenigen überführt habe.“ Die Rede, die der Graf mit einer sich
zuspitzenden Schärfe gehalten hatte, zeigte Wirkung. Betretenes
Schweigen erfüllte einmal mehr den Salon von Gut Trontstein.
Fräulein Maria und Herr Flip blickten gleichermaßen zu Boden und
scharrten mit den Füßen im Teppich herum. Herr Fröhlich blickte
mit verschränkten Armen in die einsetzende Abenddämmerung. Dem
Grafen blitzte der Schalk in den Augen, als er bemerkte, wie einfach
er die Gäste nach seinen Regeln lenken konnte. Nun war ein wenig
Auflockerung angebracht, entschloss er also und sagte in einem
heiteren Ton: „Da nun die Zahl der Besucher ein wenig kleiner
geworden ist, habe ich die Bridgegruppen aufgeteilt. In der Küche
spielen Onkel Joachim, Friedrich, Herr Hansen und…“ Der
Zeigefinger des Grafen wanderte einmal über die Runde und stoppte
schließlich beim Butler. „…nicht zuletzt James.“
„Meinen sie wirklich mich?“
Nie hatte James Clifford gedacht, während seiner Arbeitszeit derart
in die Gesellschaft eingebunden zu werden.
„Aber sicher. Oder können sie
kein Bridge spielen?“
„Natürlich. Das ergibt sich
bei meiner Erziehung von selbst.“
Frau Schmidt bekam erneut
Respekt vor dem Butler. Ein derartiger Satz aus dem Munde von Frau
Sauerlich hätte wieder fürchterlich eingebildet geklungen, von der
Komtess ganz zu schweigen. James jedoch schaffte es, sein Licht mal
wieder unter den Scheffel zu stellen.
„Wunderbar. Im Salon werden
Frau Schmidt, Josephine, Maria und Herr Fröhlich spielen“,
ergänzte der Graf.
„Und was ist mit mir?“
fragte Herr Flip, den Graf Maibusch bisher übergangen hatte.
„Du wirst meiner Nichte
assistieren. Wenn du damit einverstanden bist, Maria“, setzte er
nicht ohne ein Augenzwinkern hinzu.
„Na klar! Wir werden es den
anderen zeigen“, rief sie erfreut und knuffte Herrn Flip in die
Rippen.
„Ich wünsche dann allen ein
unterhaltsames Spiel. Getränke stehen sowohl in der Küche als auch,
wie schon gesagt, hier im Salon ausreichend bereit, bitte bedient
euch.“
Damit schloss der Graf seine
Ansprache Das Gemurmel im Raum wurde wieder laut und die Anwesenden
verteilten sich auf die zugewiesenen Räume. Herr Hansen, Herr
Mahler, Friedrich und der Butler strebten dem Flur und der Küche zu,
während Graf Maibusch die Schreibtischlampe einschaltete und sich
seinen Studien widmete. Die anderen gingen zum Salontisch; Frau
Sauerlich bediente sich an der reichhaltigen Auswahl an Cocktails und
Herr Fröhlich nahm ein kleines Schälchen mit Knabbereien mit.
Herr Flip flüsterte Fräulein
Maria ins Ohr: „Du, die Frau Sauerlich langt heute aber ganz schön
zu. Die muss doch irgendwann besoffen sein, oder?“
Maria lachte und hielt ihm
scherzhaft die Hand vor den Mund. Dann setzten die beiden sich an den
Tisch. Frau Sauerlich mischte die Karten, warf dabei einen Blick auf
die Hausfrau.
„Frau Schmidt, sie notieren
als Erste die Punkte.“
„Wie immer, Frau Sauerlich“,
antwortete diese zähneknirschend.
Herr Fröhlich schaute quer über
seine Karten.
„Maria, ich weiß, du bist es
leid, mit mir darüber zu reden, aber…“
Seine Tochter schaute umso
angestrengter in ihr Blatt.
„Gib dir keine Mühe“,
erwiderte sie kühl. „Wenn ich erst mal wieder abgereist bin, werde
ich Mutter davon erzählen. Dann bekommst du was zu hören!“ Wütend
hielt sie Flip die Karten hin.
„Herr Fröhlich, es ist wie
immer am besten, wenn sie ruhig sind“, sagte Frau Schmidt
zweideutig und erntete ein höhnisches Lachen, doch Frau Sauerlich
pflichtete der Hausfrau bei.
„Genau. Sie könnten sonst
wichtige Sachen ausplaudern“, wobei sie ihre Stimme steigerte,
damit keiner sie überhörte, „Sachen, die der Graf nicht erfahren
darf, nicht wahr, Henry?“ rief sie nach hinten über ihre Schulter,
ohne ihr Pokergesicht von den Karten abzuwenden. Als keine Antwort
seitens des Grafen kam, rief sie: Gut, arbeite du nur weiter. Wir
spielen hier.“
Herr Flip schaute die Runde
verständnislos an.
„Ich habe das Gefühl, als
würden sie alle an mir vorbeireden. Ich verstehe gar nichts“,
klagte er. „Geht es immer noch um die Sache mit der Vase, Frau
Sauerlich?“
„Ach, Pipifax. Das ist doch
längst vorbei. Nein, ich überlege nur manchmal, ob der Plan von
Frau Schmidt und Herrn Fröhlich, den Grafen bei der Erbschaftssache
zu unterstützen, auch wirklich funktioniert.“
Eine Neuigkeit für Herrn Flip:
„Sie wissen alle davon? Aber das sollte doch geheim bleiben! Warum
haben sie es verraten, Frau Schmidt?“
„Nett, dass sie gleich mich
verdächtigen“, kommentierte die Angeklagte sarkastisch.
„Wer hätte es denn sonst
gewesen sein können?“
Die Hausfrau räumte ein: „Ist
ja schon gut, ich habe es ausgeplaudert. Das heißt, ich wurde dazu
gezwungen. Ich habe mich mal mit Herrn Fröhlich unterhalten. Frau
Sauerlich hier“, sie nickte zu ihrer Nachbarin, „hat das
natürlich gleich als Anlass gesehen, mich über die Sache
auszuquetschen. Da konnte ich es natürlich nicht mehr geheim
halten.“
„Ha. Interessant! Wenn sie
still gewesen wären, dann wäre jetzt vielleicht gar nichts
passiert.“
„Bleib ruhig, Maria“, sagte
der Mann an ihrer Seite. „Das ist jetzt passiert. Es nützt nichts,
irgendjemandem Vorwürfe zu machen.“
„Mein Gott, wie oft habe ich
diese Floskel schon gehört! Von diesem Gerede kriege ich einen
trockenen Hals.“ Sie setzte ihr Glas an, merkte aber zu ihrer
Überraschung, dass es leer war. „Henry! Bringe uns doch bitte
einen Rotwein!“
Der Graf antwortete genervt,
ohne sich auch nur umzudrehen: „Ich habe gesagt, dass ich zu tun
habe. Die paar Schritte werdet ihr doch wohl selbst überstehen.“
„Meinetwegen. Wäre eine nette
Geste gewesen, weißt du.“ Beleidigt stand Frau Sauerlich auf,
nachdem sie ihre Karten abgelegt hatte, und holte eine Flasche
Rotwein. Sie entkorkte sie und schenkte sich ein. Nachdem sie sich
mit einem Blick vergewissert hatte, dass keiner der anderen Wein
trinken wollte, stellte sie ihn an die Seite, nahm einen Schluck und
blickte wieder in ihre Karten. „Na, es geht weiter im Spiel.“
Währenddessen hatte sich die
Herrenrunde in der Küche bisher äußerst schweigsam gezeigt.
Gedrängt sagte Mahler: „Nun
seien sie doch nicht so bierernst. Man könnte meinen, sie spielen um
ihr Leben.“
Herr Hansen blickte auf und
sagte düster: „Mit so etwas macht man keine Scherze. So viel
Taktgefühl sollten sie eigentlich besitzen.“
„Entschuldigen sie, dass ich
die Runde ein wenig auflockern wollte. Kommt nie wieder vor.“
James meldete sich zu Wort. Er
schaute zu Friedrich: „Herr Maibusch, wie denken sie nun über die
Sache? Ich habe sie noch gar nicht nach ihrer Meinung gefragt.“
„Ich muss sagen, dass ich hier
eher mit gemischten Gefühlen sitze. Unter uns ist ein Mörder, der
vielleicht noch mal zuschlagen wird“, vermutete der Angesprochene.
Der Gärtner antwortete fest:
„Er wird nicht wieder zuschlagen. Es gibt keinen Grund mehr, noch
jemanden umzubringen.“
„Sie enttäuschen mich, Herr
Hansen“, meinte James. „Kein Grund, sagen sie? Haben sie etwa
einen Grund für den Mord an Leonard Maibusch gefunden? Nein. Und er
war auch überhaupt nicht vorherzusehen. Ebenso kann es wieder
geschehen, da sollten sie mal dran denken.“
„Der Butler hat Recht“,
stimmte Mahler zu. „Da fällt mir gerade wieder dieser passende
Satz ein. Nein, eher unpassend: Der Gärtner ist immer der Mörder.
Heißt es nicht so? Herr Hansen, ich kann nur hoffen, dass sie an der
Sache nicht beteiligt sind.“
„Ich kann diesen Satz nicht
mehr hören. Ist wohl Schicksal, wenn man Gärtner ist, für alles
als Sündenbock dazustehen, aber muss ich mich denn vor ihnen
rechtfertigen für etwas, das ich nicht getan habe?“
„Trotzdem würde ich mich
nachher noch gerne mit ihnen unterhalten. Sie müssen mir all ihre
Eindrücke schildern, von dem Tag an, als sie sich hier vorgestellt
haben“, bat der Butler.
Friedrich sprach mit etwas
lauterer Stimme: „Gentlemen! Wir sitzen hier bei einer Partie
Bridge. Ich kann es nicht zulassen, dass sie durch alberne
Nebensächlichkeiten abgelenkt werden!“
Mahler sagte scherzhaft zu den
anderen: „Mein Neffe versteht es, sich abzulenken.“ Dann zündete
er sich eine Zigarre an.
Im Salon inzwischen stand
Fräulein Maria am Rande der Verzweiflung.
„Ach Flip, was soll ich denn
jetzt nur tun?“
Ihr Partner sortierte ihre
Karten und antwortete beruhigend: „Die gleiche Taktik wie immer.
Solange keiner dahinter kommt, können wir dieses As weiter
ausspielen.“
Frau Sauerlich warnte: „Sie
sollten ihre Zunge hüten, Herr Flip. So, wie sie angeben, kommen wir
schon noch dahinter, verlassen sie sich darauf.“
„Ich denke ja, dass Maria es
auch ohne die Tricks von Herrn Flip geschafft hätte“, meinte Herr
Fröhlich großzügig, wurde aber sogleich von Frau Sauerlich in die
Schranken verwiesen.
„Sie Schleimer! Seien sie bloß
still!“
Maria, die bisher nichts
getrunken hatte, verspürte nun doch ein Kratzen im Hals. Es musste
von den Salzstangen herrühren. Sie wandte sich zu ihrem Onkel:
„Henry! Kannst du mir ein... ach, lass nur, ich gehe schon selbst.
Lass dich bei deinen Arbeiten nicht stören.“ Im letzten Moment
entsann Maria sich des gereizten Grafen und stand gnädig auf, um
sich ein Mineralwasser zu holen. Mit der Flasche in der Hand kehrte
sie zur Runde zurück.
„Der verehrte Graf ist in
letzter Zeit erstaunlich still geworden, besonders in der letzten
halben Stunde“, merkte der Anwalt leise an.
„Stimmt“, gab die Freundin
des Grafen zurück. „Es wird doch nichts passiert sein?“ Nachdem
sie ihren Zug beendet hatte, stand Frau Sauerlich auf, um einen Blick
nach Graf Maibusch zu werfen. Die anderen vertieften sich angestrengt
in ihre Karten, um die nächsten Züge zu planen, so weit das möglich
war.
Plötzlich hörten sie einen
schrillen Schrei vom Schreibtisch her. Alle blickten zu Frau
Sauerlich, die sich kurz am Schreibtisch stützte und dann zu Boden
sackte. In Windeseile standen die anderen auf und liefen zu ihr. Herr
Mahler kniete sich zur Dame nieder und fühlte ihr den Puls, Fräulein
Maria lief in die Küche und holte die anderen hinzu, während Herr
Flip und Herr Fröhlich unweigerlich feststellen mussten, dass der
Graf nicht mehr unter ihnen weilte. Ein Brieföffner mit grünem
Jadegriff steckte in seiner Brust und die einst weiße Weste des
Grafen war von Blutflecken besudelt…
Nachdem die ersten
Unannehmlichkeiten beseitigt waren, saßen die Anwesenden geschafft
und mit gestressten Nerven in der Sitzgruppe des Salons.
„Das reicht mir jetzt. Ich
will keine Toten mehr sehen“, rief Frau Sauerlich mit schriller
Stimme. „Drei Morde, wie weit kann es eigentlich noch gehen?“
Mit wesentlich ruhigerer Stimme
wandte Frau Schmidt sich energisch an den Butler: „Genau. Es reicht
jetzt wirklich. James, ich wünsche, dass sie den Mord hier
aufklären. Scheinbar sind wir hier alle zu müde und von unserer
Borniertheit eingenommen, um noch einen klaren Gedanken zu fassen.
Ich habe Angst, in einem Haus zu gastieren, in dem geschlachtet
wird.“
„Gut.“ James schritt mit
gesenktem Blick auf und ab. „Ich werde versuchen, diese Verbrechen
aufzuklären. Sie sollten sich aber bewusst sein, dass einer von
ihnen der Mörder ist. Ich werde ihn finden, es ist nur eine Frage
der Zeit. Doch… wir sollten unsere Gäste nicht damit belästigen.“
James ging zu Herrn Mahler und
Friedrich Maibusch. „Es war schön, dass sie gekommen sind, doch
die Ereignisse haben dramatische Wendungen genommen. Herr Maibusch,
sie haben beide Brüder verloren. Es tut mir so Leid. Sie und auch
Herr Mahler, ebenso wie Herr Hansen sind keine Mörder. Sie waren mit
mir in der Küche beim Kartenspielen und ich bin mir ganz sicher,
dass keiner von ihnen zu irgendeiner Zeit die Küche verlassen hat.
Daher können sie zwar beruhigt, doch mit einem tristen Gefühl nach
Hause gehen. Es tut mir Leid, dass ich jetzt so abwesend zu ihnen
sein muss, aber ich muss unter den Übrigen noch einen Mörder
finden. Ich wünsche einen ruhigen Abend.“
Frau Sauerlich wollte Einspruch
erheben, doch Herr Fröhlich hielt sie zurück.
Friedrich wagte kaum
aufzublicken, als er sich von der Gruppe verabschiedete.
Mahler sagte: „Es hätte ein
so schönes Fest werden können… Besuch mich mal!“ rief er dann
noch seiner Enkelin zu. Er legte Friedrich den Arm um die Schulter
und führte ihn hinaus.
James wandte sich wieder der
Gruppe zu und schlug einen scharfen Ton an: „Nun muss ich sie mal
was fragen. Wie kann es sein, dass jemand in der Anwesenheit von vier
Zeugen den Grafen ermordet hat und doch niemand in der Lage ist, zum
einen die Tatzeit, zum anderen den Täter genau zu nennen?“
Frau Schmidt wollte die anderen
verteidigen: „Wenn ich vielleicht etwas sagen dürfte. Wir waren
alle sehr auf das Bridgespiel konzentriert. Der Graf war ziemlich in
seine Arbeiten vertieft, so dass es keinem auffallen konnte, wenn er
plötzlich ganz ruhig war. Es war ganz normal, dass hin und wieder
jemand aufgestanden ist, um Getränke zu holen. Und einmal schien der
Täter seine Chance gesehen zu haben.“
James grübelte: „Man könnte
nun darauf schließen, dass diese Tat nicht von langer Hand geplant
war. In keinem Fall war vorherzusehen, dass Graf Maibusch die
Bridgegruppen derart umlegen würde. Das bringt uns dem Motiv wieder
ein Stück näher. Es drängt sich mir die Vermutung auf, als sei
tatsächlich nur der Mord an Leonard Maibusch geplant gewesen und die
anderen Morde dann als notwendige Folge aufgetreten.“
„Es ist ziemlich makaber,
einen Mord als notwendig zu bezeichnen“, mäkelte Herr Fröhlich,
der es als Anwalt eigentlich besser wissen sollte.
Herr Hansen stand ruckartig auf.
„Ich halte das nicht mehr aus. Ich gehe in mein Zimmer, um mich zu
beruhigen. Wenn sie mich noch sprechen wollen, James, dann finden sie
mich dort.“
Der Butler nickte
verständnisvoll: „Das ist in Ordnung, Herr Hansen.“
Fräulein Maria schaute dem
Gärtner nach und sagte dann: „Ich frage mich, warum ihn das so
mitnimmt.“
Herr Flip zu ihrer Linken
versuchte, zu vermitteln: „Er ist nun mal vielleicht ein sehr
mitfühlender Mensch. Er muss tief getroffen sein von allem, was hier
geschehen ist.“
„Da ist es schon wieder!“
rief Frau Schmidt und zeigte auf Herrn Flip. Die Panik ließ sie alle
Benimmregeln vergessen, denn sie kreischte in den höchsten Tönen,
so es denn in ihrem Alter möglich war. „Sie alle tun so, als sei
jetzt alles vorbei, aber wer garantiert uns denn, dass in dieser
Nacht nicht noch jemand stirbt? Der Täter scheint ja ziemlich
wahllos vorzugehen.“
James klatschte erfreut in die
Hände und ging damit das Risiko ein, von allen für verrückt
gehalten zu werden.
„Frau Schmidt, sie sind ein
Engel. Wo mir noch die Worte fehlen, werfen sie sie mir geradezu in
den Mund. Der Täter scheint blind vorgegangen zu sein. Ich aber
glaube nicht an so etwas. Ich muss versuchen, eine Reihenfolge in die
Ereignisse zu bringen. Daher werde ich mich morgen mal mit ihnen
unterhalten müssen. Und ich möchte eines schon jetzt ankündigen:
Es ist nicht sehr ratsam, mich anzulügen. Ich mag zwar nur der
Butler sein, doch lässt dieser Beruf nicht auf meinen Verstand
schließen. Ich bin durchaus in der Lage, logische Schlüsse zu
ziehen und werde daher jeden von ihnen, der mir nicht die gesamte
Wahrheit erzählt, entlarven und als Hauptverdächtigen ansehen. Ich
hoffe, sie haben das bedacht, als sie mir die Nachforschungen
anvertrauten.“ Mit zusammengekniffenen Augen ließ der Butler
seinen Blick schweifen und erntete Hohn seitens des Anwalts.
„Einen Moment mal! Das ist ja
alles schön und gut, was sie uns hier erzählen. Wer aber garantiert
mir, dass sie nicht selbst der Mörder von Leonard Maibusch sind?“
„Scharfsinnig, Herr Maibusch.
Wirklich sehr scharfsinnig. Niemand garantiert ihnen das. Aber ich
denke, ein Mörder soll gefunden werden. Wenn wir uns alle weiter an
die Gurgel gehen, wird doch der Blick für das Wesentliche
verschleiert, ist es nicht so? Sollte es ihnen gelingen, mich als
Täter zu überführen, so werde ich ihnen herzlich gratulieren. Aber
solange sie nichts anderes zu tun haben, als sich gegenseitig zu
beschuldigen, sollte ich mich den Ermittlungen widmen. Ich wünsche
ihnen eine gute Nacht!“
Entschlossen verließ James den
Salon, um noch ein Gespräch mit Herrn Hansen zu führen, wie er es
beabsichtigt hatte. Herr Fröhlich, derart in die Schranken
verwiesen, zog sich einen hämischen Blick von Frau Sauerlich und
einen vieldeutigen von Frau Schmidt zu. Er drehte sich weg und trank
einen Whisky. Seine Gedanken waren bei Frau Beul, seiner Klientin,
die wahrscheinlich in der ganzen Stadt böse Gerüchte über ihn
verbreitet hatte. Wo er auch auftrat, würde er nun, sei es wegen der
Angelegenheit mit seiner Tochter oder der Vernachlässigung anderer
Pflichten, mit misstrauischen Blicken bedacht werden. Konnte das das
Resultat eines einzigen Familientreffens sein?
Draußen war es dunkel. Auf dem
Nachttisch brannte die Lampe und erhellte das Zimmer von Herrn
Hansen. Dieser lag auf dem Bett und blickte aus dem Fenster.
Schließlich betrat James das Zimmer.
„So, Herr Hansen, da bin ich.“
Der Gärtner schaute auf den
Wecker. Es hatte kurz nach halb zwölf.
„Machen sie aber bitte
schnell, ich habe Kopfschmerzen.“
„Gar kein Problem. Bleiben sie
einfach auf dem Bett liegen. Ich hole mir nur kurz einen Stuhl… So.
Wie lange es dauert, hängt ganz davon ab, wie gut sie mit mir
zusammenarbeiten. Es war ein langer Tag heute, aber dafür sollten
wir uns noch die Zeit nehmen. Erzählen sie mir, was hier seit ihrer
Einstellung so geschehen ist. Ich möchte es aber aus ihrer Sicht
hören; erzählen sie mir, was sie hier erlebt haben!“
„Gern, soweit ich mich denn
erinnern kann, weil… mit dieser Vase und Frau Sauerlich, das war
alles etwas verwirrend.“
„Stop!“ unterbrach James.
„Fangen sie doch bitte von vorne an. Ich hasse nichts mehr als
Unordnung in Gedankengängen. Zugegeben, manchmal verfalle auch ich
dieser Unsitte, aber so können wir den Fall nicht anpacken. Also,
der Graf hat sie angerufen…“
„Ja“, fuhr Herr Hansen fort,
„ich hatte eine Anzeige in die Zeitung gesetzt. Graf Maibusch
suchte einen Gärtner, fragte mich und da habe ich natürlich sofort
zugelangt, weil man heute wirklich jede Chance ergreifen muss. Es war
noch am selben Tag, als ich hier hierher kam. Frau Schmidt hat mich
durch das Anwesen geführt, es hat mir auf Anhieb gefallen.“
„War denn der Graf nicht da,
um sie zu empfangen?“
„Ich meine, der hatte sie in
dem Moment gerade in die Häuslichkeiten eingewiesen. Sie haben sich
ja an demselben Tag um die Stelle des Butlers beworben.“
James schien sich zu erinnern.
„Stimmt. Ich wusste nicht mehr, dass sie zum gleichen Zeitpunkt,
als ich mich mit dem Grafen unterhielt, angekommen waren. Aber bitte,
erzählen sie weiter.“
„Ich habe mich dann am
nächsten Tag zuerst mal mit Frau Schmidt angefreundet. Sie ist ja
sehr kompetent und zuverlässig. Zumindest dachte ich das in dem
Moment.“ Er machte eine kleine Pause. „Dann, beim ersten Treffen
im Salon, als Frau Sauerlich und Fräulein Maria noch nicht da waren,
hatte ich irgendwie das Gefühl, als könne Herr Flip mich nicht
leiden. Ich weiß nicht, wieso. Dieses Gefühl wurde noch stärker,
als Herr Flip mich am Tag darauf beschuldigte, ein falsches Spiel zu
spielen. Was für ein Unsinn! Er warf mir vor, ich sei nicht die
Person, für die ich mich ausgebe. Ich bekam Angst und hielt ihn mit
dem Messer auf Abstand. Ich wusste ja nicht, ob er noch handgreiflich
werden würde.“
„Das ist ja interessant. Herr
Flip hat mir davon gar nichts erzählt. Ich sollte vielleicht
irgendwann noch einmal mit ihm reden.“
„Er wird ihnen sowieso nicht
die Wahrheit erzählen. Frau Sauerlich hat mich dann
niedergeschlagen. Mit einer Vase, glaube ich. Hinten, auf dem Weg zum
See, wenn ich mich recht entsinne. Dann kann ich mich nicht mehr
erinnern, was passiert ist.“ Ein Gedankenblitz streifte ihn. „Ach,
ich habe mich später mit Frau Sauerlich unterhalten. Es war kein
sehr freundliches Gespräch, aber was sollte man auch erwarten.
Jedenfalls hat die Gute eine sehr seltsame Reaktion gezeigt, als ich
sie damit konfrontiert habe, dass ich weiß, dass sie es war, die mit
die Vase über den Schädel gezogen hat“, meinte Herr Hansen
grimmig.
„Was genau meinen sie?“
„Sie meinte, sie wüsste
sofort, wer mir das verraten hat. Beim Treffen abends tönte sie dann
herum, es sei der Graf gewesen und sie sei ziemlich sauer. Sie wusste
ja nicht, dass Herr Flip mir alles verraten hatte. Damit hätte sie
ein Motiv für den Mord am Grafen. Zufrieden?“
„Herr Hansen, ich wollte von
ihnen keine Verdächtigungen hören. Außerdem ist jene Wut doch
reichlich schwach für ein Motiv.“
„Bitte, dann eben nicht. Ich
wollte ja nur helfen. An den folgenden Tagen ist nichts Wichtiges
passiert. Obwohl… sie sollten sich mal mit Frau Schmidt oder Herrn
Fröhlich unterhalten. Mit den beiden stimmt etwas nicht. Glauben sie
es oder nicht, ich habe zusammen mit Frau Sauerlich versucht, den
Schwindel aufzuklären, bin aber nur auf eine sehr halbseidene
Geschichte gestoßen, von irgendwelchen Antiquitäten, für die Frau
Schmidt sich scheinbar begeistert hat. Sie sollten Herrn Fröhlich
auch fragen, warum er Frau Schmidt die Pistole gezeigt hat“, gab
Herr Hansen zu bedenken.
„Das ist zwar interessant und
durchaus wichtig, aber die Pistole war nicht die Mordwaffe. Wenn nun
Herr Fröhlich oder Frau Schmidt in diesem Gespräch den jeweils
anderen aufgefordert hätte, zu handeln, und dieser dann wirklich
gemordet hätte, warum dann nicht mit der Pistole, wenn diese schon
zur Hand war?“
„Eine gute Frage. Ich bin
ratlos.“ Einen Moment verharrte der Gärtner im Schweigen, um dann
fortzufahren: „Naja, und dann war es auch schon soweit: Das
Familientreffen stand an. Ich habe mich gleich mittags mit Frau
Braunfeld unterhalten und sie von Frau Schmidt und Herrn Fröhlich
unterrichtet. Sie war genauso besorgt wie ich. Ich denke, das ist der
Grund, warum sie so wütend nach Hause gegangen ist. Sie wurde
sozusagen in die Ermittlungen einbezogen – von mir – und konnte
es gar nicht verstehen, dass sie plötzlich selbst als Verdächtige
dastand. Sie sollten sich noch einmal bei ihr entschuldigen.“
„Das werde ich auch machen.
Ich war in der Tat unhöflich, aber es war doch nötig, um mir ein
Bild der Übrigen zu verschaffen, ich denke, ich brauche ihnen das
nicht weiter erläutern. Ich hoffe, sie wird das verstehen.“
„Im Laufe des Tages habe ich
mich dann wieder mit ihr unterhalten – bei einem Spaziergang durch
die Parkanlage. Ich habe ihr ganz offen erzählt, dass ich Betrug
vermutete, aber sie ist ja so eine gutgläubige Seele und konnte das
gar nicht glauben. Zugegeben, es scheint seltsam, dass Frau Schmidt
nach zehn Jahren treuer Arbeit nun so hinterhältig wird, und
schließlich hatte ja auch ich von ihr eigentlich sofort einen guten
Eindruck, aber man soll schließlich alles in Betracht ziehen. Und
als wir dann zum Haus zurückkamen, fanden wir Leonard…“
„Erschlagen im Vorbau. Und als
sie losgingen, lag er noch nicht dort?“
„Das wäre uns doch wohl
aufgefallen. Ich weiß doch noch, wie Leonard uns gewunken hat, als
wir losgingen.“
„Das könnte heißen, dass sie
die Ermordung Leonards just verpasst haben.“
„So ist es wohl. Seltsam, ich
hatte zuerst sogar geglaubt, es sei Friedrich gewesen, der da lag.
Leonard trug Friedrichs grünen Pullover.“
„Das ist interessant. Nun, die
beiden Brüder sahen sich recht ähnlich.“
„Später musste ich dann
zusammen mit Herrn Mahler Friedrich Maibusch beruhigen. Er war
vollkommen außer sich. Und als er sich dann wieder gefangen hatte,
unterbreitete ich auch den beiden meine Verschwörungstheorie von
Frau Schmidt und Herrn Fröhlich.“
„Sie scheinen ja viel Wert
darauf gelegt zu haben, dass alle von der Sache erfuhren. Und Herr
Fröhlich wollte noch immer nicht mit der Wahrheit herausrücken? Das
klingt ein bisschen unglaubwürdig.“
Herr Hansen beharrte auf seiner
Meinung. „Es ist die Wahrheit.“ Durch das Anwesen schallte laut
die große Uhr im Salon.
„Genug davon. Ich werde der
Sache nachgehen. Kommen wir zum Mord an Graf Maibusch. Sie sind von
jeglichem Verdacht befreit, da sie ja mit mir in der Küche waren.
Ist ihnen dennoch etwas an der Situation im Wohnzimmer aufgefallen?“
„Was hätte mir auffallen
sollen? Frau Sauerlich hat geschrien, kurz darauf kam Fräulein Maria
und hat uns geholt.“
James stand von seinem Stuhl auf
und blickte angestrengt in die Dunkelheit. Zögerlich stellte er eine
Vermutung auf: „Vielleicht ist gerade diese Zeitspanne wichtig. Es
wäre doch durchaus möglich, da wir überhaupt nicht wissen, was im
Salon vor sich ging, dass jemand den Grafen ermordet hat, die anderen
wohlwollend zugesehen haben und schließlich die Nummer mit dem
Schrei abgezogen wurde, wenn ich es so formulieren darf. Es klang
nämlich sehr, als wäre es aus einem Drehbuch abgelesen. Aber ich
werde morgen zuerst mal mit Frau Sauerlich sprechen. Sie hat die
Leiche entdeckt, und sie kann mir bestimmt auch sagen, was im
Wohnzimmer vor sich gegangen ist.“
„Habe ich sie da gerade
richtig verstanden? Sie halten es für möglich, dass alle hinter der
Sache stecken? Aber hat denn jeder überhaupt ein Motiv?“
„Aber selbstverständlich.
Jeder hat ein Motiv. Aber das muss bis später warten. Ich bin doch
recht müde und es ist auch schon spät, ich muss glatt die Uhr im
Salon wieder abstellen, sonst weckt sie uns heute Nacht alle.“
„Sie haben Recht, unser
Gespräch hat länger gedauert als erwartet. Ich wünsche ihnen eine
gute Nacht!“
„Schlafen sie gut“, sagte
der Butler, als er leise den düsteren Raum verließ.
Kapitel
7
In aller Herrgottsfrühe hatte
Frau Schmidt am nächsten Morgen Herrn Fröhlich geweckt und ihn in
den Pavillon bestellt. Zwar hatte Herr Fröhlich geflucht, dennoch
musste es wichtig sein, wenn Frau Schmidt so geheimnisvolle Aufträge
gab. Unter mehrfachem Gähnen begab der Anwalt sich ins Bad.
Die Hausfrau saß mit einer
Tasse Tee bereits hinten im Garten auf einer der Bänke im Pavillon.
Sie atmete tief durch, um die frische Morgenluft auszunutzen. So früh
morgens war es selbst im Sommer noch frisch. Frau Schmidt genoss den
Anblick der glänzenden Tautropfen auf dem Rasen. Sie zuckte mächtig
zusammen, als Herr Fröhlich ihr von hinten auf die Schulter tippte.
„Da sind sie ja endlich“,
sagte Frau Schmidt und verwies den Anwalt auf eine der anderen Bänke.
„Was ich mit ihnen besprechen möchte: Der Graf ist endlich tot.
Ich weiß nicht, ob sie wieder zugeschlagen haben, ist auch egal. Das
ist unsere Gelegenheit! Wenn wir jetzt noch schnell die Belege für
das Erbe, das der Graf erhalten hat, finden und verbrennen, dann
können wir alles abstreiten. Sie können dann den Fall für geklärt
ausgeben.“
Herr Fröhlich lächelte.
„Stimmt. Der Graf wollte
herausfinden, wer ihn betrogen hat. Die einfache Antwort lautet:
Niemand hat ihn betrogen. Er war nur zu verschwenderisch, dass er
dachte, er hätte zu wenig Geld bekommen. Als sein Anwalt kann ich
das nur bestätigen, erst recht, wenn die Beweise, also die Belege,
verbrannt sind. Der Graf und ein Bruder sind hinüber, das passt ganz
ausgezeichnet in unseren Plan“, setzte er mit einem dämonischen
Grinsen hinzu und rieb sich die Hände.
Frau Schmidt hob mahnend den
Zeigefinger: „Wir dürfen nur eine Sache nicht vernachlässigen:
Herr Hansen und Frau Sauerlich sind uns bestimmt immer noch auf der
Spur. Wir dürfen uns nicht zu auffällig verhalten. Sie werden
zugeben, dass die Sache mit der Pistole gelogen war und vom
ursprünglichen Plan des Grafen berichten. Natürlich auch von dem
Ergebnis, zu dem wir gerade gekommen sind. Dann müssen die beiden
einfach beruhigt abziehen.“
„Ich kann es nur hoffen. Die
beiden sind schließlich nicht die einzigen, die hinter uns her sind.
Denken sie an James! Er wird sich zwar mit dem Mord befassen, aber
ich glaube, dass die Morde irgendwie mit dieser Sache verknüpft
sind. Er wird also zwangsläufig auch uns beschatten und ausfragen.
Wir handeln so, wie wir es gesagt haben. Auch dem Butler werden wir
die Geschichten vom Irrtum des Grafen erzählen.“
Frau Schmidt beugte sich vor und
sagte eindringlich: „Dann müssen wir aber unbedingt diese Beweise
finden. Wenn James sie vor uns in die Finger bekommen sollte, sind
wir erledigt. Nur… wo könnte Graf Maibusch sie aufbewahrt haben?“
„Frau Schmidt, sie sind jetzt
so lange hier beschäftigt. Sie kennen sich am besten im Haus aus.
Ich glaube nicht, dass er sie in seinen Schreibtisch gelegt hat, das
wäre zu einfach.“
„Da stimme ich ihnen durchaus
zu. Der Graf war ein raffiniertes Biest. Ich könnte mir vorstellen,
dass er sie in einer der Vitrinen im Salon versteckt hat. Der Bereich
war für mich auch immer tabu, bis auf das Abstauben. Außerdem kommt
von seinen Gästen normalerweise keiner auf die Idee, einfach in den
Schränken herumzuwühlen, von den Vitrinen ganz zu schweigen. Ich
werde dort nachsehen. Sie werden sich möglichst bald an James
wenden, damit es nicht so aussieht, als würden sie Geheimnisse
vertuschen wollen. Tun sie so, als würden sie total offen mit ihm
sprechen. Das wird ihn zufrieden stellen.“
Herr Fröhlich stand auf.
„Ich werde trotzdem noch ein
wenig warten. Ich gehe erst mal zu Maria. Ich muss mich wieder mit
ihr vertragen.“
Frau Schmidt stöhnte.
„Sie kapieren nicht, dass das
hoffnungslos ist, oder? Warten sie!“
Herr Fröhlich schaute zu, wie
die Hausfrau im Wintergarten verschwand und ein paar Minuten später
mit einem Gegenstand in der Hand wieder auftauchte. Sie kam mit einer
Rohrzange in der Hand direkt auf ihn zu. Instinktiv wich der Anwalt
einen Schritt zurück.
„Nun stellen sie sich nicht so
an“, lachte Frau Schmidt. „Erst wollte ich das Ding hier
benutzen, um die Vitrine aufzubrechen, aber das wäre wohl zu
auffällig. Außerdem ist es eine schöne Vitrine, sehr wertvoll.
Nein, sie sollten besser die Rohrzange mitnehmen. Nur für den
Notfall, wenn sie verstehen“, deutete Frau Schmidt vage an und ließ
einen Anwalt stehen, der in der Tat überhaupt nichts verstanden
hatte. Triumphierend marschierte sie in das Landhaus zurück.
James hatte für sich und Frau
Sauerlich, eine der wenigen Frühaufsteherinnen, ein Frühstück auf
den Tisch gezaubert. Dankbar setzte Frau Sauerlich zu ihm. Scheinbar
hatte sie über Nacht zumindest für eine bestimmte Zeit ihren
High-Society-Schein abgelegt. Sie trug Alltagskleidung, die sie
immerhin etwas jünger machte, als sie es war. Anstelle eines Rocks
war sie nun in Jeans und schlichter Bluse ohne Make-up kaum mehr
wiederzuerkennen. Taktvoll vermied James es, sie auf diese Tatsache
hinzuweisen.
„Frau Sauerlich, so ungern ich
sie auch deswegen störe, so ist es doch meine Aufgabe, sie zu diesem
Fall zu befragen. Ich möchte den Mörder von Graf Maibusch finden.
Und das möglichst schnell. Deswegen bitte ich sie, ein wenig zu
berichten. Ihre Ankunft war ja nicht sehr positiv ausgefallen, wenn
ich da an die Sache mit der Vase denke…“
Schnell unterbrach die
Angesprochene den Butler: „Scheinbar kennen sie den Fall. Also
lasse ich das einfach weg, das ist mir wirklich peinlich.“
„Meinetwegen. Ach, ihre
Schwindelanfälle scheinen nachzulassen, das ist ja wunderbar!“
James erinnerte sich, dass ihr letzter Taumel wirklich
verhältnismäßig lange zurück lag.
„Ja, sie treten immer seltener
auf. Aber das war schon öfter so“, sagte Frau Sauerlich glücklich.
„Morgen sind sie wahrscheinlich ganz vorbei. Ad rem – sie wollten
mit Herrn Hansen sprechen. Ob sie es gemacht haben oder nicht, ich
werde ihnen noch etwas zum Fall Schmidt und Fröhlich erzählen,
nämlich, dass ich das Ganze für absolut harmlos halte.“
James schien ziemlich verwundert
ob dieser Erklärung zu schauen, denn Frau Sauerlich schmunzelte:
„Nun schauen sie doch nicht so bedröppelt. Klar doch, die beiden
arbeiten zusammen, aber aus durch und durch guten Motiven. Sie
wollten Henrys Brüder ein wenig ausfragen, ob sie vielleicht etwas
vom verschwundenen Erbe wissen. Eigentlich war es nur die Aufgabe von
Herrn Fröhlich, weil er ja der Anwalt ist, aber vor Frau Schmidt
bleibt nun mal nichts verborgen.“
„Vor mir auch nicht, glauben
sie mir“, verkündete James selbstsicher.
„Ich übergehe ihre kleinen
Spitzen einfach. Also, was bei der Beobachtung von Fröhlich und
Schmidt herausgekommen ist, weiß ich nicht, aber sie können die
beiden ja einfach mal fragen. Sie haben nichts zu verbergen, das
können sie mir glauben. Herr Hansen bildet sich da was ein, er ist
ja auch nicht mehr der Jüngste, vielleicht kommt er mit den Fakten
ein wenig durcheinander. Gut, zuerst hat Frau Schmidt auch mir eine
seltsame Geschichte aufgetischt, aber das ist ja jetzt
Vergangenheit.“
Der Butler lächelte, als er nun
sagte: „Frau Sauerlich, sie glauben ja nicht, wie gerne ich
seltsamen Gehschichten lausche, nur um das Körnchen Wahrheit
herauszuhören.“
„Wenn sie es denn unbedingt
wissen wollen. Also, Frau Schmidt sagte, sie unterstütze den Grafen.
Das Problem war nur die Pistole, die bei der Unterhaltung zwischen
Frau Schmidt und Herrn Fröhlich geschwenkt wurde. Da hat sie mir
einen Mist erzählt, kaum zu glauben. Sie beschrieb Henrys Brüder
doch glatt als gewalttätig, sie meinte, die Brüder könnten wütend
und handgreiflich werden, wenn sie herausfänden, dass der Graf sie
ausspioniert.“
„Ganz so abwegig ist es aber
nicht. Ich würde mich schon aufregen, wenn ich zu einer
Familienfeier nur eingeladen werde, um… untersucht zu werden“,
gab der Butler zu bedenken.
Bar jeder Logik wischte Frau
Sauerlich den Gedanken vom Tisch: „Ach, dann lassen wir das jetzt
beiseite. Viel ist dann jedenfalls nicht mehr passiert. Dann kam auch
schon der Tag des Familientreffens. Und ich war die Glückliche, die
diese fürchterliche Komtess empfangen durfte. Henry hatte
verschlafen, so dass wir dann Aufräumen im Schnellverfahren
veranstalten durften, aber das haben sie ja selbst miterlebt. Der Tag
war sehr anstrengend. Am frühen Nachmittag wurde ich einmal
ohnmächtig und hatte einen Alptraum. Ich sah den Grafen und Herrn
Hansen reden, irgendein wirres Zeug. Dann wurde Leonard erschossen!“
„Aber Herr Maibusch wurde doch
erschlagen?“
„Ich rede hier von meinem
Traum, das haben sie doch wohl mitbekommen? Ich stand daneben und
konnte gar nichts tun. Und als ich dann wieder bei Sinnen war, wollte
ich Henry warnen.“
„Daran erinnere ich mich auch
noch. Sie kamen ins Wohnzimmer gestürmt, aber niemand glaubte ihnen.
Das klang ja auch zu phantastisch. Aber, wenn ich mich recht
entsinne, haben sie alles abgestritten. Warum?“
„Ich habe selbst nicht mehr
daran geglaubt. Ich dachte, es waren alles nur verrückte
Halluzinationen. Die anderen hätten mich für wahnsinnig erklärt,
wenn ich weiterhin darauf bestanden hätte, das alles gesehen zu
haben.“
Der Butler war einigen
tiefenpsychologischen Analysen offensichtlich nicht abgeneigt: „Es
steckt aber doch eine kleine Wahrheit in dem, was sie sahen. Leonard
Maibusch wurde ermordet. Jetzt gilt es, den Rest ihrer Visionen zu
enträtseln, und sei es noch so schwierig.“
Gelangweilt trank Frau Sauerlich
ihren Kaffee und winkte ab.
„Geben sie sich keine Mühe.
Ich halte wirklich viel von ihnen, James. Sie sind nicht der Dümmste,
aber das schaffen sie nicht. Was glauben sie, wie lange ich schon
überlegt habe! Es war wohl doch alles nur ein Tagtraum, nicht weiter
von Interesse. Wir sollten wieder zu den vergangenen Ereignissen
übergehen.“
„Ganz, wie sie meinen. Dennoch
werde ich das weiter verfolgen. Nun gut. Wir sind jetzt bei den
Morden angelangt. Der Mord an Graf Maibusch wird für mich zunächst
am wichtigsten sein. Da sie die Leiche entdeckt haben, können sie
mir bestimmt ganz genau erzählen, was im Wohnzimmer vor sich ging.“
„Selbstverständlich. Wir
haben ganz zivilisiert Bridge gespielt. Bis auf die üblichen
Sticheleien verlief alles ganz normal. Fräulein Maria war zusammen
mit Herrn Flip. Das war auch nötig, sonst hätte die Arme haushoch
verloren. Und Herr Fröhlich hat mal wieder versucht, mit ihr zu
reden, aber sie war natürlich abweisend. Zwischendurch habe ich mir
etwas zu trinken geholt, aber das hat wohl jeder mal. Henry weigerte
sich, uns was zu bringen. Er war in seine Arbeit versunken.“
„Aber er war zu dem Zeitpunkt
noch quicklebendig?“
„Ja, er hat mir geantwortet,
dass wir unsere Getränke selbst holen könnten. Dieser Rüpel!“
„Nebensächlichkeiten“,
erwiderte James gefühllos. „Wie ging es weiter?“
„Im Laufe des Abends war wohl
jeder mal am Tisch mit den Getränken. Zuletzt Fräulein Maria. Wir
hatten bereits aufgegeben, den lieben Henry um diese Kleinigkeit zu
bitten, doch scheinbar hatte Maria das verschlafen. Sie ist
rechtzeitig zu Sinnen gekommen und hat ihn auf ihre Frage gar nicht
erst antworten lassen.“
„Aha!“ rief James
triumphierend. „Es ist also möglich, dass der Graf zu diesem
Zeitpunkt bereits tot war!“
„Es ist nicht nur möglich, es
muss sogar so sein. Wenige Minuten später bin ich zu ihm gegangen
und er hatte dieses Messer in der Brust.“
„Das heißt, es hatte jemand
die Möglichkeit, von ihnen allen unbemerkt zum Grafen zu gehen und
ihn zu ermorden. Hat denn niemand den Grafen rufen gehört oder
vielleicht irgend ein anderes Geräusch wahrgenommen?“
Überrascht schüttelte Frau
Sauerlich den Kopf. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht.
„Nein. Das ist ja seltsam!“
James überlegte.
„Ich kann es mir nur so
erklären, dass der Graf über seinen Arbeiten eingeschlafen ist. Der
Mörder muss zwar spontan gehandelt haben, aber er muss doch gewusst
haben, wie das Messer zu platzieren ist, damit der Graf keine Chance
hat, einen Laut von sich zu geben.“
„Bah, das ist so unangenehm!“
Frau Sauerlich ekelte es bei dem Gedanken und sie wedelte mit den
Händen in der Luft, als wolle sie etwas abschütteln.
„Ich weiß, Frau Sauerlich,
aber wir müssen das gut durchdenken. Jemand hat also unter dem
Vorwand, ein Getränk zu holen, den Grafen ermordet. Keiner hat etwas
gemerkt. Da nun aber alle, wie sie sagten, im Verlaufe des Abends
Getränke geholt haben, kann jeder der Mörder sein. Außer Herr
Hansen und die anderen, die bei mir in der Küche saßen. Sie sahen
die Leiche. Bitte beschreiben sie sie mir. Ich weiß, dass das nicht
sehr angenehm ist, aber es ist nötig. Was sahen sie?“
Frau Sauerlich kniff die Augen
zusammen und bemühte sich, das Bild vom vorigen Abend möglichst
genau in ihr Gedächtnis zu rufen.
„Der Graf hatte seine Augen
geschlossen. Und das Messer steckte in der Brust. Und überall Blut,
wie ekelhaft. Ich habe geschrien und die anderen sind gekommen. Meine
Knie sind schwach geworden und ich bin zu Boden gegangen.“
„Stimmt. Das muss die Stelle
sein, an der Fräulein Maria uns dann aus der Küche geholt hat. Ich
danke ihnen für ihre Schilderung des Falles. Leider ergibt das alles
noch nicht den rechten Sinn. Motiv hatten sie alle, wer also hat den
Grafen ermorden können? Ich kann noch nicht einmal von jedem in
diesem Haus sagen, wer er wirklich ist. Das ist sehr verwirrend. Ich
werde nachher mit den anderen sprechen. Sagen sie, wann ist die
Beerdigung?“
„Morgen Nachmittag, ich habe
alles arrangiert.“
„Ich muss den Fall bis dahin
gelöst haben. Ich werde alles versuchen, um einen Mörder dingfest
zu machen.“
„Viel Erfolg!“ wünschte
Frau Sauerlich. Als James den Tisch abräumte, dachte sie an ihren
Anruf bei der Gemeinde und dem Bestattungsunternehmen. Es wurde ihr
mulmig im Bauch, als sie an all ihre Ausreden dachte, als man sie auf
das Fehlen der polizeilichen Ermittlungen angesprochen hatte.
Selbstmord… Pietät gegenüber dem verbliebenen Bruder… Nichts
Wahres, aber zum Glück hatte es ausgereicht, um die Leute ruhig zu
stellen. Das war es, was zählte. Zufrieden stand Frau Sauerlich auf
und machte sich auf den Weg in ihr Zimmer.
„Es ist ziemlich eng hier
drin. Was wollen sie von uns, Herr Hansen“, fragte Herr Flip leicht
genervt. Zusammen mit dem Gärtner und Fräulein Maria fand er sich
gedrängt im Bad unten an der Eingangshalle.
Herr Hansen schlug einen
verschwörerischen Ton an.
„Nehmen sie sich in Acht vor
James. Er stellt sehr interessante Fragen und zweifelt alles an, was
sie ihm erzählen. Entweder, sie erzählen ihm alles – und bitte
die Wahrheit! Oder, sie schwindeln ihm ein wenig vor, wenn sie
schmutzige Wäsche zu waschen haben. Aber seien sie auf der Hut. Es
war ein Fehler, ihn mit den Ermittlungen zu betrauen.“
Fräulein Maria stöhnte.
„Und deswegen überfallen sie
mich hier, während ich mich frisch mache? Wie unnötig. Wir
schaukeln das schon, nicht wahr, Flip?“
„Richtig.“
„Außerdem sollten sie nicht
so negativ über den Butler sprechen“, fuhr die junge Frau fort.
„Wer kümmert sich denn sonst darum, dass mein Onkel tot ist? Mir
passt es ganz gut in den Kram. Und diese alberne Komtess war sowieso
eine doofe Tussi.“
„Sie sind ja richtig
erleichtert“, bemerkte der Gärtner und zog eine Augenbraue hoch.
„Sie haben doch wohl nicht…?“
„Das könnte Maria nie tun!
Sie kann einen Menschen schon durch ihre Worte fertigmachen. Schauen
sie sich doch nur Herrn Fröhlich an! Da muss Maria nicht erst zu so
umständlichen Mitteln wie einem Dolch greifen.“
„Ein Dolch ist nicht
umständlich. Das geht ganz einfach. Aber wir sollten uns ablenken,
sonst beschuldigen wir uns gegenseitig. Was haben sie denn heute noch
vor?“
„Ich wollte schon längst
wieder abgefahren sein, aber wegen James darf ich nicht los. Ist das
nicht ungerecht?“
Als Maria einen Schmollmund zog,
polterte Herr Hansen: „Na hören sie mal, sie sind Verdächtige in
einem Mordfall.“
„Aber man kann das ja auch
etwas taktvoller sagen. Wundert mich, dass ich nicht schon längst
verhaftet wurde, so grob, wie hier vorgegangen wird.“
Herr Flip fragte: „Was meinst
du mit grob?“
„Schlampige Arbeit meine ich.
James sollte endlich mal mich befragen. Stattdessen frühstückt er
mit Frau Sauerlich.“ Sie wandte sich an den Gärtner: „Finden sie
das nicht unerhört? Nur weil sie gestern als erste die Leiche
entdeckt hat. Er sollte mich mal befragen, schließlich habe ich als
letzte mit Henry gesprochen.“
„Das kannst du doch wohl kaum
als Gespräch gelten lassen. Du hast ihn nicht einmal zu Wort kommen
lassen.“
„Das zählt jetzt nicht“,
konterte Fräulein Maria schnell.
„Und was hält sie noch hier,
Herr Flip?“
„Dreierlei, wenn ich genau
sein soll. Zunächst James´ Auflage, das Haus nicht zu verlassen.
Was soll ich tun? Ich bin halt ein ehrlicher Mensch.“ Er grinste
und ließ die strahlend weißen Zähne blitzen. „Dann natürlich
die Erbschaft des Grafen. Ich erbe ja nun dieses Haus, denke ich.
Herr Fröhlich soll das für mich regeln.“
„Trauen sie bloß nicht Herrn
Fröhlich! Suchen sie sich einen anderen Anwalt. Ich bin mir nämlich
sicher, dass Herr Fröhlich den Grafen hintergangen hat.“
Herr Flip zeigte sich
unbeeindruckt von den Ausführungen des Gärtners.
„Das scheint sich bei ihnen ja
zu einer Paranoia zu entwickeln. Nein, mein Bester, ich bleibe bei
Herrn Fröhlich. Und der dritte Grund, hier zu bleiben, ist Maria.
Ich kann sie hier nicht einfach allein zurücklassen, umgeben von
seltsamen Gestalten.“
„Ich hoffe, sie haben mich
nicht gerade eine seltsame Gestalt genannt?“
Fräulein Maria packte Herrn
Flip am Arm.
„Kann ihnen das nicht einmal
egal sein“, blaffte sie Herrn Hansen an. „Komm, Flip, wir gehen
durch den Park!“
„Das kann ja noch heiter
werden“, murmelte Herr Hansen, als das junge Pärchen den Raum
verlassen hatte. Wie schon so oft würde er auch dieses Mal recht
behalten…
Frau Schmidt überlegte, was sie
so lange davon abgehalten hatte, nach den Papieren zu suchen. Nachdem
sie aus dem Garten zurückgekommen war, richtete sie alles, was am
Vorabend im Salon in Unordnung gebracht worden war, wieder her. Ein
wenig Entspannung tut ganz gut, vor allem, wenn man solche Leute wie
diesen Anwalt im Hause hat, dachte die Hausfrau. Dennoch konnte sie
trotz aller Entspannung ihre Blicke nicht ununterbrochen von der
Vitrine wenden. Immer wieder schielte die alte Dame zu den beiden
Schmuckstücken, die das Zimmer zierten. Schließlich überkam sie
die Neugier.
Frau Schmidt nahm ein Staubtuch
aus ihrer Schürze zur Hand und kniete vor der größeren Vitrine
nieder. Sie öffnete die beiden Glastüren und nahm die
Dekorationsstücke, feinstes Porzellan, heraus. Dann blickte sie
unter alle Spitzendeckchen und stellte die kitschigen Gegenstände
wieder hinein. Sie schloss die Türen wieder und wischte sämtliche
Griffe sorgfältig ab. Dann öffnete sie die linke Schublade am Fuß
des Schrankes. Enttäuscht schloss sie sie wieder. Sie wollte gerade
den anderen Schub öffnen, als sie eine bekannte Stimme aufschrecken
ließ.
„Suchen sie etwas, Frau
Schmidt?“
Die Hausfrau drehte sich auf dem
Absatz herum und blickte die aufrechte Statur des Butlers an, der,
die Arme hinter dem Rücken verschränkt, schmunzelnd herabschaute.
Ironisch sagte er: „Kann ich
ihnen vielleicht behilflich sein? Sie sehen, draußen ziehen Wolken
herauf, es ist ein wenig duster hier drin. Darf ich ihnen vielleicht
mit einer Taschenlampe leuchten?“
Frau Schmidt schloss hastig die
Schublade und murmelte verlegen: „Nein, nein, ich wollte nur eben
schauen, ob die Vitrine mal wieder abgestaubt werden muss.“ Zur
Verteidigung hielt sie das Staubtuch vor sich.
„Sie haben Recht, sie sollten
wirklich nachsehen, ob die Schubladen, die sonst immer geschlossen
sind, von innen abgestaubt werden müssen“, sagte James sarkastisch
und schaltete das Licht im Salon ein, die die Wolken tatsächlich
langsam, aber sicher dichter wurden. „Frau Schmidt, das ist nicht
ihr Ernst. Ich glaube, wir müssen uns unterhalten. Setzen sie sich.“
Bestimmt schob er ihr Stuhl hin.
„Kommt jetzt also die große
Befragung, wie? Soll ich ihnen alles erzählen, was passiert ist? Ich
denke, das dürften die anderen bereits gemacht haben.“
„Genau. Erzählen sie mir
bitte nicht noch mal, dass der Graf umgebracht wurde. Ich denke, wir
wissen es jetzt. Ich werde meine Fragen ganz speziell formulieren.
Sie haben mit Herrn Fröhlich in irgendeiner Hinsicht
zusammengearbeitet. Können sie mir das bitte erläutern?“
„Ach, hat Herr Hansen ihnen
das erzählt? Oder hat Frau Sauerlich wieder spioniert, das kann
natürlich auch sein! Wissen sie, das alles hat seinen Anfang
genommen, als der Vater des Grafen starb.“
„Nun“, unterbrach der Butler
sie, „da drängt sich mir doch die Frage auf: Woran starb der Vater
von Graf Maibusch?“
„Sie sollten nicht fragen,
woran er starb“, antwortete Frau Schmidt und zog das „woran“ in
die Länge, „sondern wie er ums Leben kam. Er war auf einer
Schiffsreise. Er wollte nach Ägypten reisen, um dort eine Fahrt auf
dem Nil zu genießen.“ Frau Schmidt schloss die Augen. Eine
Kreuzfahrt. Traumhaft… aber sie hätte sich selbst so etwas nie
leisten können, wenn nicht… ein leises Donnern vom Norden her
holte sie in die Wirklichkeit zurück. „Und er wollte also eine
Kreuzfahrt auf dem Schiff machen. Wie auch immer, das Schiff ist
gesunken. Es war auf ein Riff aufgelaufen, wenn ich mich nicht irre.“
Der Butler nickte.
„Nächste Frage: Nachdem der
Vater gestorben war, musste das Erbe verwaltet werden. Hat der Vater
einen letzten Willen hinterlassen? Ich habe da so gewisse Andeutungen
gehört, ich möchte es aber genau wissen.“
„Tja, es gab allerdings ein
Testament, doch davon war zunächst nichts bekannt. Die drei Söhne,
Henry, Leonard und Friedrich stritten sich wutentbrannt um das Erbe.
Schließlich kam Henry auf die phantastische Idee und schaltete einen
Anwalt ein. Herr Fröhlich. Das war der Anfang vom Ende. Herr
Fröhlich fand den letzten Willen, der besagte, dass das Erbe
gleichmäßig unter den dreien aufgeteilt werden sollte. Damit war
diese Frage zunächst aus der Welt geschafft. Aus irgendeinem Grund
aber, den der Graf mir nicht verraten hat – da sollten sie doch
besser Herrn Fröhlich fragen – hat Henry den Verdacht gehegt, dass
das Erbe eben nicht gleich aufgeteilt war. Er befürchtete, dass
Friedrich, sein böser Bruder, sich den größten Teil gekrallt
hatte.“
„Friedrich war ein böser
Bruder? Wieso? Hat er dem Grafen irgendetwas angetan?“
„Kokolores. Haben sie denn
keine Geschwister?“
„Damit kann ich leider nicht
dienen“, meinte James bedauernd.
„Es ist oft so, dass, falls
man zwei Brüder hat, der eine zur Schutzperson und der andere zum
Hassobjekt wird. Der eine scheint sich immer zu kümmern, während
der andere scheinbar immer nur Ärger im Sinn hat. Friedrich war
dieses Hassobjekt. Er selbst hat höchstwahrscheinlich keine Schuld
daran. Gehen wir nun aber weiter. Der Graf hatte also diesen Verdacht
und hat dann das Familientreffen organisiert, um seine Brüder direkt
auszuhorchen. Interessant, nicht wahr? Aber glauben sie es, oder
nicht: Er hat das Treffen beinahe vergessen.“
„Was? So einen wichtigen
Anlass vergisst man doch nicht einfach! Kam das öfters vor?“
„Er kam langsam in die Jahre
und sein Langzeitgedächtnis machte sich bemerkbar. Tatsächlich
konnte er sich an gerade gelesene Sachen manchmal gar nicht
erinnern.“
„Aber sie haben ihn taktvoll
darauf hingewiesen“, vermutete der Butler.
„Richtig.“
„Nun sagen sie mir bitte, was
sie mit Herrn Fröhlich zu tun haben!“
Frau Schmidt faltete die Hände
und schien im Schlaf zu versinken, als sie plötzlich mit
geschlossenen Augen zu sprechen begann.
„Herr Fröhlich war in den
Plan des Grafen eingeweiht. Um das Vorgehen wirkungsvoller zu
gestalten, unterrichtete Herr Fröhlich mich von dem Vorhaben. Der
Anwalt würde Aktenkunde betreiben und ich sollte mit den Brüdern
sprechen. Es war alles perfekt“, erzählte die Hausfrau voller
Überzeugung.
„Dann interessiert mich jetzt
aber, was sie herausbekommen haben. Von den anderen Personen konnte
es mir keiner sagen.“
„Das geht wohl ein wenig zu
sehr in die Privatsphäre des Grafen.“
„Frau Schmidt, der Graf dürfte
nicht mehr viel Privatsphäre besitzen. Und falls sie sich vielleicht
als Nächste mit einem Messer im Rücken wiederfinden möchten,
können sie sich mir natürlich gerne weiterhin verschließen.“
Erschrocken hielt Frau Schmidt
sich die Hand vor den Mund und fuhr dann fort: „Nun machen sie mir
nicht solche Angst. Zum Glück kann ich ihnen glauben. Hoffe ich. Wir
haben herausgefunden, dass der Graf sich geirrt hat. Es fehlte nie
irgendwo an Geld, es ist damals bei der Aufteilung des Erbes alles
sachgemäß vonstatten gegangen. Ich denke mal, der Graf hatte den
Eindruck vom schwindenden Geld, weil er immer gerne investierte.
Leider waren nicht all seine Investitionen erfolgreich. Nun, Graf
Maibusch konnte manchmal gut handeln, aber er konnte sein Geld nicht
richtig verwalten.“
„Das ist eine interessante
Theorie. Ich werde mich mal mit dem Anwalt darüber unterhalten
müssen. Doch wir sollten zum Mord an Graf Maibusch kommen.“
„Und Leonard und die Komtess
lassen sie einfach weg?“ fragte Frau Schmidt.
„Nein, aber der Mord an Graf
Maibusch ist für mich am greifbarsten. Wir haben immerhin vier
Zeugen, wenn auch keiner von ihnen alles mitbekommen hat. Außerdem
gibt es für diesen Mord nur fünf Verdächtige und nach dem, was sie
mir eben erzählt haben, halte ich es für absolut wahrscheinlich,
dass der Mörder von Leonard, der Komtess und der von Graf Henry ein
und dieselbe Person ist.“
„Wie kommen sie denn darauf?“
James bemühte sich, den
Sachverhalt verständlich zu erläutern: „Erinnern sie sich an die
Worte des Grafen, als das Bridgespiel begann? Er sagte ,Ich werde,
jetzt gleich, mich an den Schreibtisch setzen und meine grauen Zellen
bemühen. Es muss möglich sein, den Täter zu finden.’ Er meinte
den Mörder von der Komtess und Leonard, da wir uns ja schon sicher
waren, dass es sich um die gleiche Person handelte. Sie haben mir
eben erzählt, dass der Graf ein Langzeitgedächtnis entwickelte. Das
heißt, er wird auf den Schreibtisch vor sich einen Zettel oder einen
Block mit Stift gelegt haben, auf dem er seine Gedanken
niedergeschrieben hat, damit er sie nicht vergaß. Der Mörder muss
unauffällig ein Auge auf Graf Maibusch geworfen und dabei diesen
Zettel mit verräterischen Notizen erblickt haben. Die einzige
Möglichkeit war nun noch, den Grafen umzubringen.“
Frau Schmidt zeigte sich
hocherfreut: „Das ist eine hervorragende Theorie!“ Dann verzog
sich ihre Miene: „Sie hat nur leider einen Haken: Es lag kein
Zettel beim Grafen, als wir ihn fanden.“
„Aber natürlich nicht. Das
wäre doch auch sinnlos gewesen. Der Täter musste den Zettel doch
irgendwie mitgehen lassen, da auf ihm Hinweise standen, die ihn
überführen würden.“
„Das heißt, dass dieser Mord
unmöglich lange geplant sein konnte?“
„Man darf natürlich keine
Möglichkeit ausschließen, aber hier trifft das wohl zu. Der Mörder
ging nach vorne, um sich ein Getränk zu holen. Dabei besuchte er
oder sie kurz den Grafen und fand diese Notizen. Er bediente sich der
ersten Waffe, die er finden konnte, nämlich den Brieföffner, und
brachte den Grafen für immer zum Schweigen.“
„Beinahe perfekt, aber sehr
riskant. Man hätte es eigentlich merken müssen, wie der Graf
getötet wurde. Aber wir waren scheinbar so sehr in unser Spiel
vertieft… unglaublich…“, murmelte Frau Schmidt.
James, ungeachtet der Tatsache,
dass er Frau Schmidt kurz zuvor beim Durchwühlen der Schubladen
entdeckt hatte, stand mit einem Lächeln auf und verließ den Raum.
Mittlerweile hatte es draußen zu regnen begonnen und es war an der
Zeit, zu prüfen, ob alle Fenster des Hauses geschlossen waren.
Sollte sein Arbeitgeber verschieden sein, so betrachtete James dies
immer noch als Pflicht des Butlers. Frau Schmidt war froh, nicht
weiter belästigt zu werden und machte sich aus dem Staub, wobei sie
offensichtlich vergessen hatte, dass in den Schubladen der Vitrinen
vielleicht sehr, sehr wichtige Dokumente ruhten…
Fräulein Maria gähnte. Die
Spuren des letzten Abends zeichneten sich in ihrem Gesicht wieder und
auch das beste Make-up konnte nichts alles verbergen. Sie blickte aus
dem Fenster. Regen. Und das im Sommer, wo es doch gestern noch so
schön war. Seufzend rückte sie Jeans zurecht. Rot. Wie konnte es
anders sein.
Sie ging zu ihrem Kleiderschrank
und holte aus den Tiefen ihren Koffer hervor. Es war an der Zeit,
schon mal das Unwichtige einzupacken. Nur noch die Kleidung für
morgen herauslegen und das war´s. Sie legte den Koffer auf ihr Bett
und öffnete die Verschlüsse. Als sie den Deckel hochklappte, gab
sie einen spitzen Schrei von sich und taumelte ein paar Schritte
rückwärts. In ihrem Koffer lag, in einem Bündel roter Unterwäsche,
der blutige Dolch mit dem Jadegriff, der den Grafen seiner Bestimmung
zugeführt hatte.
Ihr Schrei blieb nicht
unbemerkt, so dass kurz darauf Frau Sauerlich in das Zimmer stürzte.
Nun, da sie ihre umständlichen Kleider abgelegt hatte, bestand kein
Bedarf mehr zum vorsichtigen Schreiten, so dass sie wieselflink
Fräulein Maria auffangen konnte.
„Meine Güte!“
Sobald Maria bemerkte, dass sie
nicht allein im Raum war, sprang sie auf, schloss den Koffer und
verbarg ihn hinter ihrem Rücken.
„Hallo“, sagte sie
unvermittelt.
„Sie sehen sehr verstört aus.
Und was verstecken sie da hinter ihrem Rücken? Ist es gefährlich?
Haben sie deshalb geschrien? Oder ist es vielleicht etwas sehr
peinliches? Hat es etwas mit den Morden zu tun?“
„Ich wüsste nicht, was sie
das angeht. Sie sollten sich aus meinen Angelegenheiten raushalten.
Und auch aus denen meines Vaters, das hat sie nicht zu
interessieren.“
„Moment! Was hat Herr Fröhlich
damit zu tun? Lenken sie nicht ab. Sie können mir ruhig erzählen,
was sie hinter sich verbergen“, sagte Frau Sauerlich und versuchte,
an der schlanken Dame vorbeizuschielen. „Ich werde es nicht aufs
Tapet bringen.“
Noch immer blickte Fräulein
Maria skeptisch drein, löste dann aber ihre Spannung: „Ich hoffe,
sie bleiben bei ihrem Wort. Ich will gerade meinen Koffer so weit wie
nötig packen, und da liegt auf einmal mitten in meiner Wäsche der
Dolch, mit dem mein Onkel ermordet wurde! Wer kann das getan haben?“
„Der Dolch?“
„Aber ja!“
Zum Beweis trat Fräulein Maria
zur Seite und öffnete ihren Koffer erneut. Der Dolch blitzte Frau
Sauerlich an.
„Schöne Schweinerei. Jetzt
sind ihre Sachen ganz dreckig. Wie können sie noch überlegen? Der
Mörder selbst wird ihnen das Messer da hineingelegt haben, um sie zu
erschrecken.“
„Was ihm auch gelungen ist“,
jammerte Maria verzweifelt und klagte: „Warum denn ich? Was habe
ich denn getan?“
„Vielleicht wissen sie etwas,
das den Mörder belastet, und er will sie davor warnen, es zu
verraten.“
„Aber was soll das sein? Ich
weiß doch gar nichts!“ Maria lief aufgelöst im Zimmer herum und
konnte die Welt nicht mehr begreifen. Frau Sauerlich legte ihre Hand
auf Marias Schulter und Führte sie zum Bett, damit sie sich setzte.
„Sie wissen eine ganze Menge,
aber sie sind sich vielleicht nicht bewusst, dass ein Teil ihres
Wissens für den Mörder schädlich sein könnte. Sie wissen etwas,
wissen aber nicht, dass es ein Beweis ist.“
„Und was soll ich jetzt
machen? Soll ich die ganze Zeit schweigen?“
„Nein, sie müssen praktischer
denken. Jetzt müssen sie das Messer loswerden. Wenn sie damit
erwischt werden, ist das schon sehr verdächtig. Sie müssen es
verstecken.“
„Und ich weiß auch schon,
wo.“ Fräulein Maria nahm das Messer, stand auf und winkte. „Danke
für ihre Hilfe, Frau Sauerlich!“
„Gern geschehen!“ Doch
Fräulein Maria hörte es nicht mehr.
In höchster Eile lief sie
hinunter in die Eingangshalle, von dort direkt zum Salon und zur
Vitrine, die zuvor Frau Schmidt inspiziert hatte. Sie bückte sich
und zog die rechte Schublade heraus. Nachdem sie den Dolch dort
platziert hatte, wollte die die Lade wieder schließen, als ihr Blick
auf ein Dokument fiel, das ihr Vater unterschrieben hatte. Sie nahm
das Papier heraus und ließ den Blick über die Zeilen gleiten.
Ungläubig betrachtete die junge Frau die verschiedenen Zahlen und
musste dabei immer wieder zur Signatur ihres Vaters schauen.
Als hätte er es gehört, betrat
in diesem Augenblick Herr Fröhlich. Als die ersten Regentropfen
gefallen waren, hatte er sich entschlossen, ins Haus zurückzukehren.
„Hallo, Maria!“
Wie der Blitz drehte die
Angesprochene sich herum. Den Zettel falten und in die Tasche stecken
sowie die Schublade mit dem Fuß zuzutreten war dabei eines.
„Hallo.“
„Wie geht´s?“ fragte der
Vater fürsorglich. „Fühlst du dich nach den gestrigen Ereignissen
etwas besser?“
„Es geht… Moment! Wie kannst
du das nur fragen?“
„Wie bitte?“
Fräulein Maria ging einige
energische Schritte auf ihren Vater zu und schien seinen Körper mit
ihrem Zeigefinger durchbohren zu wollen.
„Mein Gotte, wenn ich gewusst
hätte, wie niederträchtig du wirklich bist“, schnaubte sie. „Ich
hätte dich persönlich umgebracht!“
„Wovon sprichst du?“
Fräulein Maria drängte den
Anwalt rückwärts und sprach immer lauter: „Tu doch nicht so
scheinheilig! Du hast den Dolch in meinen Koffer gelegt. Du hast
meinen Onkel umgebracht, und ich weiß auch, wieso. Aber das werde
ich dir bestimmt nicht verraten. Ich habe Beweise, doch die wirst du
erst sehen, wenn du schon mit einem Bein im Knast stehst. Du hast das
Messer als Warnung in meinen Koffer gelegt und nun fragst du mich, um
zu sehen, ob ich die Warnung verstanden habe. Ja, ich habe sie
verstanden, aber das ist mir ja so egal. Du hast meinen Onkel
umgebracht. Du kannst noch so viel drohen, ich werde mit James reden
und dann geht es dir an den Kragen. Verlass dich drauf!“
Herr Fröhlich war inzwischen
bleich geworden. Seine Tochter machte ihm Angst. „Ich weiß nicht,
wovon du redest! Ich habe nichts damit zu tun“, stammelte er. Auf
seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen und er schielte nach dem
Ausgang.
„Natürlich nicht. Genauso
wenig, wie du damit zu tun hattest, dass das Leben von Mama jetzt
ruiniert ist!“ schrie Maria. „Sie vegetiert vor sich hin und du
hast auch nicht den Schimmer einer Idee, dass es deine Schuld sein
könnte. Oh, ich hasse dich so sehr!“ Damit griff Maria zu einem
der massiven Kerzenleuchter, die im Bücherregal standen, und drohte
ihrem Vater: „Komm nur her, damit ich mich rächen kann für alles,
was du uns angetan hast!“
Herr Fröhlich hielt sich die
Hände über den Kopf und lief in Panik weg.
„Nein! Du bist ja wahnsinnig!
Ich habe nichts getan!“
Krachend fiel die Tür hinter
ihm zu.
„Nichts getan, nichts getan.
Aber das Geld von meinem Onkel stehlen, wie? James wird das sehr
freuen“, sagte Fräulein Maria zu sich und schwenkte triumphierend
den Zettel, den sie in der Vitrine gefunden hatte.
Nachdem Frau Schmidt vom Butler
beim Schnüffeln ertappt worden war, flüchtete sie. Am besten an
einen Ort, wo man mal seine Ruhe hat, dachte sie sich und lief
Richtung Kinderzimmer, um von dort aus in den Wintergarten zu gehen.
Noch nieselte es nur, und so hielt es die Hausfrau für unangebracht,
mit einem Schirm loszuspazieren. Schnell ging sie den Weg durch den
Garten in den urigen Bau. Dort verdunkelte sie die Scheiben,
schimpfte dabei auf ihre Vorgänger, die die Vorhänge so stümperhaft
eingehängt hatten, und öffnete schließlich den großen
Buchenholzschrank, in dem sich neben Frau Schmidts geheimen Vorräten
an Genussmitteln auch ein Fernseher befand. Gemütlich lehnte sie
sich in einem Korbsessel zurück.
„Frau Schmidt!“
Die Hausfrau riss die Augen auf.
Sie hatte sich ein wenig zu sehr in das Geschehen auf der Mattscheibe
vertieft. Besser gesagt: Sie war eingenickt. Nun stand Herr Fröhlich
wie ein begossener Pudel in der Tür. Dummerweise hatte auch er
keinen Regenschirm mitgebracht. Daran konnte Frau Schmidt nun aber
keinen Gedanken mehr verschwenden, denn es war nicht zu übersehen,
wie aufgebracht der Anwalt war.
„Herr Fröhlich! Sind sie noch
bei Trost, sie haben mir einen Riesenschrecken eingejagt!“ klagte
sie.
Der Beschuldigte schloss die Tür
hinter sich und schaltete das Licht ein.
„Ach, das ist jetzt alles
unwichtig. Ich habe gerade mit Maria gesprochen. Haben sie ihr einen
Dolch ins Gepäck gelegt oder irgendetwas Ähnliches angestellt?“
„Wie kommen sie denn darauf?“
Frau Schmidt schaltete den Fernseher ab.
„Maria war total außer sich.
Sie hat mir vorgeworfen, dass ich den Grafen ermordet habe und sie
meinte, sie hätte Beweise.“
„Beweise? Haben sie den Grafen
ermordet, oder nicht? Ich glaube, das junge Ding zieht vorschnelle
Schlüsse. Das kann dann nur bedeuten, dass sie die Rechnungen
gefunden hat. Das war es dann wohl mit der Ruhe. Knast: Hallo!
Ruhestand: Und Tschüß!“
„Dann werde ich wohl etwas
grob zu Maria werden müssen, damit sie die Papiere rausrückt.“
Angewidert schaute die Hausfrau
auf den skrupellosen Mann, der noch immer nach Luft ringend im Raum
stand. Konnte ein Vater so von seiner Tochter sprechen?
„Sind sie noch zu retten? Das
wird nichts nützen. Selbst wenn sie die Belege erhalten, wird Maria
das gegen sie verwenden. Wenn man dann die Sachen bei ihnen findet,
sind sie erledigt. Sie müssen einsehen, dass wir aufgeflogen sind“,
sagte sie mit einem Ton der Gleichgültigkeit. Das alles schien sie
nicht sonderlich zu erschüttern.
„Es gibt noch eine
Möglichkeit. James hat gesagt, er will den Fall bis morgen zur
Beerdigung gelöst haben. Wenn ich es schaffe, Maria bis dahin von
ihm fernzuhalten, bleibt die ganze Sache unentdeckt.“
„Sie können es versuchen,
aber ich garantiere für nichts. Vielleicht redet der Butler gerade
in diesem Moment mit ihr. Sie wird bestimmt versuchen, gleich nach
ihrer Entdeckung mit ihm zu sprechen.“
„Dann bleibt uns nicht mehr
viel übrig.“ Herr Fröhlich legte eine Kunstpause ein, um danach
ein Resümee zu ziehen: „Frau Schmidt, es tut mir für sie Leid,
dass sie sich in die Angelegenheit eingemischt haben. Das hätten sie
besser nicht tun sollen, denn nun werden sie am eigenen Leib spüren,
wie riskant so etwas sein kann.“
Daraufhin gähnte Frau Schmidt
vernehmlich, als würde sie die Sache überhaupt nicht angehen.
„Ich?“ fragte sie leicht
verwundert. „Wie kommen sie darauf, dass ich etwas damit zu tun
haben könnte? Ich habe nur mit ihnen zusammengearbeitet, um das
Problem des Grafen zu lösen. Ich konnte ja nichts von ihren dunklen
Machenschaften wissen.“
Das konnte ja wohl nicht wahr
sein, dachte Herr Fröhlich. Zornig griff er die Hausfrau an: „Was
reden sie da? Lügen sie nicht rum, sie waren daran beteiligt!“
Frau Schmidt lächelte
scheinheilig. „Und wer soll das beweisen? Etwa Fräulein Maria?
Nein, sie weiß nichts davon. Auf den Belegen steht schließlich nur
ihr Name drauf, ich bin ja erst später dahinter gekommen. Ich denke,
ich habe bei der Kaffeegesellschaft eine überzeugende Rolle
abgeliefert. ,Bei ihren Kochkünsten könnten sie Millionen
verdienen’, sagte Frau Sauerlich. Warum sollte ich? Ich hatte
genug. Außerdem stand meine Loyalität ja schließlich im
Vordergrund. Wie könnte ich meinen Arbeitgeber nach zehn Jahren
treuen Dienstes hintergehen? Nein, Herr Fröhlich, sie müssen sich
irren. Ich hatte nie etwas damit zu tun. Suchen sie sich einen
anderen Dummen.“
Das brachte Herrn Fröhlich auf
die Palme, so dass er wütend einen der langen Dekoschals von der
Decke riss und drohte: „Das ist hoffentlich nicht ihr Ernst, sonst
werden sie es bereuen, dass ich sie damals bezahlt habe. Verlassen
sie sich darauf!“
Frau Sauerlich starrte aus dem
Fenster des Kinderzimmers hinaus in den grau verhangenen Garten.
„Was für ein ungemütliches
Wetter.“
Herr Flip, der bei ihr saß,
schaltete das Licht ein, um sich die Regale besser anschauen zu
können. Beiläufig antwortete er: „Ja, es trägt nicht gerade zu
einer Besserung der Stimmung hier bei. Es ist so ruhig geworden…
ich komme mir vor wie auf einem Friedhof.“
„Nun übertreiben sie mal
nicht.“ Frau Sauerlich riss sich vom Fenster los und blickte auf
den Mann in Grün, der sich mit einem Ordner in den Sessel verkrümelt
hatte. „Wie es mir scheint, kommen sie mit dem jungen Fräulein
Maria ganz gut zurecht“, deutete sie an, in der Hoffnung, alle
Tatsachen aus Herrn Flip herauszukitzeln.
„Sie ist wirklich reizend. Es
war eine gute Idee des Grafen, sie einzuladen.“
„Da bahnt sich eine
Freundschaft an, wie nett“, meinte Frau Sauerlich warmherzig und
schloss verzückt die Augen.
„Vielleicht wird daraus mehr
als nur eine Freundschaft.“
„Wie? Sie glauben…?“ Frau
Sauerlich lachte. „Das wäre ja wunderbar! Das muss ich sofort
allen erzählen. Weiß sie es schon?“
„Bleiben sie ruhig. Sie weiß
noch gar nichts, aber sie soll es auch nicht erfahren. Und wenn doch,
dann erzähle ich es ihr. Einverstanden? Sie schweigen erst mal, dann
sehen wir weiter.“ Im Geiste trat Flip sich selbst auf die
Zehenspitzen. Hoffentlich nahm sie ihm diese Abweisung nicht übel.
Frau Sauerlich jedoch wusste,
wie es um die jungen Dinger bestellt war.
„Natürlich. Wie taktlos von
mir! Aber bitte, ich möchte die erste sein, die gratuliert.“
„Ich werde sie sofort
unterrichten, wenn es soweit ist. Aber sie müssen sich gedulden. Ich
bin nämlich nicht ganz so forsch wie sie.“
Heer Flip stand auf und ging
hinaus. Dabei hielt er ein Foto in Händen, das Maria bei ihrem
Abschlussball zeigte. Sie erinnerte an einen Engel…
„Ob das richtig war?“ fragte
Frau Sauerlich sich, nachdem der junge Mann verschwunden war.
Immerhin hatte er das Foto aus einem der Alben des Grafen genommen.
Andererseits erinnerte sie sich, dass die Liebe den Verstand
ausschaltete… und somit sehr gefährlich sein konnte… „Aber…
die junge Liebe, sie ist ja so hinreißend!“
„Hinreißend… und vielleicht
gar so hinreißend, dass man dafür morden sollte.“
James, der unauffällig
hinzugetreten war, sprach Frau Sauerlichs Befürchtungen aus.
„James! Wollen sie mich zu
Tode erschrecken?“
„Das war nicht meine Absicht,
entschuldigen sie bitte. Ich habe mir nur mehrere Dinge noch einmal
durch den Kopf gehen lassen. Sie müssen mir unbedingt helfen. Sie
hatten doch damals diese seltsame Vision?“
„Ja, aber das war Unsinn.“
Angesäuert winkte der Butler
ab.
„Unsinn gibt es hier nicht.
Zumindest nicht, solange hier niemand versucht, sich aus der Affäre
zu ziehen. Dann wird es nämlich konfus. Es sind alle darin
verwickelt, auf die eine oder andere Art. Ich habe den Verdacht, dass
ihre Vision mit dem Mord an der Komtess zusammenhängt, aber ganz
anders, als sie jetzt vielleicht vermuten. Ich glaube, ihr Alptraum
war beabsichtigt. Ich möchte, dass sie versuchen, sich zu erinnern.
Bevor Leonard Maibusch in ihrem Traum erschossen wurde, sahen sie den
Grafen und Herrn Hansen.“
„Ja, richtig.“
„Was sagten sie?“
„Irgendein wirres Zeug.“ Und
dann bemühte Frau Sauerlich redlich, die Wortfetzen, die sie noch in
Erinnerung hatte, wieder zusammenzubauen. „Zuletzt hat Leonard den
Grafen einen Egoisten genannt“, schloss sie.
„Gibt ihnen das gar nicht zu
denken?“
„Natürlich gab es mir anfangs
ein Rätsel auf. Was sollte das wohl bedeuten? Aber es war ja nur ein
Traum, und der Mensch träumt manchmal halt einen Unfug.“
„Daran glaube ich nicht“,
sagte James entschieden. „Graf Maibusch meinte, Herr Hansen käme
ihm bekannt vor, und Herr Flip meinte, Herr Hansen treibe ein
falsches Spiel. Beide Verdachtsmomente sind vorbei, aber zusammen
ergeben sie einen verrückten Sinn. Zumindest für mich. Ich werde
wohl mal die Familienalben durchblättern müssen, ob es da nicht
noch irgendwelche düsteren Verwandten gibt.“
„Wenn sie das wirklich
durchziehen wollen – bitte, ich halte sie nicht auf. Aber sie
müssen sich beeilen, denn viel Zeit bleibt ihnen nicht mehr. Sehen
sie mal“, sagte Frau Sauerlich und deutete auf den Garten, wo Frau
Schmidt vom Wintergarten her auf das Zimmer zustrebte. „Sie sollten
hier verschwinden, es wäre nicht sehr gut, wenn Frau Schmidt sieht,
dass sie mit mir geredet haben.“
„Das hat Frau Schmidt zwar
nichts weiter anzugehen, aber sie haben Recht. Ich will nicht noch
mehr Unruhe stiften. Ich darf wohl vermuten, dass die Hausfrau nicht
ohne Grund im Wintergarten war. Vermutlich ist auch Herr Fröhlich
dort. Ich werde außen um das Haus gehen und nachsehen. Vielleicht
kann ich mich dann endlich mal in Ruhe mit ihm unterhalten.“
James beeilte sich, einen
Regenschirm zu holen und stakste hinaus, während Frau Sauerlich die
Tür für Frau Schmidt öffnete und ihr einen Mantel holte, damit sie
sich wärmte.
Unter dem Regenschirm wurde er
selbst zwar nicht nass, aber der Matsch verdreckte unbeirrt die
Schuhe des Butlers, als er um das Haus herum ging. Auf der Fußmatte
vor dem Wintergarten trat er den Dreck daher besonders sorgfältig
ab, bevor er eintrat.
„Dieser Regen ist wirklich
unangenehm. Die Hauptsache ist, dass ich sie gefunden habe“,
begrüßte der Butler den Anwalt.
„Ach, dann wollen sie mich
jetzt also aushorchen, wie?“ Misstrauisch beobachtete Herr Fröhlich
den ungebetenen Gast, wie er den Fernseher abschaltete und sich auf
einen Stuhl ihm gegenüber setzte.
„Aushorchen… das klingt so
nach polizeilichem Verhör. Ich möchte mich einfach nur mit ihnen
unterhalten. Das dürfte vollkommen ausreichen. Sie müssen mir
nichts erzählen, was sie nicht erzählen wollen. Ich bekomme es auch
so heraus. Aber sie sollte mich auf keinen Fall anlügen, denn das
kann verheerende Folgen haben. Bitte, fangen sie an, wo sie wollen“,
bat James seinen Gegenüber und vergaß für einen Moment sein
Streben nach einer Ordnung im Fluss der Informationen.
„Gesprächsthema Nummer eins
war ja wohl der Streit zwischen mir und Maria. Ich bin ihr Vater, da
gibt es nichts zu leugnen. Ich habe sie und ihre Mutter verlassen,
als sie vier Jahre alt war, wenn ich mich recht entsinne. Damals war
ich noch recht jung und hatte alle Aufstiegschancen vor mir. Ich sah
das Kind eher als Hindernis an, denn wenn ich einen guten Job suchen
wollte, und wenn ich ihn dann erst gefunden hätte, hätte ich kaum
noch Zeit mit Maria verbringen wollen. Das wollte ich ihr nicht
zumuten.“
„Nein, wie rücksichtsvoll“,
kommentierte der Butler ironisch. „Und dann sahen sie es als beste
Lösung an, sie ganz im Stich zu lassen? Welch seltsame
Entscheidung.“
„Aber sie hat zufrieden
gelebt, zwar in dem Wissen, dass da draußen irgendwo ihr Vater lebt,
aber sie hat mich nie vermisst. Sie war auch ohne mich immer
erfolgreich und beliebt. Erst als wir uns hier zufällig
wiedergetroffen haben, hat sie sich aufgeregt. Außerdem: Wenn ich
meinen Job hätte, dann wäre die ganze Erziehung an ihrer Mutter
hängen geblieben. Das konnte ich ihr nicht aufbürden. Ich wollte
nicht, dass sie zu sehr ausgelastet ist.“
„Stattdessen haben sie ihrem
Leben eine zusätzliche Leere gegeben. Sie sind ganz weg, haben sie
denn gar nicht an die Folgen davon gedacht? Das ist doch noch viel
schlimmer, als dass sie sich für ihren Beruf entschieden hätten.
Fräulein Maria war nun total mit dem Kind beschäftigt, wie hätte
sie da nebenbei noch einen Beruf ausüben können? Das war
rücksichtslos von ihnen.“
„Deswegen habe ich ja noch bis
zu Marias viertem Geburtstag gewartet“, erklärte der Anwalt.
„Dann, dachte ich, sei der schwerste Teil der Erziehung vorbei. Das
Kind schreit nicht mehr ständig nach Essen, wird nicht mehr
andauernd wach in der Nacht, muss nicht mehr ununterbrochen umsorgt
werden und so weiter.“
„Aber das Kind muss in die
Welt gebracht werden“, gab James zu bedenken. „Es braucht die
Liebe beider Elternteile, um sich entfalten zu können. Das war nicht
sehr klug von ihnen.“
„Danke. Was glauben sie, wie
oft ich diesen Satz schon hab hören müssen? Es reicht jetzt.“
„Ganz, wie sie wünschen. Es
ist nicht fair, auf einem Menschen, der zu Kreuze kriecht, noch
herumzutrampeln. Wir wechseln das Thema. Sie hatten eine
geschäftliche Beziehung mit Frau Schmidt, wie sie mir erzählte?“
Herr Fröhlich entsann sich
seiner Auseinandersetzung mit der Hausfrau und entgegnete
aufgebracht: „Glauben sie dieser Frau bloß nichts. Wir hatten vor,
die Brüder des Grafen zu vernehmen, um herauszufinden, was mit dem
Geld geschehen war. Aber es war in der Tat nichts damit passiert. Der
Graf hat es ausgegeben. So schnell, dass er dachte, seine Brüder
hätten es sich unter den Nagel gerissen. Das war aber nicht so.“
„Und warum meinten sie, ich
soll Frau Schmidt nicht glauben? Sie hat mir die gleiche Geschichte
erzählt“, antwortete der Butler freundlich, was bei Herrn Fröhlich
eine ungeheure Erleichterung auslöste. Er räusperte sich und trank
einen Schluck Whisky.
„Und hat sie ihnen noch etwas
erzählt?“
„Nicht viel“, sagte James
ausweichend, „wieso? Gibt es da etwas, das sie mir sagen möchten?“
„Nein, es war nur so ein
Gedanke.“
„Lassen wir das auf sich
beruhen. Kommen wir zum Mord. Seien sie bitte ehrlich: Hatten sie
eines oder mehrere Motive, den Grafen umzubringen?“
„Also, ich war schon sehr
sauer, als Maria hier plötzlich aufgetaucht ist. Es hätte so
friedlich bleiben können, aber dadurch hat er einen alten Streit neu
entfacht. Und dann ist da noch Frau Beul. Das wird ihnen nichts
sagen; sie ist eine meiner bekanntesten Klientinnen. Sie ist in
Berlin sehr berühmt, wenn ich es so sagen darf. Als Berühmtheit hat
man natürlich Neider und sollte sich rechtlich absichern. Jedenfalls
hatte sie einen Sorgerechtsfall an der Hand und ist deswegen zu mir
gekommen. Leider hatte ich jedoch wegen des Treffens keine Zeit für
den Fall. Frau Beul hat sich daraufhin vorgenommen, mich in der Stadt
zu diskreditieren. Ich hoffe, sie hat ihre Drohung nicht wahr
gemacht.“
James zeigte kein Mitgefühl:
„Tja, die Rache einer Frau kann schrecklich sein. Es wundert mich
nur, dass sie mir das so ganz aus freien Stücken erzählen! Bis
jetzt habe ich von niemandem hier die blanke Wahrheit gehört. Es ist
nur so, dass das, was fehlt, durch die anderen Aussagen ergänzt
wird.“
„Hä?“ Herr Fröhlich machte
keinen Hehl daraus, dass er von sämtlichen Gedankengängen des
Butlers nichts verstand.
„Das müssen sie nicht
verstehen, solange ich den Überblick behalte, was mir bei Gott nicht
einfach fällt. Wichtig ist nur, dass sie mir keine Lügen erzählt
haben. Ich denke, ich kann ihnen trauen.“
Herr Fröhlich atmete auf. Also
hatte Maria ihm die Belege nicht gezeigt.
„Es bleibt leider nur die
Tatsache, dass sie die Möglichkeit für den Mord hatten“, fuhr
James fort. „Genau wie die Anderen hätten sie zum Grafen gehen
können und ihn unauffällig erstechen können.“
„Das vergessen sie mal gleich
wieder. Ich war viel zu sehr auf mein Spiel konzentriert. Da konnte
ich nicht auch noch an Mord denken.“
„Oh, aber das war gar nicht so
schwierig. Der Mörder ging nach vorne, um sich ein Getränk zu
holen, sah die verräterischen Notizen, die der Graf gemacht hatte –
wie auch immer diese aussahen – und entschloss sich schnell, den
Brieföffner dem Zwecke zu entfremden. Da steckte keine große
Planung hinter.“
„Aber dann sollten sie mich
auch nicht nach meinen Motiv fragen. Warum ich den Grafen umbringen
wollte! Nach allem, was sie gesagt haben, ist es doch wichtig, warum
jemand Leonard umbringen wollte!“
„Das sehen sie ganz richtig,
Herr Fröhlich. Gut, dass sie mich daran erinnern. Das Problem ist
nur, dass keiner ein Motiv für den Mord an Leonard Maibusch hat.
Wohingegen alle die Komtess aus dem Weg räumen wollten, weil sie
eine schreckliche Person war. Aber reicht das als Motiv aus? Weil sie
eine unausstehliche Nervensäge war?“ fragte James. Nach einer
Pause sagte er nachdenklich: „Ich glaube nicht. Ich will es nicht
hoffen, denn sonst sind wir noch immer alle in Gefahr, weil ein
Verrückter uns nachstellt. Aber sehen sie doch: Allein für den Mord
an Graf Maibusch liegen so viele verschiedene Motive vor, dass ich
stark annehme, dass eines davon ausschlaggebend war.“
„Das klingt alles logisch.
Haben sie denn schon alle befragt, die an dem Abend da waren?“
„Es fehlt noch ihre Tochter,
Maria. Ich werde etwas später mit ihr reden.“
„Dann sprechen sie bitte
vorsichtig mit ihr. Sie ist heute wieder sehr gereizt. Es sollte mich
nicht wundern, wenn sie irgendwelchen Unsinn über mich erzählt, um
mich ins Gefängnis zu bringen.“
Gespielt mitleidig bedauerte der
Butler Herrn Fröhlich: „Ach, sie armer Mensch! Erst Frau Schmidt
und jetzt auch noch ihre eigene Tochter! Hat sich denn die ganze Welt
gegen sie verschworen?“ Dann wurde er wieder ernst und bitter. „Ich
habe mich in ihnen getäuscht. Auch sie enthalten mir wichtige
Informationen vor. Doch es ist jetzt zu spät. Ich werde mal wieder
hineingehen. Wenn nur bald der Regen nachlassen würde, er ruiniert
meine Sachen“, klagte James mit Blick auf seine schwarzen Slipper.
„Gehen sie schon“, konterte
Herr Fröhlich verächtlich. „Sie verstehen ja doch nichts von
meinen Problemen!“
Der Butler verließ den
Wintergarten und spannte seinen Schirm auf. „Oh doch“, murmelte
er, „ich verstehe mehr, als ihnen lieb ist.“ Und in Gedanken
versunken spazierte er zum Haus zurück.
Fräulein Maria wanderte den
unteren Flur im Ostflügel des Hauses entlang, als sie seltsame
Geräusche aus dem Schlafzimmer von Frau Schmidt hörte. Die Tür
stand offen, Licht schien auf den Gang. Maria spähte vorsichtig um
die Ecke und sah, wie Herr Hansen in den Schränken herumwühlte. Er
schien ziemlich in Eile zu sein; achtlos warf er die Sachen, die er
fand, hinter sich ins Zimmer.
„Ich kann einfach nichts
finden. Verdammt, ich war mir so sicher, dass sie sie hier versteckt
hat“, schnaufte er und kam aus dem Schrank hervorgekrochen.
Fräulein Maria setzte sich
ungeniert auf einen Stuhl und schlug ein Bein über das andere.
„Was suchen sie denn, um
Himmels Willen! Sie sind so hektisch.“
„Frau Schmidt hat hier
irgendwo die Pistole versteckt.“
„Welche Pistole?“ fragte
Maria.
Herr Hansen klärte die junge
Frau auf: „Na, die, mit der sie ihren Onkel umbringen wollte. Seien
sie doch nicht so naiv. Frau Schmidt ist eine hinterhältige Person.“
„Ach, sie schon wieder mit
ihrem Verfolgungswahn. Das kann einen wahnsinnig machen. Aber ich
kann ihre Neugier schüren“, versprach Maria. „Ich habe in meinem
Koffer das blutige Messer gefunden.“
„Nein! In ihrem Koffer?“
„Genau. Ich hoffe, sie können
damit etwas anfangen.“
„Das muss ich sofort James
erzählen“, rief Herr Hansen begeistert und wollte bereits
losstürmen, als Fräulein Maria ihn zurückhielt.
„Das lassen sie mal besser
schön bleiben. Schauen sie sich nur die Unordnung an, die sie hier
fabriziert haben. Frau Schmidt wird das bestimmt nicht gefallen. Sie
werden hängen, wenn sie das nicht aufräumen, glauben sie mir. Ich
werde mit James sprechen. Mich hat er noch gar nicht befragt. Es
kommt mir langsam so vor, als sei ich die letzte Person in diesem
Haus, für die man sich interessiert.“
Der Butler hatte den letzten
Satz gerade noch mitbekommen. Nachdem er aus dem Garten zurückgekehrt
war, hatte er in aller Eile die Hausschuhe des Grafen angezogen, um
die Teppiche nicht zu beschmutzen. Es sah sehr komisch aus, doch
dafür hatte James jetzt keine Zeit.
„Das tut mir Leid, Fräulein
Maria. Ich wollte sie in keiner Weise verletzen. Ich bin nur der
Meinung, dass sie mir den entscheidenden Hinweis geben können, und
da wollte ich doch erst die anderen hören, bevor ich mit ihnen
spreche“, entschuldigte er sich galant und erzielte damit die
gewünschte Wirkung. Peinlich berührt drehte Fräulein Maria sich
zum Butler um.
„Oh, das ist aber nett von
ihnen.“
Der Butler wandte sich an den
Gärtner.
„Herr Hansen, ich wäre ihnen
sehr dankbar, wenn sie für die Dauer des Gesprächs diesen Raum
verlassen würden. Überhaupt weiß ich nicht, was sie hier zu suchen
hatten. Wir vergessen das einfach. Machen sie sich keine Sorgen, ich
werde die Sachen nachher zurückräumen. Für diesen Moment
allerdings sollten sie verschwinden.“
Hochnäsig erwiderte Herr
Hansen: „Ganz, wie sie meinen. Aber ich muss ihnen eines sagen: Ich
wäre ihnen sicherlich eine große Hilfe. Mit mir würden sie die
Frist bis morgen Nachmittag garantiert einhalten. Sehen sie nur, wie
spät es schon ist“, sagte er und deutete auf das Fenster, durch
das man bereits die Abenddämmerung erkennen konnte. Dann verließ er
das Zimmer.
„Danke, Herr Hansen, ich werde
es auch ohne ihre Hilfe schaffen. Guten Tag!“ rief der Butler
bestimmt hinterher.
„Mussten sie denn gleich so
grob werden?“ fragte Maria.
„Das war leider nötig.“
James schloss die Tür und setzte sich auf Frau Schmidts Bett.
Fräulein Maria setzte sich ihm gegenüber. „Herr Hansen ist sehr
seltsam. Seitdem der Graf tot ist, legt er ein sehr merkwürdiges
Verhalten zu Tage. Er beschäftigt sich als Detektiv – meinetwegen
– aber er geht dabei sehr unkonventionell, ohne irgendeinen Plan
und leider auch nicht sehr tiefgründig vor. Ich hingegen hoffe,
meine Ermittlungen mit ihrer Aussage abschließen zu können. Wobei
ich vielleicht noch einmal in die Stadt fahren muss… doch beginnen
wir. Fräulein Maria, dass das klar ist: Sie sind die Tochter von
Herrn Fröhlich und die Nichte des Grafen. Die Komtess war somit…“
„Meine entfernte Großtante“,
ergänzte Maria. „Stimmt alles, was sie sagen.“
„Dann wollen wir mal. Wussten
sie, dass Graf Maibusch Herrn Fröhlich einladen würde?“
„Natürlich nicht, sonst wäre
ich wohl kaum so überrascht gewesen“, antwortete Maria entrüstet.
„Wusste denn ihr Onkel, dass
Herr Fröhlich ihr Vater ist?“
„Ich denke, er kann es gar
nicht gewusst haben. Mein Vater brüstete sich nicht damit, dass er
eine Tochter hatte oder damit, dass er mit meiner Mutter verheiratet
war. Ich glaube, er hat meinem Onkel nie davon erzählt.“
„Fröhlich ist sein richtiger
Name, oder?“
„Ja. Meine Mutter wollte
seinen Namen nicht annehmen, und sie haben sich darauf geeinigt, dass
ich den Namen meiner Mutter erhalte.“
„Maria Mahler. Dann ist also
Joachim Mahler ihr Großvater, der Onkel vom Grafen und der Vater von
Herrn Fröhlich?“
„Schwiegervater trifft es
eher. Aber warum fragen sie nach den ganzen Familienverhältnissen?
Der Mord ist, denke ich, viel wichtiger.“
„Das denke ich auch. Aber
solange ich nicht weiß, wer wer ist, kann ich nichts herausfinden.
Herr Hansen zum Beispiel hat ein dunkles Geheimnis, ich bin aber noch
nicht ganz dahintergekommen. Ich werde heute Nacht noch einmal die
Familienchronik wälzen und, wie schon gesagt, nachher einmal in die
Stadt fahren. Es gibt da einige Details, die entdeckt werden wollen.
Nun wüsste ich aber gerne, wie sie zu Herrn Flip stehen. Anfangs
haben sie ihn gar nicht beachtet, das wird jedem aufgefallen sein.
Sie waren zu sehr in Rage, aber inzwischen scheinen sie Freunde
geworden zu sein.“
Fräulein Maria geriet ins
Schwärmen. Verzückt blickte sie den Butler an.
„Das sehen sie ganz richtig.
Herr Flip ist sehr nett, und wenn es so etwas wie Liebe auf den
zweiten Blick gibt, dann soll es so sein. Finden sie denn nicht auch,
dass er aussieht wie ein junger Gott? So männlich…“
„Und sie, junge Dame, so
weiblich und aufreizend frech. Sie beide passen wirklich zusammen.
Dann sind sie ja wirklich verliebt?“
„Ein wenig schon. Aber
erzählen sie es bloß nicht weiter! Es soll noch ein Geheimnis
bleiben. Ich war schon so leichtsinnig und habe Frau Sauerlich davon
erzählt.“
„Wann haben sie denn mit Frau
Sauerlich gesprochen?“
„Ach… nun ja… das ist gar
nicht weiter wichtig. Wir haben über das Wetter gesprochen.
Schrecklich, nicht wahr? Es regnet schon den ganzen Tag. Ich hoffe,
morgen bei der Beerdigung wird das Wetter besser.“
„Moment, Fräulein Maria.
Seien sie bitte ehrlich. Worüber haben sie mit Frau Sauerlich
gesprochen?“
„Es nützt wohl nichts, sich
herauszureden?“ Fragend blickte Maria James an, der aber schüttelte
den Kopf. „Gut, dann sollen sie die Wahrheit hören, sie wissen eh,
dass ich unschuldig bin. Ich habe heute Mittag das Messer in meinem
Koffer gefunden, mit dem mein Onkel erstochen wurde. Das Blut klebte
noch daran.“
„In ihrem Koffer? War er denn
nicht verschlossen?“
„Nein. Wozu sollte ich meinen
Koffer abschließen, hier sind doch nur nette Menschen.“
„Und ein Mörder, vergessen
sie das nicht. Wenn also ihr Koffer unverschlossen war, ebenso wie
ihr Zimmer, dann hätte jeder das Messer hineinlegen können. Das
Messer kann auch als falsche Fährte dienen. Vielleicht will uns
jemand in die Irre führen? Es ist für mich untypisch, aber da es
mich in der Tat sehr verwirrt, möchte ich diese Angelegenheit außen
vor lassen. Stattdessen sollten wir mal zum Bridge-Abend kommen. Sie
haben zusammen mit Herrn Flip gespielt?“
„Ja. Das war auch gut so, denn
ich bin kein großer Spieler. Er dagegen kannte alle Tricks und hat
mich aus so mancher Gefahrensituation gerettet.“
„Wie oft sind sie zum
Getränketisch gegangen, um sich etwas zu trinken zu holen?“
„Zwei Mal, glaube ich. Wieso,
ist das wichtig?“
„Das ist ungeheuer wichtig.
Jemand hat seinen Durst als Vorwand gewählt, ihren Onkel zu
ermorden. Das können auch sie gewesen sein.“
Fräulein Maria blickte den
Butler erschrocken an. Hatte sie nicht eben noch gehofft, in ihm
einen guten Zuhörer gefunden zu haben? Einen, der sie in Schutz
nimmt?
„Aber… nein! Ich bin als
Letzte zum Tisch gegangen und habe mir ein Getränk geholt. Ich habe
noch mit ihm gesprochen, er lebte doch noch!“
„Nein! Da irren sie sich
gewaltig. Haben sie wirklich mit ihm gesprochen? War es nicht eher
so, dass sie ihn nicht stören wollten und daher gar keine Antwort
abwarteten? Sie gingen einfach los und holten sich ihr Getränk. Ihr
Onkel war zu der Zeit aber schon tot.“
„Ja, so könnte es gewesen
sein! Frau Sauerlich sah ihn dann und ich habe sie aus der Küche
geholt.“
„Moment“, unterbrach James.
„Das möchte ich ganz genau wissen. Frau Sauerlich hat geschrien.
Wie ging es weiter?“
„Wir anderen kamen sofort zu
ihr, ich als Letzte. Es war so schrecklich. Alles war voller Blut!
Und dann habe ich sie sofort aus der Küche geholt.“
„Hmmm. Dann kann es also nicht
zu der Zeit gewesen sein. Aber das kann nicht sein! Sie waren alle in
ihr Spiel vertieft, oder?“
„Ja.“
„Können sie mir sagen, wie
oft Frau Schmidt aufgestanden ist?“
„So spontan nicht.“
„Aha. Das heißt, es war ihnen
ganz egal, was in der vorderen Hälfte des Wohnzimmers vor sich ging.
Sie haben es gar nicht mitbekommen.“
„Natürlich nicht. Warum
hätten wir uns darum kümmern sollen? Erst, als Frau Sauerlich
geschrien hat, waren wir alle ganz bei der Sache.“
„Gut zu wissen. Nun denn, ich
muss mir ein Schema für die Ereignisse überlegen. Wollen sie mir
noch etwas sagen?“
„Allerdings. Sie werden
bestimmt schon von Frau Schmidt und Herrn Fröhlich gehört haben.“
„Ja, reichlich. Ich kann es
bald nicht mehr hören. Man erzählt mir so viel davon, ich glaube
fast, dass das alles nur als Ablenkungsmanöver dient.“
„Denken sie das nicht“,
sagte Fräulein Maria überlegen und suchte in ihrer Hosentasche nach
dem Zettel, den sie zuvor gefunden hatte. Sie faltete ihn auseinander
und gab ihn James. „Hier, lesen sie das und machen sie sich ihre
eigenen Gedanken.“
Ungläubig schaute der Butler
sich den Zettel von oben bis unten an. Immer wieder musste auch er
die Zeilen überfliegen. Dann faltete er ihn erneut zusammen und
steckte ihn ein.
„Dann ist ja alles klar! Ich
danke ihnen, Fräulein Maria. Morgen Mittag wird es einen Grund
geben, aufzuatmen, das verspreche ich ihnen!“
Zufrieden machte James sich
daran, den Schrank von Frau Schmidt einzuräumen. Er gähnte
unauffällig. Die Tage waren doch sehr lang gewesen. Aber so kurz vor
dem Ziel durfte nicht aufgegeben werden. Er nahm sich vor, etwas zu
essen, bevor er in die Stadt fuhr.
In der Küche saßen Frau
Schmidt, Frau Sauerlich, Herr Flip und Herr Fröhlich zum Abendessen
zusammen am Tisch.
„Was für ein unangenehmes
Wetter“, sagte der Anwalt, als es draußen blitzte und kurz darauf
der Donner niederging. „Das entspricht so ziemlich der Stimmung in
diesem Haus.“
Frau Schmidt reichte ihm eine
Scheibe Brot.
„Da kann ich ihnen nur Recht
geben. Aber vielleicht können wir uns ja noch wie zivilisierte
Menschen unterhalten.“
„Von mir aus gerne. Ich werde
dem nicht im Weg stehen“, sagte Frau Sauerlich, während sie in die
Runde blickte. „Darf ich mal ganz vorsichtig fragen, wer von ihnen
denn wohl dem armen Fräulein Maria ein Messer in den Koffer gelegt
hat?“
„Wer sollte denn so etwas tun!
Das ist doch taktlos. Unerhört, das Kind so zu erschrecken.“
„Da liegen sie richtig,
Schmitti“, rief Herr Flip und fing sich einen mahnenden Blick der
Hausfrau ein. „Ich war es ganz bestimmt nicht. Warum sollte ich das
tun? Wir sind gerade dabei, gute Freunde zu werden, da werde ich sie
doch nicht derart behandeln.“
„Das wäre ja noch schöner!
Aber, Herr Fröhlich, sagen sie doch mal was dazu. Wir haben nämlich
alle so einen kleinen Verdacht, was ihre Pläne mit Frau Schmidt
angeht. Kann es sein, dass der Graf ihnen im weg war? Haben sie ihn
deshalb ermordet? Und haben sie dann das Messer zu Fräulein Marias
Sachen gesteckt, um selber unschuldig zu erscheinen?“
„Frau Sauerlich, das ist
unerhört! Das sind doch bloß Unterstellungen. Und überhaupt, wer
sagt uns denn, dass Maria nicht selbst das Messer unter ihren Sachen
versteckt hat? Dann würde sie als armes Opfer dastehen, wir alle
hätten Mitleid und keiner käme auf die Idee, dass sie vielleicht
selbst ihren Onkel ermordet hat, weil er ihren Vater eingeladen hat.“
Herr Fröhlich atmete tief
durch. Dann konnte er sich nicht mehr beherrschen.
„Ich halte das alles nicht
mehr aus! Ich war es. Ich habe den Grafen ermordet“, brach es aus
ihm heraus.
In diesem Moment betrat der
Butler die Küche.
„Guten Abend!“
„Oder das, was davon noch
übrig ist“, kommentierte Frau Sauerlich sarkastisch. „Fahren sie
fort, Herr Fröhlich!“
„Was soll ich denn noch groß
erzählen? Ich habe Graf Maibusch beseitigt. Sie alle sind glücklich.
Soll ich doch der Einzige sein, der leidet.“
James schaltete sich ein: „Was
höre ich da, Herr Fröhlich, soll das ein Geständnis sein?“
„Und ob.“ Die Stimme des
Anwalts klang unendlich erschöpft. „Was soll ich groß sagen?
Während sie in ihrem Kartenspiel vertieft waren, habe ich ihn
getötet. Es war perfekt, schließlich hat keiner mich bemerkt.“
„Das hätte ich niemals von
ihnen gedacht.“
„Tja, das heißt, dass mein
Plan funktioniert hat. Ich habe die drei aus dem Weg geräumt. Kann
man mir einen Vorwurf machen?“ Eindringlich blickte Herr Fröhlich
einen nach dem anderen an, bis er bei James angekommen war. Der
blickte eiskalt zurück.
„Das hängt davon ab. Sagen
sie mir bitte nur eines: Warum?“
„Ist ihnen das nicht klar?
Haben sie denn gar nichts mitbekommen? Der Graf hat meine Tochter
eingeladen, ohne mich davon zu informieren. Dieses Wiedersehen hat
uns beiden nur geschadet. Und ich habe ihnen von Frau Beul erzählt!
Sie hat mich in der Stadt ruiniert. Ruiniert! Und das nur wegen
dieses dämlichen Treffens. Wäre ich nicht hierher gekommen, ich
hätte ein erfolgreicher Anwalt sein können. Aber der Graf hat alles
verdorben, und nun musste er dafür büßen. Ist ihnen das Motiv
genug?“ Trotzig schaute er den Butler an, doch der blieb ernst.
„Nein. Herr Fröhlich, für
die Rolle des Märtyrers sind sie ungeeignet. Sie haben mir ein Motiv
für den Mord an Graf Maibusch gegeben, aber davon gibt es so viele,
jeder hier hatte einen Grund, den Grafen zu töten. Aber warum hätten
sie Leonard Maibusch und die Komtess zu Bärenwald töten sollen?
Nein, mein Bester, dafür gibt es keinen Grund. Jedenfalls keinen
offensichtlichen, und solange sie mir dafür kein Motiv liefern
können, sind sie unschuldig. Das reicht noch lange nicht aus. Warum
geben sie zu, der Täter zu sein, wenn sie es doch gar nicht waren?
Wollen sie jemanden schützen? Das ging leider völlig daneben, denn
nun haben sie schlafende Hunde geweckt. Ich werde morgen in diesem
Haus, noch vor der Beerdigung einen Täter finden. Und das werden
gewiss nicht sie sein, Herr Fröhlich, es sei denn, ich kann in ihrer
dunklen Vergangenheit noch so viel Schmutzwäsche finden, dass ein
Mord nicht ausreichte. Aber bitte, ich wollte nicht unhöflich sein.
Ich ziehe mich jetzt zurück.“
Nach dieser eindrucksvollen Rede
nahm James sich eine Scheibe vom Brot und ging wieder. Die anderen
blieben fassungslos zurück. Herr Flip fand als Erster seine Sprache
wieder.
„Warum haben sie das erzählt,
Herr Fröhlich?“
„Weil ich nichts mehr wissen
will von dieser ganzen Angelegenheit. Ich kann nicht mehr, ist ihnen
das denn nicht klar? Mein Ruf ist ruiniert, von meiner Familie will
ich erst gar nicht sprechen.“
„Aber James hat Recht“,
sagte Frau Sauerlich. „Was ist mit Leonard und der Komtess? Sie
haben sie nicht umgebracht, oder?“
Frau Schmidt sagte entschieden:
„Herr Fröhlich hat niemanden umgebracht. Er hat für den Grafen
gearbeitet, genau wie ich. Wir haben zusammen im Namen des Grafen
Nachforschungen angestellt. Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass
alles nur ein Irrtum und das Familientreffen somit völlig
überflüssig war. Das wäre vielleicht ein Motiv für uns alle,
jemanden zu beseitigen, aber warum gerade Herr Fröhlich? So einfach
kann es nicht sein.“
„Es wäre vielleicht keine
schlechte Idee, wenn wir uns zur Ruhe legen. Dieser Fall liegt in
James´ Händen. Entweder, er löst ihn, oder er wird nie gelöst
werden. Auf die Polizei können wir uns nicht verlassen… ich
glaube, das wollen wir auch gar nicht. Durch solche Geständnisse
kommen wir nicht weiter, also sollten wir das lassen. Einfach nur
warten. Und das Beste daraus machen.“
„Sie sagen es, Frau
Sauerlich“, rief Herr Flip und ließ die Faust auf den Tisch
sausen, dass alle aufschreckten. „Wir sollten das Beste daraus
machen. Gerade deswegen werde ich mich jetzt nicht zur Ruhe begeben.
Ich muss mich ablenken, sonst versinke ich noch in Trübsal. Wer von
ihnen hat Lust auf ein Kartenspiel?“
Als der Vorschlag begeistert
einstimmig angenommen wurde, sagte Frau Schmidt: „Das ist eine
tolle Idee, Herr Flip. Ich hole die Karten.“
James blickte von außen durch
das Küchenfenster und sah, wie die Gruppe sich den Abend versüßte.
Er selbst hatte Stiefel und einen langen Mantel angezogen und machte
sich zu Fuß auf zur S-Bahn-Haltestelle. Langsam schritt er die
nächtliche Hauptstraße herab und ließ die Aussagen der
Verdächtigen noch einmal im Kopf kreisen. Falsches strich er,
Unwichtiges wurde beiseite gestellt. Abwesend trat er auch den
Bahnsteig von Birkenstein. Bis zum nächsten Zug waren es noch über
zwanzig Minuten, doch das kümmerte den Butler nicht. Angestrengt
starrte er auf den Boden und lief den gesamten Bahnsteig auf und ab.
Wie konnte der Graf nur ermordet worden sein? Eigentlich war es
unmöglich! Und langsam führte er sich die beiden anderen Unglücke
vor Augen. Die Komtess. Wie war es möglich, dass sie als einzige
vergiftet worden war? Es musste der Tee gewesen sein, aber es hatte
nichts sehen können, nichts riechen können. Das war auch unmöglich.
Oder?
Das Warten schien endlos.
Schließlich rollte der Zug ein. Um diese Zeit war er nicht mehr sehr
voll, jedenfalls nicht so weit außerhalb von Berlin. Die Innenstadt,
das war das Ziel des Butlers. Er setzte sich hinein und dachte weiter
nach. Der fehlende Schlaf machte sich bemerkbar, vor allem, da es im
Zug wunderbar warm und gemütlich war und draußen noch immer
regnete. Nur eine weitere Person saß in seinem Waggon. Eine junge
Frau, die mit einem grellen, gelben Kaugummi Blasen machte, welches
ihr pinkfarbenes, hautenges Kleid an Hässlichkeit kaum noch
übertreffen konnte…
Als James erwachte, stand die
S-Bahn in der Endstation. Spandau. Mit der U-Bahn ist es nicht mehr
weit, dachte der Butler. Ein paar wichtige Besuche standen noch an,
damit er morgen mit aller Gewissheit sprechen konnte. Einer nach dem
anderen wurde abgehakt, bis James kurz nach Mitternacht wieder die
Eingangshalle von Gut Trontstein betrat und erschöpft auf sein
Zimmer ging.
Herr Flip arbeitete noch etwas
Gel in seine Frisur ein. Damit war sein jugendliches Aussehen mal
wieder perfekt.
Der Tag war gekommen, die
Beerdigung auf dem Friedhof am Birkensee stand bevor. Entgegen allen
Hoffnungen regnete es noch immer. Keine Besserung in Sicht.
Herr Flip verließ sein Zimmer,
um etwas zu essen. Als er in die Küche kam, saßen dort bereits Frau
Schmidt, Herr Hansen und der Butler am Tisch und reichten eine große
Kanne Kaffee herum.
„Morgen“, grüßte Flip die
Anwesenden. „Oh, Frühstück! Das kann ich jetzt gut gebrauchen.
Wer war denn so freundlich und hat uns das auf den Tisch gezaubert?“
Frau Schmidt schaute auf.
„Mit Verlaub – es ist
vielleicht das letzte Mal, dass wir hier zusammensitzen. Ich kann sie
doch nicht mit leerem Magen in die Welt entlassen.“
„Ach ja! Heute können wir ja
endlich wieder gehen. Wann ist denn die Beerdigung?“
„Um dreizehn Uhr.“
Herr Flip blickte auf seine
Armbanduhr und sagte dann zum Butler: „Und jetzt ist es elf. Das
heißt, sie müssen den Fall lösen, James. Und das schnell, denn ich
will mich noch umziehen.“
James nickte.
„Richtig, Herr Flip. Ich habe
mir in der letzten Nacht meine Gedanken gemacht und bin zu einem
erschütternden Ergebnis gekommen.“
Bevor der Butler jedoch zu
weiteren Erklärungen ansetzen konnte, ertönte ein
markerschütternder Schrei aus der oberen Etage. Herr Flip sprang
aufgeregt von seinem Platz auf.
„Maria! Da muss etwas passiert
sein!“
In diesem Moment platzte Maria
außer Atem in die Küche.
„Frau Sauerlich! Sie… sie
ist tot!“ schrie sie und verlor das Bewusstsein.
Kapitel
8
„Nein! Das kann nicht sein!“
schrie Frau Schmidt entsetzt. Herr Flip lief zu Maria und wedelte ihr
Luft zu. Dem allgemeinen Schock entgegen blieb James völlig ruhig.
„Oh doch, Frau Schmidt. Es
kann sehr wohl sein. Damit ist das Werk des Mörders vollendet. Der
krönende Abschluss, wenn man es so will.“
Herr Hansen trat von der Seite
an den Butler heran und fragte ihn: „Haben sie etwa gewusst, dass
das passieren würde?“
James nickte.
„Ja. Es war vorherzusehen…
und doch unvermeidbar. Niemand hat verhindern können, dass auch noch
Frau Sauerlich Opfer des gnadenlosen Killers würde. Doch so grausam
es von mir auch sein mag – bevor ich hier einen Mörder überführe,
sollten sie sich für die Beerdigung umziehen. Ich erwarte, dass sie
alle kommen. Frau Schmidt, sie wecken bitte Herrn Fröhlich auf, die
Zeit wird knapp. Sie ziehen sich um und ich erwarte sie dann im
Salon!“
Der strenge Ton des Butlers
zeigte Wirkung. Die aufgelösten Anwesenden verließen die Küche,
Herr Flip kümmerte sich um Fräulein Maria, so dass zum letzten
Treffen im Salon schließlich alles bereit war.
Ungeduldig saßen die Gäste um
den großen Tisch im Salon und tuschelten. James war noch nicht
anwesend. Alle hatten sich so dezent wie möglich gekleidet,
schließlich war niemand auf einen solchen Anlass vorbereitet. Nur
Fräulein Maria saß in Rot in der Gruppe, doch dafür hatte im
Moment keiner ein Auge. Es wurde still. Der Butler betrat den Raum.
„Nun denn. Es ist an der Zeit,
ihnen Antworten zu geben. Antworten auf so viele ungeklärte Fragen,
Antworten zu den vielen Problemen, die uns hier beschäftigten. Doch
wir werden eines nach dem anderen behandeln. Im Hinterkopf behalten
wir jetzt die Frage: Wer hatte ein Motiv, Graf Maibusch umzubringen?
Die Antwort ist schrecklich einfach, denn jeder hätte den Grafen am
liebsten aus dem Weg geräumt. Beginnen wir mit Herrn Flip.“ James
deutete auf den jungen Mann.
„Sie waren ein guter Freund
des Grafen. Sie haben ihm einst das Leben gerettet und er hat sie
dafür als Erben eingesetzt, da er selbst keine Kinder hatte. Geld
ist natürlich immer ein Motiv, aber es trifft für sie nicht zu.
Warum sollten sie den Grafen erst jetzt erledigen, um an das Geld zu
gelangen? Das hätte schon viel früher erledigt werden können. Sie
hätten natürlich auch so raffiniert sein können und erst Leonard
Maibusch um die Ecke bringen können. Dadurch ist nämlich das
Vermögen des Grafen sogar noch um ein kleines Stück gewachsen. Oder
aber sie sahen den Mord an Graf Maibusch als einzigen Ausweg aus der
finanziellen Misere, in der der Graf sich befand. Er war immer etwas
zügellos mit dem Geld und sie mussten nun mit ansehen, wie der
Reibach, den sie eines Tages erhalten würden, sich langsam in Nichts
auflöste. Also stoppten sie den Grafen, bevor alles zu spät war.
Vielleicht.
Andererseits ist aber auch die
aufkommende Sympathie zu Fräulein Maria nicht zu übersehen.
Vielleicht wollten sie ihr einen Gefallen tun, denn auch sie hatte
genügend Grund, ihren Onkel aus der Welt zu wünschen. Schließlich
hatte er es zugelassen, dass sie“, wobei er auf Maria deutete,
„ihren Vater wiedertrafen. Er hatte sie verlassen, als sie vier
Jahre alt waren. Ein schreckliches, aus Herrn Fröhlichs Sicht aber
zumindest teils verständliches Verbrechen. Was nicht heißen soll,
dass es jemals entschuldbar wäre, Gott bewahre!
Das war nicht die einzige Sorge
von Herrn Fröhlich. Wie wir alle wissen, ist – oder besser: war
Herr Fröhlich ein sehr angesehener Anwalt. Bekannt sind sie ja
schließlich immer noch. Eine gewisse Frau Beul drohte, seinen Ruf zu
ruinieren, wenn er an dem Familientreffen teilnehmen und daher ihren
Fall verschieben würde. Sie hat ihre Drohung wahr gemacht. Grund
genug, den Grafen zu töten? Vielleicht. Außerdem hat Herr Fröhlich
ja noch diesen kleinen Deal mit Frau Schmidt gehabt. Doch darauf
möchte ich später zurückkommen. Motive hatten also alle. Aber
hatten sie auch alle die Gelegenheit, den Grafen aus dem Weg zu
räumen? Nein.
Herr Hansen hat mit mir in der
Küche Karten gespielt. Er kann Graf Maibusch also nicht erstochen
haben, ich hoffe, niemand bezweifelt das. Leider waren die
Kartenspieler im Salon so sehr in ihr Spiel vertieft, dass niemand
darauf geachtet hat, als der Mörder zum Getränketisch ging. Es war
ja auch selbstverständlich, dass man mal Durst hatte, also nichts
Ungewöhnliches. Tja, aber der Mörder hat eine Notiz auf dem
Schreibtisch gesehen. So haben Frau Schmidt und ich mir das
jedenfalls ausgedacht. Graf Maibusch entwickelte ein
Langzeitgedächtnis. Das heißt, er konnte sich an Dinge aus seiner
Jugend erinnern, gerade gelesene Sätze vergaß er aber oft wieder.
Das tritt mit dem Alter häufig auf, auch ich hatte manchmal meine
Probleme damit, habe aber erfolgreich dagegen ankämpfen können.
Jedenfalls vermuteten Frau Schmidt und ich, dass der Graf seine
Gedanken über den Mörder auf einen Zettel vor sich aufgeschrieben
hatte. Der Mörder sah diesen Zettel und bemerkte, dass er handeln
musste. Er bediente sich des Brieföffners und stach zu. So war es
nicht ganz. Es gab keine Notiz auf dem Schreibtisch“, sagte er zur
Hausfrau. „Klar, es war keine vorhanden, aber die hätte der Mörder
ja eingesteckt haben können. In Wirklichkeit war es so, dass es nie
einen Zettel gab, auf dem vielleicht verräterische Hinweise standen.
Jetzt müssen wir zwischen drei
Typen von Verbrechen unterscheiden: Es gibt lange geplante und
sorgfältig vorbereitete Verbrechen, es gibt Kurzschlusshandlungen,
zum Beispiel aus Notwehr, und es gibt notdürftig und auf die
Schnelle vorbereitete Verbrechen. Eine Kurzschlussreaktion muss in
diesem Fall ausgeschlossen werden. Es gab nie einen Zettel mit
Notizen, auf die der Täter reagiert haben könnte, sie werden schon
noch sehen, wie ich darauf komme. Wäre der Mord von langer Hand
geplant gewesen, warum dann erst die Morde an Leonard und der
Komtess? Nein, genau wie bei dem Mord an der Komtess muss etwas bei
den beiden vorherigen Taten passiert sein. Der Mörder hat sich dann
schnell einen Plan ausgedacht, seine Chance ergriffen und den Grafen
getötet, vielleicht, weil er etwas gesehen hat. Also war auch der
Mord an Graf Maibusch am Ende eine Folge des Verbrechens an seinem
Bruder Leonard. Jeder hatte ein Motiv, den Grafen umzubringen. Ein
Motiv für den Mord an Leonard Maibusch hatte aber nur einer. Mit
dieser Erkenntnis begann ich gestern Abend, den Fall noch einmal
komplett neu zu durchdenken. Ich habe angefangen bei der Stelle, als
ich mich auf die Anzeige für den Butler gemeldet habe. Naja“,
fügte er hinzu, „Eigentlich hat es noch früher angefangen,
nämlich als Herr Fröhlich den Grafen betrogen hat. Das war der
Anfang allen Unheils.“ Die Anderen blickten Herrn Fröhlich an, der
schaute peinlich berührt zu Boden, während James sich kurz
räusperte, um dann fortzufahren.
„Als der Vater des Grafen bei
einem Schiffsunglück scheinbar umgekommen war, ging das Erbe zu
gleichen Teilen an seine Söhne. Herr Fröhlich hat sofort seine
Chance gesehen und einen nicht unbeträchtlichen Teil des Geldes
entwendet. Leider hat Frau Schmidt von der Sache Wind bekommen, um es
salopp zu formulieren“, sagte der Butler und wandte sich an die
Hausfrau.
„Und dann waren sie so gierig
und haben Herrn Fröhlich erpresst. Sie würden alles an die
Öffentlichkeit bringen, wenn er ihnen nicht ein hübsches Sümmchen
bezahlte. Der Deal war kurz darauf abgeschlossen und die Sache
begraben. Scheinbar, denn der Graf wunderte sich schon über das
verschwundene Geld, fand aber eine ganz andere Erklärung: Einer
seiner Brüder habe sich das Geld gekrallt. Wahrscheinlich Friedrich,
denn ihn konnte der Graf noch nie so richtig leiden, wie er uns allen
deutlich vor Augen führte. Er musste den Brüdern irgendwie auf den
Zahn fühlen. Damit das nicht so auffällig erschien, machte er aus
der Sache ein Familientreffen.
Alle sollten sie kommen und als
Maskerade für seinen Plan dastehen. Nur Herr Fröhlich und dann noch
Frau Schmidt waren vom Unterfangen des Grafen unterrichtet. Sie sahen
in diesem Treffen natürlich eine Gefahr für ihr Vermögen! Es hätte
leicht auffliegen können. Etwas musste unternommen werden. Es war
also eine ganz offensichtliche Möglichkeit, einen der Brüder
umzubringen und ihm die Schuld für all das fehlende Geld in die
Schuhe zu schieben. Doch es kam ganz anders.
Herr Hansen und Frau Braunfeld
machten einen Spaziergang. Leonard Maibusch winkte den beiden zum
Abschied, als er im Vorbau stand. Der Mörder stand hinter ihm in der
Eingangshalle und sah seine Chance. Langsam schlich er sich
hinterrücks an. Was wohl keiner für möglich gehalten hätte: Es
war Graf Maibusch höchstpersönlich!“
Ein großes Entsetzen ging durch
die Gruppe. Frau Schmidt empörte sich: „Aber das können sie doch
nicht einfach so behaupten! Was ist das für ein Unsinn! Warum sollte
Graf Henry seinen geliebten Bruder umbringen?“
James blieb ruhig: „Oh, das
wollte er gar nicht. Sein Plan war, Friedrich zu erledigen. Er war
fest davon überzeugt, dass Friedrich sein Vermögen gestohlen hatte,
und dafür sollte er nun büßen. Ihnen allen dürfte wohl entgangen
sein, dass das bereits der zweite Anschlag auf Friedrichs Leben war.
Der erste ist ganz unauffällig
untergegangen und zeugte dennoch von der kühlen Berechnung des
Grafen. Nachdem Friedrich zum Treffen angekommen war, bot sich Graf
Maibusch an, die Getränke zu holen. Sie erinnern sich, dass er dafür
ziemlich lange gebraucht hatte. Ich habe mir außerdem seine
Fußabdrücke im Flur angeschaut: Offensichtlich war er in seiner
Abwesenheit draußen gewesen. Als ich dann auch noch einen aktuellen
Kontoauszug des Grafen und eine Rechnung der hiesigen Gärtnerei
gesehen habe, war alles offensichtlich.
Herrn Hansen war freie Hand beim
Sanieren des Gartens und des Parks gelassen. Ich habe gesehen, wie er
sogar einen jungen Baum in den Park pflanzte, mangelnde Mühe darf
ihm nicht vorgeworfen werden. Dieser Baum war ein Muskatnussbaum, wie
es auf der Rechnung des Grafen niedergeschrieben steht. Im Gegensatz
zu den übrigen Pflanzen war dieser Baum vom Grafen selbst in Auftrag
gegeben. Ich gebe zu, dass ich nicht weiß, warum der Graf zu jenem
Zeitpunkt bereits diesen Baum haben wollte, beim Empfang jedoch hat
er guten Gebrauch davon machen können.
Wir alle kennen Muskatnuss als
wunderbares Gewürz in der Küche. Wir wissen vielleicht nicht, dass
Muskatnuss giftig ist, besonders ein Extrakt aus den Früchten.
Nachdem Graf Maibusch sich in die Küche verabschiedet hatte, lief er
in Windeseile in den Park und besorgte sich ein paar dieser
Muskatnüsse. So gut es ging, zerkleinerte und zermörserte er sie
und strich die gewonnene ölige Substanz auf den Boden eines der
Champagnergläser. Diese Substanz kann tödlich sein. Was der Graf
nicht wusste: In einer derartig kleinen Menge würde der Tod noch
nicht eintreten, höchstens bei kleinen Kindern. Der Champagner wurde
einfach darüber gegossen. Sie erinnern sich auch sicher, dass eines
der Gläser besonders weit vorne auf dem Tablett stand und dass der
Graf das erste Glas seinem Bruder Friedrich gönnen wollte? Friedrich
sollte vergiftet werden, doch Frau Sauerlich stürzte sich ungehalten
auf das erste Glas und trank es in einem Zug aus. Sie hatte nun das
Gift geschluckt. Die Auswirkungen zeigten sich später im
Kinderzimmer, als Frau Sauerlich ohnmächtig wurde und
Halluzinationen durchlebte in Folge dieser Vergiftung. Damit hatte
sie es dann aber überstanden.
Stellen sie sich den Grafen vor,
wie er erschrocken mit ansehen musste, wie seine Freundin das für
Friedrich bestimmte Glas nahm! Dieser Versuch war schiefgegangen,
also musste Graf Maibusch zu drastischeren Methoden greifen.
Erschlagen war zum Beispiel eine wirksame Methode. Leider trugen
Friedrich und Leonard an diesem Tag sehr ähnliche Kleidung und
Leonard hatte Friedrichs grünen Pullover um die Schultern bewickelt.
Erinnern sie sich, Herr Hansen? Sie dachten zuerst, es sei Friedrich,
der ermordet wurde. Der Graf hat seinen eigenen Bruder verwechselt
und Leonard Maibusch musste für diesen Fehler mit dem Leben
bezahlen. Der zweite Anschlag war nun ebenfalls daneben gegangen, und
als müsste es noch schlimmer kommen, hat seine Tante, die Komtess,
ihn dabei beobachtet. Sie selbst warnte den Grafen durch nebulöse
Andeutungen vor ihrem Wissen. Der Graf ahnte, dass sie nur gegen Geld
schweigen würde. Nun denken sie bestimmt, dass eine Komtess es nicht
nötig haben sollte, durch Erpressung an Geld zu kommen, doch gehörte
die Komtess zu Bärenwald der Gruppe des verarmten Landadels an. Der
Titel war vorhanden, doch das Vermögen längst zunichte.
Der Graf suchte also einen
Ausweg, um sie für immer zum Schweigen zu bringen. Er schenkte ihr
bei Kaffee und Kuchen ein Getränk ein, unter das er noch etwas
Blausäure gemischt hat. Die einfachste Erklärung für den Mord an
der Komtess war gleichzeitig die Richtige, aber das wollte hier
keiner wahrhaben, was ich niemandem übel nehmen kann. Woher hatte
der Graf Blausäure? Das weiß ich leider nicht. Dennoch muss es
diese gewesen sein. Ich sagte, ich könne keine Spuren von Gift im
Getränk erkennen. Das ist darauf zurückzuführen, dass Blausäure
stark nach Bittermandel riecht. Frau Schmidt wird mir bestätigen
können, dass Bittermandelaroma oft beim Backen verwendet wird und
ein wenig wie Marzipan riecht.“ Frau Schmidt nickte. „Dann ist es
nicht verwunderlich“, fuhr der Butler fort, „dass beim dem Duft
der zum Teil noch warmen Kuchen das Aroma von Bittermandel nicht
auffällig erscheinen dürfte. Einzig zu bemerken ist, dass Blausäure
einen bitteren Geschmack hinterlässt. Ich frage mich, dass die
Komtess beim Genuss ihres Tees nicht auf den strengen Geschmack
hingewiesen hat. Das kann natürlich aber auch mit der
Zubereitungsweise des Tees im Zusammenhang stehen. In jedem Falle
hätte es ihr nichts genützt. Geradezu gierig hat sie den Tee
ausgetrunken. Ich habe mich gestern Nacht mit der Giftzentrale in
Berlin in Verbindung gesetzt. Dort wurde mir mitgeteilt, dass
Blausäure bereits ab einem Zwanzigstelgramm tödlich wirkt und bei
einer größeren Menge der Tod bereits innerhalb von zwei bis drei
Minuten eintritt. Jede Hilfe wäre zu spät gekommen, die Komtess war
tot.
Zurück zu Graf Maibusch, der
nun in arger Bedrängnis war. Friedrich war noch immer am Leben. Graf
Maibusch war es egal, was er nun noch alles tun müsste, er würde
auf jeden Fall auch noch Friedrich ermorden, um wieder klare
Verhältnisse in die Familie zu bringen. Ein schrecklicher
Widerspruch. Während also alle mit dem Bridgespiel beschäftigt
waren, setzte sich Graf Maibusch an den Schreibtisch und überlegte
sich einen Plan, wie er seinen ungeliebten Bruder aus der Welt
schaffen konnte. Dann jedoch wurden seine Pläne jäh durchkreuzt. Er
wurde selbst umgebracht. Von Frau Sauerlich.“ Um den Fragen
vorzubeugen, ließ James der aufs Neue entsetzten Gruppe keine
Gelegenheit zum Durchatmen.
„Frau Sauerlich hatte die
Gelegenheit dazu. Alle waren nach eigenem Bekunden während des
Bridgespiels total abgelenkt. Es wäre also niemandem etwas
aufgefallen. Doch der Mord geschah erst, als der Graf scheinbar schon
tot war! Fräulein Maria erweckte den Verdacht, als sei der Graf
eingeschlafen, und Frau Sauerlich ergriff die Gelegenheit, um nach
vorne zu gehen. Dort schnappte sie sich schnell den Brieföffner und
erstach Graf Maibusch. Sie ließ die Waffe in seiner Brust stecken.
Nun müssen sie wissen, dass bei einer solchen Verletzung das Blut
nicht wie wild trieft. Die Klinge verstopft den Ausgang und das Blut
kann sich nur langsam um die Wunde verteilen. Damit also der Eindruck
erweckt wurde, dass der Mord schon früher geschah, bediente Frau
Sauerlich sich der roten Tinte auf dem Schreibtisch, indem sie sie
kunstvoll um die Stichwunde herum verteilte. Dann erst hat sie
geschrien. Sie alle haben gar nicht bemerkt, dass da ein längerer
Zeitraum dazwischen war.
Jedenfalls kamen alle angelaufen
und Fräulein Maria hat uns aus der Küche hinzugeholt. Und wieder
haben alle bekundet, dass alles voller Blut war. Schön, schön, aber
es war nur rote Tinte. Frau Sauerlich hat einen Fehler beim Verteilen
der Tinte gemacht, was daran lag, dass sie sehr in Eile war. Egal,
wie sie den Grafen erstochen hat, das Blut kann nicht in diesen
kleinen Klecksen so weit oberhalb der Wunde aufgetreten sein. Sie hat
ein wenig zu sehr Picasso gespielt. Dennoch gibt es ein Kompliment
für ihre starken Nerven, denn das alles musste ziemlich schnell
geschehen. Das Interessanteste ist jedoch das Motiv, aus dem Frau
Sauerlich gehandelt hat.
Sie ist hinter den Plan des
Grafen gekommen. Sie hat herausgefunden, dass er es war, der Leonard
und die Komtess ermordet hat. Und sie hat auch vermutet, dass der
Graf keine Ruhe geben würde, ehe auch der andere Bruder beseitigt
war. Daher wollte sie das Schlimmste verhindern.“
Gerührt sagte Fräulein Maria:
„Und dafür hat sie sich selbst geopfert. Wie romantisch!“
„Ganz so war es nun auch
wieder nicht“, erwiderte James freundlich. „Frau Sauerlich
wusste, dass sie sterben würde. Ich habe mit ihren Bekannten
gesprochen. Sie litt an einem unheilbaren Gehirntumor; die Ärzte
gaben ihr höchstens noch ein halbes Jahr. Sie erinnern sich bestimmt
noch an Frau Sauerlichs Schwindelanfälle? Das sind Symptome eines
solchen Tumors. Er saß bei Frau Sauerlich an einer Stelle, an der er
nicht mehr operiert werden konnte. Frau Sauerlich wusste das, daher
machte es ihr nichts aus, den Grafen zu ermorden und vielleicht bis
zu ihrem Tode im Gefängnis sitzen zu müssen, Die Hauptsache für
sie war, dass sie einen Menschen, nämlich Friedrich, gerettet
hatte.“ James machte eine lange Pause.
„Tja, und damit wäre der Fall
gelöst. Aber bitte, es gibt noch ein paar Kleinigkeiten zu sagen,
bevor wir zu Beerdigung gehen. Beginnen wir mit dem Betrug von Herrn
Fröhlich. Es gab damals einen Beleg für diese Schwindelei, der
leider gut versteckt war. Herr Fröhlich hätte sich leicht
herausreden können, wenn der Wisch nie entdeckt worden wäre. Er hat
versucht, mir weiszumachen, der Graf habe das Geld selber ausgegeben.
Ich hätte nie das Gegenteil beweisen können, wenn nicht Fräulein
Maria gestern noch diese Rechnungen hier gefunden hätte.“ James
ging zum Schreibtisch und holte die Quittungen aus der Schublade. Er
legte sie für alle sichtbar auf den großen Tisch.
„Sie belegen ihren Betrug,
Herr Fröhlich. Dann kommen wir zu Herrn Hansen.“ Scharf blickte er
den Gärtner an. „Sie sind scheinbar das Unschuldslamm in dieser
Angelegenheit. Sie sagen wenig und tun noch weniger. Aber dennoch kam
der Verdacht auf, dass sie ein falsches Spiel treiben. Und dieser
Verdacht hat sich als wahr erwiesen. Sie, Herr Hansen, sind in
Wahrheit der verschollene Vater von Graf Maibusch.“
Ein weiteres Mal war es an den
Gästen, tief durchzuatmen.
„Jaja, schauen sie nicht so
entsetzt. Das Schiffsunglück war fingiert. Ich war in der letzten
Nacht nicht untätig, habe mich mit Polizei und Berliner Meldeamt
sowie Zeitung und Chronisten auseinandergesetzt. Es ist die Wahrheit.
Nachdem er von der Bildfläche verschwunden war, hat Herr Hansen
genau beobachtet, ob die Brüder gerecht mit seinem Geld umgehen. Das
war eine kluge Idee von Herrn Hansen, denn sie taten es nicht. Sie
stritten sich um das Erbe, bis endlich ein Anwalt, nämlich Herr
Fröhlich hinzugeholt wurde. Danach tauchte Herr Hansen unter,
verdiente sich als Gärtner. Als er nun diese Gelegenheit sah, bei
dem Familientreffen seine Söhne wiederzusehen, nahm er sofort das
Angebot des Grafen an.“ James blickte zum alten Gärtner, der auf
den Tisch starrte.
„Es tut mir Leid, dass sich
mit ihren Söhnen alles so entwickelt hat. Sie haben nur noch einen
Sohn, bitte sagen sie ihm, dass sein Vater noch lebt. Er hat sonst
niemanden mehr.“ Herr Hansen brach sein bitteres Schweigen nicht.
„Das bringt mich nochmals zu
Frau Sauerlich. Sie hatte eine Vision. Sie alle haben sie für
verrückt gehalten, dabei war die Vision kein Unsinn. Der Graf meinte
darin, dass Herr Hansen ihm so bekannt vorkäme… kein Wunder, wenn
es der eigenen Vater ist. Und sie hat gesehen, dass Leonard ermordet
werden würde. Also hat sich ihre Vision bewahrheitet, aber das kann
natürlich nicht zu den Ermittlungen herangezogen werden.“
Fräulein Maria fragte eifrig:
„Aber was ist mit dem Messer in meinem Koffer? Hat Frau Sauerlich
es dort hinein gelegt?“
„Aber natürlich!“
antwortete James. „Und dann spielte sie die große Beschützerin,
so dass der Verdacht sofort von ihr abgelenkt wurde. Ach, es war nur
ein kleines Spielchen, um alle zu verwirren und ihnen Angst
einzujagen, nichts weiter.“
Es war an der zeit für Herrn
Hansen, eine Frage zu stellen: „Was ich jetzt aber noch wissen
möchte: Was hatte das Gespräch zwischen Frau Schmidt und Herrn
Fröhlich mit der Pistole zu bedeuten?“
Der Butler bedachte Herrn
Fröhlich mit einem spitzen Blick, während er bereitwillig
antwortete: „Können sie sich das nicht vorstellen? Die beiden
mussten aus der Zwickmühle raus, bevor beim Familientreffen ihr
Spiel vielleicht aufgeflogen wäre. Also schlug der eine dem anderen
vor, den Grafen zu vernichten und dann irgendwelche Geschichten zu
erzählen.“
Frau Schmidt wollte die
Aufmerksamkeit auf andere Dinge lenken und sagte: „Nun gut. Ich
habe am Tag des Familientreffens mal wieder das Bett des Grafen
gemacht. Im Kopfkissen habe ich eine Kugel gefunden! Jemand muss in
der Nacht auf ihn geschossen haben, aber wer?“
James verschränkte die Arme und
sah die Hausfrau ärgerlich an.
„Frau Schmidt, nun versuchen
sie doch nicht, sich rauszureden. Am Abend vorher haben sie uns ein
wunderbares Essen gekocht, aber mit einer ganz besonderen Würze,
denn sie haben Schlafmittel hineingegeben. Das garantierte, dass
niemand aufwachen würde, wenn sie den Grafen erschossen. Tja, aber
sie haben daneben geschossen.“
„Mist, jetzt ist eh alles
aufgeflogen“, keifte sie patzig.
„Dann möchte ich zu einem
Schlusswort kommen“, sagte James ernst. „Graf Maibusch hat also
seinen Bruder Leonard und seine Tante Gladiola zu Bärenwald
ermordet, Frau Sauerlich tötete dann aus guten Motiven den Grafen
und ging an ihrem Hirntumor zugrunde. Es passt alles ganz wunderbar.
Aber sie alle haben sehr interessante Dinge in den Gesprächen mit
mir von sich gegeben. Das heißt, das Interessante war gar nicht, was
sie mir gesagt haben, sondern was sie mir taktvoll verschwiegen
haben. Herr Flip, sie haben ihren Verdacht gegenüber Herrn Hansen
ausgelassen. Frau Sauerlich hat überhaupt nicht die Angelegenheit
mit der Vase erwähnt, genauso wenig wie ihren Streit mit Frau
Schmidt im Badezimmer damals. Das war ja nicht zu überhören. Herr
Fröhlich, ich dachte zuerst, dass zumindest sie mir die Wahrheit
erzählt haben, aber sie haben natürlich die Sache mit dem Betrug
verschwiegen. Fräulein Maria war die Einzige, die ehrlich zu mir war
und alles erzählt hat.“
„Aber es ist doch keine Lüge,
wenn man etwas nicht erzählt“, klagte Herr Fröhlich.
„Es mag keine Lüge sein, aber
es ist ein Hintertürchen. Und das ist oft noch viel schlimmer als
die Lüge selbst“, schloss der Butler bitter, bevor er sich zum
Ausgang wandte. „Gehen wir!“
„Nie werden wir die Wege des
Herren ergründen können, der uns diese Menschen, unsere geliebten
Freunde, Mitmenschen, unsere Familie entrissen hat. Kann eine Schuld
so schlimm sein, dass sie nicht in Vergebung aufgelöst werden kann?
War es nicht möglich, diese Menschen in Frieden gehen zu lassen? Die
Beantwortung dieser Frage ist nicht in unsere Hände gelegt. Leonard
Maibusch, du hast leiden müssen. Wie in der Bibel Abel von Kain
erschlagen wurde, so hat dein Bruder keinen Ausweg aus seiner Misere
gesehen, als dich zum Opfer seines Neides zu machen. Gladiola zu
Bärenwald, du wirst, wo auch immer du jetzt sein magst, wieder auf
uns herabschauen und wohl abfällig lachen ob unseres schlechten
Geschmacks. Wir werden dich vermissen. Du, Henry Maibusch, gehst
nicht frei von Schuld von uns. Wir alle mögen beten, dass dir die
Tore in das Himmelreich offen stehen und der Herr dir Läuterung
geben möge. Josephine Sauerlich. Die Wege des Herrn sind
unergründlich, wie ich sagte. Was hast du anderen getan, dass der
Herr Gott dich mit einer unheilbaren Krankheit strafte? Wir wissen
darauf keine Antwort. Hiob bemühte sich redlich, ein guter Mensch zu
sein und wurde von Gott auf die Probe gestellt. Schlimmste Qualen
musste er ertragen, doch er gab nie das Streben auf. Wer weiß,
Josephine, ob du nun endlich das Glück erreicht hast, für das du
gekämpft hast. Wir übergeben euch nun der Erde, wie der Herr Gott
euch erschaffen hat. Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub.“
Der Pastor schloss seine Bibel
und streute Sand aus dem dafür vorgesehenen Behälter auf die
Gräber. Unter den schwarzen Regenschirmen schluchzten einige der
Anwesenden. Fräulein Maria trug den schwarzen Mantel ihres Onkels,
um nicht aufzufallen. Auch ihr fiel es schwer, die Tränen
zurückzuhalten.
Als der Pfarrer das letzte Grab
segnete, brach unvermittelt trotz leichten Regens die Sonne durch
einen Spalt in den Wolken und erleuchtete den kleinen Friedhof mitten
im Wald. Nach und nach schwächte der Regen ab. Nach dem Segen für
die Gemeinde konnte James seinen Regenschirm schließen. Er ging
langsam und nachdenklich den Sandweg von den Gräbern zu Straße
hinunter. Die Sonnenstrahlen wurden von den unzähligen Tropen in den
Bäumen reflektiert. Es wurde hell, als wären nun alle von einem
Fluch erlöst worden.
„Dieser Fall ist gelöst. Ich
denke, alle sind froh, wieder ihre Freiheit zu haben. Zumindest fast
alle. Frau Schmidt und Herr Fröhlich dürfen eine kleine Strafe
absitzen, das muss sein. Herr Hansen wird wieder untertauchen. Das
glaube ich zumindest. Vorher wird er aber noch mit Friedrich
sprechen. Er ist der einzige Sohn, den er noch hat. Es muss ihn viel
Kraft gekostet haben, die Ereignisse auf Gut Trontstein zu
überstehen. Herr Flip und Fräulein Maria… da könnte noch etwas
draus werden. Die beiden sind sich sehr sympathisch. Ich wünsche
ihnen alles Gute. Was allerdings zwischen Fräulein Maria und ihrem
Vater, Herrn Fröhlich, laufen wird, das kann ich nicht sagen. Herr
Fröhlich hat sie und ihre Mutter so schändlich im Stich gelassen,
ich weiß nicht, ob man so eine Schuld durch ein Gespräch tilgen
kann. Es wird das Beste sein, wenn die beiden sich nicht wiedersehen.
Was mich betrifft… sollte es einen neuen Grafen auf Gut Trontstein
geben, werde ich auch weiter als Butler dort arbeiten. Der Schatten
über Birkenstein hat sich für immer verzogen.“ Zufrieden blickte
James über den Birkensee, auf dem sich das Licht in allen Farben
schillernd widerspiegelte. Der Schatten hat sich verzogen.
Ende
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