Samstag, 27. Mai 2017

Fünfzehn Überschläge

Da fliegen sie...

"Boah, guck mal da oben die beiden Männer, die drehen total durch!"

Das hat der eine Mann gerade noch so mitbekommen, der andere nicht, denn der war wirklich am Durchdrehen und hat jegliche Koordination verloren. Aber vielleicht sollte ich am Anfang anfangen...

...und so langsam wird das Wetter richtig sommerlich, und ich möchte die ganze Schulscheiße einfach nur noch von mir werfen, und so war es die richtige Entscheidung, zuzusagen, als mein Cousin mich bei Facebook angetickert hat. Ob ich am Himmelfahrtswochenende schon etwas vorhätte, und ob wir nicht einfach mal wieder in den Hansa-Park fahren wollen.

Ich habe hier vier Stapel Klassenarbeiten, die bei uns Tests heißen, zu liegen und ein schlechtes Gewissen, weil ich noch nicht richtig mit der Zweitkorrektur für's Abi losgelegt habe. Ich müsste eigentlich arbeiten. Aber momentan funktioniere ich sowieso nicht richtig, weil meine Zukunft unsicher ist, und dann ist mir alles irgendwie scheißegal, hat doch alles eh' keinen Sinn. Und daher denke ich mir, scheiß' drauf, Du warst in dieser Saison noch kein einziges Mal im Freizeitpark, weil Du Deinen Finger schonen musstest, jetzt kannste endlich die Bremsen lösen und abdüsen, nutz' die Chance. Leb' mal ein bisschen.

Also habe ich zugesagt. Obwohl ich gestern einen Schülerbesuch hatte und mein Bedarf an sozialer Interaktion eigentlich gedeckt war. Und obwohl Meditationstage waren - danach muss mein Körper sich erstmal regenerieren (weil ich wenig esse, Kreislauf und so). Aber das musste sein, ich musste raus, und ich wollte endlich einen Sky Fly aus dem Hause Gerstlauer ausprobieren. Insider geben Daumen hoch, das Teil ist genial.

Die Saison hat für mich begonnen.

Endlich wieder Freizeitparks. Ich fühle mich dort so wohl, ich genieße das Gemenge aus multisensorischem Input und wissenschaftlichen Überlegungen zu den Fahrgeschäften. Ich liebe es. Ähnlich wie S-Bahn-Fahren. Meistens gehe ich allein in den Park. Wenn es eine neue Attraktion gibt, sei es ein Karussell, eine Achterbahn, whatever, möchte ich mein erstes Mal ganz allein, ganz für mich erleben. Diese Gedanken waren durchaus präsent, als mein Cousin in den Wagen stieg. Ich nenne ihn aus unerklärlichen Gründen Kleist. Wenn er das hier liest, kichert er und wackelt mit den Armen. Das ist ein ähnliches Ritual wie das Klospülen mit der großen Buba, die gerade die Toskana plattrollt.

So gondeln wir also los und sehen ein Umleitungsschild. Wär' ja auch langweilig, die B76 hat einen Ruf zu bedienen. Also fahren wir tatsächlich über die Abfahrt Richtung Lebrade, verlassen den gewohnten Weg und fahren durch Dörfer, die niedlich sind. Kaum zu glauben, wir fahren durch ein Fünfzig-Seelen-Dorf, das eine seiner Straßen tatsächlich Vorstadt nennt. Ich liebe es. Und wir fahren weiter, kotzen uns aus über das Regelschulsystem, über G8, denn Kleist ist auch Lehrer. Jetzt sogar offiziell, mit einem viiiieeeel besseren Examen als Dr Hilarius und viiiieeeeeeel besseren Berufsaussichten - und ich gönne es ihm von ganzem Herzen, und das meine ich ehrlich! Der Junge gehört an die Schule, und zwar an ein Gymnasium, da kann er viel bewirken. Tut er auch, ich habe ihn unsubtil darauf hingewiesen, dass er direkt in seinen Enddreißiger-Burnout steuert, wenn er so weiter macht. Aber wir sind ja beide alt, da fällt das nicht so auf.

Und beim Thema Alter (mittlerweile hatten wir Plön erreicht und waren wieder auf die B76 eingeschwenkt), da ist mir eingefallen, dass ich die Batterien meiner Kamera austauschen musste. Andersherum. Ich hatte den Rucksack zwischen den Beinen und die Batterien ausgetauscht, um ein Foto für diesen Blogeintrag zu machen (und habe es dann vergessen, weil ich so intensiv im Flow-Erleben war). Und dann meinte ich zu Kleist, dass ich noch eine Batterie übrig hätte, um seinen Herzschrittmacher wieder auf Vordermann zu bringen, aber er wiegelte ab. Und diese leere Herzschrittmacherbatterie wurde zu einem running gag den ganzen Tag über, sei es nun bei Hinweisschildern zu Sicherheitsvorkehrungen oder bei einem Stromkabel, das irgendwo aus der Wand herausragte.

Ich sitze hier noch ewig, wenn ich alle Details erzähle, und das will doch keiner lesen! Aber erwähnenswert war, wie supergut dieser Tag war (in Anspielung auf den Roman Supergute Tage zum Thema Asperger):

Erstes Fahrgeschäft: Rasender Roland, und gleich bei der ersten Fahrt hatten wir im Looping das Date mit Nessie. Manche Leser werden das verstehen. Das ist ein irrer Moment: Man ist noch lahmarschig-sackbräsig von der Autofahrt, sitzt im Achterbahnsitz (mit neuen Bügeln zur Saison 2017) und wird den Lifthill hinaufgezogen, plötzlich realisiert man: Wir sind in einer Achterbahn! Warum machen wir das eigentlich gerade, ah, jetzt gehts abwärts, Kontrollverlust und GENAU in diesem Moment fliegt einem der Nessie-Zug so dicht am Kopf vorbei, dass man meint, abklatschen zu können - mit den Leuten, die da gerade kopfüber über mich hinwegsausen. Ein sehr geiles Element, wenn man es wertzuschätzen gelernt hat, ungewöhnlich und damit symptomatisch für den Hansa-Park, der gern ungewöhnlich baut. Irgendwann kommt dieser Kärnan-Review!

Also, das Date im Loop, das geile Wetter, die genau richtigen Anstehzeiten, es hat einfach alles gepasst, die olle Areté wäre stolz (Herr Leinhos versteht das, mir fehlen immer noch die Schriftzeichen, aber ich bin heute in so vielen verschiedenen Positionen arretiert worden, da kann ich nicht auch noch nach Schriftarten suchen).

Ich möchte nur ein Ereignis herausheben, nämlich die "Haupt"-Neuheit des Hansa-Park in der Saison 2017. Der Park hat seit 2009 ein Techtelmechtel mit Gerstlauer Amusement Rides, und hier darf man wirklich von einer erfolgreichen Kooperation sprechen. Der Fluch von Novgorod, Die Schlange von Midgard, Der Schwur des Kärnan und jetzt eben das Kärnapulten stammen alle von den Müsterländer Profis mit dem Hang zum Unkonventionellen (yeah, friss' das, Bolliger&Mabillard). Das Fahrgeschäft trägt den Modellnamen Sky Fly und ist eine Weiterentwicklung des vor einigen Jahren erfundenen Sky Roller.

Zwölf Sitze sind an einem großen Arm montiert, der wie ein Katapult aussieht - überhaupt ist das Fahrgeschäft perfekt zum Kärnan passend thematisiert. Wir erreichen hier ein relativ hohes Niveau für einen Park dieser Größe, nach und nach (spätestens seit Kärnan mit der ziemlich genialen Weltneuheit) schaut man sich international gern mal Richtung Sierksdorf um, wenn man eine Theme Park World Journey startet (ein Traum! Aber ich habe nicht genug Geld dafür).

Es sind Einzelsitze; das Kärnapulten-Erlebnis ist ein wahrer Ego-Flug. Ich setze mich in den bequemen Sitz, mein eigenes kleines Flugzeug, und schließe den Schulterbügel. Links und rechts neben mir habe ich Flügel, Tragflächen, die ich selbst bewegen kann: Ich kann sie unter einem markanten klack-klack-Geräusch rauf- und runterstellen. Wozu das wohl gut ist? Aerodynamische Gedanken feuern die Vorfreude an... die Fahrt beginnt, die zwölf Flieger werden ein Stück in die Höhe gehoben. Alles ist ruhig - dann klickt es - und die Sitze fangen an, frei zu schwingen: Sie können sich 360° um die Herzlinie drehen. Wie man sie zum Überschlag bekommt? Durch kluges Bewegen der Tragflächen - aha! Dazu kann man sie also vor- und zurückklappen, dafür das klack-klack.

Ein Paradies für den Hochbegabten, der sich während der Wartezeit überlegt, wie das System funktioniert. Er entwickelt eine Theorie und leitet daraus eine Strategie ab. Er hat einen Plan, wie er die Flügel bewegen will, eine konkrete Idee, wie es sein muss, um möglichst schnell zum Überschlag zu kommen. Aber muss man das denn? Nein, und das ist das Geniale: Die Intensität dieses Fahrgeschäfts sucht jeder Flieger sich selbst aus. Man kann einen sehr coolen Höhenflug mit einer tollen Aussicht genießen - oder man macht es wie der Hochbegabte.

Die Sitze sind also "freigeschaltet", ich warte noch, ich genieße den Moment. Der Arm beginnt, sich zu bewegen. Ich steige immer höher in die Luft auf, atme noch einmal tief durch und dann geht es los. Ich wende meine Strategie an (und verrate sie hier bewusst nicht, damit jeder es selbst ausprobieren kann, das ist ein richtiges Spielzeug!) - und sie geht auf. Ich schwinge nach links, nach rechts, nochmal links und schon gelingt mir der Überschlag. Einer? Reicht nicht (gestern war Einer toll) - meine Strategie beinhaltet das Ziel, den Rekord zu brechen, und ich ziehe sie durch. Ich merke, wie die Überschläge immer schneller und schneller werden, ich werde mittlerweile richtig in den Sitz gedrückt. Ich habe jegliche Orientierung verloren, ich weiß nicht mehr, wo ich bin, wer oder wie viele. Ich drehe mich schneller und schneller. Dann allerdings entschließe ich mich, die Strategie abzubrechen, nein, heute keinen Rekordversuch, der Magen meldet sich - ich lasse die Tragflächen los und sie klappen in die Ausgangsposition zurück. Die Überschläge werden langsamer, ich pendele mich wieder in horizontaler Lage ein. Die Sitze werden arretiert, die Fahrt endet. Ich steige aus: Am Ausgang ist eine Anzeigetafel, die genau anzeigt, wie viele Überschläge jeder einzelne Flieger geschafft hat. Ich bin stolz - meine erste Fahrt, es sind fünfzehn. Meine Theorie ist aufgegangen. Wissenschaft in action. Bei dieser Fahrt war ich Rekordhalter, aber Kleist neben mir hat dreizehn Überschläge geschafft, das ist fast genauso gut! Wer das mal in Aktion sehen möchte:


Kurzum: Es sehr geiles Teil. Man hat selbst die Kontrolle über den Flugverlauf - das finde ich reizvoll (und ich weiß, die Sannitanic hat zuhause einen Mann sitzen, der dieses Fahrgeschäft LIEBEN wird). Dieses irre Erlebnis, kombiniert mit meiner Kleist-Manipulation (denn ich wollte, dass er möglichst viel Vergnügen aus seiner ersten Kärnan-Fahrt bekommt), das war rundum ein superguter Tag. Ich bin glücklich und dankbar, dass man auch in so einer beschissenen Gesamtsituation noch so viel Spaß haben kann.

Rock on, die Saison hat gerade erst begonnen!

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