Dienstag, 2. Mai 2017

Kleine, schwarze Welt


Vorwort: Ich habe diese Kurzgeschichte irgendwann im Studium geschrieben, bei Kerzenschein und mit passender Musik im Hintergrund. Das Schreiben war für mich immer ein gutes "Ventil", ich glaube, jedes hochbegabte Gehirn braucht eine Möglichkeit zum kreativen Output. Wer diese Geschichte wirklich lesen möchte, möge im Hinterkopf behalten, dass es um ein literarisches Werk geht - Fiktion.

Hier geht es zu besagter Hintergrundmusik. 

Warnung: In dieser Geschichte geht es um Gewalt, Schmerz, Lust und Drogen. Weiterlesen auf eigene Gefahr!



Kleine, schwarze Welt

Ich will Alex verletzen.
Ich will mich verletzen.
Ich will, dass Alex mich verletzt.

Alex studiert auch Latein, wie ich. Ich habe ihn so ungefähr im Mai 2007 kennengelernt. Eigentlich war er nur eine Notlösung. Damals hatte ich viel mit David zu tun, einer hochgewachsenen Schwuchtel. Damals war ich wohl verknallt. Wir sollten auf Exkursion nach Griechenland fahren und brauchten noch einen dritten Mann für unser Zimmer. Nachdem unser beider Objekt der Begierde, Marc, schon in ein anderes Zimmer vergeben war, schien Alex eine nette Alternative zu sein, so unauffällig, wie der Typ war. Er hat dann irgendwie während der zwei Wochen in Griechenland Davids Position bei mir abgelöst. Davids Anfälle wurden mir zu viel und ich konnte mit Alex drüber lästern. Perfekt! Und ich konnte eine ganze Menge mit Alex reden. Wir haben über Leben und Tod gesprochen, über Liebe, wahre Liebe und verliebt sein. Wir haben über Sex gesprochen, über das erste Mal, über den ersten Kuss, über Nähe und Geborgenheit. Alex fehlt das alles. Ihm fehlen Erfahrungen, die er sammeln soll. Naja, seinen ersten Kuss hat er ja mittlerweile bekommen. Nicht von mir, was mir mittlerweile egal ist, aber damals war ich schon irgendwie enttäuscht. Damals haben Alex und ich noch zusammen in der Fachschaft gearbeitet. Vielleicht bilde ich mir das nur so ein, aber ich habe damals für Alex eine Mentorrolle übernommen. Er hat meine Entscheidungen respektiert und für richtig gehalten. Ich habe mich genau in dieser Rolle in ihn verliebt.
Alex ist klein, etwa einen Kopf kleiner als ich. Er ist dünn und hat helle Haut und braune, wuschelige Haare, die sich einfach nicht stylen lassen. Ich mag sein Lächeln. Es sieht immer ein wenig unbeholfen, aber herzlich aus. Es ist ein ehrliches Lächeln und trifft mich immer voll ins Herz. Ich möchte ihn einfach in den Arm nehmen und ihm sagen, dass er nicht allein ist, aber das kann ich nicht.
Aus meinen Lautsprechern dröhnt gerade „The Church-Bells And The Razor-Blades“ von Silke Bischoff. Ich denke darüber nach, was ich von Alex möchte, erwarte und was ich erreichen kann. Das ist leider nicht viel. Er hat mir damals auf meinem Geburtstag schon recht deutlich zu verstehen gegeben, dass es nicht geht, genau zum richtigen Zeitpunkt, mitten in der Nacht, als ich langsam wieder nüchtern und verletzlich genug war, dass mich sein „Ich nehm Dich in den Arm“ voll getroffen hat und ich zuhause erstmal weinend über dem Bett gehangen habe. Was fasziniert mich überhaupt noch an diesem Menschen? Wir arbeiten nicht mehr zusammen in der Fachschaft… aber ich kann mich ja nicht losreißen. Ich gehe eigentlich nur seinetwegen zur Fachschaftsvertreterkonferenz. Wir wollen es nicht übertreiben; sicher informiere ich mich da auch über den neuesten Stand der Dinge. Aber es ist schon schön, etwas mit ihm zu machen. Auch die Saturnalientreffen sind um einiges schöner durch ihn. Ich freue mich immer drauf, ihn zu sehen.
Das war nicht immer so. Anfang September bis Mitte Oktober war ich im Hauptpraktikum an meiner alten Schule. Ich habe Alex eine lange Zeit nicht gesehen und dadurch ist mein Verlangen nach diesem Typen abgekühlt. Dann war da allerdings Halloween und dieses Foto von Alex… Schwarzer Kapuzenpulli, schwarze Jeans, das Gesicht bleich geschminkt, mit schwarzen Augenrändern und Narben auf den Unterarmen. Er wirkt auf diesem Bild so erwachsen, so verloren und hilflos. Und doch so, als ob er genau wüsste, was er tut und warum es so ist. In diese düstere Seite von Alex habe ich mich erneut verliebt. Er behauptet von sich, ein Emo zu sein, aber bis auf die Musik und vielleicht die Kleidung steckt nicht viel dahinter. Er ist genauso albern wie ich und viele Altersgenossen und geht eigentlich immer mit einer fröhlichen Miene in die Uni. Ich weiß nicht, wie er wirklich ist. In Griechenland habe ich erfahren, dass er eine saubere Selbstmordphase durchgemacht hat. Er hat sich allerdings noch nie bewusst selbst verletzt. Ich würde diese Erfahrung gerne mit ihm machen. Ich habe alles vorbereitet, es fehlt nur noch der Moment, an dem ich Alex endlich mal wieder unter vier Augen die ernste Seite entlocken kann.
Ich habe Alex zur Lost Souls eingeladen. Schwarze Szene-Party in der Trauma, einer netten Disco hier in Kiel. Ich habe ihn schon oft eingeladen. Keine Ahnung, ob er dieses Mal kommen wird. „Muss mal sehen, ob ich da arbeite“ kommt von ihm als Antwort. Ich muss mich wieder mal überraschen lassen. In der Zwischenzeit besorge ich Sachen, die ich gebrauchen könnte. Ich möchte den Abend, wenn Alex mitkommen sollte, genießen. Morgen Abend bin ich wieder auf der FVK. Abgesehen von Alex werde ich dort auch Claudia von den Medizinern treffen. Vielleicht kann sie mir irgendwie Benzos beschaffen. Ich möchte einfach nur segeln. Mit Alex zusammen Schweben, Fliegen und Fallen.

Dienstagnacht. Die letzte Nacht war zum Kotzen. Sturm und Regen. Heute ist es totenstill draußen. Ich habe mit Claudia gesprochen. Donnerstag sollte ich eine Überraschung in der Hauspost haben. Die Konferenz war langweilig. Ich konnte ja nicht die ganze Zeit mit Alex über irgendwas sprechen, schon gar nicht über etwas wichtiges. Er ist jetzt gerade online, im StudiVZ. Soll ich ihm etwas schreiben?
Na toll, jetzt unterhalten wir uns über Drogen. Er meint, irgendwie würde ihn das auch mal reizen. Er merkt, dass er sich verändert. Ich habe dieses brennende Gefühl in mir, dass ich einen Einfluss auf ihn ausübe, eine Kontrolle über ihn habe. Ich fühle mich stark und gut. Ich überlege mir, die Ereignisse dieser Woche aufzuschreiben, damit ich nicht vergesse, was ich in dieser Zeit gedacht habe. Soll ich Alex schreiben, dass ich Tabletten organisiert habe?
Nein, ich warte bis Samstag. Entweder, er kommt, oder er kommt nicht. Ich kann auf der Lost Souls auch super allein Spaß haben. Abgesehen davon ist Daniela auch da. Ich fühle mich nicht ganz so allein. Na toll, und heute kann ich nicht schlafen, weil es zu still ist. Ich denke an Alex und an Herrn Steffen, meinen Lateindozenten. Ich möchte beschützt werden. Und ich möchte Beschützer sein. Na toll, jetzt ist der Drecks-Plauderkasten im StudiVZ abgeschmiert. Ich kann keine Nachricht mehr empfangen. So ein Scheiß! Ich würde gerne weiter mit Alex darüber reden. Keine Chance, StudiVZ spinnt. Morgen sehen wir weiter.

Ich habe mir jetzt ICQ installiert. Ich schreibe gerade mit Alex. Nein, er denkt zwar ähnlich, er würde es gerne ausprobieren, aber nicht aus meinen Motiven, sondern aus reiner Neugier. Alex ist keine verlorene Seele, sondern einfach ein kleiner Junge, der jetzt sein Zuhause verlässt, erwachsen wird und die Welt kennenlernt. Ich werde versuchen, ihn auf die düstere Seite zu ziehen.
Ja, der erste Schritt ist geschafft, er hat zur Party zugesagt! Alex kommt am Samstag um 22 Uhr bei mir vorbei und dann werden wir etwas später losziehen. Ich stelle schon mal eine Liste mit schön düsterer Musik zusammen, um in die richtige Stimmung zu kommen. Alex soll für einen Abend vergessen, dass er in diese Kristin verliebt ist. Ich kann ihn nicht einfach gehen lassen.

So, ich nehme die letzten beiden Muffins von der FVK mit und gehe in den Fachschaftsraum. Alex sitzt dort und wir frühstücken sozusagen zusammen.
„Guten Morgen!“
„Hey! Toll, Muffins! Ich sterbe schon vor Hunger.“
„Ist der Brief wegen der Plakate angekommen?“
„Nein, bisher war noch nichts dabei.“
„Naja, dann erstmal guten Appetit!“
„Guten Appetit!“
Der Kleine kann unglaublich schnell essen. Trotzdem sieht er total ausgehungert aus. Ich will ihm scherzhaft in die Seite pieksen, aber mittlerweile geht er in Abwehrhaltung. Na toll, lässt er mich jetzt gar nicht mehr an sich ran?
„Wow, das Büro sieht echt aus wie Sau.“
„Ja, Biene und Sven wollten das mal aufräumen, aber irgendwie haben sie das noch nicht geschafft.“
Stumm mampfen wir unsere Muffins in uns rein.
„Okay, ich muss dann mal wieder an die Arbeit, nicht, dass Frau Tulpenau mir noch auf die Füße tritt.“
„Okay, dann bis Freitag zum Treffen!“

Ohne besondere Ereignisse ist die Woche rumgegangen. Jetzt ist Samstag. Halb zehn abends. Ich checke alle fünf Minuten meine Mails und warte auf eine Absage von Alex. An so was habe ich mich gewöhnt. Nichts. Ich bin fertig geduscht, sehe gut aus und rieche gut. Ich höre Musik von Silke Bischoff, die poppigeren Sachen. Auf meinem Nachttisch liegt eine Schachtel Rohypnol. Ich habe schon überlegt, ob ich nicht jetzt schon eine halbe nehmen sollte. Ich möchte aber nicht riskieren, dass Alex seinen Respekt vor mir verliert. Ich ziehe mein Partyoutfit an. Ich trage eine schwarze Hose mit neongelben Nähten, mit Ringen und schweren Ketten und vielen Taschen. Dazu ziehe ich meine schweren Boots an und ein enges Shirt. Ich überlege mir, ob ich die Augen schminken soll. Plötzlich klingelt es an der Tür. Keine Zeit, weiter zu überlegen. Ich öffne. Es ist Alex.
„Hey, komm rein.“
„Hey.“
Ziemlich wortlos kommt er in mein Zimmer. Ich lege eine Silke-Bischoff-CD auf, auf der die düsteren Lieder gesammelt sind. Alex legt seine Umhängetasche auf mein Bett. Er hat wieder dieses Outfit an… schwarze Hose, schwarzer Sweater… nur das Gesicht ist dieses Mal unverändert. Wo ist seine Brille? Heute Abend trägt er wohl Kontaktlinsen. Sonst nicht seine Art. Er grinst mich an. Ich schalte die Schreibtischlampe an und das Deckenlicht aus. Dann schiebe ich Alex wortlos an den Kleiderschrank. Er schaut etwas unsicher. Alex hat mir erzählt, dass er es mag, beim Karate auch mal richtig zusammengeschlagen zu werden. Ob es stimmt? Was habe ich zu verlieren? Ich riskiere es.
„Ich hoffe, das gefällt Dir.“
Mit diesen Worten dresche ich ihm meinen Stiefel vor das Schienbein. Alex verzieht das Gesicht. Er kneift die Augen zusammen und beugt sich vornüber. Bevor der Schmerz richtig einsetzen kann, geht Alex zu Boden und hält sich beide Hände an die betroffene Stelle. Die Musik läuft leise im Hintergrund. Ansonsten kann ich nur Alex hören. Sein Atem kommt stoßartig und ich achte darauf, ob er bewusstlos wird. Er presst seine Stirn gegen das aufgestellte Knie und versucht, ruhig zu werden. Ich stehe noch immer vor ihm, mein Schatten fällt auf seinen Körper. Dann gehe ich in die Knie und versuche, sein Gesicht zu sehen. Weint er?
Alex merkt, dass ich jetzt neben ihm knie. Er dreht seinen Kopf etwas zur Seite und schaut mich an. Eine Träne läuft über seine Wange. Aus seinem Blick schreit der Schmerz, schreit die Frage „Warum?“ Ich blicke ihm tief in die Augen. Ich fühle mich nicht müde. Ich fühle mich nicht schuldig. Eigentlich… ich fühle mich gut. Ich fühle mich Alex näher als sonst. Alex sitzt auf dem Boden, den Rücken an den Schrank gelehnt, die Beine angewinkelt und die Arme um die schmerzende Stelle gelegt.
„Es tut mir Leid.“
Ich hauche mehr, als dass ich spreche. Alex’ Atem hat sich beruhigt. Eine weitere Träne rollt über seine Wange. Ich würde gern probieren, wie salzig sie schmeckt. Alex nimmt meine Entschuldigung nicht wahr. Er schaut mir weiter in die Augen. Ich kann seinen Blick nicht deuten. Ich lege eine Hand auf sein Schienbein. Dieses Mal zuckt Alex nicht zurück. Depressive Musik legt sich wie ein samtener Schleier über den Raum. Es ist unglaublich warm. Meine Hand berührt den Jeansstoff. Ich bewege die Hand nicht, lasse sie einfach liegen. Alex schaut auf meinen Unterarm. Mit meinem Daumen streichele ich vorsichtig hin und her, lasse alles geschehen. Alex sieht immer noch hilflos aus, seine Kapuze ist über den Kopf gezogen. Wie viel Zeit vergeht gerade? Eine halbe Stunde, oder zwei Minuten? Ich rolle das Jeansbein bis zum Knie auf und kann drei blutrote Streifen erkennen, wo die metallene Spitze meines Stiefels Alex getroffen hat. Es ist keine offene Wunde, aber sie ist tiefrot und schmerzt bestimmt sehr. Ich streiche mit der Hand darüber und kann die Schwellung fühlen. Die Haare an seinem Bein beugen sich dem sanften Druck meiner Hand. Fasziniert schaue ich auf die Wunde. Dann schaue ich wieder in Alex’ tränenrote Augen. Ich nähere mich mit meinen Lippen den roten Streifen und drücke meinen Mund sanft auf die schmerzende Stelle. Ich schaue Alex nicht an, auch nicht, als ich mit dem Kopf wieder zurückgehe.
Alex greift mit der Hand in seine linke Hosentasche. Er holt ein kleines weißes Plastiketui heraus und schaut darauf. Mit seinem Daumen drückt er drauf und schiebt so ein metallenes Teil hervor. Er schaut mich an und dreht das Etui, so dass ich erkennen kann, dass es eine Rasierklinge ist. Er hält sie mir hin und ich ziehe die Rasierklinge vorsichtig aus dem Etui. Alex steckt es wieder weg und zieht langsam den rechten Ärmel seines Sweaters bis zum Ellbogen hoch. Sein schlanker Unterarm kommt zum Vorschein und ich betrachte die helle Haut, kann sogar die blauen Adern erkennen. Alex, ich weiß, was Du willst. Ich schaue ihm in die Augen. Mein Atem geht langsam, tiefer. Die Musik und die warme Luft beruhigen uns immer weiter. Ich führe die Rasierklinge langsam an mein Gesicht. Meine Augen bleiben an Alex’ Augen fixiert. Keine fordernden Blicke, keine vorwurfsvollen. Ich setze die Klinge an meine Wange und übe leichten Druck aus, während ich sie ein paar Zentimeter über die Haut führe. Ich spüre einen stechenden Schmerz, wie bei einer Spritze. Es brennt ein wenig. Ich lege die Rasierklinge auf das Regal. Dabei sehe ich, dass ich den Schnitt schnell genug ausgeführt habe, so dass kein Blut an der hauchdünnen Klinge zu sehen ist. Ich fühle, wie zwei warme Tropfen sich ihren Weg über meine rechte Wange zum Kinn bahnen. Es kitzelt ein wenig, es schmerzt ein wenig. Alex beugt sich vor und geht ebenfalls auf die Knie. Er schaut auf mein Gesicht, er kommt etwas näher. Ich schließe die Augen. Wir reden kein Wort, die Musik übernimmt alles.
Sein Gesicht ist direkt vor meinem. Ich spüre seinen warmen Atem und fühle plötzlich, wie sich seine Hand in meinen Nacken legt. Meine Nackenhaare stellen sich auf, doch die Wärme seiner Berührung lässt mich ruhig weiteratmen. Ich fühle, wie er einige Sekunden direkt vor meinem Gesicht verweilt. Dann fühle ich seine Zunge an meiner Wange. Ich öffne die Augen. Seine Hand stützt meinen Kopf sanft, während er langsam die Blutspuren von meiner Wange leckt. Ich atme tief durch. Es brennt etwas mehr, als Alex direkt über den Schnitt auf meiner Wange leckt. Meine Arme hängen wie tote Gliedmaßen herunter. Ich traue mich nicht, ihn zu berühren. Ich habe Angst, ihn zu verschrecken, jetzt, wo er sich mir öffnet. Er küsst die Wunde in meinem Gesicht. Als er den Kopf zurückzieht, sehe ich ein paar schwache Blutspuren auf seinen Lippen. Alex lässt meinen Kopf los und greift nach meiner Hand. Wir stehen zusammen auf. Dann greift Alex ins Regal und gibt mir wieder die Rasierklinge. Er lehnt sich an den Schrank und dreht seinen rechten Arm so, dass mir die entblößte Unterseite entgegenblitzt. Er schaut mich noch mal an. Sein Blick spricht einen Wunsch aus, den wir beide niemals äußern könnten. Ich gehe vor Alex in die Knie und nehme seinen Arm mit der linken Hand. Ich streiche mehrmals über die helle, weiche Haut, ich fühle den ruhigen Puls. Alex blickt nach unten und schließt die Augen.
Ich versuche, seine Pulsader genau ausfindig zu machen. Ich nehme ein Feuerzeug aus dem Regal und erhitze die Rasierklinge. Ein Stück neben der Pulsader setze ich die Klinge an, während ich mit der linken Hand weiter seinen Unterarm halte. Ich ziehe einen Schnitt quer über den Arm und stoppe kurz vor der Pulsader. Ich spüre, wie Alex ein wenig verkrampft. Ich lege die Klinge wieder an die Seite. Der Schnitt ist tief genug, ein kleiner Blutstrom läuft aus der Wunde über seine Hand. Bluttropfen lösen sich von seinen Fingerspitzen und färben den blauen Teppich schwarz. Alex öffnet die Augen wieder und schaut auf die Blutspur. Ich küsse vorsichtig die Stelle über der Wunde, dann nähere ich mich mit meiner Zunge dem Blut. Ich lecke es ab, verschmiere es dabei weiter über Alex’ Unterarm. Es schmeckt etwas salzig, etwas bitter. Ein weiteres Mal fahre ich mit der Zunge über Alex Handgelenk, versuche dabei, die Wunde nicht zu berühren. Mit Alex’ Blut auf meiner Zunge stehe ich auf und schaue Alex in die Augen. Ich schlage die Kapuze seines Sweaters zurück über seinen Kopf. Ich lege meine rechte Hand auf seinen Hinterkopf und neige meinen Kopf zur Seite, während meine Lippen sich seinen nähern. Sanft küsse ich Alex auf den Mund. Er öffnet seinen Mund und ich fühle, wie seine Zunge nach meiner tastet, wie sie das Blut probiert. Die Blutflecken auf meiner Wange färben auf sein Gesicht ab. Ich schließe die Augen und genieße den Kuss. Ich halte Alex, er klammert sich an mir fest. Ich streichele seinen Hinterkopf. Endorphine schießen durch meine Blutbahnen, während ich Alex’ weiche Lippen schmecke, sein Blut schmecke, seinen Kuss schmecke. Wie warmer Regen auf meiner Haut fühlt sich der Schauer an, der über meinen Rücken kriecht. Mit der linken Hand taste ich nach seinem Handgelenk. Ich fühle, dass das Blut nicht mehr so stark aus dem Schnitt läuft.
„Hab keine Angst, Alex.“
Langsam öffne ich den Reißverschluss seines Sweaters. Behutsam ziehe ich den rechten Ärmel über seinen verletzten Arm. Alex steht jetzt mit schwarzer Jeans und nacktem Oberkörper vor mir, noch immer tropft etwas rote Flüssigkeit von seinen Fingerspitzen auf den Boden. Ich gehe wieder auf die Knie und sauge behutsam an der Wunde. Ich erkenne, wie Alex die Augen zukneift. Zärtlich küsse ich seinen Bauchnabel, hinterlasse dabei einen blutigen Abdruck. Ich fahre mit der Zunge zu seiner Brust, auch dabei bleibt eine rötliche Spur zurück. Ich küsse seine rechte Brustwarze, beiße leicht hinein und kann die Gänsehaut auf seinem Körper fühlen.
„Lass uns zur Party gehen.“
Der erste Satz, den Alex sagt. Er klingt melancholisch, als ob er nicht mit mir redet, sondern mit der Luft, die von unserem Atem geschwängert ist und an der Fensterscheibe zu kleinen Tröpfchen kondensiert. Ich schaue auf die Uhr. Es sind gut zwanzig Minuten vergangen. Noch immer läuft die Musik und das Licht der Schreibtischlampe erhellt den Raum nur ein wenig. Mit den Blutspuren auf seinem schlanken Oberkörper wirkt Alex noch hilfloser als sonst. Ich liebe diesen Anblick. Ich liebe ihn.
„Ich möchte dich so mitnehmen.“
„Aber ich hab kaum etwas an… und da ist Blut auf meinem Bauch.“
„Ich weiß.“
Alex dreht sich wortlos an mir vorbei und geht zu seiner Tasche auf dem Bett. Er humpelt noch immer, unterdrückt aber tapfer den Schmerz seines Schienbeins. Während Alex seine Tasche öffnet, hole ich aus der Küche eine Mullbinde und einen Verband. Als ich wieder ins Zimmer komme, sitzt Alex auf dem Boden, ans Bett gelehnt. Ich knie mich zu ihm, presse die Mullbinde auf seine Wunde und verbinde ihm das Handgelenk straff. Mit zwei Klammern sichere ich den Verband.
„Ist alles okay?“
„Ja. Aber noch nicht ganz.“
Alex hebt seine linke Hand und zeigt mir einen Joint.
„Ich muss vom Rauchen husten. Ich kann das nicht.“
„Keine Angst. Ich werde Dir den Rauch weitergeben. Er wird durch meine Lungen so weit gefiltert, dass Du entspannt sein kannst.“
Mit diesen Worten nimmt Alex sich ein Feuerzeug und zündet den Joint an. Er lehnt sich zurück und nimmt einen tiefen Zug. Das Ende des Joints glimmt hell auf und ich kann das Knistern der Flamme hören. Die Musik im Hintergrund fällt uns gar nicht mehr auf. Sie ist, wie mittlerweile fast alles, zur Atmosphäre geworden. Alex atmet die erste Rauchwolke ins Zimmer. Ich schaue ihm zu, beruhigt von seiner Gelassenheit. Er nimmt einen weiteren Zug und dreht sein Gesicht zu mir. Er nimmt meinen Kopf und zieht ihn zu sich heran. Ich öffne meinen Mund und er bläst den Rauch direkt in meinen Rachen. Unsere Lippen berühren sich nicht. Etwas Rauch entweicht, doch ich atme schnell und tief ein, muss fast husten, und schmecke das süßliche Aroma des Rauches. Wir wiederholen dieses Spiel zwei Mal, drei Mal, beim vierten Mal drückt Alex seine Lippen beim Ausatmen ganz auf meine. Nachdem ich den Rauch ausgeatmet habe, küsse ich ihn wieder. Nur ein flüchtiger Kuss, seine weichen Lippen nur berühren, einmal mit den Fingern durch seine Haare fahren. Ich spüre, wie ich mich langsam weiter entspanne, habe die Wunde in meinem Gesicht schon fast vergessen. Ich bin sicher, Alex spürt seine Schmerzen kaum noch. Er hält mir den Joint hin. Ich nehme einen vorsichtigen Zug, muss husten und lehne mich entspannt zurück. Ich merke, wie mein Körper schwerer wird, wie die Bewegungen um mich herum langsamer werden. So kann ich nicht tanzen gehen.
Ich greife rechts neben mir in die mittlere Schublade des Nachttisches und hole die Schachtel mit den Koffeintabletten heraus. Ich nehme eine Tablette, gebe Alex auch eine, und nehme die Wasserflasche neben dem Bett zum Runterspülen. Wir rauchen den Joint gemeinsam auf. Ich gehe zur Toilette, versuche, mir schwarzen Kajal um die Augen zu ziehen, verrutsche aber andauernd, so dass große Augenringe entstehen. Ich überdecke sie mit schwarzem Lidschatten. Als ich wieder in mein Zimmer komme, steht Alex mit dem Rücken zu mir.
„Tobi, ich brauche Pflaster.“
Er dreht sich um. Er hat links und rechts auf seine Brust jeweils einen weiteren kleinen Schnitt gesetzt. Zwei Schnitte, aus denen das Blut langsam über seinen Körper zum Bund seiner Jeans rinnt. Ich warte, bis sich die beiden roten Linien weit genug nach unten gezogen haben. Dann klebe ich zwei Pflaster auf die Wunden.
„Warum hast du das gemacht?“
„Ich möchte so auf die Party gehen.“
Jetzt setzt die Wirkung der Tabletten ein. Ich merke, wie ich wacher werde, trotzdem aber sehr gut drauf bin und Alex auf den Nacken küsse. Wir gehen so, wie wir sind, aus der Wohnung und zur Bushaltestelle.
Es ist nicht kalt draußen, aber zu kalt für einen freien Oberkörper. Alex bekommt eine Gänsehaut und ich lege meinen Arm um ihn, während wir durch die Dunkelheit gehen. Der Busfahrer schaut uns angewidert an. Bis auf drei weitere Jugendliche ist der Bus leer. Wir setzen uns vorne hin und sind sicher, dass die jetzt über uns reden.

Die Tanzfläche gehört nur uns. Wir nehmen die anderen gar nicht wahr. Ich habe einen Tunnelblick, liegt vielleicht an der Mischung aus Koffein, Hasch und Alex’ blutverschmiertem, nacktem Oberkörper. Wir sind aufgeputscht genug, um zu jeder Musik zu tanzen. Alex schwankt hin und wieder bedrohlich zur Seite, aber ich nehme das kaum wahr. Es läuft „Das muss Liebe sein“ und wir halten uns in den Armen. Links neben uns steht Moritz, rechts Dani. Beide schauen genauso ungläubig wie in dem Moment, als wir die Tanzfläche betreten haben. Ich küsse Alex. Er erwidert meinen Kuss und schiebt mir seine Zunge in den Mund. Zwei Stunden und zwei Whisky-Cola später tanzt Alex nahe an mich heran. Er flüstert mir etwas ins Ohr.
„Es tut weh, Tobi.“
Ich streichele ihm über den Nacken, um ihn zu trösten. Wir gehen zum Ausgang und machen uns auf den Heimweg. Auf dem Heimweg fängt Alex schrecklich zu zittern an. Auch mir wird sehr kalt. Die Wirkung des Joints hat nachgelassen, doch wir sind fast zuhause. In der Wohnung angekommen, gehen wir direkt in mein Zimmer. Wir werden sanft von der warmen, schwülen Luft begrüßt, die wir hinterlassen haben. Ich öffne das Fenster kurz zum Lüften und ziehe mein Shirt aus.
„Leg dich auf das Bett, Alex.“
Ohne die Hose auszuziehen, legt er sich hin, hinterlässt dabei verkrustete Blutspuren auf dem Laken, aber das ist mir egal. Ich lege mich neben ihm, hole die Wasserflasche ins Bett und nehme die Tabletten vom Nachttisch. Eine für ihn, eine für mich. Wir werfen die Dinger ein und spülen sie runter. Ich schalte die Nachttischlampe ab und küsse Alex auf die Wange.
Er legt sich auf die Seite, auf der sein unverletzter Arm ist. Ich schmiege mich von hinten an ihn, fühle seinen warmen Rücken, seine Schulterknochen, fühle seinen gleichmäßigen Atem, ich lege meinen rechten Arm um ihn, küsse seine Schultern, Löffelchen an Löffelchen, ziehe die Decke über uns beide. Die Flunis hauen rein, ich merke, wie meine Augenlider schwer werden. Der Abend saust in wilden Gedanken an meinem Auge vorbei.

Do you fear me Swallow Cut me Alex Give me a shotgun Let me hold you Let me taste your blood Kiss me Inhale deeply Let’s take a ride I love you Alex I want to taste your lips Don’t cry Lie down on the bed Let your blood drip on my hands Your skin is soft Trust me I feel your breath Do not leave me alone Fly with me Touch my face I want to hurt you Do you feel the rush Shoot Your chest is glistening I am drowning in your eyes I love you Alex

Hold me

Ich freue mich darauf, morgen mit ihm aufzuwachen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen