Ich muss normal sein! (kommt mir irgendwie bekannt vor...) |
Erkenntnismomente gehen bei mir oft damit einher, dass ich Tränen in den Augen habe, zum Beispiel wenn ich etwas lese oder sehe, was mir aus meinem eigenen Verhalten sehr bekannt vorkommt, bis dato aber einfach als "ich bin komisch"-Tick abgehakt wurde. Heute habe ich einen Artikel gelesen, der mich sehr verstört hat, denn es geht um eine Therapieform aus den frühen Sechzigern, die zur Konditionierung von Autisten und letztlich zum Löschen von autistischen Verhaltensweisen führen soll. Wir werden um einige Jahre zurückgeworfen in das Zeitalter des Behaviorismus.
Diese Therapieform nennt sich Applied Behavior Analysis (ABA). Am Ende dieses Beitrags findet Ihr den Link zu dem Artikel, und für jeden, der sich mit Autismus auseinandersetzt, ist das eine interessante Lektüre. Die Autorin kommentiert ABA sehr kritisch, und das habe ich als erleichternd empfunden, denn die ABA-Ansätze sind sehr verstörend. Allein schon das Ziel, Autisten zu "normalisieren", ist fragwürdig, und noch fragwürdiger ist der Umstand, dass Autismusverbände ABA ausdrücklich gelobt haben und dass die Aktion Mensch das Projekt mit hohen Geldsummen gefördert hat. Ist es denn tatsächlich so toll?
Besonders schlimm finde ich folgendes Statement:
You have a person in the physical sense - they have hair, a nose and a mouth - but they are not people in the psychological sense. One way to look at the job of helping autistic kids is to see it as a matter of constructing a person. You have the raw materials, but I have to build the person.
(O.Ivar Lovaas, Psychology Today, Jan.1974)
Ich bin auf geistiger Ebene kein Mensch? Ich muss erst konstruiert werden?? Damit ich normal sein kann???
Autismus wird in dieser Methode ausschließlich auf das Problemverhalten reduziert, besondere Fähigkeiten werden nicht beachtet. Normales Verhalten wird belohnt mit Süßigkeiten, Ruhe, Spiel; wenn "Problemverhalten" auftritt, werden diese positiven Verstärker entzogen. Ganz klassische Konditionierung, ich fühle mich wie Pavlovs Hund. In der "frühen" ABA wurden außerdem Elektroschocks, Schläge und Anschreien verwendet, in der modernen ABA kommt das natürlich nicht mehr vor. Naja. Nur bei selbst verletzendem Verhalten. Heutige Aversiva sind Anschreien, Wasser in's Gesicht spritzen, Nahrung mit Essig versetzen. Heute schon gekotzt?
Folgende Therapieziele werden in der AVA definiert:
- Blickkontakt herstellen und aushalten (ich hasse das!)
- Berührungen akzeptieren (ne, bitte vermeiden, wenn möglich)
- Stimming abstellen (repetitives Verhalten zur Beruhigung, meine Fibonacci-Reihe)
- das Abwenden bzw. Nichtentwickeln von Spezialinteressen (keine Achterbahnen mehr?)
- der Erwerb lebenspraktischer Fähigkeiten wie Anziehen und Telefonieren (Telefon?!)
Das sind zumindest die Punkte, die mich persönlich ansprechen, es gibt da auch noch etwas für nicht-sprechende Autisten und mehr. Nach Ursachen dieses Verhaltens wird nicht gefragt, und es gibt auch keine Hilfestellungen, sondern lediglich behavioristische Belohnungen bzw. Aversiva, denn das Hauptziel ist die Löschung bzw. Formatierung dieses Verhaltens.
Was diese Therapieziele so problematisch macht, könnt Ihr direkt in dem Artikel nachlesen. Die ABA erinnert mich ein bisschen an das Dritte Reich, in dem auch "unerwünschtes Verhalten" einfach ausgemerzt wurde (oder einfach beseitigt). Und es erinnert mich ein bisschen an die Schulleitungen, die zu mir gesagt haben "Also Dr Hilarius, so können sie sich nicht verhalten, das müssen sie ändern. Sie müssen da ein bisschen normaler werden."
Und das hat echt wehgetan.
Hier geht es zu dem Artikel, eine lohnende Lektüre für Interessierte.
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