Donnerstag, 4. Mai 2017

"Schüler? Nicht so wichtig."

Schüler spüren, ob man sie ernst nimmt und ein Interesse an ihnen hat.

Mal wieder Thema Schule, bear with me. Vorweg: Das hier ist ein Gedankenspiel. Ich möchte damit nicht einen bestimmten Lehrer-Typ niedermachen, sondern er dient mir nur als Reflektionsfläche meiner eigenen pädagogischen Haltung.

Also mal angenommen...

...ich vertrete einen Kollegen, der Englisch und Sport unterrichtet, aber natürlich ist sein persönlicher Favorit Sport. Er freut sich über jede Sportklasse, die er unterrichten kann, und steckt viel Ehrgeiz hinein. Da ich kein Sport unterrichte, vertrete ich ihn logischerweise in Englisch - denn er hat einen Oberstufenkurs, Qualifikationsphase.

Ich bin gespannt auf die Schüler. Werden welche herausstechen, sind Verhaltensauffällige dabei? Kann ich einen Draht zu ihnen finden? Ich hole mir schonmal ein mentales Bild, im Vorgespräch mit dem Kollegen.

A: "Und wie ist der Kurs so, was sind das für Schüler?"
B: "Naja, faul halt. Ein Intelligenter ist dabei. Aber die sind alle nicht so gut."
A: "Gibt es einzelne Schüler, über die ich vorher etwas wissen sollte?"
B: "Nö, naja, wirst du ja merken. Ich muss auch ehrlich sagen, der Kurs ist mir nicht so wichtig, ich bin lieber in meiner eigenen Sportklasse, da kann ich richtig was reißen."

Und das gibt mir zu denken, denn ich ticke anders. Natürlich habe ich Lerngruppen, in die ich lieber gehe als in andere, und sei es nur wegen des Lautstärkepegels. Aber mir ist jeder Schüler wichtig. Ich möchte nicht englisches Fachwissen über ihren Köpfen ausgießen mit dem Gedanken, naja, Latein mag ich sowieso viel lieber, und der Kurs, whatever, da investiere ich nicht so viel Zeit.

Ich bin an den Schülern interessiert. An diesen Menschen, die in einem unglaublich spannenden, abwechslungsreichen, formativen Lebensabschnitt stecken. Ich bin daran interessiert, was sie denken, wie sie sich fühlen. Ich möchte meine Klientel verstehen, und zwar immer. Ich möchte wissen, warum Menschen die Dinge tun, die sie tun.

Ich möchte wissen, warum Jakob immer mit Sonnenbrille und Käppi in der Klasse sitzt, obwohl er das eigentlich nicht darf. Das möchte ich verstehen, um einschätzen zu können, ob ich ihm diesen Freiraum geben kann oder nicht.

Ich möchte wissen, warum Detlef als Leistungsverweigerer gilt, warum er als gewaltbereit eingestuft wird, warum ich in ständigem Kontakt mit seiner Heimleitung stehen sollte. Denn vielleicht kann ich ihm daraus wertvolle Tips für das Leben mitgeben.

Ich möchte wissen, warum alle Mitschüler Nancy als Nutte bezeichnen, warum sie immer stark geschminkt in den Unterricht geht und warum sie panische Angst vor körperlicher Nähe hat.

Ich habe es einmal gesagt und ich sage es wieder, egal, wie arrogant das klingen mag (tut mir nicht leid, so bin ich eben): Ich kriege sie alle. Und dafür zahle ich einen Preis - misstrauische Blicke der Kollegen, einen manchmal sehr großen Teil meiner freien Denkzeit und sicherlich passiert der eine oder andere Fehltritt. Aber es liegt mir wirklich etwas an diesen Schülern, und genau das ist der Grund, warum ich in diesem Job geblieben bin, obwohl vielleicht Schauspielerei passender gewesen wäre (wie mir von mehreren Lehrern und Dozenten suggeriert wurde).

Ich bin nicht Lehrer geworden, um Fachwissen über kleinen Denkmaschinen auszugießen, die mich nicht interessieren. Ich mag meine Fächer, ja, aber wenn es mir nur um sie gegangen wäre, hätte ich in die Fachwissenschaften der Hochschulen gehen sollen.

Ich bin vom Herzen her - wenn auch nicht ausgebildeter - Pädagoge.

Und ich höre schon die Sannitanic-Unkenrufe: "Ja, du mit deinen vier oder fünf Lerngruppen hast es leicht, das zu sagen, weil du zwei Langfächer unterrichtest. Aber ein Kollege, der seine Fächer nur ein- oder zweistündig unterrichtet und zehn oder mehr Lerngruppen hat (durchaus realistisch), der kann gar nicht so viel Zeit in einzelne Schüler investieren." Und das ist natürlich richtig! Ich habe höchsten Respekt vor ebendiesen Kollegen, denn das könnte ich nicht.

Das könnte ich nicht, ohne zu sagen: "Naja, dieser Kurs ist mir nicht so wichtig."

post scriptum: Frau Reichelt ist auch so eine, die sie alle kriegt ;-)
iterum p.s.: Anlass für diesen Beitrag war ein Vertrauensgespräch gestern. Sowas tut mir immer gut.

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