Vorwort: Ich habe diese Kurzgeschichte irgendwann im Studium geschrieben, bei Kerzenschein und mit passender Musik im Hintergrund. Das Schreiben war für mich immer ein gutes "Ventil", ich glaube, jedes hochbegabte Gehirn braucht eine Möglichkeit zum kreativen Output. Wer diese Geschichte wirklich lesen möchte, möge im Hinterkopf behalten, dass es um ein literarisches Werk geht - Fiktion.
Hier geht es zu besagter Hintergrundmusik.
Warnung: In dieser Geschichte geht es um Gewalt, Schmerz, Lust und Drogen. Weiterlesen auf eigene Gefahr!
Kleine,
schwarze Welt
Ich will Alex verletzen.
Ich will mich verletzen.
Ich will, dass Alex mich
verletzt.
Alex studiert auch Latein, wie
ich. Ich habe ihn so ungefähr im Mai 2007 kennengelernt. Eigentlich war er nur
eine Notlösung. Damals hatte ich viel mit David zu tun, einer hochgewachsenen
Schwuchtel. Damals war ich wohl verknallt. Wir sollten auf Exkursion nach
Griechenland fahren und brauchten noch einen dritten Mann für unser Zimmer.
Nachdem unser beider Objekt der Begierde, Marc, schon in ein anderes Zimmer
vergeben war, schien Alex eine nette Alternative zu sein, so unauffällig, wie
der Typ war. Er hat dann irgendwie während der zwei Wochen in Griechenland Davids Position bei mir abgelöst. Davids Anfälle wurden mir zu viel und ich
konnte mit Alex drüber lästern. Perfekt! Und ich konnte eine ganze Menge mit
Alex reden. Wir haben über Leben und Tod gesprochen, über Liebe, wahre Liebe
und verliebt sein. Wir haben über Sex gesprochen, über das erste Mal, über den
ersten Kuss, über Nähe und Geborgenheit. Alex fehlt das alles. Ihm fehlen
Erfahrungen, die er sammeln soll. Naja, seinen ersten Kuss hat er ja
mittlerweile bekommen. Nicht von mir, was mir mittlerweile egal ist, aber
damals war ich schon irgendwie enttäuscht. Damals haben Alex und ich noch
zusammen in der Fachschaft gearbeitet. Vielleicht bilde ich mir das nur so ein,
aber ich habe damals für Alex eine Mentorrolle übernommen. Er hat meine
Entscheidungen respektiert und für richtig gehalten. Ich habe mich genau in
dieser Rolle in ihn verliebt.
Alex ist klein, etwa einen Kopf
kleiner als ich. Er ist dünn und hat helle Haut und braune, wuschelige Haare,
die sich einfach nicht stylen lassen. Ich mag sein Lächeln. Es sieht immer
ein wenig unbeholfen, aber herzlich aus. Es ist ein ehrliches Lächeln und
trifft mich immer voll ins Herz. Ich möchte ihn einfach in den Arm nehmen und
ihm sagen, dass er nicht allein ist, aber das kann ich nicht.
Aus meinen Lautsprechern dröhnt
gerade „The Church-Bells And The Razor-Blades“ von Silke Bischoff. Ich denke
darüber nach, was ich von Alex möchte, erwarte und was ich erreichen kann. Das
ist leider nicht viel. Er hat mir damals auf meinem Geburtstag schon recht
deutlich zu verstehen gegeben, dass es nicht geht, genau zum richtigen
Zeitpunkt, mitten in der Nacht, als ich langsam wieder nüchtern und verletzlich
genug war, dass mich sein „Ich nehm Dich in den Arm“ voll getroffen hat und ich
zuhause erstmal weinend über dem Bett gehangen habe. Was fasziniert mich
überhaupt noch an diesem Menschen? Wir arbeiten nicht mehr zusammen in der
Fachschaft… aber ich kann mich ja nicht losreißen. Ich gehe eigentlich nur
seinetwegen zur Fachschaftsvertreterkonferenz. Wir wollen es nicht übertreiben;
sicher informiere ich mich da auch über den neuesten Stand der Dinge. Aber es
ist schon schön, etwas mit ihm zu machen. Auch die Saturnalientreffen sind um
einiges schöner durch ihn. Ich freue mich immer drauf, ihn zu sehen.
Das war nicht immer so. Anfang
September bis Mitte Oktober war ich im Hauptpraktikum an meiner alten Schule.
Ich habe Alex eine lange Zeit nicht gesehen und dadurch ist mein Verlangen nach
diesem Typen abgekühlt. Dann war da allerdings Halloween und dieses Foto von
Alex… Schwarzer Kapuzenpulli, schwarze Jeans, das Gesicht bleich geschminkt,
mit schwarzen Augenrändern und Narben auf den Unterarmen. Er wirkt auf diesem
Bild so erwachsen, so verloren und hilflos. Und doch so, als ob er genau
wüsste, was er tut und warum es so ist. In diese düstere Seite von Alex habe
ich mich erneut verliebt. Er behauptet von sich, ein Emo zu sein, aber bis auf
die Musik und vielleicht die Kleidung steckt nicht viel dahinter. Er ist
genauso albern wie ich und viele Altersgenossen und geht eigentlich immer mit
einer fröhlichen Miene in die Uni. Ich weiß nicht, wie er wirklich ist. In
Griechenland habe ich erfahren, dass er eine saubere Selbstmordphase
durchgemacht hat. Er hat sich allerdings noch nie bewusst selbst verletzt. Ich
würde diese Erfahrung gerne mit ihm machen. Ich habe alles vorbereitet, es
fehlt nur noch der Moment, an dem ich Alex endlich mal wieder unter vier Augen
die ernste Seite entlocken kann.
Ich habe Alex zur Lost Souls
eingeladen. Schwarze Szene-Party in der Trauma, einer netten Disco hier in
Kiel. Ich habe ihn schon oft eingeladen. Keine Ahnung, ob er dieses Mal kommen
wird. „Muss mal sehen, ob ich da arbeite“ kommt von ihm als Antwort. Ich muss
mich wieder mal überraschen lassen. In der Zwischenzeit besorge ich Sachen, die
ich gebrauchen könnte. Ich möchte den Abend, wenn Alex mitkommen sollte,
genießen. Morgen Abend bin ich wieder auf der FVK. Abgesehen von Alex werde ich
dort auch Claudia von den Medizinern treffen. Vielleicht kann sie mir irgendwie
Benzos beschaffen. Ich möchte einfach nur segeln. Mit Alex zusammen Schweben,
Fliegen und Fallen.
Dienstagnacht. Die letzte Nacht
war zum Kotzen. Sturm und Regen. Heute ist es totenstill draußen. Ich habe mit Claudia gesprochen. Donnerstag sollte ich eine Überraschung in der Hauspost
haben. Die Konferenz war langweilig. Ich konnte ja nicht die ganze Zeit mit
Alex über irgendwas sprechen, schon gar nicht über etwas wichtiges. Er ist
jetzt gerade online, im StudiVZ. Soll ich ihm etwas schreiben?
Na toll, jetzt unterhalten wir
uns über Drogen. Er meint, irgendwie würde ihn das auch mal reizen. Er merkt, dass
er sich verändert. Ich habe dieses brennende Gefühl in mir, dass ich einen
Einfluss auf ihn ausübe, eine Kontrolle über ihn habe. Ich fühle mich stark und
gut. Ich überlege mir, die Ereignisse dieser Woche aufzuschreiben, damit ich
nicht vergesse, was ich in dieser Zeit gedacht habe. Soll ich Alex schreiben,
dass ich Tabletten organisiert habe?
Nein, ich warte bis Samstag.
Entweder, er kommt, oder er kommt nicht. Ich kann auf der Lost Souls auch super
allein Spaß haben. Abgesehen davon ist Daniela auch da. Ich fühle mich nicht
ganz so allein. Na toll, und heute kann ich nicht schlafen, weil es zu still
ist. Ich denke an Alex und an Herrn Steffen, meinen Lateindozenten. Ich möchte
beschützt werden. Und ich möchte Beschützer sein. Na toll, jetzt ist der
Drecks-Plauderkasten im StudiVZ abgeschmiert. Ich kann keine Nachricht mehr
empfangen. So ein Scheiß! Ich würde gerne weiter mit Alex darüber reden. Keine
Chance, StudiVZ spinnt. Morgen sehen wir weiter.
Ich habe mir jetzt ICQ
installiert. Ich schreibe gerade mit Alex. Nein, er denkt zwar ähnlich, er
würde es gerne ausprobieren, aber nicht aus meinen Motiven, sondern aus reiner
Neugier. Alex ist keine verlorene Seele, sondern einfach ein kleiner Junge, der
jetzt sein Zuhause verlässt, erwachsen wird und die Welt kennenlernt. Ich werde
versuchen, ihn auf die düstere Seite zu ziehen.
Ja, der erste Schritt ist
geschafft, er hat zur Party zugesagt! Alex kommt am Samstag um 22 Uhr bei mir
vorbei und dann werden wir etwas später losziehen. Ich stelle schon mal eine
Liste mit schön düsterer Musik zusammen, um in die richtige Stimmung zu kommen.
Alex soll für einen Abend vergessen, dass er in diese Kristin verliebt ist. Ich
kann ihn nicht einfach gehen lassen.
So, ich nehme die letzten beiden
Muffins von der FVK mit und gehe in den Fachschaftsraum. Alex sitzt dort und
wir frühstücken sozusagen zusammen.
„Guten Morgen!“
„Hey! Toll, Muffins! Ich sterbe
schon vor Hunger.“
„Ist der Brief wegen der Plakate
angekommen?“
„Nein, bisher war noch nichts
dabei.“
„Naja, dann erstmal guten
Appetit!“
„Guten Appetit!“
Der Kleine kann unglaublich
schnell essen. Trotzdem sieht er total ausgehungert aus. Ich will ihm
scherzhaft in die Seite pieksen, aber mittlerweile geht er in Abwehrhaltung. Na
toll, lässt er mich jetzt gar nicht mehr an sich ran?
„Wow, das Büro sieht echt aus wie
Sau.“
„Ja, Biene und Sven wollten das
mal aufräumen, aber irgendwie haben sie das noch nicht geschafft.“
Stumm mampfen wir unsere Muffins
in uns rein.
„Okay, ich muss dann mal wieder
an die Arbeit, nicht, dass Frau Tulpenau mir noch auf die Füße tritt.“
„Okay, dann bis Freitag zum
Treffen!“
Ohne besondere Ereignisse ist die
Woche rumgegangen. Jetzt ist Samstag. Halb zehn abends. Ich checke alle fünf
Minuten meine Mails und warte auf eine Absage von Alex. An so was habe ich mich
gewöhnt. Nichts. Ich bin fertig geduscht, sehe gut aus und rieche gut. Ich höre
Musik von Silke Bischoff, die poppigeren Sachen. Auf meinem Nachttisch liegt
eine Schachtel Rohypnol. Ich habe schon überlegt, ob ich nicht jetzt schon eine
halbe nehmen sollte. Ich möchte aber nicht riskieren, dass Alex seinen Respekt
vor mir verliert. Ich ziehe mein Partyoutfit an. Ich trage eine schwarze Hose
mit neongelben Nähten, mit Ringen und schweren Ketten und vielen Taschen. Dazu
ziehe ich meine schweren Boots an und ein enges Shirt. Ich überlege mir, ob ich
die Augen schminken soll. Plötzlich klingelt es an der Tür. Keine Zeit, weiter
zu überlegen. Ich öffne. Es ist Alex.
„Hey, komm rein.“
„Hey.“
Ziemlich wortlos kommt er in mein
Zimmer. Ich lege eine Silke-Bischoff-CD auf, auf der die düsteren Lieder
gesammelt sind. Alex legt seine Umhängetasche auf mein Bett. Er hat wieder
dieses Outfit an… schwarze Hose, schwarzer Sweater… nur das Gesicht ist dieses
Mal unverändert. Wo ist seine Brille? Heute Abend trägt er wohl Kontaktlinsen.
Sonst nicht seine Art. Er grinst mich an. Ich schalte die Schreibtischlampe an
und das Deckenlicht aus. Dann schiebe ich Alex wortlos an den Kleiderschrank.
Er schaut etwas unsicher. Alex hat mir erzählt, dass er es mag, beim Karate
auch mal richtig zusammengeschlagen zu werden. Ob es stimmt? Was habe ich zu
verlieren? Ich riskiere es.
„Ich hoffe, das gefällt Dir.“
Mit diesen Worten dresche ich ihm
meinen Stiefel vor das Schienbein. Alex verzieht das Gesicht. Er kneift die
Augen zusammen und beugt sich vornüber. Bevor der Schmerz richtig einsetzen
kann, geht Alex zu Boden und hält sich beide Hände an die betroffene Stelle.
Die Musik läuft leise im Hintergrund. Ansonsten kann ich nur Alex hören. Sein
Atem kommt stoßartig und ich achte darauf, ob er bewusstlos wird. Er presst
seine Stirn gegen das aufgestellte Knie und versucht, ruhig zu werden. Ich
stehe noch immer vor ihm, mein Schatten fällt auf seinen Körper. Dann gehe ich
in die Knie und versuche, sein Gesicht zu sehen. Weint er?
Alex merkt, dass ich jetzt neben
ihm knie. Er dreht seinen Kopf etwas zur Seite und schaut mich an. Eine Träne
läuft über seine Wange. Aus seinem Blick schreit der Schmerz, schreit die Frage
„Warum?“ Ich blicke ihm tief in die Augen. Ich fühle mich nicht müde. Ich fühle
mich nicht schuldig. Eigentlich… ich fühle mich gut. Ich fühle mich Alex näher
als sonst. Alex sitzt auf dem Boden, den Rücken an den Schrank gelehnt, die
Beine angewinkelt und die Arme um die schmerzende Stelle gelegt.
„Es tut mir Leid.“
Ich hauche mehr, als dass ich
spreche. Alex’ Atem hat sich beruhigt. Eine weitere Träne rollt über seine
Wange. Ich würde gern probieren, wie salzig sie schmeckt. Alex nimmt meine Entschuldigung
nicht wahr. Er schaut mir weiter in die Augen. Ich kann seinen Blick nicht
deuten. Ich lege eine Hand auf sein Schienbein. Dieses Mal zuckt Alex nicht
zurück. Depressive Musik legt sich wie ein samtener Schleier über den Raum. Es
ist unglaublich warm. Meine Hand berührt den Jeansstoff. Ich bewege die Hand
nicht, lasse sie einfach liegen. Alex schaut auf meinen Unterarm. Mit meinem
Daumen streichele ich vorsichtig hin und her, lasse alles geschehen. Alex sieht
immer noch hilflos aus, seine Kapuze ist über den Kopf gezogen. Wie viel Zeit
vergeht gerade? Eine halbe Stunde, oder zwei Minuten? Ich rolle das Jeansbein
bis zum Knie auf und kann drei blutrote Streifen erkennen, wo die metallene
Spitze meines Stiefels Alex getroffen hat. Es ist keine offene Wunde, aber sie
ist tiefrot und schmerzt bestimmt sehr. Ich streiche mit der Hand darüber und
kann die Schwellung fühlen. Die Haare an seinem Bein beugen sich dem sanften
Druck meiner Hand. Fasziniert schaue ich auf die Wunde. Dann schaue ich wieder
in Alex’ tränenrote Augen. Ich nähere mich mit meinen Lippen den roten Streifen
und drücke meinen Mund sanft auf die schmerzende Stelle. Ich schaue Alex nicht
an, auch nicht, als ich mit dem Kopf wieder zurückgehe.
Alex greift mit der Hand in seine
linke Hosentasche. Er holt ein kleines weißes Plastiketui heraus und schaut
darauf. Mit seinem Daumen drückt er drauf und schiebt so ein metallenes Teil
hervor. Er schaut mich an und dreht das Etui, so dass ich erkennen kann, dass
es eine Rasierklinge ist. Er hält sie mir hin und ich ziehe die Rasierklinge
vorsichtig aus dem Etui. Alex steckt es wieder weg und zieht langsam den
rechten Ärmel seines Sweaters bis zum Ellbogen hoch. Sein schlanker Unterarm
kommt zum Vorschein und ich betrachte die helle Haut, kann sogar die blauen
Adern erkennen. Alex, ich weiß, was Du willst. Ich schaue ihm in die Augen.
Mein Atem geht langsam, tiefer. Die Musik und die warme Luft beruhigen uns
immer weiter. Ich führe die Rasierklinge langsam an mein Gesicht. Meine Augen
bleiben an Alex’ Augen fixiert. Keine fordernden Blicke, keine vorwurfsvollen.
Ich setze die Klinge an meine Wange und übe leichten Druck aus, während ich sie
ein paar Zentimeter über die Haut führe. Ich spüre einen stechenden Schmerz,
wie bei einer Spritze. Es brennt ein wenig. Ich lege die Rasierklinge auf das
Regal. Dabei sehe ich, dass ich den Schnitt schnell genug ausgeführt habe, so
dass kein Blut an der hauchdünnen Klinge zu sehen ist. Ich fühle, wie zwei
warme Tropfen sich ihren Weg über meine rechte Wange zum Kinn bahnen. Es
kitzelt ein wenig, es schmerzt ein wenig. Alex beugt sich vor und geht
ebenfalls auf die Knie. Er schaut auf mein Gesicht, er kommt etwas näher. Ich
schließe die Augen. Wir reden kein Wort, die Musik übernimmt alles.
Sein Gesicht ist direkt vor
meinem. Ich spüre seinen warmen Atem und fühle plötzlich, wie sich seine Hand
in meinen Nacken legt. Meine Nackenhaare stellen sich auf, doch die Wärme
seiner Berührung lässt mich ruhig weiteratmen. Ich fühle, wie er einige
Sekunden direkt vor meinem Gesicht verweilt. Dann fühle ich seine Zunge an
meiner Wange. Ich öffne die Augen. Seine Hand stützt meinen Kopf sanft, während
er langsam die Blutspuren von meiner Wange leckt. Ich atme tief durch. Es
brennt etwas mehr, als Alex direkt über den Schnitt auf meiner Wange leckt.
Meine Arme hängen wie tote Gliedmaßen herunter. Ich traue mich nicht, ihn zu
berühren. Ich habe Angst, ihn zu verschrecken, jetzt, wo er sich mir öffnet. Er
küsst die Wunde in meinem Gesicht. Als er den Kopf zurückzieht, sehe ich ein paar
schwache Blutspuren auf seinen Lippen. Alex lässt meinen Kopf los und greift
nach meiner Hand. Wir stehen zusammen auf. Dann greift Alex ins Regal und gibt
mir wieder die Rasierklinge. Er lehnt sich an den Schrank und dreht seinen
rechten Arm so, dass mir die entblößte Unterseite entgegenblitzt. Er schaut
mich noch mal an. Sein Blick spricht einen Wunsch aus, den wir beide niemals
äußern könnten. Ich gehe vor Alex in die Knie und nehme seinen Arm mit der
linken Hand. Ich streiche mehrmals über die helle, weiche Haut, ich fühle den
ruhigen Puls. Alex blickt nach unten und schließt die Augen.
Ich versuche, seine Pulsader
genau ausfindig zu machen. Ich nehme ein Feuerzeug aus dem Regal und erhitze
die Rasierklinge. Ein Stück neben der Pulsader setze ich die Klinge an, während
ich mit der linken Hand weiter seinen Unterarm halte. Ich ziehe einen Schnitt
quer über den Arm und stoppe kurz vor der Pulsader. Ich spüre, wie Alex ein
wenig verkrampft. Ich lege die Klinge wieder an die Seite. Der Schnitt ist tief
genug, ein kleiner Blutstrom läuft aus der Wunde über seine Hand. Bluttropfen
lösen sich von seinen Fingerspitzen und färben den blauen Teppich schwarz. Alex
öffnet die Augen wieder und schaut auf die Blutspur. Ich küsse vorsichtig die
Stelle über der Wunde, dann nähere ich mich mit meiner Zunge dem Blut. Ich
lecke es ab, verschmiere es dabei weiter über Alex’ Unterarm. Es schmeckt etwas
salzig, etwas bitter. Ein weiteres Mal fahre ich mit der Zunge über Alex
Handgelenk, versuche dabei, die Wunde nicht zu berühren. Mit Alex’ Blut auf
meiner Zunge stehe ich auf und schaue Alex in die Augen. Ich schlage die Kapuze
seines Sweaters zurück über seinen Kopf. Ich lege meine rechte Hand auf seinen
Hinterkopf und neige meinen Kopf zur Seite, während meine Lippen sich seinen
nähern. Sanft küsse ich Alex auf den Mund. Er öffnet seinen Mund und ich fühle,
wie seine Zunge nach meiner tastet, wie sie das Blut probiert. Die Blutflecken
auf meiner Wange färben auf sein Gesicht ab. Ich schließe die Augen und genieße
den Kuss. Ich halte Alex, er klammert sich an mir fest. Ich streichele seinen
Hinterkopf. Endorphine schießen durch meine Blutbahnen, während ich Alex’
weiche Lippen schmecke, sein Blut schmecke, seinen Kuss schmecke. Wie warmer
Regen auf meiner Haut fühlt sich der Schauer an, der über meinen Rücken
kriecht. Mit der linken Hand taste ich nach seinem Handgelenk. Ich fühle, dass
das Blut nicht mehr so stark aus dem Schnitt läuft.
„Hab keine Angst, Alex.“
Langsam öffne ich den
Reißverschluss seines Sweaters. Behutsam ziehe ich den rechten Ärmel über
seinen verletzten Arm. Alex steht jetzt mit schwarzer Jeans und nacktem
Oberkörper vor mir, noch immer tropft etwas rote Flüssigkeit von seinen
Fingerspitzen auf den Boden. Ich gehe wieder auf die Knie und sauge behutsam an
der Wunde. Ich erkenne, wie Alex die Augen zukneift. Zärtlich küsse ich seinen
Bauchnabel, hinterlasse dabei einen blutigen Abdruck. Ich fahre mit der Zunge
zu seiner Brust, auch dabei bleibt eine rötliche Spur zurück. Ich küsse seine
rechte Brustwarze, beiße leicht hinein und kann die Gänsehaut auf seinem Körper
fühlen.
„Lass uns zur Party gehen.“
Der erste Satz, den Alex sagt. Er
klingt melancholisch, als ob er nicht mit mir redet, sondern mit der Luft, die
von unserem Atem geschwängert ist und an der Fensterscheibe zu kleinen
Tröpfchen kondensiert. Ich schaue auf die Uhr. Es sind gut zwanzig Minuten
vergangen. Noch immer läuft die Musik und das Licht der Schreibtischlampe
erhellt den Raum nur ein wenig. Mit den Blutspuren auf seinem schlanken
Oberkörper wirkt Alex noch hilfloser als sonst. Ich liebe diesen Anblick. Ich
liebe ihn.
„Ich möchte dich so mitnehmen.“
„Aber ich hab kaum etwas an… und
da ist Blut auf meinem Bauch.“
„Ich weiß.“
Alex dreht sich wortlos an mir
vorbei und geht zu seiner Tasche auf dem Bett. Er humpelt noch immer,
unterdrückt aber tapfer den Schmerz seines Schienbeins. Während Alex seine
Tasche öffnet, hole ich aus der Küche eine Mullbinde und einen Verband. Als ich
wieder ins Zimmer komme, sitzt Alex auf dem Boden, ans Bett gelehnt. Ich knie
mich zu ihm, presse die Mullbinde auf seine Wunde und verbinde ihm das
Handgelenk straff. Mit zwei Klammern sichere ich den Verband.
„Ist alles okay?“
„Ja. Aber noch nicht ganz.“
Alex hebt seine linke Hand und
zeigt mir einen Joint.
„Ich muss vom Rauchen husten. Ich
kann das nicht.“
„Keine Angst. Ich werde Dir den Rauch
weitergeben. Er wird durch meine Lungen so weit gefiltert, dass Du
entspannt sein kannst.“
Mit diesen Worten nimmt Alex sich
ein Feuerzeug und zündet den Joint an. Er lehnt sich zurück und nimmt einen
tiefen Zug. Das Ende des Joints glimmt hell auf und ich kann das Knistern der
Flamme hören. Die Musik im Hintergrund fällt uns gar nicht mehr auf. Sie ist,
wie mittlerweile fast alles, zur Atmosphäre geworden. Alex atmet die erste Rauchwolke
ins Zimmer. Ich schaue ihm zu, beruhigt von seiner Gelassenheit. Er nimmt einen
weiteren Zug und dreht sein Gesicht zu mir. Er nimmt meinen Kopf und zieht ihn
zu sich heran. Ich öffne meinen Mund und er bläst den Rauch direkt in meinen
Rachen. Unsere Lippen berühren sich nicht. Etwas Rauch entweicht, doch ich atme
schnell und tief ein, muss fast husten, und schmecke das süßliche Aroma des
Rauches. Wir wiederholen dieses Spiel zwei Mal, drei Mal, beim vierten Mal
drückt Alex seine Lippen beim Ausatmen ganz auf meine. Nachdem ich den Rauch
ausgeatmet habe, küsse ich ihn wieder. Nur ein flüchtiger Kuss, seine weichen
Lippen nur berühren, einmal mit den Fingern durch seine Haare fahren. Ich
spüre, wie ich mich langsam weiter entspanne, habe die Wunde in meinem Gesicht
schon fast vergessen. Ich bin sicher, Alex spürt seine Schmerzen kaum noch. Er
hält mir den Joint hin. Ich nehme einen vorsichtigen Zug, muss husten und lehne
mich entspannt zurück. Ich merke, wie mein Körper schwerer wird, wie die
Bewegungen um mich herum langsamer werden. So kann ich nicht tanzen gehen.
Ich greife rechts neben mir in
die mittlere Schublade des Nachttisches und hole die Schachtel mit den
Koffeintabletten heraus. Ich nehme eine Tablette, gebe Alex auch eine, und
nehme die Wasserflasche neben dem Bett zum Runterspülen. Wir rauchen den Joint
gemeinsam auf. Ich gehe zur Toilette, versuche, mir schwarzen Kajal um die
Augen zu ziehen, verrutsche aber andauernd, so dass große Augenringe entstehen.
Ich überdecke sie mit schwarzem Lidschatten. Als ich wieder in mein Zimmer
komme, steht Alex mit dem Rücken zu mir.
„Tobi, ich brauche Pflaster.“
Er dreht sich um. Er hat links
und rechts auf seine Brust jeweils einen weiteren kleinen Schnitt gesetzt. Zwei
Schnitte, aus denen das Blut langsam über seinen Körper zum Bund seiner Jeans
rinnt. Ich warte, bis sich die beiden roten Linien weit genug nach unten
gezogen haben. Dann klebe ich zwei Pflaster auf die Wunden.
„Warum hast du das gemacht?“
„Ich möchte so auf die Party
gehen.“
Jetzt setzt die Wirkung der
Tabletten ein. Ich merke, wie ich wacher werde, trotzdem aber sehr gut drauf
bin und Alex auf den Nacken küsse. Wir gehen so, wie wir sind, aus der Wohnung
und zur Bushaltestelle.
Es ist nicht kalt draußen, aber
zu kalt für einen freien Oberkörper. Alex bekommt eine Gänsehaut und ich lege
meinen Arm um ihn, während wir durch die Dunkelheit gehen. Der Busfahrer schaut
uns angewidert an. Bis auf drei weitere Jugendliche ist der Bus leer. Wir
setzen uns vorne hin und sind sicher, dass die jetzt über uns reden.
Die Tanzfläche gehört nur uns.
Wir nehmen die anderen gar nicht wahr. Ich habe einen Tunnelblick, liegt
vielleicht an der Mischung aus Koffein, Hasch und Alex’ blutverschmiertem,
nacktem Oberkörper. Wir sind aufgeputscht genug, um zu jeder Musik zu tanzen.
Alex schwankt hin und wieder bedrohlich zur Seite, aber ich nehme das kaum
wahr. Es läuft „Das muss Liebe sein“ und wir halten uns in den Armen. Links
neben uns steht Moritz, rechts Dani. Beide schauen genauso ungläubig wie in dem
Moment, als wir die Tanzfläche betreten haben. Ich küsse Alex. Er erwidert
meinen Kuss und schiebt mir seine Zunge in den Mund. Zwei Stunden und zwei
Whisky-Cola später tanzt Alex nahe an mich heran. Er flüstert mir etwas ins
Ohr.
„Es tut weh, Tobi.“
Ich streichele ihm über den
Nacken, um ihn zu trösten. Wir gehen zum Ausgang und machen uns auf den
Heimweg. Auf dem Heimweg fängt Alex schrecklich zu zittern an. Auch mir wird
sehr kalt. Die Wirkung des Joints hat nachgelassen, doch wir sind fast zuhause.
In der Wohnung angekommen, gehen wir direkt in mein Zimmer. Wir werden sanft
von der warmen, schwülen Luft begrüßt, die wir hinterlassen haben. Ich öffne
das Fenster kurz zum Lüften und ziehe mein Shirt aus.
„Leg dich auf das Bett, Alex.“
Ohne die Hose auszuziehen, legt
er sich hin, hinterlässt dabei verkrustete Blutspuren auf dem Laken, aber das
ist mir egal. Ich lege mich neben ihm, hole die Wasserflasche ins Bett und
nehme die Tabletten vom Nachttisch. Eine für ihn, eine für mich. Wir werfen die
Dinger ein und spülen sie runter. Ich schalte die Nachttischlampe ab und küsse
Alex auf die Wange.
Er legt sich auf die Seite, auf
der sein unverletzter Arm ist. Ich schmiege mich von hinten an ihn, fühle
seinen warmen Rücken, seine Schulterknochen, fühle seinen gleichmäßigen Atem,
ich lege meinen rechten Arm um ihn, küsse seine Schultern, Löffelchen an
Löffelchen, ziehe die Decke über uns beide. Die Flunis hauen rein, ich merke,
wie meine Augenlider schwer werden. Der Abend saust in wilden Gedanken an
meinem Auge vorbei.
Do you fear me Swallow Cut me Alex Give me a
shotgun Let me hold you Let me taste your blood Kiss me Inhale deeply Let’s take
a ride I love you Alex I want to taste your lips Don’t cry Lie down on the bed
Let your blood drip on my hands Your skin is soft Trust me I feel your breath
Do not leave me alone Fly with me Touch my face I want to hurt you Do you feel
the rush Shoot Your chest is glistening I am drowning in your eyes I love you
Alex
Hold me
Ich freue mich darauf, morgen mit
ihm aufzuwachen.
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